Philip José Farmer Die Flußwelt der Zeit

1

Als könne sie damit den Tod von ihm fernhalten, hatte seine Frau die Arme um ihn geschlungen.

»Mein Gott«, rief er aus, »ich bin ein toter Mann!«

Die Zimmertür öffnete sich, und in seinem Blickfeld erschien ein gigantisches, schwarzes, einhöckeriges Kamel. Der heiße Wüstenwind spielte mit den an seinem Geschirr befestigten Glöckchen und brachte sie zum Erklingen. Dann tauchte im Türrahmen ein übergroßes, von einem schwarzen Turban umrahmtes, dunkles Gesicht auf. Der schwarze Eunuch kam durch die Tür und bewegte sich dabei wie eine Nebelwolke dahin. Er trug einen überdimensionalen Türkensäbel in der Hand. Der Tod, der Vernichter aller Wonnen, der Entzweier aller Bande, die ihn an die Gesellschaft ketteten, war schließlich auch zu ihm gekommen.

Schwärze und Leere. Er spürte nicht einmal, daß sein Herz für immer zu schlagen aufhörte. Nichts.

Dann öffnete er die Augen. Sein Herz klopfte heftig. Er fühlte sich stark, ungeheuer stark! Der Schmerz seiner gichtgeplagten Füße, die Agonie, der seine Leber ausgesetzt gewesen war, die Folter, die sein Herz quälte — all das war plötzlich nicht mehr.

Um ihn herum war es so still, daß er das Pulsieren des Blutes in seinem Kopf hören konnte. Er befand sich allein in einer Welt absoluter Ruhe.

Von überallher schien ein gleichbleibendes, intensives Licht zu kommen.

Obwohl er sehen konnte, weigerte sich sein Verstand zu begreifen. Welche Bewandtnis hatten die Objekte über, unter und neben ihm? Wo befand er sich?

Als er Anstalten machte, sich aufzusetzen, verspürte er lähmende Panik. Es gab nichts, das Festigkeit versprach. Er schwebte in einem völlig leeren Raum. Und schon der Versuch, die Position zu ändern, hatte ausgereicht, ihn langsam nach vorne gleiten zu lassen. Es schien, als befände er sich in einer großen, mit zähflüssigem Sirup gefüllten Wanne. Fünfundzwanzig Zentimeter von seinen Fingerspitzen entfernt entdeckte er eine Stange aus glänzend rotem Material. Sie ragte aus der sich über ihm erstreckenden Unendlichkeit in die bodenlose Tiefe. Da sie jedoch das einzig solide Objekt in unmittelbarer Nähe darstellte, versuchte er, nach ihr zu greifen. Aber irgend etwas Unsichtbares hielt ihn zurück. Es schien, als hätten sich unbekannte Mächte dazu verschworen, ihn von der Stange abzuhalten und zurückzudrängen.

Er versuchte einen langsamen Purzelbaum und kam somit bis auf fünfzehn Zentimeter an das Objekt heran. Ein Strecken des Körpers erbrachte weitere zwölf Zentimeter. Plötzlich begann sich sein Körper um die eigene Achse zu drehen. Er schnappte überrascht keuchend nach Luft. Obwohl ihm klar war, daß keine unmittelbare Gefahr existierte, war es ihm unmöglich, etwas gegen die verzweifelt nach einem Halt suchenden, panisch umherrudernden Arme zu tun.

Wohin sah er jetzt? Nach „oben“ oder nach „unten“? Egal. Sicher war, daß er sich in eine andere Richtung gedreht hatte und jetzt ein anderes Blickfeld vor seinen Augen auftauchte. Er unterließ es, sich über dieses Problem tiefschürfende Gedanken zu erlauben, denn das, was sich nun seinen Blicken darbot, unterschied sich in nichts von der vorherigen Aussicht. Er hielt sich schwebend in einem leeren Raum auf, und irgendeine rätselhafte Kraft, die ihn wie ein Kokon umgab, hinderte ihn daran, hinunterzufallen. Zwei Meter unter sich sah er die Gestalt einer blassen Frau. Sie war nackt, völlig haarlos und schien zu schlafen. Jedenfalls waren die Augen geschlossen, während ihre Brust sich hob und senkte. Sie hatte die Beine in einer geraden Linie von sich gestreckt und die Arme stramm an den Körper gelegt. Langsam, wie ein Hähnchen auf dem Grill, rotierte sie um die eigene Achse.

