KAPITEL 9

Die Sprungpunktstation des Konsortiums von Jackson’s Whole unterschied sich von der Station von Pol hauptsächlich durch das Sortiment, das die Händler hier zum Verkauf anboten, erkannte Miles. Er stand vor dem Verkaufsautomaten für Buchdisketten in einer Halle, die der von Pol Sechs sehr ähnlich war, und blätterte auf dem Vid einen umfangreichen Katalog mit Pornographie schnell vorwärts durch. Nun ja, meistens schnell vorwärts, doch seine Suche wurde durch einige Pausen unterbrochen, manchmal war er verwirrt, manchmal verblüfft. Er widerstand vornehm der Neugier und erreichte die Abteilung Militärgeschichte, wo er allerdings nur eine enttäuschend magere Sammlung von Titeln fand.

Er führte seine Kreditkarte ein, und die Maschine spuckte drei Scheibchen aus. Nicht daß er sonderliches Interesse hatte für Skizzen der Trigonalstrategie in den Kriegen von Minos IV, aber die Heimreise würde lang und langweilig werden, und Sergeant Overholt versprach nicht, der geistreichste Reisegefährte zu sein. Was für eine Verschwendung an Zeit, Mühe und Erwartungen diese Mission doch gewesen war!

Ungari hatte den ›Verkauf‹ von Victor Rothas Schiff, Pilot und Ingenieur an einen Strohmann arrangiert, der alles zuletzt wieder beim Kaiserlichen Sicherheitsdienst von Barrayar abliefern würde. Miles flehentliche Vorschläge an seinen Vorgesetzten, wie man mehr Nutzen aus Rotha, Naismith oder sogar Fähnrich Vorkosigan ziehen könnte, waren von einer ultra-codierten Botschaft aus dem Hauptquartier des Sicherheitsdienstes unterbrochen worden, die nur für Ungaris Augen bestimmt war. Ungari hatte sich zurückgezogen, um sie zu dechiffrieren, und war dann nach einer halben Stunde wieder erschienen, leichenblaß im Gesicht.

Er hatte dann seinen Zeitplan vorverlegt und war binnen einer Stunde auf einem Handelsschiff nach der Aslund-Station abgereist. Allein. Und hatte es abgelehnt, den Inhalt der Botschaft Miles oder selbst Sergeant Overholt mitzuteilen. Hatte es abgelehnt, Miles mitzunehmen. Hatte Miles die Erlaubnis verweigert, wenigstens die militärischen Beobachtungen selbständig auf dem Gebiet des Konsortiums fortzusetzen.

Ungari überließ Overholt Miles, oder umgekehrt. Es war ein bißchen schwer zu sagen, wer für wen verantwortlich war. Overholt schien sich die ganze Zeit weniger wie ein Untergebener zu verhalten als wie ein Kindermädchen und entmutigte Miles’ Versuche der Erforschung des Konsortiums, indem er darauf bestand, daß Miles sicher in seinem Quartier bleiben solle. Sie warteten nun darauf, an Bord eines escobaranischen Handelslinienschiffs zu gehen, das nonstop nach Escobar flog, wo sie sich bei der Botschaft von Barrayar melden würden, die sie ohne Zweifel heimwärts schicken würde. Heimwärts, und mit nichts in der Hand, was sie vorweisen konnten.

Miles blickte auf sein Chrono. Noch zwanzig Minuten totzuschlagen, bevor sie an Bord gehen konnten. Ebensogut konnten sie sich irgendwo hinsetzen, Mit einem gereizten Blick auf seinen Schatten Overholt stapfte Miles müde die Halle entlang. Overholt folgte und signalisierte mit einem Stirnrunzeln allgemeine Mißbilligung.

Miles grübelte über Livia Nu nach. Indem er vor ihrer erotischen Einladung geflohen war, war ihm sicher das Abenteuer seines jungen Lebens entgangen. Allerdings war der Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht Liebe gewesen. Wie dem auch sei, eine Frau, die sich auf den ersten Blick wahnsinnig in Victor Rotha verlieben konnte, würde ihm sicher Sorgen bereiten. Das Funkeln in ihren Augen war mehr nach Art eines Gourmets gewesen, der ein ungewöhnliches Hors d’euvre betrachtet, das ihm der Kellner gerade präsentiert. Miles kam sich vor, als steckte ihm Petersilie in den Ohren.

Sie mochte wie eine Kurtisane gekleidet gewesen sein, sich wie eine Kurtisane bewegt haben, aber da war nichts an ihr gewesen vom Eifer der Kurtisane zu gefallen, keine Unterwürfigkeit. Die Gesten der Macht in den Gewändern der Machtlosigkeit. Beunruhigend. Aber sie war schön.

