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Nun, er war sich stets darüber im klaren gewesen, daß er Speke gleichzeitig geliebt und gehaßt hatte. Aber das Wissen um seine Liebe war nur unregelmäßig und schwach ausgeprägt in seinem Bewußtsein aufgeschienen und hatte Burton nicht sonderlich berührt. Während des Alptraums war die Erkenntnis, daß seine Liebe den Haß so stark überdeckte, so offensichtlich geworden, daß er laut aufgeschrieen hatte. Er erwachte in Wilfredas Armen.

Sie schüttelte ihn, verlangte zu wissen, was geschehen sei. Obwohl sie es in ihrem Leben auf der Erde gewöhnt gewesen war, Opium zu rauchen oder es im Bier zu trinken, hatte in der neuen Welt ein einziger Versuch mit Traumgummi ausgereicht, sich fortan vor der Droge zu fürchten. Das Wiedererleben des Todes ihrer Schwester, die an Tuberkulose gestorben war, erweckte in ihr die schrecklichen Stunden ihrer ersten Versuche, mit dem Körper Geld zu verdienen.

»Es ist eine psychedelische Droge«, hatte Ruach Burton erklärt. Er informierte ihn, was das Wort bedeutete. »Sie scheint traumatische Zwischenfälle in einer Mischung aus Realität und Symbolismus ins Gedächtnis zurückzurufen. Natürlich nicht immer. Manchmal funktioniert sie auch wie ein Aphrodisiakum. Gelegentlich nimmt sie einen mit auf einen wundervollen Trip.

Ich würde annehmen, daß man uns den Traumgummi aus therapeutischen, wenn nicht gar aus kathartischen Gründen gibt. Es liegt lediglich an uns herauszufinden, wie wir es am besten verwenden.«

»Warum nimmst du es nicht öfter mal?« hatte Frigate ihn gefragt.

»Aus den gleichen Gründen, aus denen sich Leute weigern, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben oder sie wieder verlassen, bevor sie damit fertig sind. Ich fürchte mich davor.«

»Yeah«, sagte Frigate gedehnt. »Genauso ist das mit mir. Aber eines Tages, wenn wir uns dafür entschieden haben sollten, irgendwo länger zu bleiben, werde ich es jede Nacht tun. Selbst wenn es dazu führt, daß ich alle meine Gefühle offen zeige. Es ist natürlich leicht, jetzt so etwas zu sagen.«

Peter Jairus Frigate war nur achtundzwanzig Jahre nach Burtons Tod geboren worden, aber dennoch existierte zwischen den beiden Welten, denen sie entstammten, eine tiefe Kluft. Sie sahen sehr viele Dinge unterschiedlich, und es war nur Frigates Charakter zu verdanken, daß er und Burton sich bei der Diskussion ihrer Ansichten nicht in die Haare gerieten. Nicht daß ihre Ansichten über die Disziplin der Gruppe oder die Instandhaltung der Steuerung des Bootes besonders differiert hätten. Was sie wirklich trennte, war ihr gegensätzliches Weltbild. Dennoch ähnelte Frigate Burton in mancher Hinsicht stark, und dies schien auch der Grund dafür zu sein, weshalb der irdische Burton ihn so fasziniert hatte. Im Jahre 1938 war Frigate auf die Taschenbuchausgabe von Fairfax Downeys Buch, Burton, Abenteuer aus Tausendundeiner Nacht, gestoßen. Die Titelillustration zeigte Burton im Alter von fünfzig Jahren. Das urwüchsig anmutende Gesicht, die hohen Augenbrauen, die langen, schwarzen Wimpern, die streng wirkende Nase, die lange Narbe auf der Wange und die vollen, genießerischen Lippen, der schwere, nach unten hängende Schnauzbart, der in mehreren Spitzen endende Kinnbart und die ganze Aggressivität und Unnachgiebigkeit seiner Gesichtszüge hatten ihn regelrecht dazu gezwungen, das Buch zu kaufen.

»Ich hatte vorher nie von dir gehört, Dick«, gestand Frigate. »Aber ich las das Buch in einem Zug aus und war davon gepackt. Irgend etwas faszinierte mich an dir, und das hatte gar nichts mit deinen ungeheuerlichen Erlebnissen zu tun. Egal, ob du nun ein fähiger Schwertfechter warst, viele Sprachen beherrschtest, dich als eingeborener Arzt verkleidetest oder als Kaufmann, ob du als Pilger maskiert nach Mekka gingst oder als der erste Europäer galtst, der mit heiler Haut aus der heiligen Stadt Harrar zurückkehrte, ob du den Tanganjikasee entdecktest und beinahe auch die Quellen des Nil, ob du Mitbegründer der Königlichen Anthropologischen Gesellschaft warst oder Erfinder des Ausdrucks ESP, Übersetzer von Tausendundeiner Nacht, die Sexualpraktiken des Ostens erforschtest, und so weiter…

Neben all diesem — und das ist schon faszinierend genug — hattest du eine seltsame Ähnlichkeit mit mir. Ich ging damals in die Öffentliche Bibliothek — Peoria war eine Kleinstadt, aber es gab dort eine Menge Bücher von dir und über dich, die irgendeiner deiner Verehrer zur Verfügung gestellt hatte — und las alles, was ich bekommen konnte. Schließlich fing ich an, alle erreichbaren Erstausgaben deiner Werke — und auch die Bücher, die man über dich geschrieben hatte — zu sammeln. Obwohl ich mich schließlich als Romanautor etablierte, gab ich nie den Plan auf, eine umfassende Biographie deines Lebens zu schreiben. Ich wollte deine Reisen nachvollziehen, die Orte, an denen du dich aufgehalten hattest, fotografieren, mir Notizen über sie machen und eine Gesellschaft gründen, die Gelder sammeln sollte, um deine Grabstätte in Ordnung zu halten…«

Es war das erste Mal, daß Frigate sein Grab erwähnte. Verwundert sagte Burton: »Wo?« Und dann: »Oh, natürlich! Mortlake! Ich hatte es vergessen. Hatte es wirklich die Form eines Araberzeltes, wie Isabel und ich es vorhatten?«

»Sicher. Aber der Friedhof lag in einer Gegend, die später zu einem Slumgebiet wurde. Halbstarke hatten deinen Grabstein umgestürzt. Das Unkraut wucherte meterhoch. Man sprach einmal darüber, den ganzen Friedhof aufzugeben und die Toten umzubetten. Aber zu dieser Zeit herrschte bereits eine ziemliche Raumknappheit.«

»Und hast du diese Gesellschaft zur Betreuung meiner Grabstätte gegründet?« fragte Burton.