Die gleiche Kraft, die die Frau bewegte, kontrollierte auch ihn. Sie verschwand wieder aus seinem Blickfeld, und er sah andere nackte, gleichfalls haarlose Gestalten: Männer, Frauen und Kinder. Gleich der Frau unter ihm bewegten sie sich in völliger Stille. Über ihm schwebte kreisend ein nackter Neger.

Er senkte den Blick, um sich selbst anzusehen. Auch er war nackt. Kein Haar bedeckte seinen Körper. Die Haut war glatt, die Bauchmuskulatur kräftig. Er bemerkte starke Muskeln und erinnerte sich daran, daß man jung sein mußte, um einen solch kraftstrotzenden Körper zu besitzen. Die Adern seiner Unterarme, die er als kleine, hervortretende blaue Schlangen in Erinnerung hatte, waren verschwunden. Dies war nicht mehr der Körper des todkranken, sich nichts mehr vormachenden neunundsechzigjährigen Mannes, der er noch vor kurzem gewesen war. Auch die zahlreichen Narben, die ihn bedeckt hatten, waren spurlos verschwunden.

Ihm fiel auf, daß unter all den in der nächsten Umgebung herumschwebenden Gestalten keine einzige greisenhaft wirkte. Wohin sein Blick auch reichte: Jede einzelne schien nicht mehr als fünfundzwanzig Jahre alt zu sein, obwohl es schwierig war, angesichts dieser glatzköpfigen und schamhaarlosen Ansammlung von Menschen exakte Schätzungen vorzunehmen: sie machten ausnahmslos zu gleicher Zeit sowohl einen jungen als auch alten Eindruck auf ihn.

Er hatte einst damit geprahlt, keine Furcht zu kennen. Doch nun war es die nackte Angst in Person, die ihm einen Entsetzensschrei von den Lippen riß.

Langsam hielt sie Einzug in seinen Körper, durchdrang ihn und drohte fast, den neuen Lebenswillen, der in ihm aufgeflammt war, wieder zu ersticken.

Zunächst hatte ihn die Erkenntnis, immer noch zu leben, beinahe gelähmt.

Jetzt schien die Erkenntnis, in diesem Nichts zu schweben und von all diesen leblosen Körpern umgeben zu sein, ihm die Sinne einzufrieren. Es war, als sähe er durch eine dicke Milchglasscheibe. Dann rastete etwas in ihm ein. Er glaubte es fast zu hören: Jemand schien ein Fenster aufgestoßen zu haben.

Die Welt nahm plötzlich Umrisse an, die greifbar, wenn auch unverständlich waren. Über und unter ihm — egal, in welche Richtung er blickte — schwebten menschliche Gestalten in horizontaler Lage im Nichts dahin. Aber die Reihen setzten sich nicht nur nach oben und unten, sondern auch rechts und links und hinter und vor ihm fort. Begrenzt wurden sie von roten Stangen, die sich jeweils fünfundzwanzig Zentimeter von ihren Köpfen und Füßen entfernt befanden. Und was die Höhe anbetraf: Sowohl von der über als auch der unter ihm befindlichen Gestalt trennten ihn knapp zwei Meter.

Die Stangen selbst ragten aus einem bodenlosen Abgrund und reichten in Höhen hinauf, deren Ende nicht sichtbar war. Die nebelhafte Dunkelheit, die ober- und unterhalb und in allen seitlichen Richtungen zu erkennen war, schien weder mit dem Firmament noch dem Erdboden identisch zu sein. Um sie herum befand sich nichts außer einer unendlichen, ewigen Weite.

In der Nähe entdeckte er einen dunkelhäutigen Mann mit toskanischen Gesichtszügen. Ihm gegenüber schwebte eine Inderin und dahinter wiederum ein Mann mit nordischem Einschlag. Erst nachdem sich der Mann zum dritten Mal um die eigene Achse gedreht hatte, erkannte er, was an ihm so seltsam war: Sein rechter Arm war, von einem bestimmten Punkt unterhalb seines Ellbogens ab, rot, als besäße er dort keinerlei Haut.

Ein paar Sekunden später entdeckte er in einer der anderen Reihen einen männlichen Körper, dem jegliche Haut und zusätzlich noch alle Gesichtsmuskeln zu fehlen schienen.

Es gab noch andere Körper, die noch nicht völlig wiederhergestellt wirkten.

Irgendwo in der Ferne, nur undeutlich zu erkennen, rotierte ein Skelett, in dessen Innern sich verschiedene Organe bewegten.

Aber obwohl sein Herz wild hämmerte und in panischem Entsetzen gegen seinen Brustkorb schlug, setzte er die Beobachtungen fort. Und dann begann er zu begreifen, daß er sich in einer gewaltigen Kammer befand und daß die metallenen Stangen nichts anderes waren als Instrumente, die dazu dienten, eine Kraft auszustrahlen, in deren Einflußbereich sich Millionen — vielleicht sogar Milliarden — menschlicher Wesen wie in einem Grill drehten.