Kurtisane, Kriminelle, Spionin, was war sie wirklich? Vor allem, zu wem gehörte sie? War sie Ligas Boss oder Ligas Gegnerin? Oder Ligas Schicksal? Hatte sie den kaninchenhaften Mann selbst getötet? Was auch immer sie sonst sein mochte, Miles kam zunehmend zu der Überzeugung, daß sie ein entscheidendes Teil im Puzzlespiel der Hegen-Nabe war. Sie hätten sie verfolgen sollen, nicht vor ihr fliehen.

Sex war nicht das einzige, was er verpaßt hatte. Das Treffen mit Livia Nu würde ihn noch lange Zeit beschäftigen. Miles blickte auf und fand seinen Weg blockiert von einem Paar von Konsortium-Schlägern — zivilen Sicherheitsbeamten, korrigierte er seinen Gedanken ironisch. Er blieb stehen, die Füße fest auf den Boden gepflanzt, und hob sein Kinn.

Was nun? »Ja, meine Herren?«

Der Größere blickte den Beleibteren an, der sich seinerseits räusperte.

»Mr. Victor Rotha?«

»Falls ich der bin, was dann?«

»Jemand hat einen Haftbefehl für Sie erwirkt. Er beschuldigt Sie der Ermordung eines gewissen Sydney Liga. Wollen Sie überbieten?«

»Wahrscheinlich.« Miles verzog wütend die Lippen. Was für eine Entwicklung. »Wer hat ein Gebot für meine Verhaftung abgegeben?«

»Jemand namens Cavilo.«

Miles schüttelte den Kopf. »Kenne ich nicht einmal. Ist er zufällig bei der polianischen zivilen Sicherheit?«

Der Beamte blickte aufsein Reportpanel. »Nein.« Geschwätzig fügte er hinzu: »Die Polianer machen fast nie Geschäfte mit uns. Die denken, wir sollten ihnen Kriminelle umsonst liefern. Als ob wir irgendwelche zurückhaben wollten!«

»Haha! Bei Ihnen geht das also nach Angebot und Nachfrage.« Miles atmete hörbar aus. Illyan würde nicht entzückt sein über diese Belastung seines Spesenkontos. »Wieviel hat dieser Cavilo für mich geboten?«

Der Beamte schaute wieder aufsein Panel. Seine Augenbrauen hoben sich. »Zwanzigtausend betanische Dollar. Der muß gewaltiges Verlangen nach Ihnen haben.«

Miles entfuhr ein leichtes Stöhnen. »Soviel habe ich nicht bei mir.«

Der Beamte zog seinen Dalli-Dalli-Stock heraus.

»Ich werde das erst arrangieren müssen.«

»Sie werden das von der Haftanstalt aus arrangieren müssen.«

»Aber ich werde mein Schiff verpassen.«

»Das ist wahrscheinlich der Zweck der Sache«, stimmte der Beamte zu. »Wenn man das Timing und alles bedenkt.«

»Angenommen, das ist alles, was dieser Cavilo will — zieht er dann sein Gebot zurück?«

»Er wird eine beträchtliche Pfandsumme verlieren.«

Die jacksonische Justiz war wirklich blind. Käuflich für jedermann.

»Hm, darf ich mich kurz mit meinem Assistenten beraten?«

Der Beamte schürzte die Lippen und musterte Overholt mißtrauisch. »Machen Sie schnell.«

»Was meinen Sie, Sergeant?« Miles wandte sich Overholt zu und fragte ihn leise. »Die scheinen keinen Haftbefehl für Sie zu haben …«

Overholt sah angespannt aus, der Mund war verärgert zusammengepreßt, in den Augen zeigte sich fast Panik. »Wenn wir es bis zum Schiff schaffen …«

Der Rest blieb unausgesprochen. Die Escobaraner teilten die polianische Mißbilligung des ›Rechtssystems‹ des Konsortiums von Jackson’s Whole. Sobald er an Bord des Linienschiffes wäre, befände sich Miles auf escobaranischem ›Boden‹, der Kapitän würde ihn nicht freiwillig ausliefern. Könnte oder würde dieser Cavilo in der Lage sein, genügend zu bieten, um das ganze escobaranische Schiff festhalten zu lassen? Die entsprechende Summe wäre astronomisch hoch.

»Versuchen Sie’s.«

Miles drehte sich wieder zu den Beamten des Konsortiums, lächelte und hielt ihnen ergeben seine Handgelenke hin. Overholt trat explosionsartig in Aktion.