Obwohl er sich mit dem Gedanken, bereits einmal gestorben zu sein, abgefunden hatte, war es dennoch ein seltsames Gefühl, mit jemandem zu sprechen, der die Lage seines Grabsteins kannte. Burton fühlte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief.

Frigate holte tief Luft. Beinahe entschuldigend erwiderte er: »Nein. Als ich endlich dazu in der Lage gewesen wäre, hätte ich mich schuldig gefühlt, Geld für die Toten auszugeben. Dazu befand sich die Welt schon in einem zu schlimmen Zustand. Die Lebenden erforderten meine gesamte Aufmerksamkeit.

Luftverschmutzung, Elend und Unterdrückung — das waren die wichtigen Dinge, die damals jeden denkenden Menschen beschäftigten.«

»Und die umfassende Biographie?«

Erneut sah Frigate ihn entschuldigend an. »Als ich zum ersten Mal etwas über dich las, dachte ich, daß ich der einzige sei, der sich für dich interessierte und der Besonderheit deines Lebens bewußt war. Aber in den sechziger Jahren stieg das allgemeine Interesse an dir plötzlich an. Es wurde eine ganze Reihe Bücher über dich geschrieben — und sogar eins über deine Frau.«

»Isabel? Jemand hat ein Buch über sie geschrieben? Aber warum?«

Frigate hatte gegrinst. »Sie war eine sehr interessante Frau. Sie erschwerte die Burton-Forschung ziemlich, weil sie all deine Manuskripte und Tagebuchaufzeichnungen verbrannte. Ich glaube, es gibt eine Menge Leute, die ihr das niemals verzeihen werden.«

»Was?« hatte Burton gebrüllt. »Sie hat…«

Frigate nickte und sagte: »Dein Arzt, Dr. Grenfell Baker, beschrieb sie als ›rächenden Sturmwind‹, der deinem bedauernswerten Tod auf dem Fuß folgte.

Sie verbrannte deine Übersetzung des PARFÜMIERTEN GARTENS und behauptete, daß du sie nie angefertigt hättest, wärest du nicht in Geldschwierigkeiten gewesen. Nun, da du kein Geld mehr bräuchtest, sehe sie auch keinen Grund mehr, die Übersetzung zu veröffentlichen.«

Burton war sprachlos. Und das war in seinem bisherigen Leben noch nicht allzu oft vorgekommen.

Frigate warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu und grinste. Irgendwie schien ihm Burtons Kummer ein freudiges Gefühl zu vermitteln.

»Daß sie den Parfümierten Garten verbrannt hat, war zwar zu bedauern, aber nicht das Schlimmste. Viel mehr Erschrecken rief die Tatsache hervor, daß sie auch deine privaten Notizen den Flammen übergab; all jene Aufzeichnungen, in die du deine geheimsten Gedanken, deine intimsten Gefühle und deinen brennendsten Haß schonungslos offen legtest. Nun, ich habe ihr das jedenfalls nie verziehen. Einer ganzen Reihe anderer Leute erging es in dieser Beziehung nicht anders. Es war ein großer Verlust; nur eines deiner Notizbücher, ein ziemlich kleines, entging ihr. Aber auch das wurde während einer Bombardierung Londons im Zweiten Weltkrieg vernichtet.«

Frigate machte eine Pause und fragte: »Stimmt es eigentlich, daß du noch auf Bitten deiner Frau kurz vor deinem Tod zur katholischen Kirche übergetreten bist?«

»Ich hätte es fast getan«, erwiderte Burton. »Isabel drängte mich jahrelang dazu, auch wenn sie mich nie stark unter Druck setzte. Als ich dann schwerkrank dalag, hätte ich ihr gern gesagt, daß ich dazu bereit sei, weil es sie sicher glücklicher gemacht hätte. Sie war so voller Sorgen und Kummer und fürchtete, meine Seele würde sonst ewig in der Hölle braten.«

»Dann hast du sie geliebt?« hatte Frigate gefragt.

»Ich hätte dasselbe auch für einen Hund getan.«

»Für einen Menschen, der so offen ist wie du, kannst du manchmal sehr zweideutig reden.«


Dieses Gespräch hatte zwei Monate nach dem Ersten Tag stattgefunden. Das Resultat war in etwa das gleiche, das sich ergeben hätte, wäre Dr. Johnson einem zweiten Boswell begegnet.

Damit erreichten sie das zweite Stadium ihrer ungewöhnlichen Beziehung.

Obwohl Frigate ihm etwas nähergekommen war, fiel er Burton gleichzeitig auf die Nerven. Aber der Amerikaner hielt sich, was Burtons Ansichten betraf, weitgehend zurück. Er tat das zweifellos, weil ihm nicht daran gelegen war, einen Streit zu provozieren. Auch den anderen gegenüber nahm er diese Position ein, obgleich er offensichtlich bestrebt schien, unter ihnen die Rolle des Antagonisten zu spielen. Seine Feindseligkeit kam jedoch meist nur in zweideutig auslegbaren Worten, weniger in Handlungen zum Vorschein.

Burton gefiel das nicht, da er selbst in seinem Benehmen offen und direkt war und sich vor Streit nicht fürchtete. Vielleicht war er sogar, wie Frigate meinte, zu begierig, Konfrontationen offen auszutragen.

