21

Burton hatte sich der Hütte gerade bis auf Sichtweite genähert, als er in ihr einen Mann verschwinden sah. Er änderte seinen Kurs und schlich sich an die Seite der Hütte heran, die im Schatten der Berge lag. Die Bäume boten ihm einige zusätzliche Deckung. Er bewegte sich zunächst kriechend fort, stand aber auf und lief auf den Eingang zu.

Hinter ihm — in einiger Entfernung — ertönte plötzlich ein lauter Schrei.

Burton wirbelte herum. Es war Göring, der auf ihn zuhastete und dabei auf deutsch laute Warnrufe ausstieß. Aber er meinte nicht Burton, sondern Agneau. In einer Hand hielt er einen langen Speer, mit dem er dem Engländer wütend drohte.

Burton drehte sich wieder um und warf sich gegen die nicht allzu starke Bambustür. Ein einziger Stoß seiner Schulter reichte aus, um sie aus den Angeln zu reißen. Die Türfüllung flog in den Raum hinein und knallte gegen Agneau, der offenbar direkt hinter ihr gestanden hatte, und riß den Mann zu Boden. Agneau schrie auf. Dann schwieg er. Burton räumte die Tür beiseite und stellte fest, daß sein Gegner die Besinnung verloren hatte. Gut! Wenn der Lärm nicht die Wache alarmiert hatte und er schnell mit Göring fertig werden konnte, stand der Ausführung seines Planes nichts mehr im Wege.

Er blickte auf und sah im Licht der Sterne ein langes, dunkles Objekt, das sich auf ihn zubewegte.

Burton warf sich zur Seite. Krachend bohrte sich eine Lanze in den Boden, genau an der Stelle, wo er soeben noch gestanden hatte. Ihr Schaft vibrierte wie der Hals einer Klapperschlange, bevor sie zum Angriff ansetzt.

Er trat in den Eingang, schätzte die Entfernung zu Göring ab und rannte auf ihn zu. Sein Assegai bohrte sich in den Bauch des Deutschen. Göring warf die Arme in die Luft, schrie und stürzte hin. Burton lud sich Agneaus leichten Körper über die Schulter und verließ die Hütte.

Vom Rundhaus drangen jetzt die ersten aufgeregten Rufe zu ihm herüber.

Fackeln flammten auf; der Wächter auf dem nächsten Turm schrie etwas herüber. Göring hatte sich aufgesetzt. Sein Körper war vornübergebeugt, und er umklammerte mit beiden Händen den Schaft der in seinem Leib steckenden Waffe.

Mit aufgerissenem Mund starrte er Burton an und stieß hervor: »Sie… haben… es… schon wieder… Sie…«

Dann fiel er aufs Gesicht. Ein letztes Röcheln erstarb in seiner Kehle.

Agneau, der jetzt wieder zu sich kam, befreite sich blitzschnell aus Burtons Griff und glitt zu Boden. Im Gegensatz zu Göring machte er nicht den geringsten Laut, denn er hatte zumindest ebenso viele Gründe wie Burton, sich leise zu verhalten. Burton war im ersten Moment so überrascht, daß er stumm mit dem in seiner Rechten zurückgebliebenen Lendentuch seines Gefangenen stehenblieb. Ein erster Impuls hieß ihn, das Stück Bekleidung fallen zu lassen, aber dann wurde ihm klar, daß dies kein gewöhnlicher Kilt war. Er fühlte sich anders an. Burton holte sich aus der Leiche Görings sein Assegai zurück und nahm die Verfolgung auf.

Der Ethiker hatte inzwischen eines der verstreut am Ufer herumliegenden Kanus ins Wasser geschoben und versuchte verzweifelt paddelnd mehr Abstand zwischen sich und das Ufer zu bringen. Mehrere Male sah er sich furchtsam um. Burton schwang die langschäftige Waffe über seinem Kopf, gab ihr großen Schwung und schleuderte sie über das Wasser. Sie bohrte sich in Agneaus Rücken. Der Ethiker klappte zusammen und fiel nach vorne. Das Kanu kippte um und trieb kieloben weiter. Agneau tauchte nicht mehr auf.

Burton stieß einen Fluch aus. Er hatte den Mann lebend fangen wollen, aber es wäre närrisch gewesen, ihn entkommen zu lassen. Und die Chance, daß sich Agneau mit den anderen Ethikern noch nicht in Verbindung gesetzt hatte, bestand schließlich immer noch.

Burton wandte sich wieder den Gasthütten zu. Trommeln wurden geschlagen, und Menschen mit brennenden Fackeln bewegten sich zwischen den Hütten dahin auf das Rundhaus zu. Er hielt eine Frau an und fragte sie, ob sie ihm einen Moment lang ihre Fackel leihen könne. Die Frau kam seiner Bitte zwar nach, überschüttete ihn jedoch gleichzeitig mit Fragen. Burton sagte, daß man vermute, ein Überfall der Nachbarn stünde bevor, und schaffte sie sich damit vom Hals. Wie alle anderen auch eilte die Frau dem sicheren Rundhaus entgegen.

Als sie weg war, steckte Burton das spitze Ende der Fackel in den weichen Boden am Ufer und untersuchte in ihrem Schein den erbeuteten Kilt Agneaus.