Der erste Fußtritt des Sergeanten beförderte den Dalli-DalliStock des beleibten Beamten in die Luft. Overholts Schwung ging in eine schnelle Kreisbewegung über, und seine zusammengelegten Hände trafen mit Wucht den Kopf des zweiten Schlägers. Miles war schon in Bewegung. Er wich einem heftigen Zugriff aus und sprintete, so schnell er konnte, die Halle hinauf. In diesem Augenblick erkannte er den dritten Schläger in Zivilkleidung. Er erkannte ihn an dem Glitzern des Wirrnetzfeldes, das er vor Miles’ stampfende Beine schleuderte.

Der Mann prustete vor Lachen, als Miles kopfüber hinstürzte und zu rollen versuchte, um seine spröden Knochen zu retten. Miles schlug auf dem Boden der Halle mit einem Bums auf, der ihm die Luft aus den Lungen quetschte. Er atmete durch die zusammengebissenen Zähne ein und schrie nicht auf, als der Schmerz in seiner Brust das Brennen des Wirrnetzes um seine Fußknöchel zu übertrumpfen suchte. Er drehte sich auf dem Boden herum und blickte dorthin zurück, woher er gekommen war.

Der weniger beleibte Schläger stand nach vorn gebeugt, die Hände an den Kopf gepreßt, offensichtlich verwirrt. Der andere hob eben seinen Dalli-Dalli-Stock auf. Folglich mußte der betäubte Haufen auf dem Pflaster Sergeant Overholt sein.

Der Schläger mit dem Stock starrte auf Overholt und schüttelte den Kopf, dann stieg er über ihn hinweg und kam auf Miles zu. Der verwirrte Schläger zog seinen Stock, versetzte dem niedergeschlagenen Mann einen Schock am Kopf und folgte dann seinem Kollegen, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Niemand wollte anscheinend Overholt kaufen.

»Das gibt einen zehnprozentigen Aufschlag für Widerstand gegen die Verhaftung«, bemerkte der Sprecher des Trios kühl zu Miles. Miles schielte an den glänzenden Säulen der Stiefel des Mannes empor. Der Schockstab sauste herunter wie eine Keule.

Beim dritten brennenden Schlag begann er zu schreien. Beim siebten wurde er ohnmächtig.

Miles kam viel zu früh wieder zu sich, während er noch zwischen den beiden uniformierten Männern dahingeschleift wurde. Er zitterte unkontrollierbar. Sein Atem war irgendwie durcheinander, ein unregelmäßiges, flaches Keuchen, das ihm nicht genug Luft verschaffte. Wellen von Kribbeln pulsten durch sein Nervensystem. Er bekam kaleidoskopisch verzerrte Eindrücke von Liftrohren und Korridoren und weiteren kahlen, rein funktionalen Korridoren. Endlich blieben sie mit einem Ruck stehen. Als die Schläger seine Arme losließen, fiel er zuerst auf Hände und Knie, dann sank er auf den kalten Boden.

Ein anderer ziviler Sicherheitsbeamter guckte über ein Komkonsolenpult hinweg auf ihn. Eine Hand packte Miles’ Kopf an den Haaren und riß ihn zurück, das rote Flackern eines Retinascanners blendete ihn für einen Moment. Seine Augen schienen außerordentlich empfindlich gegen Licht zu sein. Seine zitternden Hände wurden hart gegen eine Art Identifizierungsfläche gedrückt. Als sie ihn losließen, sackte er wieder zusammen. Seine Taschen wurden nach außen gekehrt, Betäuber, Ausweise, Flugtickets, Geld — alles wurde durcheinander in einen Plastikbeutel geworfen. Miles stieß ein gedämpftes Quieksen der Verzweiflung aus, als man seine weiße Jacke mit all ihren nützlichen Geheimnissen auch in den Beutel stopfte.

Zuletzt quetschte man seinen Daumen auf das Schloß, der Abdruck wurde zum Verschlußcode.

Der Haftbeamte reckte seinen Hals. »Wünscht er zu überbieten?«

»Ung…«, konnte Miles gerade noch antworten, als sein Kopf wieder zurückgerissen wurde.

»Er sagte ja«, sagte der verhaftende Schläger hilfsbereit.