Eines Abends, als sie unter einem Gralstein um ein Feuer herum versammelt waren, sprach Frigate über Karatschi. Dieser Ort, der später zur Hauptstadt von Pakistan geworden war, hatte zu Burtons Lebzeiten nur 2000 Einwohner gehabt. Im Jahre l970 war die Bevölkerung auf 2.000.000 angestiegen. Das führte Frigate zu der Frage nach einem Bericht, den Burton seinerzeit seinem General, Sir Robert Napier, über männliche Prostitution in dieser Stadt geliefert hatte. Der Bericht verschwand zwar zunächst in den Tresoren der Ostindischen Armee, aber einer der zahlreichen Feinde Burtons hatte ihn schließlich doch ans Tageslicht befördert. Obwohl er in der Öffentlichkeit niemals erwähnt wurde, hatte man ihn zeit seines Lebens gegen Burton verwandt. Burton hatte sich damals in der Verkleidung eines Eingeborenen in eines dieser Bordelle begeben und war Zeuge von Dingen geworden, die die Augen eines Europäers vor ihm nie zu Gesicht bekommen hatten. Er hatte diese Aufgabe nur deswegen übernommen, weil er der einzige war, der ihn ausführen konnte, und weil sein geliebter General Napier ihn darum gebeten hatte. Und er war tatsächlich zurückgekommen, ohne entdeckt zu werden.

Burton sagte irgend etwas Mürrisches darauf. Alice hatte ihn einige Zeit vorher verärgert — dies schien ihr seit einigen Tagen immer leichter zu gelingen, und so dachte er darüber nach, wie er sich an ihr rächen könnte.

Automatisch übertrug sich seine Wut auf Frigate, und er berichtete in zynischem Tonfall über das, was er in diesen Bordellen zur Kenntnis hatte nehmen müssen. Ruach gab schließlich auf und verschwand, während Frigate, dem es offenbar kurz darauf schlecht wurde, sich dazu zwang, sitzenzubleiben. Wilfreda lachte, bis sie umkippte und sich vor Vergnügen am Boden wälzte, während Kazz und Monat blöde vor sich hinstierten. Da Gwenafra auf dem Boot bereits eingeschlafen war, brauchte Burton auf sie keinerlei Rücksicht zu nehmen. Loghu schienen seine Erzählungen gleichwohl zu faszinieren und abzustoßen.

Und Alice, derentwegen er überhaupt damit begonnen hatte, wurde zuerst blaß und dann rot. Schließlich sagte sie: »Also wirklich, Mr. Burton… Ich habe an sich nie eine besonders hohe Meinung von Ihnen gehabt, aber das… das was Sie uns jetzt bieten, ist wirklich der Gipfel der Dekadenz. Sie sind schmutzig und abstoßend. Nicht daß ich etwa auch nur ein Wort von dem, was Sie hier vor uns ausbreiten, glauben würde. Es ist einfach unmöglich, daß jemand all diese Dinge wirklich erlebt hat und anschließend auch noch damit prahlt. In Wirklichkeit haben Sie doch nichts anderes im Sinn, als sich der Geschichten, die man sich über Sie erzählt, als würdig zu erweisen.«

Sie stand auf und verschwand in der Dunkelheit.

Frigate sagte: »Irgendwann wirst du mir vielleicht erzählen, was von dem alles der Wahrheit entspricht. Ich hätte früher nicht anders über dich gedacht als Alice. Aber je älter und abgeklärter ich wurde, desto eingängiger erschienen mir die Analysen deiner verschiedenen Biographen.

Einer fertigte sogar anhand deiner Werke eine recht brauchbare psychologische Studie über dich an.«

»Und welche Schlüsse zog er?«

»Das sage ich dir später einmal, Dick«, hatte Frigate erwidert. »Alter Wüstling«, fügte er hinzu und tauchte dann ebenfalls im Dunkel unter.

Jetzt, wo Burton an der Ruderpinne stand und die Sonnenstrahlen auf die Gruppe niederbrennen sah und dem Zischen des Wassers lauschte, das die beiden mächtigen Ausleger des Bootes zerteilten, fragte er sich, was sie am anderen Ende des Canyons erwarten mochte. Natürlich nicht das Ende des Flusses, das war klar. Er zweifelte nicht daran, daß er seinen Lauf bis in die Unendlichkeit fortsetzte. Aber es war nicht auszuschließen, daß sich das Ende seiner Gruppe dahinter abzeichnete. Sie waren schon jetzt zu lange beisammen. Es gab zu wenig Arbeit und zuwenig Gesprächsstoff für sie. Wohin man auch ging an Bord — überall traf man auf dieselben Gesichter und ging sich gegenseitig auf die Nerven. Selbst Wilfreda war seit einiger Zeit merkwürdig still und teilnahmslos. Aber möglicherweise hatte er sich das selbst zuzuschreiben. Offengestanden — er war ihrer müde. Auch wenn er sie noch nicht haßte oder ihr etwas Schlechtes wünschte, er war ihrer einfach überdrüssig, und die Tatsache, daß er zwar sie, nicht aber Alice Hargreaves haben konnte, brachte ihn innerlich noch mehr gegen sie auf.

Lev Ruach hielt sich von ihm fern oder sprach nur das Nötigste; dessen ungeachtet stritt er sich sogar über die geringsten Kleinigkeiten mit Esther.

Frigate schien ihm wegen irgendeiner Sache böse zu sein, und doch würde dieser Feigling niemals auf ihn zukommen und ihm sagen, was ihn bedrückte — außer man trieb ihn in die Enge und versetzte ihn in rasende Wut.

Loghu wiederum schien mit Frigate Krach zu haben, möglicherweise aus dem Grunde, weil er sie nicht anders behandelte als die anderen. Burton gegenüber schien sie seit jenem Tag, als sie in den Hügeln gewesen waren und Bambus geschnitten hatten, ebenfalls Haßgefühle entwickelt zu haben. Sie hatte ihm ein eindeutiges Angebot gemacht, und er hatte abgelehnt. Es war bereits einige Wochen her. Er hatte ihr auch seine Gründe dargelegt: Es halte ihn zwar keine Moral davon ab, mit ihr zu schlafen, aber er habe nicht die Absicht, Frigate oder irgendeinen anderen Mann aus der Gruppe zu hintergehen. Loghu hatte gesagt, es habe nichts damit zu tun, daß sie Frigate nicht mehr liebe, sondern ihr sei nur daran gelegen, die Eintönigkeit ebenso dann und wann zu durchbrechen, wie dies Frigate tat.