Aber wo befand sich dieser Ort?

Mit absoluter Sicherheit nicht im Triest des k.u.k. Österreich-Ungarn von 1890.

Er glich keiner jener Höllen oder Himmel, von denen er gehört oder gelesen hatte — damit stellte sich seine Annahme, über jede Theorie des Lebens nach dem Tode informiert zu sein, als Fehlschluß heraus.

Er war gestorben. Und jetzt lebte er. Er hatte ein Leben lang sämtliche Theorien über ein Leben nach dem Tode verspottet. Jetzt konnte er nicht mehr bestreiten, sich geirrt zu haben. Aber glücklicherweise befand sich niemand in der Nähe, der nun sagen konnte: »Ich habe es dir ja schon immer gesagt, du Ignorant!«

Und er war der einzige unter all diesen Millionen, der nicht schlief.

Nach einer erneuten Drehung, die schätzungsweise zehn Sekunden in Anspruch nahm, sah er etwas, das ihn nach Luft schnappen ließ. Fünf Reihen von ihm entfernt befand sich eine Gestalt, die auf den ersten Blick durchaus menschlich erschien. Aber kein Angehöriger der Rasse des Homo sapiens verfügte über drei Finger und einen Daumen an jeder Hand oder vier Zehen an den Füßen. Ebenso irritierte ihn die hundeähnliche Nase und die ihn an das gleiche Tier erinnernden, lederigen Lippen. Das Wesen verfügte über einen Hodensack mit mehreren kleinen Auswüchsen und merkwürdig eingerollten Ohren.

Aber auch dieser Schreck ging vorbei. Sein Herzschlag verlangsamte sich ein wenig, wurde aber dennoch nicht normal.

Allmählich begann sein Gehirn wieder zu arbeiten. Er mußte heraus aus dieser Situation, in der er sich so hilflos wie ein neugeborenes Lämmchen vorkam.

Er mußte irgend jemanden erreichen, der ihn darüber informieren konnte, wo er sich hier befand, wie er hierher gekommen war und was er hier sollte.

Sich zu etwas entscheiden bedeutete etwas zu tun.

Er zog die Beine an, trat aus und stellte fest, daß man sich auf diese Weise um etwa einen Zentimeter vorwärts bewegen konnte. Sofort wiederholte er das Experiment und stemmte sich dem Widerstand entgegen. Eine kurz eingelegte Pause trieb ihn allerdings auf den alten Standpunkt zurück. Sanft wurden Arme und Beine wieder in die Ausgangsstellung zurückbefördert.

Er warf sich plötzlich tretend und die Schwimmstöße eines Kraulers nachahmend nach vorne und wandte alle Kraft auf, um der Stange näherzukommen. Je näher er ihr kam, desto stärker wurde der Widerstand.

Dennoch gab er nicht auf. Würde er das tun, wäre er recht bald wieder an seinen Ausgangsort zurückgelangt und hätte doch nichts als kostbare Kraft vergeudet, die ihm bei einem erneuten Vorstoß fehlen würde. Es widersprach einfach seiner Natur, aufzugeben, ehe nicht alle Kräfte restlos erschöpft waren.

Mit einem heiseren Keuchen sog er die Luft ein. Sein Körper war schweißbedeckt. Arme und Beine arbeiteten unaufhaltsam weiter. Der Fortschritt war unbestreitbar. Plötzlich berührten die Fingerspitzen seiner linken Hand die Stange. Sie fühlte sich hart und warm an.

Im gleichen Moment wußte er, in welcher Richtung „unten“ war. Er fiel.

Die Berührung hatte als Katalysator gewirkt. Die ihn wie eine Haut umgebende Luft gab ihn frei, und er tauchte hinab.

Er befand sich nahe genug an der Stange, um sie mit einer Hand packen zu können. Die plötzliche Erkenntnis kam zu schnell, als daß er seinen Körper in diesem Moment hundertprozentig unter Kontrolle hätte haben können. Seine Hüfte knallte gegen die Stange und begann zu schmerzen. Die schnelle Abwärtsbewegung verbrannte beinahe seine Hand. Er griff mit der anderen zu und hielt an.

Direkt vor ihm, auf der anderen Seite der Stange, begannen die Körper zu fallen. Sie verschwanden mit der Geschwindigkeit eines fallenden Körpers auf der Erde in der Tiefe, wobei jeder einzelne seine ausgestreckte Stellung und den Abstand zwischen Vorgänger und Nachfolger sorgfältig wahrte. Sie hörten dabei nicht einmal auf, um sich selbst zu rotieren.