Der Haftbeamte schüttelte den Kopf. »Wir müssen warten, bis der Schock nachläßt. Ihr Jungs habt übertrieben, glaube ich. Der ist doch nur ein Zwerg.«

»Ja, schon, aber hatte einen großen Kerl bei sich, der uns Schwierigkeiten machte. Der kleine Mutant schien der Verantwortliche zu sein, also zahlten wir es ihm für beide heim.«

»Das ist fair«, gestand der Haftbeamte zu. »Nun gut, das wird eine Weile dauern. Werft ihn in den Kühler, bis er aufhört zu zittern, damit man mit ihm reden kann.«

»Bist du sicher, daß das eine gute Idee ist? So komisch der Kerl auch aussieht, vielleicht möchte er seinen Gegner austricksen. Vielleicht kauft er sich noch frei.«

»Mm.« Der Haftoffizier schaute Miles bedächtig von oben bis unten an. »Dann werft ihn in den Warteraum mit den Technikern von Marda. Das sind ruhige Kerle, die werden ihn nicht belästigen. Und sie sind ja bald weg.«

Miles wurde wieder geschleift — seine Beine gehorchten seinem Willen überhaupt nicht, zuckten nur krampfhaft. Die Beinschienen hatten anscheinend einen verstärkenden Effekt auf die Schocks gehabt, die ihm da zugefügt worden waren, oder vielleicht war es die Kombination mit dem Wirrnetzfeld. Ein langer Raum wie in einer Kaserne, mit einer Reihe von Feldbetten entlang jeder Wand, verschwamm vor seinen Augen. Die Bullen hievten ihn nicht unfreundlich auf ein leeres Bett im weniger belegten Teil des Raums. Der ranghöhere versuchte andeutungsweise, ihn irgendwie gerade zu strecken, warf eine leichte Decke über seine noch unkontrollierbar zuckenden Glieder, und dann ließen sie ihn allein.

Es verging eine kleine Weile, ohne daß ihn etwas vom vollen Genuß und von der Würdigung seiner neuen physischen Erfahrungen ablenkte.

Er dachte, er hätte schon von jeder Art von Qual, die es gab, gekostet, aber die Schockstäbe der Bullen hatten in ihm Nerven, Synapsen und Ganglienknoten herausgefunden, von denen er bisher nicht einmal gewußt hatte. Nichts hilft einem so sehr wie Schmerz, um die Aufmerksamkeit auf sich selber zu konzentrieren. Ein praktisch solipsistischer Zustand. Aber es schien nachzulassen — wenn doch nur sein Körper mit diesen epilepsieähnlichen Anfällen aufhören würde, die ihn so erschöpften …

Ein Gesicht kam schwankend in sein Blickfeld. Ein vertrautes Gesicht.

»Gregor! Bin ich froh, dich zu sehen«, plapperte Miles albern drauflos.

Er spürte, wie seine brennenden Augen sich weiteten. Seine Hände schossen hervor, um Gregors Hemd zu packen, den blaßblauen Kittel eines Gefangenen. »Was, zum Teufel, tust du hier?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Ach! Ach!« Miles kämpfte sich auf seine Ellbogen hoch und blickte wild umher nach Attentätern, Halluzinationen, nach … — er wußte nicht was. »Gott! Wo ist …?«

Gregor drückte ihn wieder mit einer Hand auf der Brust zurück. »Beruhige dich.« Und leise: »Und halt den Mund! Du solltest dich lieber ein bißchen ausruhen. Im Augenblick schaust du nicht sehr gut aus.«

Tatsächlich schaute auch Gregor selber nicht sonderlich gut aus, wie er hier auf dem Rand von Miles’ Feldbett saß. Sein Gesicht war bleich und müde, übersät mit Bartstoppeln. Sein Haar, normalerweise militärisch geschnitten und gekämmt, war zerzaust. Seine nußbraunen Augen blickten nervös drein. Miles würgte seine Panik hinunter.

»Mein Name ist Greg Bleakman«, informierte der Kaiser Miles hastig.

»Ich kann mich nicht erinnern, wie mein Name im Augenblick lautet«, stotterte Miles. »Oh — ja. Victor Rotha. Glaube ich. Aber wie bist du von …?«

Gregor blickte sich undeutlich um. »Die Wände haben Ohren, glaube ich.«

»Ja, vielleicht.« Miles ließ sich ein wenig niedersinken. Der Mann auf dem nächsten Bett schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck, der besagte: ›Gott schütze mich vor diesen Arschlöchern‹, drehte sich auf die andere Seite und legte sich sein Kissen über den Kopf. »Aber, wie … bist du hierhergekommen? Etwa in eigener Regie?«

»Unglücklicherweise ist alles meine Schuld. Erinnerst du dich an damals, als wir Witze darüber machten, von zu Hause wegzulaufen?«

»Ja.«

»Naja«, Gregor holte Atem, »es stellte sich heraus, daß das eine wirklich schlechte Idee war.«

»Hättest du das nicht schon vorher herausfinden können?«

»Ich …«, Gregor brach ab und blickte den langen Raum entlang, als ein Wächter seinen Kopf durch die Tür streckte und brüllte: »Noch fünf Minuten!«

»Oh, zum Teufel!«

»Wie? Was?«

»Sie kommen uns holen.«

»Wer kommt wen holen, was, zum Teufel, geht hier vor, Gregor …

Greg …«

»Ich hatte einen Platz auf einem Frachter, dachte ich, aber sie schmissen mich hier raus. Ohne Bezahlung«, erklärte Gregor schnell. »Haben mich geprellt. Ich hatte nicht einmal eine Halbmark dabei. Ich versuchte auf einem Schiff anzuheuern, das bald abreiste, aber bevor ich das schaffte, wurde ich wegen Vagabundierens verhaftet. Das jacksonische Recht ist irrsinnig«, fügte er nachdenklich hinzu.

