KAPITEL 10

Als die Nachwirkungen der Schockstabbehandlung nachließen und Miles wieder nachdenken konnte, erkannte er bald, daß er sich verstecken mußte. Aufgrund seiner Stellung als Kontraktsklave hätte Gregor auf dem ganzen Weg bis zur Aslund-Station eine warme Unterkunft, Verpflegung und Sicherheit, wenn Miles ihn nicht gefährdete. Vielleicht. Miles erweiterte die Liste der Lektionen seines Lebens um Regel 27B: »Treffe niemals wesentliche taktische Entscheidungen, während du elektrokonvulsive Anfälle hast!«

Miles untersuchte die Kabine. Das Schiff war nicht für den Gefangenentransport gebaut, die Kabine war für billigen Transport entworfen worden, nicht als gesicherte Zelle. Die leeren Vorratsschrän ke unter den beiden Doppelstockkojen waren zu groß und als Versteck zu offensichtlich.

Eine Bodenplatte konnte hochgehoben werden, dann hatte man Zugang zu den zwischen den Decks befindlichen Steuer-, Kühlwasser- und Stromleitungen und zum Gravitationsgitter. Dieser Zwischenraum war lang, eng, flach … Rauhe Stimmen auf dem Korridor beschleunigten Miles’ Entschluß. Er drückte sich in das bißchen Platz, mit dem Gesicht nach oben und den Armen dicht an seinen Seiten, und atmete aus.

»Du warst immer gut beim Versteckspielen«, sagte Gregor bewundernd und drückte die Platte wieder an ihren Platz.

»Damals war ich kleiner«, murmelte Miles mit gequetschten Backen. Rohre und Schaltkästen drückten in seinen Rücken und sein Gesäß. Gregor machte die Halterungen wieder fest, und alles war ein paar Minuten lang dunkel und still. Wie in einem Sarg. Wie eine gepreßte Blume. Eine Art biologisches Musterexemplar jedenfalls. Konservierter Fähnrich.

Die Tür öffnete sich zischend. Schritte gingen über Miles’ Körper hinweg und drückten ihn noch weiter zusammen. Würde man merken, daß an diesem Teil des Bodens das Echo gedämpft war?

»Auf die Beine, Techie.« Die Stimme eines Wächters, an Gregor gerichtet. Bumsen und Knallen: die Matratzen wurden herumgeschleudert und die Schranktüren aufgerissen. Ja, er hatte recht gehabt: die Schränke waren nutzlos.

»Wo ist er, Techie?« Aus der Richtung der schleifenden Geräusche schloß Miles, daß Gregor jetzt an der Wand stand, mit einem Arm hinter seinen Rücken gedreht.

»Wo ist wer?«, sagte Gregor in einem undeutlichen Ton. Gesicht gegen die Wand, das erklärte alles.

»Dein kleiner Mutantenkumpel.«

»Der komische kleine Kerl, der mir hier herein gefolgt ist? Der ist kein Kumpel von mir. Er ist abgehauen.«

Mehr schleifende Geräusche — »Au!« Der Arm des Kaisers war soeben weitere fünf Zentimeter höher gedreht worden, schätzte Miles.

»Wohin ist er gegangen?«

»Ich weiß es nicht! Er sah nicht so gut aus. Irgend jemand hat ihn mit einem Schockstab behandelt. Kürzlich. Ich wollte da nicht hineingezogen werden. Er ist wieder abgezogen, ein paar Minuten, bevor wir abgelegt haben.«

Guter Gregor! Er war vielleicht deprimiert, aber nicht dumm. Miles’ Kopf war seitwärts gedreht, die eine Wange gegen den Boden über ihm gepreßt, die andere gegen etwas gedrückt, das sich wie eine Käsereibe anfühlte. Er versuchte zu grinsen.

Noch mehr dumpfe Schläge. »Ich sag’s euch doch! Er ist abgezogen! Schlagt mich nicht!«

Unverständliches Knurren der Wachen, das Knistern eines Schockstabes, ein vernehmliches Atemholen, ein Geräusch, als plumpste ein zusammengerollter Körper auf eine der unteren Bettstellen.

