19

»Ich hasse dich, Hermann Göring!«

Die Stimme donnerte in seinen Ohren und verstummte so plötzlich, als habe sie nie existiert.

Auf dem Höhepunkt seines beinahe hypnotischen Schlafes angekommen, wußte Burton, daß er träumte. Aber er konnte nichts dagegen tun.

Der erste Traum kehrte zurück.

Die Geschehnisse waren nebelhaft und verschwommen. Ein Blitzstrahl zuckte auf ihn nieder. Er schwebte wieder in dem mysteriösen Nichts, in dem sich die schwebenden Körper langsam drehten wie in einem Grill. Ein weiterer Blitz der namenlosen Wächter traf ihn und schläferte ihn wieder ein. Eine stark geraffte Fassung seines damaligen Traumes vor der Wiedererweckung zog an seinem inneren Auge vorüber.

Gott — ein gutaussehender Mann in der Kleidung eines Gentlemans der Viktorianischen Ära — schlug ihm mit einem eisernen Stock in die Rippen und erzählte ihm, daß er die Schuld des Fleisches zu begleichen habe.

»Was?« fragte Burton. »Welchen Fleisches?« Ganz schwach wurde ihm bewußt, daß er im Schlaf sprach. In seinem Traum waren die Worte nicht zu hören.

»ZAHL SIE ZURÜCK!« sagte Gott. Sein Gesicht schmolz dahin und verwandelte sich in das Burtons.

In dem Traum, der nun fünf Jahre zurücklag, hatte Gott nicht geantwortet.

Diesmal sagte er: »DU SOLLTEST DIE MÜHE MEINER ARBEIT ZU SCHÄTZEN WISSEN, DU NARR! ES HAT MICH EINE MENGE ZEIT UND NOCH VIEL MEHR SCHMERZEN GEKOSTET, DIR UND ALL DIESEN ANDEREN UNWÜRDIGEN TÖLPELN EINE ZWEITE CHANCE ZU GEBEN.«

»Eine zweite Chance?« fragte Burton. »Wozu?« Er fürchtete sich vor Gottes Antwort. Aber noch mehr ängstigte es ihn, daß Gott, der All-Vater — erst jetzt sah Burton, daß das Auge Jahwe-Odins verschwunden war und aus der leeren Höhle nichts anderes als das Höllenfeuer leuchtete, ihm keine Antwort gab. Er war gegangen. Nein — er hatte sich in einen riesigen grauen Turm verwandelt, der sich zylindrisch aus den gleichfarbenen Nebelfeldern erhob und sich dem Brüllen der See entgegenstemmte.

»Der Gral!«

Erneut sah er den Mann, der ihm von dem Großen Gral erzählt hatte. Aber auch er wußte davon lediglich durch einen anderen Mann, der sich seinerseits auf die Erzählungen einer Frau berief, die… und so fort. Der Große Gral stellte eine der Legenden dar, die man sich unter Milliarden von Menschen an den Flußufern erzählte. Wo man auch hinkam — sie existierte.

Angeblich hatte es ein Mann — oder ein Frühmensch — geschafft, das Gebirge zu bezwingen. Er hatte den Nordpol erreicht — und war dort auf den Großen Gral gestoßen, einen dunklen Turm, eine im Nebel liegende Burg. Und dann war er gestolpert. Oder man hatte ihn gestoßen. Er war kopfüber in die tiefen eiskalten Gewässer gestürzt und gestorben.

Aber der Mensch — oder Frühmensch — war irgendwo am Flußufer wieder erwacht.

Der Tod war in dieser Welt nicht endgültig, auch wenn man die Furcht vor ihm nicht verloren hatte.

Der Mann behielt diese Geschichte nicht für sich. Schneller, als ein Boot segeln konnte, hatte sie sich an den Ufern des großen Flusses ausgebreitet.

Und deswegen hatte sich Richard Francis Burton, der ewige Pilger und Wanderer, aufgemacht, die Mauern des Großen Grals zu erstürmen. Er würde die Geheimnisse der Wiedererweckung und die dieser Welt entschleiern, denn es galt für ihn als sicher, daß die Wesen, die diesen Planeten geformt hatten, auch für die Existenz des Turmes verantwortlich waren.

»Stirb, Hermann Göring! Stirb und laß mich in Frieden!« rief jemand in deutscher Sprache.

Burton öffnete die Augen. Außer den hell leuchtenden Sternen, die bleich durch das offene Fenster der Hütte schienen, war nichts zu sehen.

Die Vision schwand. Er sah die schlafenden Körper von Frigate und Loghu auf den Matten an der gegenüberliegenden Wand und drehte den Kopf, um die unter einer Decke liegende Alice zu betrachten. Ihr helles Gesicht war ihm zugewandt, während das dunkle Haar sich kaum von der Matte, auf der sie ruhte, abhob.

Am vorhergehenden Abend hatte das mit nur einem Mast ausgerüstete Boot, auf dem er und die anderen geflohen waren, eine freundlich wirkende Uferzone angelaufen. Der kleine Staat, der sich Sevieria nannte, beherbergte hauptsächlich Engländer des sechzehnten Jahrhunderts, die einen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stammenden Amerikaner zu ihrem Führer gewählt hatten. John Sevier, der Gründer des „verlorenen Staates“ Franklin, aus dem später Tennessee geworden war, hatte sich Burton und seinen Leuten gegenüber als ausgenommen gastfreundlich entpuppt. Er und seine Anhänger waren gegen die Sklaverei und hielten keinen Gast länger, als dieser bleiben wollte.