»Ich weiß. Was dann?«

»Sie machten anscheinend eine wohlüberlegte Razzia, um Leute zur Zwangsanwerbung zu schnappen. Anscheinend verkauft ein Unternehmer an die Aslunder technisch ausgebildete Arbeiterkolonnen, die dann auf ihrer Naben-Station arbeiten sollen, weil die mit ihrem Zeitplan im Verzug ist.«

Miles blinzelte. »Sklavenarbeit?«

»So ähnlich. Der Köder besteht darin, daß wir nach Ablauf der Strafe auf der Aslund-Station entlassen werden. Den meisten dieser Techniker scheint das nicht viel auszumachen. Keine Bezahlung, aber wir — sie — werden verpflegt und untergebracht und entkommen dem jacksonischen Sicherheitsdienst, also werden sie am Ende nicht schlimmer dran sein als am Anfang, pleite und arbeitslos. Die meisten von ihnen denken, daß sie schließlich auf Schiffen anheuern können, die von Aslund abfahren. Ohne Geld zu sein, ist dort kein so gräßliches Verbrechen.«

In Miles’ Kopf hämmerte es. »Sie holen dich von hier weg?«

In Gregors Augen zeigte sich eine Spannung, die er aber zügelte und nicht auf den Rest seines unbeweglichen Gesichts übergreifen ließ.

»Jetzt gleich, denke ich.«

»Gott! Ich kann doch nicht zulassen …«

»Aber wie hast du mich hier gefunden…«, begann Gregor seinerseits, dann schaute er frustriert durch den Raum, wo Männer und Frauen in blauen Kitteln sich murrend erhoben. »Bist du hier, um zu …«

Miles blickte verzweifelt um sich. Der blaugekleidete Mann auf dem Feldbett neben ihm lag jetzt auf der Seite und beobachtete sie mit einem gelangweilten, düsteren Blick. Er war nicht übermäßig groß …

»Du da!« Miles kletterte aus dem Bett und kauerte sich neben den Mann. »Willst du aus diesem Trip aussteigen?«

Der Mann blickte etwas weniger gelangweilt drein. »Wie?«

»Tauschen wir die Kleider. Tauschen wir die Ausweise. Du nimmst meinen Platz, ich nehme deinen.«

Der Mann schaute ihn mißtrauisch an. »Was ist der Haken an der Sache?«

»Kein Haken. Ich habe eine Menge Kredit. Ich war dabei, mich hier nach einer Weile herauszukaufen.« Miles machte eine Pause. »Es gibt allerdings einen Aufschlag, weil ich mich der Verhaftung widersetzt habe.«

»Aha.« Da ein Haken identifiziert war, sah der Mann jetzt etwas interessierter aus.

»Bitte! Ich muß mit … mit meinem Freund gehen. Jetzt gleich.« Das Gebrabbel ringsum wurde lauter, während sich die Techniker am anderen Ende des Raums beim Ausgang versammelten. Gregor wanderte hinter dem Bett des Mannes umher.

Der Mann verzog seine Lippen. »Nö«, entschied er. »Wenn das, was dich erwartet, schlimmer ist als das hier, dann, möchte ich nichts damit zu tun haben.« Er schwang sich in eine sitzende Stellung hoch und schickte sich an, aufzustehen und sich der Reihe anzuschließen.

Miles, der immer noch auf dem Boden kauerte, hob flehend die Hände: »Bitte …«

Gregor, der perfekt plaziert war, stürzte plötzlich nach vorn. Er packte den Mann mit einem sauberen Würgegriff am Hals und zog ihn mit einem Ruck über die Seite des Bettes, so daß er außer Sicht war. Gott sei Dank bestand die barrayaranische Aristokratie immer noch auf militärischem Training für ihre Sprößlinge. Miles kam taumelnd auf die Füße, um die Sicht vom Ende des Raums her besser zu versperren. Am Boden gab es ein paar dumpfe Schläge. Kurz darauf wurde ein blauer Gefangenenkittel unter dem Feldbett durchgeworfen und blieb vor Miles’ mit Sandalen bekleideten Füßen liegen. Miles kauerte sich hin und zog ihn über seine grüne Seidenkleidung — glücklicherweise war der Kittel etwas groß —, dann schlüpfte er in die weite Hose, die hinterherkam. Dann war ein Geschiebe zu hören, als der Körper des Bewußtlosen außer Sicht unter das Bett gestoßen wurde. Schließlich stand Gregor auf. Er keuchte etwas und war ganz weiß im Gesicht.