In der Stimme eines zweiten Wächters klang Unsicherheit an: »Er muß wieder kehrtgemacht haben, zurück zum Konsortium, bevor wir abgelegt haben.«

»Deren Problem, gut. Aber wir sollten besser das ganze Schiff durchsuchen, um sicher zu sein. Die Leute von der Haftabteilung haben so getan, als würden sie uns wegen dem eins auf den Dekkel geben.«

»Auf den Deckel geben oder auf den Deckel bekommen?«

»Ha. Ich geh da keine Wetten ein.«

Die Stiefelschritte — zwei Paar Stiefel, schätzte Miles — bewegten sich auf die Kabinentür zu. Die Tür schloß sich zischend. Schweigen.

Miles kam zu dem Schluß, er würde wirklich eine bemerkenswerte Sammlung von blauen Flecken auf seinem Hinterteil haben, sobald Gregor dazu käme, den Deckel hochzuheben. Da sein Brustkorb eingequetscht war, konnte er nur halbe Atemzüge tun. Er mußte pinkeln. Komm endlich, Gregor …

Sicherlich mußte er nach ihrer Ankunft auf der Aslund-Station Gregor so bald wie möglich aus seinem Sklavenarbeitskontrakt befreien.

Kontraktarbeiter dieser Ordnung wurden mit den schmutzigsten und gefährlichsten Arbeiten betraut, waren am meisten radioaktiver Strahlung ausgesetzt, zweifelhaften Life-SupportSystemen und langen, erschöpfenden, unfallträchtigen Arbeitsstunden. Allerdings war dies auch ein Inkognito, das kein Feind schnell durchschauen würde.

Sobald sie sich frei bewegen konnten, mußten sie Ungari finden, den Mann mit den Kreditkarten und den Kontakten, danach — nun gut, danach wäre Gregor Ungaris Problem, oder? Ja, alles einfach, richtig und genau. Kein Grund, in Panik auszubrechen.

Hatten sie Gregor mitgenommen? Sollte er es wagen, sich selbst zu befreien und zu riskieren …

Schlurfende Schritte. Der Lichtspalt weitete sich. Sein Deckel wurde hochgehoben. »Sie sind weg«, flüsterte Gregor. Miles erhob sich aus seiner Gußform, einen schmerzvollen Zentimeter nach dem anderen, und kletterte hinaus auf den Boden, wo er eine Verschnaufpause einlegen konnte. Noch eine kleine Weile, dann würde er versuchen aufzustehen.

Gregor hielt eine Hand auf ein rotes Mal auf seiner Wange gedrückt. Dann ließ er sie befangen sinken.

»Sie haben mich mit einem Schockstab geschlagen. Es … war nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte.« Womöglich war er ein bißchen stolz auf sich.

»Sie haben Schwachstrom benutzt«, knurrte Miles zu ihm hinauf.

Gregors Gesicht wurde maskenhafter. Er hielt Miles eine Hand hin, um ihn hochzuziehen. Miles nahm sie, kam grunzend auf die Füße und plumpste auf ein Bett. Er erzählte Gregor von seinem Plan, Ungari zu finden.

Gregor zuckte die Achseln, dumpf ergeben. »Sehr gut. Das wird schneller gehen als bei meinem Plan.«

»Dein Plan?«

»Ich wollte den Konsul von Barrayar auf Aslund kontaktieren.«

»Oh. Gut.« Miles sank zusammen. »Ich vermute, du … brauchtest meine Befreiung gar nicht wirklich,«

»Ich hätte es auch allein schaffen können. Ich bin schon so weit gekommen. Aber … da war dann noch mein anderer Plan.«

»Oh?«

»Nicht den Konsul von Barrayar zu kontaktieren … Vielleicht ist es doch gut, daß du gerade zu diesem Zeitpunkt aufgetaucht bist.« Gregor legte sich auf seinem Bett zurück und starrte blind nach oben. »Eins ist sicher, eine Gelegenheit wie diese wird nie wieder kommen.«

»Zu fliehen? Und wie viele würden zu Hause sterben, um deine Freiheit zu erkaufen?«