Auf der Innenseite des Kleidungsstückes stieß er auf einen Saum, der — von Magnetklips verschlossen — leicht zu öffnen war. Der Gegenstand, der sich darin befand, entpuppte sich im Schein der Flamme als…

Burton blieb eine ganze Weile in der Nähe des flackernden Feuers sitzen und starrte auf das, was er erbeutet hatte. Er war beinahe gelähmt vor Überraschung. Natürlich war eine Fotografie in einer Gegend, in der es keine Kameras gab, schon erstaunlich genug. Aber daß es sich um ein Foto handelte, das IHN zeigte, war beinahe unglaublich — zumindest wenn man berücksichtigte, daß man es nicht auf dieser Welt aufgenommen hatte! Es war auf der Erde entstanden, auf jener Erde, die sich irgendwo draußen im Sternendschungel befand, den nur Gott durchqueren konnte. Und in einer Zeit, die Tausende von Jahren zurücklag. Und weiter türmte sich Unmöglichkeit auf Unmöglichkeit. Man hatte das Bild an einem Ort und zu einer Zeit gemacht, über die Burton hundertprozentig Bescheid wußte. Niemand hatte damals eine Kamera auf ihn gerichtet. Zwar zeigte das Bild ihn ohne Schnurrbart, aber der Retuscheur hatte darauf verzichtet, den Hintergrund und seine Kleidung der neuen Welt anzupassen. Da war er nun von der Hüfte an aufwärts auf einer flachen Folie abgebildet. Auf einer flachen… Burton hielt das Bild ein wenig zur Seite und sah sich plötzlich im Profil. Je mehr er es wendete, desto mehr zeigte die Folie ihn auch von der Seite. Es war unglaublich.

»Im Jahre 1848«, murmelte er vor sich hin, »war ich siebenundzwanzig Jahre alt und Angehöriger der Ostindischen Armee. Diese Flußlandschaft ist Goa.

Man muß das Bild aufgenommen haben, als ich mich im Lazarett befand. Aber wie? Und wer hat es gemacht? Und wie sind die Ethiker in den Besitz dieser Fotografie gelangt?«

Allem Anschein nach stellte es für Agneau eine Art Steckbrief dar.

Möglicherweise trug jeder seiner Jäger ein solches Bild mit sich herum. Man suchte flußauf- und flußabwärts nach ihm; vielleicht waren es Tausende oder sogar Zehntausende, die an seinen Fersen klebten. Wer konnte schon wissen, über wie viele Agenten sie verfügten, mit welcher Verzweiflung und vor allem — warum sie nach ihm suchten?

Burton steckte das Foto in den Kilt zurück und machte sich auf den Weg zur Hütte. Zufällig fiel sein Blick dabei auf die hinter der Hügellandschaft aufragenden Bergspitzen, jene unbezwingbaren Wälle, die das Flußtal an beiden Seiten säumten.

Gegen den Hintergrund eines weitgezogenen Teppichs aus kosmischem Gas hob sich etwas ab und leuchtete auf. Es blitzte nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Wenige Sekunden später tauchte wie aus dem Nichts am Himmel ein dunkles Objekt auf, das sofort wieder verschwand.

Ein zweites Fluggerät zeigte sich. Es flog etwas tiefer als das erste und tauchte dann ebenfalls unter.

Die Ethiker würden ihn mit sich nehmen, und alles, was die Sevierianer sich später fragen konnten, war, was es wohl gewesen sein mochte, das sie in einen Kollektivschlaf hatte fallen lassen.

Er hatte jetzt keine Zeit mehr, zu der Hütte zurückzukehren und die anderen zu wecken. Wenn er auch nur noch eine Minute Zeit verschwendete, war er verloren.

Burton wandte sich um und rannte zum Fluß zurück, stürzte sich in die Fluten und schwamm auf das gegenseitige Ufer zu, das drei Kilometer entfernt war.

Er hatte noch keine zwanzig Meter zurückgelegt, als er spürte, daß sich etwas über ihn dahinbewegte. Er legte sich auf den Rücken und blickte nach oben. Außer dem Glanz der Sterne war nichts zu sehen. Dann schien in einer Höhe von fünfzig Metern ein Diskus von schätzungsweise zwanzig Metern Durchmesser zu materialisieren. Er verdunkelte den Himmel und löschte die Sterne aus. Er war ganz plötzlich da. Sie verfügten also zumindest über Möglichkeiten, ihn auch in der Finsternis auszumachen.

»Ihr Schakale!« brüllte Burton wütend den Flugmaschinen entgegen. »Ihr werdet mich niemals bekommen!«

Er wälzte sich auf den Bauch, tauchte und verschwand mit kräftigen Zügen in der Tiefe. Das Wasser wurde kälter, seine Trommelfelle begannen zu schmerzen. Obwohl er die Augen weit geöffnet hielt, konnte Burton nichts erkennen. Eine Wasserwelle schob ihn unerwartet nach vorne, und er wußte, daß der Druck von dem ihm folgenden Objekt erzeugt wurde.

Das Fluggerät schickte sich an zu tauchen!

Es gab nur noch einen Ausweg. Zwar konnten sie seine Leiche bergen, aber das würde alles sein. Er konnte ihnen jetzt nur noch entkommen, wenn er die letzte Konsequenz zog, sich dem Fluß überließ und darauf vertraute, an einer anderen Stelle wieder zu erwachen und den Kampf erneut gegen sie aufzunehmen.

Burton öffnete den Mund und gestattete es dem Wasser, in seine Lungen einzudringen.

Die Flüssigkeit verursachte einen Hustenanfall. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen und kämpfte gegen den Selbsterhaltungstrieb an. Sein Geist wußte, daß er nach dem Tod ein neues Leben beginnen würde, aber sein Körper setzte sich mit allen Mitteln gegen den Selbstmord zur Wehr. Die Zellen seines Körpers kämpften um ihren Erhalt in der Gegenwart, nicht um den in einer ungewissen Zukunft. Und sie allein waren es, die Burton dazu zwangen, einen gellenden Angstschrei auszustoßen.

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