»Ich bring diese verdammten Gürtelschnüre nicht zu«, sagte Miles. Sie glitten ihm aus den zitternden Händen.

Gregor band Miles’ Hosen fest und rollte ihm die überlangen Hosenbeine hoch. »Du brauchst seine Identitätskarte, sonst kriegst du nichts zu essen und kannst deine Arbeitspunkte nicht registrieren lassen«, zischte Gregor aus dem Mundwinkel und lehnte sich kunstvoll in müßiger Pose gegen das Ende des Bettes.

Miles durchsuchte seine Tasche und fand die Standardcomputerkarte.

»In Ordnung.« Er stellte sich neben Gregor und zeigte mit einem sonderbaren Grinsen seine Zähne. »Ich kippe gleich um.«

Gregors Hand packte ihn fest am Ellbogen. »Nicht. Das würde die Aufmerksamkeit auf uns lenken.«

Sie gingen durch den Raum und schlossen sich am Ende der schlurfenden, maulenden, blau gekleideten Reihe an. Ein schläfrig dreinblickender Wächter an der Tür ließ sie durch und überprüfte die Identitätskarten mit einem Scanner.

»… dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig. So ist’s recht. Bring sie weg!«

Sie wurden einer anderen Wachmannschaft übergeben, die nicht die Uniform des Konsortiums trug, sondern die Livree eines kleineren jacksonischen Hauses, Gold und Schwarz. Miles hielt sein Gesicht nach unten gerichtet, als sie aus dem Haftbereich getrieben wurden. Nur Gregors Hand hielt ihn auf den Füßen.

Sie gingen durch einen Korridor, einen weiteren Korridor, ein Liftrohr hinab — Miles mußte sich während der Abwärtsfahrt fast übergeben —, dann noch einen Korridor entlang. Was, wenn diese verdammte Karte ein Ortungssignal abgibt? dachte Miles plötzlich. Beim nächsten Abwärtsrohr warf er sie weg, die kleine glitzernde Karte flatterte davon in den düsteren Abgrund, still und unbemerkt. Eine Andockbucht, ein Gang durch die Luke, die kurze Gewichtslosigkeit des flexiblen Andockrohrs, und sie gingen an Bord eines Schiffes. Sergeant Overholt, wo sind Sie jetzt?

Es war sichtlich ein Transporter für Innersystemverkehr, kein Sprungschiff, und nicht sehr groß. Die Männer wurden von den Frauen getrennt und dann zu den gegenüberliegenden Enden eines Korridors geführt, der mit Türen gesäumt war, die zu Kabinen mit je vier Kojen führten. Die Gefangenen verteilten sich und suchten sich ihre Quartiere ohne offensichtliche Einmischung der Wachen aus.

Miles zählte und multiplizierte schnell. »Wir können eine für uns allein haben, wenn wir es versuchen«, flüsterte er hastig Gregor zu. Er schlüpfte in die nächste Kabine, und sie drückten schnell auf die Türsteuerung. Ein weiterer Gefangener schickte sich an, ihnen hineinzufolgen, aber er traf auf ein gemeinsam geknurrtes »Hau ab!« und zog sich hastig zurück. Die Tür öffnete sich nicht mehr.

Die Kabine war schmutzig, und es fehlten solche Annehmlichkeiten wie Bettzeug für die Matratzen, aber die sanitären Installationen funktionierten. Als Miles einen Schluck lauwarmen Wassers nahm, hörte und spürte er, wie die Luke sich schloß und das Schiff sich vom Dock löste. Für den Augenblick waren sie sicher. Wie lange?

»Wann, meinst du, wacht der Kerl auf, den du gewürgt hast?«, fragte Miles Gregor, der auf dem Rand einer Koje saß.

»Ich bin mir nicht sicher. Ich habe noch nie zuvor einen Mann gewürgt.« Gregor sah nicht gut aus. »Ich … habe etwas Seltsames unter meiner Hand gespürt. Ich fürchte, ich habe ihm vielleicht den Hals gebrochen.«

»Er hat aber noch geatmet«, sagte Miles. Er ging zum gegenüberliegenden unteren Bett und untersuchte es. Keine Anzeichen von Ungeziefer. Er setzte sich behutsam hin. Die heftigen Krämpfe ließen nach, nur ein leichtes Zittern blieb übrig. Aber er fühlte sich immer noch schwach in den Knien.