Gregor schürzte die Lippen. »Wenn man Vordarians Griff nach dem Thron als Maßstab für Palastrevolten nimmt — sagen wir mal, sieben- oder achttausend.«

»Du zählst nicht die auf Komarr mit.«

»Ach ja. Die von Komarr dazuzurechnen würde die Zahl vergrößern«, gestand Gregor zu. Sein Mund zuckte mit einer Ironie, der es völlig an Humor fehlte. »Mach dir keine Sorgen, ich meine das nicht ernst. Ich wollte es … nur wissen. Ich hätte es allein geschafft, glaubst du nicht?«

»Natürlich! Das ist nicht die Frage.«

»War es aber für mich.«

»Gregor«, Miles’ Finger trommelten frustriert auf sein Knie. »Du tust dir das selbst an. Du hast wirkliche Macht. Papa hat während der ganzen Regentschaft dafür gekämpft, sie dir zu bewahren. Bemühe dich nur um eine positivere Einstellung!«

»Und, Fähnrich, wenn ich, dein oberster Befehlshaber, dir befehlen würde, dieses Schiff auf der Aslund-Station zu verlassen und zu vergessen, daß du mich je gesehen hast, würdest du das tun?«

Miles schluckte. »Major Cecil sagte, ich hätte ein Problem mit der Unterordnung.«

Gregor grinste fast. »Guter alter Cecil. Ich erinnere mich an ihn.« Sein Grinsen verschwand. Er stützte sich auf einen Ellbogen hoch. »Aber wenn ich nicht einmal über einen ziemlich kleinen Fähnrich gebieten kann, um wieviel weniger dann über eine Armee oder eine Regierung?

Macht ist nicht die Frage. Ich habe alle Vorträge deines Vaters über Macht gehört, über ihre Illusionen und ihren Gebrauch. Sie wird mir mit der Zeit zukommen, ob ich sie will oder nicht. Aber habe ich die Stärke, um mit ihr umzugehen? Denk nur an die schlechte Figur, die ich vor vier Jahren während Vordrozdas und Hessmans Komplott abgegeben habe.«

»Wirst du diesen Fehler noch einmal begehen? Einem Schmeichler zu vertrauen?«

»Den nicht mehr, nein.«

»Also gut dann.«

»Aber ich muß es besser machen. Sonst wäre es für Barrayar genauso schlecht, wie wenn es überhaupt keinen Kaiser gäbe.«

Wie unabsichtlich war dieser Sturz vom Balkon denn wirklich gewesen? Miles knirschte mit den Zähnen. »Ich habe deine Frage — über Befehle — nicht als Fähnrich beantwortet. Ich habe sie als Lord Vorkosigan beantwortet. Und als Freund.«

»Aha.«

»Schau, du brauchst keine Befreiung durch mich. So wie die Dinge stehen. Durch Illyan vielleicht, durch mich nicht. Aber es gibt mir ein besseres Gefühl.«

»Es ist immer ein schönes Gefühl, nützlich zu sein«, stimmte Gregor zu. Sie lächelten sich unsicher an. Gregors Lächeln verlor seine Bitterkeit. »Und … es ist schön, Gesellschaft zu haben.«

Miles nickte. »Das ist wahr.«

Während der nächsten beiden Tage verbrachte Miles ziemlich viel Zeit zusammengequetscht unter dem Boden oder in einen Schrank gekauert, aber ihre Kabine wurde nur einmal durchsucht, und das sehr früh.

Zweimal kamen andere Gefangene herein, um mit Gregor zu plaudern, und einmal erwiderte Gregor, auf Miles’ Anregung hin, den Besuch.

Gregor verhielt sich wirklich ganz gut, dachte Miles. Er teilte seine Rationen automatisch mit Miles, ohne Beschwerde oder irgendeinen Kommentar, und wollte auch keine größere Portion annehmen, obwohl Miles sie ihm aufdrängte.

Sobald das Schiff an der Aslund-Station angedockt hatte, wurde Gregor mit dem Rest der Arbeitsmannschaft hinausgetrieben. Miles wartete nervös und versuchte, so lange wie möglich an Bord zu bleiben, bis das Schiff zur Ruhe kam und die Besatzung nicht mehr achtgab, aber doch nicht so lange, daß er riskierte, daß das Schiff wieder ablegte und mit ihm davonbrauste.