Alice hatte mittlerweile die Hoffnung, jemals ein bekanntes Gesicht am Ufer zu sehen, aufgegeben. Sie waren schätzungsweise an 44.370.000 Leuten vorbeigekommen, ohne daß ihr das ersehnte Glück widerfahren war. Sie wurde von Tag zu Tag depressiver, saß auf dem Vordeck herum und langweilte sich.

Burton wollte es sich selbst zwar nicht eingestehen, aber tatsächlich fürchtete er sich davor, daß sie die Gruppe verließ. Sie brauchte nur an ihrem nächsten Halteplatz aufzustehen, ihre Siebensachen zu packen, an Land zu springen und Lebewohl zu sagen. Bis in hundert Jahren, oder so etwas.

Vielleicht. Alles, was sie bis jetzt an Bord zurückgehalten hatte, schien Gwenafra zu sein. Sie erzog die kleine, aus uralten Zeiten stammende Britin wie eine viktorianische Lady.

Burton selbst wurde der ziellosen Reise auf dem kleinen Schiff mehr und mehr satt. Er wünschte sich, irgendwo auf ein bewohnbares Gebiet zu stoßen, sich dort zur Ruhe zu setzen, Studien zu betreiben, sich in lokalen Aktivitäten zu engagieren, wieder festes Land unter die Füße zu bekommen und es seinen Trieben zu gestatten, sich auszuleben. Aber er wollte es mit Alice gemeinsam tun. Sie sollte in seiner Hütte leben.

»Das Glück eines seßhaften Mannes ist ebenfalls unbeweglich«, murmelte er.

Er würde bald zur Aktion schreiten müssen, was Alice anbetraf. Schließlich war er lange genug ein Gentleman gewesen. Er würde sie umschmeicheln und sie im Sturm erobern. Als junger Mann war er ein recht zielbewußter Liebhaber gewesen, was sich nach seiner Ehe ins Gegenteil verkehrt hatte: Er hatte sich lieben lassen. Aber die alten Umgangsformen, die man anwenden mußte, um eine Frau zu erobern, die danach verlangte, waren noch in ihm. Er hatte sie nicht vergessen, auch wenn er jetzt einen neuen Körper besaß.

Die Hadji drang in den finsteren Canyon ein. Das Wasser war voller Turbulenzen. Blauschwarze Felsen erhoben sich zu beiden Seiten des Bootes.

Die Haji nahm eine Kurve, und der in ihrem Rücken liegende See verschwand aus ihrem Blickfeld. Plötzlich war jedes Mitglied der Besatzung beschäftigt.

Die Leute sprangen auf und beeilten sich, im gleichen Moment als Burton sich alle Mühe gab, den Strömungen und Strudeln auszuweichen, die Segel in die richtige Position zu bringen. Der Bug des Bootes hob sich, tauchte wieder ein und knirschte leise, als der Kurs geändert wurde. Mehrere Male kam es den Felswänden gefährlich nahe, die dem ununterbrochenen Ansturm klatschender Wellen ausgesetzt waren. Aber da Burton die HADJI nun schon so lange steuerte, empfand er sich beinahe als Teil von ihr. Die Mannschaft war so aufeinander eingespielt, daß sie jeder seiner Anweisungen augenblicklich folgte. Manchmal schienen sie geradezu im voraus zu wissen, was er anordnen würde.

Die Durchfahrt dauerte etwa dreißig Minuten. Sie erregte Furcht in den Gemütern der Leute — daß Frigate und Ruach sich die größten Sorgen machten, konnte man an ihren Gesichtern ablesen —, stürzte sie jedoch gleichzeitig auch in einen Zustand freudiger Euphorie. Zumindest war die Langeweile verschwunden.

Vor ihnen breitete sich im Sonnenschein ein See aus, der etwa sechs Kilometer breit war und sich, soweit der Blick reichte, nach Norden erstreckte. Die Berge endeten hier ganz plötzlich; die Ebenen zu beiden Seiten hatten die übliche Breite von anderthalb Kilometer.

Mehr als fünfzig Wasserfahrzeuge kamen in Sicht. Es waren alle möglichen Typen, von einfachen Flößen bis zu aus Bambus gefertigten Zweimastern. Es waren offenbar Fischerboote. Zu ihrer Linken, mehr als einen Kilometer von ihnen entfernt, erhob sich der allgegenwärtige Gralstein. Am Ufer des Sees waren Gestalten auszumachen, hinter denen sich, verstreut über die Ebene wie auch die dahinterliegenden Hügel, Hütten im — wie Frigate sich auszudrücken pflegte — neopolynesischen Stil erhoben.

Rechts von ihnen — etwa siebenhundert Meter vom Ausgang des Canyons entfernt — entdeckten sie ein aus Palisaden errichtetes Fort. Davor standen zehn massive, aus dem gleichen Material hergestellte Docks, die große und kleine Boote verschiedenster Bauweise enthielten. Wenige Minuten nach dem Auftauchen der Hadji war dröhnender Trommelwirbel zu vernehmen. Vor dem Fort hatte sich bereits eine größere Menschenmenge versammelt, aber immer noch strömten aus den dahinterliegenden Hütten mehr zusammen, die sich in die bereitliegenden Boote stürzten und losruderten.

Auf der linken Seite des Ufers wurden ebenfalls Boote zu Wasser gebracht.

Die dunklen Gestalten schoben Flöße, Auslegerboote und Kanus in die Fluten.

Es sah ganz so aus, als fände hier ein Wettstreit darüber statt, wer die Hadji als erster erreichte.

Burton steuerte einen waghalsigen Zickzackkurs, der ihn mehrmals bis in die Nähe der sie umschwärmenden Boote brachte. Die Männer von der rechten Uferseite kamen immer näher. Sie waren Weiße und gut bewaffnet, aber sie machten dennoch keine Anstalten, ihre Bogen einzusetzen. Ein Mann, der sich jetzt am Bug eines von dreißig Ruderern vorwärtsgejagten Kriegskanus erhob, bedeutete ihnen anzuhalten und schrie auf Deutsch: »Euch wird nichts geschehen!«

»Wir kommen in Frieden!« brüllte Frigate zurück.