Nachdem er ihnen erlaubt hatte, die Grale zu füllen, lud Sevier Burton und die anderen zu einer Feier ein, die dem Erweckungstag galt; anschließend war man in ein Gästehaus gebracht worden.

Burton war zwar immer ein Mann des leichten Schlafes gewesen, aber diesmal war es ihm einfach unmöglich, Ruhe zu finden. Noch während die anderen längst schnarchten, hatte er sich herumgewälzt und nachgedacht. Erst als der Traum gekommen war, wurde ihm bewußt, daß er nicht länger an die Decke starrte. Und die Stimme, die seinen Traum zerrissen hatte, machte seinen Geist jetzt vollends klar.

Hermann Göring, dachte Burton. Er hatte ihn getötet — aber er lebte natürlich irgendwo an diesem Fluß weiter. Und der Mann, der irgendwo in einer der Nebenhütten Görings Namen rief — war er ihm irgendwo begegnet?

Oder plagten ihn lediglich die Erinnerungen seines irdischen Daseins?

Burton warf die Decke zurück und erhob sich lautlos und schnell, legte einen mit Magnetverschlüssen versehenen Kilt an, legte den aus Menschenhaut gefertigten Gürtel um, bewaffnete sich und ging hinaus.

Obwohl der Himmel mondlos war, überschütteten die dicht beieinanderstehenden Sterne die Ebene mit einer Helligkeit, die jene der mondbeschienenen Erde übertraf. Weithin war die Umgebung von verschiedenfarbigen Sternen und Wolken kosmischen Gases erleuchtet.

Man hatte die Gästehäuser etwa sechshundert Meter vom Flußufer entfernt aufgestellt. Sie lagen auf der zweiten Hügelkette, und es gab insgesamt sieben dieser aus einem Raum bestehenden Bambushütten. In einiger Entfernung, unter den gewaltigen Ästen der Eisenbäume, Pinien und Eichen, erstreckten sich weitere Unterkünfte. Beinahe einen Kilometer weiter, auf der Spitze eines hohen Berges, lag ein kreisförmiger, von einer Palisadenwand umgebener Bezirk, dem man den offiziellen Namen ›Das Rundhaus‹ gegeben hatte. Dort schliefen die Führungskader des Staates Sevieria.

Alle sechshundert Meter entlang dem Flußufer hatte man Wachttürme errichtet.

Auf den Plattformen brannten Feuer. Wächter hielten Ausschau nach etwaigen Invasoren.

Burton vergewisserte sich, daß niemand ihn beobachtete, und machte sich dann zur nächsten Hütte auf. Er vermutete, daß das Stöhnen und die Schreie von dort gekommen waren.

Als er den Grasvorhang an einem der Fenster beiseiteschob, fiel das Sternenlicht auf das Gesicht eines Schläfers. Burton unterdrückte einen überraschten Ausruf. Die Gesichtszüge des blonden jungen Mannes, der da vor ihm lag, waren ihm nicht unbekannt.

Langsam verließ er seinen Standort und betrat auf nackten Sohlen die Hütte.

Der schlafende Mann murmelte etwas, drehte sich etwas zur Seite und legte einen Arm über sein Gesicht. Burton blieb stehen, zog das Messer und drückte die Spitze sanft gegen die Kehle des anderen. Der Arm des Mannes fuhr zurück. Er öffnete die Augen und starrte Burton an, der sofort eine Hand auf den Mund des Überraschten preßte.

»Hermann Göring! Versuchen Sie nicht, sich zu bewegen oder zu schreien! Ich werde Sie auf der Stelle töten!«

Obwohl Görings hellblaue Augen in der schattigen Dunkelheit kaum zu erkennen waren, blieb Burton ihr entsetzter Blick nicht verborgen. Der Mann versuchte sich zitternd aufzusetzen, sank aber, als die Messerspitze näherkam, sofort wieder zurück.

»Wie lange sind Sie schon hier?« fragte Burton.

»Wer…?« Göring sprach Englisch. Er riß die Augen auf. »Richard Burton?

Träume ich? Sind Sie es wirklich?«

Burton, der Görings Atem riechen konnte, erkannte den Duft von Traumgummi.

Der Deutsche war viel dünner als früher.

»Ich weiß nicht, wie lange ich hier bin«, sagte Göring dann. »Welchen Tag haben wir heute?«

»Eine Stunde vor Morgengrauen, würde ich sagen. Gestern war die Feier des Erweckungstages.«

»Dann bin ich drei Tage hier gewesen. Könnte ich einen Schluck Wasser haben?

Meine Kehle ist so trocken wie die einer Mumie.«

»Kein Wunder. Sie selbst sind eine lebende Mumie — wenn Sie dem Traumgummi verfallen sind.«

Burton stand auf und deutete mit seiner Lanze auf einen in der Nähe stehenden Tontopf. »Trinken Sie, wenn Sie wollen. Aber ich rate Ihnen, keinerlei verdächtige Bewegungen zu machen.«

Göring stand langsam auf und tastete sich taumelnd an den Tisch heran. »Ich bin zu schwach, um mit Ihnen zu kämpfen. Ich könnte es nicht einmal, wenn ich es wollte.« Er trank schlürfend das Wasser und griff dann nach einem Apfel. Während er hineinbiß sagte er: »Was tun Sie eigentlich hier? Ich hatte gedacht, ich sei Sie endlich los.«

»Zuerst werden Sie meine Fragen beantworten«, erwiderte Burton, »und ich hoffe, ziemlich schnell. Sie stellen mich vor ein Problem, das ich gar nicht mag, wissen Sie das?«

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