Als Miles seinen Kopf vorsichtig hinaus streckte, war der Korridor dunkel und verlassen. Die Andockluke war auf dieser Seite unbewacht.

Miles trug immer noch den blauen Kittel und die blauen Hosen über seinen anderen Kleidern, da er annahm, die Arbeitstrupps würden als Kalfakter behandelt, mit freiem Zugang zur Station, und er könnte sich so unter sie mischen, daß es zumindest aus der Entfernung gesehen nicht auffiel.

Er trat mit festem Schritt nach draußen und geriet fast in Panik, als er einen Mann in der goldenschwarzen Hauslivree vor dem Lukenausgang herumstehen sah. Der Mann hatte seinen Betäuber im Halfter, in den Händen hielt er einen dampfenden Plastikbecher. Seine schielenden roten Augen betrachteten Miles ohne Neugier. Miles schenkte ihm ein kurzes Lächeln und ging einfach weiter. Der Wächter antwortete mit einem sauren Gesicht. Offensichtlich war seine Aufgabe, Fremde vom Betreten des Schiffes abzuhalten, nicht vom Verlassen.

Jenseits der Luke, in der Ladebucht der Station, hielt sich ein halbes Dutzend in Overalls gekleidete Wartungstechniker auf, die ruhig an dem einen Ende arbeiteten. Miles holte tief Atem und spazierte beiläufig durch die Bucht, ohne sich umzuschauen, als wüßte er genau, wohin er ginge. Nur ein Laufbursche. Niemand grüßte ihn.

Sicherer geworden, ging er jetzt entschlossen aufs Geratewohl los. Eine breite Rampe führte in eine große Halle, wo mit viel Lärm noch gebaut wurde und Teams in verschiedener Kleidung geschäftig bei der Arbeit waren — an einer Bucht zum Auftanken und Reparieren von Kampfschiffen, nach der halb montierten Anlage zu schließen. Genau die Art von Objekt, die Ungari interessierte.

Miles vermutete, daß er nicht soviel Glück haben würde, um … nein. Es gab kein Anzeichen dafür, daß Ungari verkleidet bei einer dieser Mannschaften war. Miles sah auch eine Anzahl von Männern und Frauen in den dunkelblauen Militäruniformen der Aslunder, aber sie schienen überarbeitete und ganz in Anspruch genommene Ingenieure zu sein, keine mißtrauischen Wachen. Er ging trotzdem zügig weiter in einen anderen Korridor.

Er fand ein Aussichtsportal, dessen durchsichtiges Plexiglas auswärts gebaucht war, um den Vorübergehenden einen Weitwinkelausblick zu gewähren. Er setzte einen Fuß auf den unteren Rand und lehnte sich ganz beiläufig vor — und schluckte ein paar kräftige Flüche herunter. Einige Kilometer entfernt glitzerte die kommerzielle Transitstation. Als winziger funkelnder Lichtpunkt dockte gerade eben ein Schiff an. Die militärische Station war anscheinend als getrennte Einrichtung geplant, oder zumindest noch nicht mit der anderen Station verbunden. Kein Wunder, daß hier die Blaukittel nach Belieben herumwandern konnten. Miles starrte leicht frustriert über den Abgrund. Nun gut, zuerst würde er diese Station hier nach Ungari durchsuchen, die andere dann später. Irgendwie. Er wandte sich um und …

»He du! Kleiner Techie!«

Miles erstarrte und unterdrückte den Reflex loszusprinten — diese Taktik hatte ja schon beim letztenmal nicht funktioniert —, drehte sich um und versuchte, einen höflich fragenden Ausdruck auf seinem Gesicht zu zeigen. Der Mann, der ihm zugerufen hatte, war groß, aber unbewaffnet und trug den gelbbraunen Overall eines Aufsehers. Er schaute beunruhigt drein.

»Ja, Sir?« sagte Miles.