»Als ob er das nicht selber wüßte«, knurrte Burton wütend. »Es ist doch wohl offensichtlich, daß wir viel zu wenige sind, um sie anzugreifen!«

Jetzt erklangen auf beiden Seiten des Flusses die Trommeln. Es hörte sich an, als säßen die Trommler überall am Seeufer verstreut. Es wimmelte nur so von bewaffneten Menschen. Man brachte weitere Boote zu Wasser, um der Hadji den Weg abzuschneiden. Hinter ihnen verloren die ersten Verfolger den Anschluß. Zwar setzten sie ihren Weg fort, verloren jedoch an Geschwindigkeit.

Burton zögerte. Sollte er die Hadji wenden, durch den engen Kanal zurückfahren und im Schutz der Dunkelheit einen erneuten Vorstoß wagen? Es würde nicht ungefährlich sein, da die hohen Felswände mit Sicherheit das Licht der Sterne verdunkelten. Ebenso gut konnte er das Steuer einem Blinden überlassen.

Davon abgesehen schien die Hadji wirklich schneller zu sein als jedes Boot, über das ihre Gegner verfügten. So weit, so gut. Aber in weiter Ferne tauchten plötzlich Segel auf, die sich genau auf sie zubewegten. Immerhin hatte die Hadji wohl den Wind im Rücken als auch die Strömung überwunden — aber konnte sie den neu auftauchenden Gegner auch dann noch ungefährdet entkommen, wenn sie an ihnen vorbeikam und die anderen ihr nachsetzten?

Alle Schiffe, die er bisher gesehen hatte, waren mit Bewaffneten überladen.

Deshalb waren sie zu langsam. Nicht einmal ein Schiff, das über die gleiche Schnelligkeit wie die Hadji verfügt hätte, konnte ihnen mit einer solchen schweren Ladung gefährlich werden.

Er entschied sich deshalb, weiter flußaufwärts zu fahren.

Zehn Minuten später kreuzte ein weiteres Kriegskanu ihren Kurs. Es wurde von zweiunddreißig Ruderern bewegt und verfügte an Bug und Heck über kleine Decks, auf denen sich jeweils zwei Männer hinter aus Holz gefertigten Katapulten aufhielten. Einer der Männer am Bug lud die Waffe mit einem rauchenden Gegenstand, während der andere sie spannte. Plötzlich sauste das Geschoß durch die Luft. Die Ruderer stellten ihre Arbeit ein. Das rauchende Objekt flog in hohem Bogen auf die Hadji zu und explodierte dann mit einem lauten Krach in einer Entfernung von etwa acht Metern. Dicker Rauch quoll auf und wurde schnell von der Brise auseinandergetrieben.

Die Frauen kreischten; ein Mann schrie auf. Sie haben in diesem Gebiet also Sulfat entdeckt, dachte Burton, sonst wären sie nicht in der Lage, Schießpulver herzustellen.

Er rief nach Loghu und Esther, damit sie die Ruderpinne übernahmen. Beide Frauen waren bleich, aber sie waren ungeachtet der Tatsache, daß keine von beiden je eine Explosion miterlebt hatte, gefaßt genug, seinem Befehl sofort Folge zu leisten.

Man hatte Gwenafra in die kleine Kajüte gebracht. Alice bewaffnete sich mit ihrem Eibenholzbogen und griff nach den Pfeilen. Ihre weiße Haut kontrastierte stark mit dem blutroten Lippenstift und dem grünen Augenmake-up, das sie aufgelegt hatte. Sie hatte bisher mehr als zehn solcher Angriffe mitgemacht, ohne die Nerven verloren zu haben. Außerdem war sie der beste Bogenschütze der gesamten Mannschaft. Burton war Zeit seines Lebens ein guter Schütze gewesen, aber im Bogenschießen ging ihm einiges ab.

Und Kazz war zwar fähig, den Bogen aus dem Knochen des Drachenfisches stärker als Burton zu spannen, aber seine Zielkünste waren einfach schrecklich. Frigate behauptete, daß aus ihm wahrscheinlich niemals ein guter Bogenschütze werden würde: Wie allen Analphabeten fehlte ihm der Sinn für die richtige Perspektive.

Die Katapultschützen verzichteten darauf, eine weitere ihrer Bomben abzufeuern. Mit ziemlicher Sicherheit hatte man also nur einen Warnschuß abgegeben. Also verzichtete Burton erst recht darauf, das Boot zu stoppen.

Die Bogenschützen des Gegners hätten bereits mehr als einmal die Möglichkeit gehabt, die Hadji mit einem Pfeilhagel einzudecken. Daß sie es nicht taten, bewies eindeutig, daß sie die Mannschaft lebend wollten.

Das Kanu zerteilte das Wasser. Die Ruderer legten sich ins Zeug und brachten ihr Boot dem Heck der Hadji näher. Die beiden am Bug stehenden Männer sprangen plötzlich ab. Einer von ihnen fiel ins Wasser. Seine Fingerspitzen hatten lediglich den äußersten Decksvorsprung der Hadji erreichen können.

Der andere landete auf den Knien an Deck. Er hielt ein Bambusmesser zwischen den Zähnen, und an seinem Gürtel hatte er eine kleine Steinaxt und ein Hornfisch-Stilett. Einen Moment lang blickte er Burton in die Augen. Das Haar des Fremden war strohblond, seine Augen waren von einem blassen Blau, und sein Gesicht war von geradezu klassischer Schönheit. Sicher beabsichtigte er, ein paar Männer der Hadji zu verwunden und sich einer der Frauen zu bemächtigen, damit die Mannschaft beschäftigt war, während seine Kollegen mit dem Entern des Schiffes begannen. Es wäre ein leichtes Spiel gewesen. Aber die Chance, seinen Plan jetzt noch auszuführen, war nicht groß, und möglicherweise wußte er das auch. Aber das schien ihn wenig zu kümmern. Die meisten Menschen fürchten den Tod, weil die Angst sich der Zellen ihres Körpers bemächtigt, und reagieren rein instinktiv. Einigen wenigen gelingt es, diese Angst zu überwinden, während andere sie niemals verspüren.