Es war die auf seinen schweißbedeckten Körper auftreffende Luft der sich bewegenden Gestalten, die ihn zwang, sich eng um die Stange zu winden.

Hinter ihm, in der vertikalen Körperreihe, in der er sich nun befand, begannen die Schläfer ebenfalls hinabzusinken. Einer nach dem anderen, als werfe man sie methodisch durch eine Falltür, langsam rotierend, glitten sie vorbei. Ihre Köpfe verpaßten ihn nur um wenige Zentimeter, aber er hatte Glück genug, daß sie ihn nicht trafen und mit in die unendliche Tiefe rissen.

In gleichbleibender Stellung fielen sie. Körper auf Körper raste zu beiden Seiten der Stange an ihm vorbei, während die anderen Abermillionen weiterschliefen.

Er starrte ihnen eine Zeitlang nach. Dann begann er sie zu zählen. Er war stets ein glänzender Statistiker gewesen, aber als er 3001 erreicht hatte, gab er auf und schaute nach oben. Wie hoch, in welche Fernen mußte die Ansammlung dieser Körper reichen? Und wie tief würden sie fallen? Und er hatte sie, indem er unwissentlich den Kontakt zwischen sich und der Stange unterbrochen hatte, einem ungewissen Schicksal übergeben.

Zwar konnte er an der Stange nicht nach oben klimmen, aber die Möglichkeit des Abstiegs bestand immer noch. Er begann sich hinabzulassen, schaute dabei aufwärts und vergaß bald, was er angerichtet hatte. Irgendwo über ihm überdeckte ein Summen plötzlich das Rauschen der nach unten rasenden Körper.

Ein kleines Schiff, das aus einer glänzend grünen Substanz bestand und die Formen eines Kanus besaß, sank zwischen den schwebenden und fallenden Körpern hinab. Das schnittige Luftgefährt zeigte nicht die geringsten Anzeichen eines maschinellen Antriebs. Es erschien ihm wie ein magisches Schiff aus Tausendundeine Nacht.

Über dem Rand des Schiffes wurde nun ein Gesicht erkennbar. Das Schwebefahrzeug stoppte, und das summende Geräusch erstarb. Neben dem ersten Gesicht erschien ein zweites. Beide waren von langem, glattem, dunklem Haar umrahmt. Plötzlich zogen sie sich zurück, das Summen erklang erneut, und das Kanu schickte sich an, auf ihn zuzusteuern. Etwa anderthalb Meter über seinem Kopf hielt es an. Auf der Wandung befand sich ein einziges, kleines Symbol: Eine weiße Spirale, die nach rechts hin explodierte. Dann sagte einer der Insassen etwas in einer Sprache, die zahlreiche Vokale enthielt und sich wie Polynesisch anhörte.

Unerwartet schaltete sich der unsichtbare Kokon, der ihn umgab, wieder ein.

Die fallenden Körper begannen sich zu verlangsamen und hielten schließlich wieder an. Der Mann, der sich an die Stange klammerte, fühlte, daß eine geheimnisvolle Kraft an ihm zerrte und zog. Da er sich wie ein Ertrinkender an seinen einzigen Halt klammerte, hoben sich plötzlich die Beine unter seinem Körper hinweg, schwebten nach oben und zogen seinen Leib mit sich. Es dauerte nicht lange, und er sah nach unten. Die Hände ließen die Stange los, wurden von ihr weggezerrt, und er hatte die Impression, als entglitte ihm in diesem Moment ebenso das Leben, die geistige Gesundheit und die ganze Welt.

Er begann aufwärts zu schweben und um die eigene Achse zu rotieren, näherte sich dem schnittigen Luftkanu und glitt an ihm vorbei in die Höhe. Die beiden Schiffsinsassen waren nackt, dunkelhäutig wie jemenitische Araber und sahen gut aus. Ihre Züge jedoch waren nordisch und erinnerten ihn an einige Isländer, die er einst gekannt hatte.

Einer von ihnen hielt in der Hand ein Objekt, das entfernt an einen Bleistift erinnerte. Er gestikulierte damit herum, als sei er im Begriff, zu schießen.

Der Mann, der nun frei durch die Luft schwebte, streckte die Arme aus, begann wie ein Wahnsinniger zu rudern, als wolle er das kleine Schiff erreichen, und schrie in einer Mischung aus Wut, Haß und Frustration: »Ich will töten! Töten! Töten!«

Dann kam erneut das Vergessen.

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