»Du bist genau der, den ich brauche.« Die Hand des Mannes fiel schwer auf Miles’ Schulter. »Komm mit mir!«

Miles folgte gezwungenermaßen und versuchte, dabei ruhig zu bleiben und vielleicht nur etwas gelangweilt und verdrossen auszusehen.

»Worauf bist du spezialisiert?« fragte der Mann.

»Kanalisation«, gab Miles an.

»Perfekt!«

Verzweifelt folgte Miles dem Mann zu einer Stelle, wo zwei halbfertige Korridore aufeinandertrafen. Da gähnte ein Torbogen, roh und ohne die Verkleidung mit Preßteilen. Allerdings lagen die Preßteile daneben, bereit zum Einbau.

Der Aufseher zeigte auf einen engen Zwischenraum zwischen zwei Wänden. »Siehst du das Rohr?«


Kanalisation, nach der grauen Farbgebung zu schließen, Luft und Gravitationsmittel wurden da durchgepumpt. Das Rohr verschwand in der Dunkelheit. »Ja?«

»Da ist irgendwo ein Leck, hinter dieser Korridorwand. Kriech rein und finde es, damit wir nicht wieder diese ganze Verkleidung runterreißen müssen, die wir gerade angebracht haben.«

»Haben Sie ein Licht?«

Der Mann fischte in seinen Overalltaschen und holte ein Handlicht heraus.

»In Ordnung«, seufzte Miles. »Ist es schon angeschlossen?«

»Sollte gerade werden. Bei dem verdammten Ding hat der Abschlußtest für Druck nicht hingehauen.«

Nur Luft würde also ausgestoßen werden. Miles’ Stimmung hob sich leicht. Vielleicht war sein Glück gerade dabei, sich zu wenden.

Er schlüpfte hinein und bewegte sich auf der glatten, runden Oberfläche des Rohres zentimeterweise voran, lauschend und tastend.

Nach etwa sieben Metern fand er es: kalte Luft kam aus einem Riß unter seinen Händen, ganz deutlich. Er schüttelte den Kopf, versuchte sich in dem engen Zwischenraum umzudrehen und trat dabei mit dem Fuß durch die Verkleidung.

Erstaunt steckte er seinen Kopf zu dem Loch hinaus, das so entstanden war, und blickte den Korridor hinauf und hinab. Er riß ein Stückchen der Verkleidung vom Rand des Loches ab und starrte es an, während er es in seinen Händen drehte.

Zwei Männer, die mit funkensprühenden Werkzeugen Beleuchtungskörper anbrachten, wandten sich um und schauten auf ihn.

»Was, zum Teufel, machst du da?«, sagte einer in einem gelbbraunen Overall. Es klang empört.

»Inspektion zur Qualitätskontrolle«, sagte Miles schlagfertig, »und, mein Lieber, da habt ihr ein Problem.«

Miles überlegte, ob er das Loch vergrößern, durchkriechen und zu seinem Ausgangspunkt zurückgehen sollte, aber dann drehte er sich statt dessen um und robbte langsam auf dem Rohr zurück. Neben dem besorgt wartenden Aufseher kam er wieder heraus, »Ihr Leck ist in Abschnitt Sechs«, berichtete Miles. Dann überreichte er dem Mann das Stück von der Verkleidung. »Wenn diese Korridorpaneele aus brennbarem Faserstoff sein sollen anstatt aus gesponnenem Siliziumdioxid, und das auf einer militärischen Einrichtung, die feindlichem Feuer standhalten soll, dann hat irgend jemand einen wirklich jämmerlichen Konstrukteur engagiert. Wenn sie nicht aus Faserstoff sein sollen — dann schlage ich vor, daß Sie sich ein paar von den großen Schlägertypen mit dem Schockstäben nehmen und Ihrem Lieferanten einen Besuch abstatten.«

Der Aufseher fluchte. Mit zusammengepreßten Lippen griff er nach dem nächsten Rand der Verkleidung an der Wand und drehte kräftig.