Burton sprang auf ihn zu und versetzte ihm einen Schlag mit der Axt auf den Kopf. Der Angreifer öffnete den Mund, verlor das Bambusmesser und fiel aufs Gesicht. Burton nahm das Messer an sich, löste den Gurt des Mannes und stieß den Bewußtlosen mit dem Fuß ins Wasser. Die Männer in dem Kriegskanu brüllten auf und änderten ihren Kurs. Burton stellte fest, daß sie sich rasch dem Ufer näherten und gab den Befehl, die Hadji zu wenden. Das Schiff schwang herum, und ein Teil der Verfolger raste an ihnen vorbei. Immer mehr Boote tauchten auf. In ihrer unmittelbaren Nähe befanden sich drei kleinere, jeweils mit vier Mann besetzte Paddelboote, vier große Kriegskanus und fünf Zweimastschoner, die über eine ganze Reihe schußbereiter Katapulte verfügten und auf deren Decks es von Kriegern nur so wimmelte.

In der Mitte des Flusses befahl Burton, die Hadji erneut herumzuschwenken.

Dieses Manöver erlaubte es den Segelschiffen zwar näherzukommen, aber damit hatte er durchaus gerechnet. Die Hadji durchpflügte das Wasser zwischen zweien der Verfolger und kam ihnen dabei so nahe, daß er die Gesichter der Leute, die sich an Bord der gegnerischen Schiffe befanden, genau erkennen konnte. Die meisten wiesen kaukasische Züge auf, und ihre Hautfarbe differierte von dunkel bis hell. Der Kapitän eines der Verfolgerschiffe schrie Burton auf deutsch zu, daß er sich ergeben solle.

»Wenn ihr aufgebt, wird euch nichts geschehen — aber wenn ihr weiterkämpft, habt ihr die schlimmste Folter zu erwarten!« Er sprach Deutsch mit ungarischem Akzent.

Anstelle einer Antwort deckten Burton und Alice den Gegner mit einem Pfeilhagel ein. Alices erster Pfeil verfehlte zwar den Kapitän, traf aber den Steuermann, der zurücktaumelte und über die Reling fiel. Auf der Stelle begann das gegnerische Schiff abzudrehen. Mit einem Sprung übernahm der Kapitän das Ruder, und im gleichen Moment traf ihn ein Pfeil Burtons in die Kniekehle.

Mit einem ungeheuren Krach prallten die beiden Verfolgerschiffe aufeinander.

Holz knirschte und barst. Burton sah Männer über Bord fallen und hörte Gegner schreien. Die kleineren Boote gerieten in das Getümmel hinein, versuchten ihm zu entgehen und trugen schwere Schäden davon. Selbst wenn die Schiffe der Angreifer nicht sanken, sie waren zumindest außer Gefecht gesetzt.

Aber noch bevor sie sich ineinander verkeilten, war es einigen Bogenschützen gelungen, die Hadji mit Schüssen einzudecken. Eine Salve Brandpfeile traf die Grassegel, die sofort Feuer fingen. Der Wind verbreitete die Flammen schnell.

Burton übernahm wieder die Ruderpinne und schrie Befehle. Die Mitglieder der Gruppe schöpften in aller Eile mit ihren Gralen Wasser und versuchten das Feuer zu löschen. Loghu, die wie ein Affe klettern konnte, bestieg, ein zusammengerolltes Seil über der Schulter, den Mast. Von oben herab warf sie das Seilende auf das Deck und zog die Wasserbehälter zu sich hinauf.

Mehrere der Schoner und ein paar der Kriegskanus begannen jetzt aufzuschließen. Ein Schiff befand sich genau auf dem Kurs der Hadji. Burton warf erneut das Steuer herum, mußte aber erkennen, daß das Boot ihm wegen des zusätzlichen Gewichts Loghus auf dem Mast nicht mehr in der gewünschten Weise gehorchte. Es drehte sich. Sogleich feuerten die Verfolger eine neue Brandpfeilsalve auf das Segel ab. Das Feuer breitete sich immer weiter aus.

Mehrere der Pfeile trafen das Deck, so daß Burton schon glaubte, der Gegner habe es sich anders überlegt und lege es nun darauf an, sie alle zu töten.

Aber das war ein Irrtum. Es hatte sich lediglich um Fehlschüsse gehandelt.

Und wieder befand sich die Hadji zwischen zwei feindlichen Schonern. Die Kapitäne der gegnerischen Schiffe grinsten. Offenbar lag eine lange und kampflose Zeit hinter ihnen; sie schienen sich beide auf einen Kampf zu freuen. Die Mannschaften hielten sich geduckt hinter der Reling verborgen; nur die Offiziere, Steuerleute und Bogenschützen waren dem Pfeilhagel von der Hadji ausgesetzt. Die Luft war von einem lauten Schwirren erfüllt, dann ergoß sich eine neue Ladung brennender Pfeile über das Deck. Das Segel brannte nun an einem Dutzend verschiedener Stellen. Einige Pfeile trafen den Mast, ein ganzes Dutzend versank zischend im Wasser, während ein einzelner nur um wenige Zentimeter Burtons Kopf verfehlte.

Während Esther das Ruder übernahm, schossen Alice, Ruach, Kazz, De Greystock, Wilfreda und Burton, was das Zeug hielt. Loghu verharrte auf der Mastspitze und wartete auf einen günstigen Moment, um sich wieder herunterzulassen. Mit fünf Pfeilen trafen die Verteidiger der Hadji drei Ziele: einen Kapitän, einen Rudergänger und einen Matrosen, der seinen Kopf im falschen Moment erhob.