»Wenn er aufwacht — sobald sie ihn finden, egal ob er aufwacht oder nicht —, dann wird es nicht lange brauchen, bis sie herausfinden, wohin ich gegangen bin. Ich hätte einfach warten und dir dann folgen sollen, und dich dann freikaufen. Vorausgesetzt, ich hätte mich selbst freibieten können. Das war eine blödsinnige Idee. Warum hast du mich nicht daran gehindert?«

Gregor starrte ihn an. »Ich dachte, du wüßtest, was du tust. Folgt dir nicht Illyan auf den Fersen?«

»Nicht, soweit ich weiß.«

»Ich dachte, du seist jetzt in Illyans Abteilung. Ich dachte, du wurdest geschickt, um mich zu finden. Ist das … nicht ein etwas bizarres Rettungsunternehmen?«

»Nein!« Miles schüttelte den Kopf und bereute im selben Augenblick diese Bewegung. »Vielleicht erzählst du besser alles von Anfang an.«

»Ich war eine Woche lang auf Komarr gewesen. Unter den Kuppeln. Gipfelgespräche über Verträge betreffs Wurmlochrouten — wir versuchen immer noch, die Escobaraner dazu zu bewegen, daß sie die Passage unserer Militärschiffe erlauben. Es gibt da die Idee, daß wir ihre Inspektionsteams unsere Waffen während der Passage versiegeln lassen. Unser Generalstab denkt, das sei zu viel, der ihrige denkt, es sei zu wenig. Ich habe ein paar Vereinbarungen unterzeichnet — was auch immer der Ministerrat mir vorgelegt hat …«

»Papa läßt dich sie sicher lesen.«

»O ja. Wie dem auch sei, es gab an diesem Nachmittag eine Truppenschau. Und ein Staatsbankett am Abend, das früh zu Ende ging, weil ein paar der Unterhändler ihre Schiffe erreichen mußten. Ich ging zurück in mein Quartier, das alte Stadthaus eines Oligarchen. Großes Haus am Rand der Kuppel, nahe dem Raumhafen. Meine Suite war hoch oben in diesem Gebäude. Ich ging auf den Balkon hinaus — es half nicht viel. Ich hatte immer noch Platzangst, unter der Kuppel.«

»Die Komarraner ihrerseits fühlen sich unter freiem Himmel nicht wohl«, merkte Miles fair an. »Ich habe mal einen gekannt, der hatte immer Atemprobleme — wie Asthma —, wenn er ins Freie gehen mußte. Psychosomatisch.«

Gregor zuckte die Achseln und blickte auf seine Schuhe. »Wie dem auch sei, ich stellte fest … Es waren zur Abwechslung mal keine Wachen zu sehen. Ich weiß nicht, warum diese Lücke, denn vorher war ein Mann dagewesen. Sie dachten wohl, ich schliefe schon, nehme ich mal an. Es war nach Mitternacht. Ich konnte nicht schlafen. Lehnte mich über den Balkon und dachte, wenn ich jetzt da herunterfiele …«

Gregor zögerte.

»Dann ginge es wenigstens schnell«, ergänzte Miles trocken. Er kannte diesen Gemütszustand, o ja.

Gregor blickte zu ihm auf und lächelte ironisch. »Ja. Ich war ein bißchen betrunken.«

Du warst ganz schön betrunken.

»Schnell, ja. Meinen Schädel zertrümmern. Es würde zwar arg weh tun, aber nicht lange. Vielleicht nicht mal so arg. Vielleicht gäbe es nur einen heißen Blitz.«

Unter seinem von dem Schockstab verursachten Zittern schauderte Miles insgeheim.

»Ich fiel über die Brüstung — ich bekam diese Pflanzen zu pakken. Dann erkannte ich, daß ich genauso leicht hinunterklettern konnte wie hinauf. Sogar leichter. Ich fühlte mich so frei, als wäre ich gestorben. Ich lief los. Niemand hielt mich auf. Die ganze Zeit erwartete ich, daß jemand mich aufhielte.