Ein faustgroßes Stück knackte und riß ab. »Sauerei. Wieviel ist schon von diesem Zeug verbaut?«

»Jede Menge«, bemerkte Miles fröhlich. Er wandte sich ab, um zu entkommen, bevor der Aufseher, der Fragmente von der Verkleidung abriß und leise vor sich hin brummelte, an eine andere Arbeit für ihn dachte. Mit rotem Kopf und schwitzend rannte Miles los und entspannte sich erst, als er die übernächste Ecke umrundet hatte. Er kam an zwei bewaffneten Männern in grauweißen Uniformen vorbei. Einer drehte sich um und blickte ihm nach.

Miles lief einfach weiter, die Zähne auf die Unterlippe gepreßt, und schaute nicht zurück. Dendarii! oder: Oserer! Hier, an Bord dieser Station — wie viele, wo? Diese beiden waren die ersten, die er gesehen hatte. Sollten sie nicht irgendwo draußen auf Patrouille sein? Er wünschte sich, er wäre wieder zwischen den Wänden, wie eine Ratte in der Wandverkleidung. Aber wenn die meisten der Söldner hier eine Gefahr für ihn waren, so gab es doch jemanden — echte Dendarii, nicht Oserer —, der ihm helfen konnte. Falls er Kontakt herstellen konnte. Falls er es wagte, Kontakt herzustellen. Elena … er könnte Elena ausfindig machen … Seine Phantasie eilte ihm davon.

Miles hatte Elena vor vier Jahren als Ehefrau von Baz Jesek zurückgelassen, als Tungs militärische Schülerin, unter soviel Schutz, wie er ihr zu jener Zeit besorgen konnte. Aber er hatte keine Nachrichten mehr von Baz bekommen, seit Oser mit seinem Coup das Kommando an sich gebracht hatte — fing vielleicht Oser ihre Botschaften ab?

Baz war nun degradiert, Tung anscheinend in Ungnade gefallen — welche Stellung hatte Elena jetzt in der Söldnerflotte inne? Welche Stellung in seinem Herzen? Er hielt in schwerem Zweifel an. Er hatte sie einmal leidenschaftlich geliebt. Einmal hatte sie ihn besser gekannt als jeder andere Mensch. Aber ihr Bann über sein Gemüt war vergangen, wie seine Trauer über ihren toten Vater, Sergeant Bothari. Vergangen in den Aufregungen seines neuen Lebens. Außer einem gelegentlichen Schmerz, wie bei einem alten Knochenbruch. Er wollte — wollte nicht — sie wiedersehen. Wieder mit ihr sprechen. Sie wieder berühren …

Aber mehr ans Praktische gedacht: sie würde Gregor erkennen, sie waren in ihrer Kindheit alle Spielkameraden gewesen. Eine zweite Verteidigungslinie für den Kaiser? Wieder Kontakt mit Elena aufzunehmen mochte emotional unangenehm sein — nun ja, emotional verheerend. Aber es war besser als dieses erfolglose und gefährliche Herumwandern. Nachdem er nun die Lage ausgekundschaftet hatte, mußte er irgendwie seine Ressourcen in Position bringen. Wieviel menschliche Glaubwürdigkeit besaß Admiral Naismith noch? Eine interessante Frage.

Er mußte einen Platz finden, von dem aus er beobachten konnte, ohne gesehen zu werden. Es gab alle möglichen Methoden, in voller Sicht unsichtbar zu sein, wie sein blauer Kittel im Augenblick bewies. Aber seine ungewöhnliche Körpergröße — nun ja, Körperkürze — ließ ihn zögern, sich nur auf Kleider zu verlassen. Er brauchte — ha! — Werkzeuge, wie zum Beispiel den Kasten, den ein Mann in gelbbraunem Overall gerade im Korridor abgesetzt hatte, bevor er in einen Waschraum schlüpfte. Im Nu hatte Miles den Kasten in der Hand und war um die Ecke.

Ein paar Ebenen entfernt fand er einen Korridor, der zu einer Cafeteria führte. Hm. Jeder mußte essen, deshalb mußte jeder irgendwann einmal hier vorbeikommen. Die Gerüche der Speisen erregten seinen Magen, der mit Knurren gegen die halben Rationen (oder noch weniger) der letzten drei Tage protestierte.