Esther schrie auf. Burton wirbelte herum. Das Kriegskanu hatte sich nun am Heck der Hadji vorbeimanövriert und näherte sich dem Bug des Schiffes. Es gab keine Möglichkeit, der bevorstehenden Kollision auszuweichen. Die beiden am Bug stehenden Männer machten sich sprungbereit, während die Ruderer aufstanden. Der Bug der Hadji krachte gegen das Kanu, riß es in der Mitte auf und sorgte dafür, daß die abwartende Mannschaft über Bord ging. Der Aufprall führte dazu, daß auch die Besatzung der Hadji zeitweilig das Gleichgewicht verlor. De Greystock verlor die Balance und fiel ins Wasser.

Auch Burton stürzte. Er fiel der Länge nach auf die Planken und riß sich die Haut auf.

Esther hatte die Gewalt über die Ruderpinne verloren und rollte hilflos über das Deck, bis sie gegen die Kajütenwandung prallte. Unbeweglich blieb sie dort liegen.

Burton schaute nach oben. Das Segel stand jetzt in hellen Flammen und konnte nicht mehr gerettet werden. Loghu war verschwunden; möglicherweise hatte sie im Moment des Zusammenpralls den Halt verloren. Er sprang auf und sah De Greystock zur Hadji zurückschwimmen. In seiner Umgebung wurde das Wasser von den wild um sich schlagenden Gegnern aufgewühlt. Den Schreien nach zu urteilen, die die Männer ausstießen, konnten nur wenige von ihnen schwimmen.

Während Burton sich die Beschädigungen ansah, befahl er den anderen, De Greystock an Bord zu ziehen und nach Loghu Ausschau zu halten. Der Bug der HADJI wies ein großes Leck auf. Wasser drang in das Schiff ein. Der Qualm, den das lichterloh brennende Segel erzeugte, legte sich schwer auf ihre Lungen. Alice und Gwenafra husteten bereits.

Aus nördlicher Richtung raste ein weiteres Kriegskanu auf sie zu. Die beiden Schoner näherten sich ebenfalls wieder.

Entweder kämpften sie jetzt weiter, in der Hoffnung, möglichst viele ihrer Gegner zu töten, und begaben sich anschließend in Gefangenschaft — oder sie versuchten schwimmend zu entkommen. Was sie auch taten: Es würde unweigerlich damit enden, daß man sie gefangennahm.

Sie hatten inzwischen Loghu und De Greystock wieder an Bord gezogen. Frigate meldete, daß Esther noch immer besinnungslos sei. Ruach fühlte ihren Puls, schaute ihr in die Pupille und kehrte dann zu Burton zurück.

»Sie ist nicht tot; aber sie ist völlig erledigt.«

Burton sagte: »Die Frauen sollten sich darüber im klaren sein, was sie erwartet. Es ist natürlich ihre eigene Sache, aber ich würde vorschlagen, daß sie sich ins Wasser stürzen und sich nicht gegen das Ertrinken wehren.

Sie würden schon morgen wieder irgendwo aufwachen, ohne Schaden zu nehmen.«

Gwenafra kam aus dem Kajütenaufbau, legte die Arme um Burtons Hüften und sah ihn mit fragendem Blick an. Sie fürchtete sich. Burton streichelte ihren Rücken und rief: »Alice! Nimm sie mit dir!«

»Wohin denn?« fragte Alice. Sie warf einen Blick auf das sich nähernde Kanu und dann auf Burton. Eine Qualmwolke hüllte sie plötzlich ein und erzeugte einen Hustenanfall.

»Ins Wasser«, sagte Burton.

Er deutete auf den Fluß.

»Ich kann nicht«, erwiderte Alice.

»Du würdest es ebenfalls nicht zulassen, daß die Kleine den Männern in die Hände fiele. Auch wenn sie nur ein kleines Mädchen ist — das würde diese Burschen nicht davon abhalten, über sie herzufallen.«

Alice sah ihn an, als sei sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Aber kein klagender Laut drang über ihre Lippen.

Schließlich sagte sie: »Na gut. Es ist jetzt keine Sünde mehr, sich selbst das Leben zu nehmen. Ich hoffe nur…«

»Ja«, sagte Burton.

»Der Platz, an dem wir nachher wieder aufwachen, kann genauso schlimm und schrecklich sein wie dieser hier«, gab Alice zu bedenken. »Und außerdem wird Gwenafra dann allein sein. Du weißt, daß die Chance, daß wir beide am gleichen Ort wieder zu uns kommen, sehr gering ist.«

»Daran kann man nichts ändern«, sagte Burton.

Alice biß sich auf die Lippen. »Ich werde bis zum letzten Augenblick kämpfen. Und dann…«

»Dann könnte es bereits zu spät sein«, entgegnete Burton. Er nahm seinen Bogen und zog einen Pfeil aus dem Köcher. De Greystock hatte seine Waffe verloren und benutzte die von Kazz. Der Neandertaler legte einen Stein in seine Schleuder und begann, sie über seinem Kopf herumzuwirbeln. Auch Lev besaß eine solche Waffe. Monat benutzte Esthers Bogen, da sein eigener ebenfalls verschwunden war.

Der Kapitän des Kriegskanus schrie plötzlich auf deutsch: »Legt die Waffen nieder! Euch wird nichts geschehen!«

Eine Sekunde später traf ihn ein Pfeil Alices in die Brust. Er stürzte zwischen seine Ruderer. Ein weiteres Geschoß — es stammte von De Greystock — traf einen zweiten Mann, der über Bord fiel und im Wasser landete. Kazz’ Schleuder traf einen der Ruderer an der Schulter, und der Mann brach mit einem Schrei zusammen. Ein weiterer Stein verletzte einen seiner Kollegen am Kopf. Der Mann ließ sein Paddel los.

Dennoch näherte sich das Kanu unentwegt. Die beiden auf der rückwärtigen Plattform stehenden Männer feuerten die Ruderer an und hielten ihre Waffen bereit.

Burton sah sich um. Die beiden Schoner holten jetzt die Segel ein. Offenbar hatten sie vor, auf die Hadji zuzugleiten und sie zu entern. Da sie Angst vor dem brennenden Segel hatten — immerhin konnten die Flammen auf das eigene Schiff übergreifen —, würden sie nicht allzu nahe herankommen können.