Ich kam schließlich am Ende des Raumhafens an, wo die Lagerhallen stehen. In einer Bar. Ich sagte diesem Burschen, einem Freihändler, ich sei ein Normalraum-Navigator. Ich hatte diese Funktion schon mal gehabt, bei meinem Schiffsdienst. Ich sagte weiter, ich hätte meinen Ausweis verloren und fürchtete, die barrayaranischen Sicherheitsleute würden mich übel zurichten. Er glaubte mir — oder glaubte zumindest teilweise. Jedenfalls gab er mir eine Stelle an Bord. Wir verließen vermutlich den Orbit, noch bevor mein Kammerdiener am Morgen in mein Schlafzimmer kam, um mich zu wecken.«

Miles kaute an seinen Fingerknöcheln. »Vom Standpunkt des Sicherheitsdienstes aus gesehen, bist du aus einem streng bewachten Raum verschwunden. Keine Notiz, keine Spur — und das auf Komarr.«

»Das Schiff fuhr direkt nach Pol — ich blieb an Bord — und dann nonstop zur Konsortium-Station. Ich kam am Anfang nicht allzu gut zurecht auf dem Frachter. Ich hatte gedacht, ich könnte es besser. Vielleicht nicht. Aber ich dachte, Illyan wäre sowieso vermutlich direkt hinter mir her.«

»Komarr«, Miles rieb sich die Schläfen, »bist du dir im klaren, was dort jetzt wohl los ist? Illyan wird überzeugt sein, daß es sich um eine Art politischer Entführung handelt. Ich wette, er läßt alle Sicherheitsdetektive und die halbe Armee die Kuppeln Schraube um Schraube auseinandernehmen und nach dir suchen. Du bist ihnen ein ganz schönes Stück voraus. Sie werden nicht außerhalb von Komarr suchen, bis …« Miles zählte Tage an seinen Fingern ab. »Doch Illyan dürfte alle seine Außenagenten alarmiert haben … vor fast einer Woche.

Ha! Ich wette, das war die Botschaft, die Ungari so aus dem Häuschen brachte, bevor er in solcher Eile abhaute. An Ungari geschickt, nicht an mich.« Nicht an mich. Niemand rechnet überhaupt mit mir. »Aber es hätte doch überall in den Nachrichten kommen müssen …«

»Kam es auch, sozusagen«, brachte Gregor vor. »Es gab eine knappe Mitteilung, daß ich krank gewesen sei und mich nach Vorkosigan Surleau zurückgezogen hätte, um mich dort in Abgeschiedenheit auszuruhen. Sie unterdrücken es.«

Miles konnte es sich genau vorstellen. »Gregor, wie konntest du das nur tun! Bei uns zu Hause werden doch alle wahnsinnig!«

»Es tut mir leid«, sagte Gregor steif. »Ich wußte, daß es ein Fehler war … fast sofort. Noch bevor der Katzenjammer kam.«

»Warum bist du denn dann nicht in Pol ausgestiegen und zur Botschaft von Barrayar gegangen?«

»Ich dachte, ich könnte noch … verdammt«, er brach ab, »warum sollten diese Leute mich besitzen?«

»Kindischer Trick«, sagte Miles unter Zähneknirschen.

Gregors Kopf fuhr ärgerlich hoch, aber er sagte nichts. Die volle Erkenntnis seiner Lage begann gerade in Miles Geist einzudringen, wie Blei in seinen Bauch. Ich bin der einzige Mensch im Universum, der weiß, wo sich im Augenblick der Kaiser von Barrayar befindet. Wenn Gregor irgend etwas passiert, könnte ich sein Erbe sein. Und wenn Gregor tatsächlich was passiert, dann werden sehr viele Leute denken, ich hätte …

Und wenn man in der Hegen-Nabe herausfand, wer Gregor wirklich war, dann könnte ein allgemeines Gerangel von epischen Ausmaßen die Folge sein. Die Jacksonier würden ihn einfach als Geisel zur Erpressung von Lösegeld benutzen. Aslund, Pol, Vervain, jeder von ihnen oder alle zusammen könnten Machtspiele versuchen. Am meisten von allen die Cetagandaner — wenn sie Gregor heimlich in ihren Besitz bekämen, wer weiß, was für eine subtile psychologische Umprogrammierung sie versuchen würden, und wenn öffentlich, welche Drohungen? Und Miles und Gregor saßen beide in der Falle auf einem Schiff, das sie nicht kontrollierten — Miles konnte jeden Augenblick von Bullen des Konsortiums oder noch Schlimmeren weggeholt werden …

Miles war jetzt ein Offizier des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes, egal wie untergeordnet oder in Ungnade gefallen. Und die mit heiligen Eiden beschworene Pflicht des Sicherheitsdienstes war die Sicherheit des Kaisers. Der Kaiser, Barrayars Symbol der Einheit. Gregor, widerwilliges Fleisch, das in diese Form gepreßt wurde. Symbol, Fleisch, welches von beiden beanspruchte Miles’ Loyalität? Beide. Er gehört mir. Ein Gefangener auf der Flucht, von Gott weiß was für Feinden verfolgt, in selbstmörderischer Depression, und ganz mein. Miles würgte ein irres Gelächter hinunter.

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