Ohne Rücksicht auf die mittlerweile vierzehn Verletzten und Toten zu nehmen, die sich bereits in ihrer Mitte befanden, steuerte die Besatzung des Kanus ihr Boot in die Hadji hinein. Kurz bevor der Bug des Bootes mit der Hadji kollidierte, rissen die Angreifer kleine runde Lederschilde empor und schützten sich so gegen die Pfeile. Dennoch wurden zwei der Männer getroffen. Aber immer noch war das Verhältnis zwanzig zu zwölf: Auf der Hadji befanden sich sechs Männer, fünf Frauen und ein Kind.

Aber einer von ihnen war ein haariger Kerl, einen Meter fünfzig groß, mit unermeßlichen Kräften und einer großen Steinaxt. Kurz bevor das Kanu die Wandung der Hadji berührte, sprang Kazz in die Höhe und landete an Bord des Kanus. Seine Axt wirbelte durch die Luft. Er spaltete zwei Männern den Schädel, dann drosch er auf den Boden des Bootes ein. Es begann augenblicklich zu sinken. Mit einem Schlachtruf landete De Greystock neben Kazz. Er war mit einem Stilett und einem Morgenstern bewaffnet.

Die Bogenschützen der Hadji schossen Salve auf Salve ab. Kazz und De Greystock schwangen sich auf ihr Schiff zurück und ließen das mit Verwundeten und Sterbenden beladene Kanu der Angreifer hinter sich. Die Verfolger versuchten hastig, sich in Sicherheit zu bringen, dennoch ertranken viele. Andere wiederum versuchten unentwegt, an Bord der Hadji zu gelangen. Einige Tritte auf ihre Finger sorgten dafür, daß sie diesen Plan recht schnell wieder aufgaben.

Irgend etwas knallte auf das Deck. Burton fuhr herum. Etwas legte sich um seinen Hals. Er griff nach der Lederschlinge und riß sie zu sich heran. Der Mann, der sie am anderen Ende festhielt, war so überrascht, daß er über die Reling fiel. Er schrie, ruderte wild mit den Armen und knallte mit der Schulter auf das Deck der Hadji. Burton schlug ihm mit der Axt auf den Schädel.

Jetzt fluteten von beiden Seiten die Angreifer auf das Deck der Hadji. Von überallher wurden Seile geworfen. Obwohl der Rauch und die Flammen das Chaos noch vergrößerten, nützten sie im Endeffekt doch der Besatzung der Hadji mehr als den Gegnern.

Burton wollte Gwenafra zurufen, sich ins Wasser zu stürzen, aber er konnte sie nicht finden und sah sich dann auch schon gezwungen, einen riesigen Schwarzen mit einer Lanze abzuwehren. Der Mann schien völlig vergessen zu haben, daß er Burton lebendig fangen sollte, und versuchte ihn zu töten.

Burton schlug den Kurzspeer zur Seite, brach nach links aus, fühlte plötzlich einen stechenden Schmerz zwischen den Rippen, schlug zwei weitere Angreifer nieder und lag plötzlich im Wasser. Er fiel zwischen den Schoner und die Hadji, tauchte unter, griff nach der Axt und riß sein Stilett aus der Scheide. Als er wieder auftauchte, erblickte er genau vor sich einen hochgewachsenen, grobknochigen, rothaarigen Mann, der gerade die schreiende Gwenafra mit beiden Händen hochriß und über seinem Kopf durch die Luft wirbelte. Dann warf er sie ins Wasser.

Burton tauchte erneut, und als er wieder hochkam, sah er Gwenafras Kopf genau neben sich. Ihr Gesicht war grau, und ihre Augen blickten stumpf. Das Wasser um sie herum verfärbte sich plötzlich rot, und dann versank sie, ohne daß Burton eine Chance gehabt hätte, sie zu halten. Er holte tief Luft, glitt hinter ihr her und zog sie mit sich an die Oberfläche. Die Spitze eines Hornfischmessers steckte in ihrem Rücken.

Burton ließ sie los. Er verstand nicht, warum der Mann sie getötet hatte.

Sie wäre eine leichte Beute gewesen. Vielleicht hatte Alice es getan; und der Mann, dem sie in die Hände gefallen war, glaubte sie so gut wie tot und hatte sie den Fischen überlassen.

Aus der Rauchwolke heraus kam der Körper eines Mannes geflogen, dem sogleich ein zweiter folgte. Der erste war tot; sein Genick war gebrochen. Der zweite lebte noch. Burton stieß ihm das Messer in den Hals. Der Mann hörte auf zu zappeln und versank in der Tiefe.

Frigate sprang aus der Rauchwolke hervor. Gesicht und Schultern waren blutverschmiert. Er sprang ins Wasser und tauchte unter. Burton schwamm hinter ihm her, um zu helfen. Es hatte jetzt keinen Sinn mehr, den Versuch zu unternehmen, auf die Hadji zurückzukehren. Auf dem Deck des Bootes wimmelte es von kämpfenden Gestalten. Und immer mehr Kanus und Auslegerboote näherten sich dem Schlachtfeld.

Frigates Kopf tauchte plötzlich aus den Wellen auf. Burton schwamm auf ihn zu und fragte: »Sind die Frauen entkommen?«

Frigate schüttelte den Kopf. Dann rief er: »Vorsicht!«

Es gelang Burton eben noch, hinabzutauchen. Irgend etwas traf seine Beine.

Er sank tiefer, aber es gelang ihm nicht, soviel Wasser zu schlucken, daß er ertrank. Er würde weiterkämpfen, und den anderen würde nichts übrigbleiben, als ihn zu töten.

Als er wieder den Wasserspiegel durchbrach, wimmelte es um ihn herum von Menschen, die es ihm und Frigate gleichgetan hatten. Der Amerikaner — er war allem Anschein nach halb bewußtlos — wurde gerade in ein Kanu hineingezogen.

Drei Männer kesselten Burton ein. Er tötete zwei von ihnen. Dann näherte sich von hinten ein Auslegerboot. Ein Mann schwang eine lange Stange und traf ihn genau auf den Kopf.

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