Miles ignorierte das Knurren. Er zog ein Paneel von der Wand, legte eine Schutzbrille aus dem Werkzeugkasten als bescheidene Gesichtsverkleidung an, kletterte in die Wand hinein, um seine Körpergröße zur Hälfte zu verbergen und begann mit einer vorgeblichen Arbeit an einem Steuerkasten und einigen Rohren, wobei er dekorativ diagnostische Scanner angeordnet hatte. Er hatte den Korridor entlang eine ausgezeichnete Sicht.

Aus den herangewehten Düften schloß Miles, daß man in der Cafeteria ein ungewöhnlich gutes künstliches Rindfleisch servierte, obwohl man da dem Gemüse etwas Böses antat. Er bemühte sich, keinen Speichel in den Strahl des kleinen Laserlötgeräts tropfen zu lassen, mit dem er hantierte, während er die Vorübergehenden studierte.

Sehr wenige trugen Zivilkleidung, Rothas Outfit wäre viel auffälliger gewesen als der blaue Kittel. Eine Menge von verschiedenfarbigen Overalls, blaue Kittel, ein paar ähnliche Kittel in Grün, nicht wenige Aslunder in blauen Uniformen, meistens niedere Ränge. Aßen die Dendarii — die Oserer — die Söldner —, die auf der Station waren, woanders? Er überlegte, ob er seinen Vorposten aufgeben sollte — er hatte die Steuerkästen inzwischen fast zu Tode repariert —, als ein Duo in Grau und Weiß vorüberging. Da es keine Gesichter waren, die er kannte, ließ er sie vorbeigehen, ohne sie anzurufen.

Er erwog zögernd die Chancen. Von all den paar tausend Söldnern, die sich jetzt rund um den Wurmlochsprungpunkt der Aslunder aufhielten, mochte er vielleicht ein paar hundert vom Sehen kennen, noch weniger dem Namen nach. Nur einige der Schiffe der Söldnerflotte waren jetzt an dieser halbfertigen militärischen Station angedockt. Und von diesem Teil eines Teils, wie vielen Leuten konnte er absolut vertrauen? Fünf? Er ließ ein Quartett in Grau und Weiß passieren, obwohl er sicher war, daß die ältere blonde Frau eine Ingenieurin von der Triumph war, die einst loyal zu Tung gehalten hatte. Einst. Er bekam allmählich einen Bärenhunger.

Aber das lederfarbene Gesicht an der Spitze der nächsten Gruppe in Grau und Weiß, die den Korridor hinabging, ließ Miles seinen Magen vergessen. Es war Sergeant Chodak. Sein Glück hatte sich gewendet — vielleicht. Für sich selbst mußte er die Chance ergreifen, aber Gregor in Gefahr bringen …? Jetzt war es zu spät, noch lange Überlegungen anzustellen, denn jetzt hatte Chodak seinerseits Miles erspäht. Die Augen des Sergeanten weiteten sich vor Erstaunen, bevor sein Gesicht jäh ausdruckslos wurde.

»Oh, Sergeant«, sprach ihn Miles fröhlich an, während er auf einen Steuerkasten klopfte, »können Sie sich das hier mal anschauen, bitte?«

»Ich bin in einer Minute da«, Chodak gab seinem Begleiter ein Zeichen, einem Mann in der Uniform eines einfachen Soldaten von Aslund.

Als ihre Köpfe zusammensteckten und ihre Rücken dem Korridor zugekehrt waren, zischte Chodak: »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Was tun Sie hier?« Es war ein Zeichen seiner Erregung, daß er sein gewohnheitsmäßiges ›Sir‹ wegließ.

»Das ist eine lange Geschichte. Im Augenblick brauche ich Ihre Hilfe.«

»Aber wie sind Sie hier hereingekommen? Admiral Oser hat überall auf der Transitstation Wachen, die nach Ihnen Ausschau halten. Man könnte keinen Sandfloh einschmuggeln.«

Miles grinste überzeugend. »Ich habe meine Methoden.« Und sein nächster Plan war gewesen, einen Weg auszuhecken, wie er genau zu dieser Transitstation da drüben kam … Wahrhaftig, Gott beschützte Narren und Verrückte. »Im Augenblick brauche ich einen Kontakt mit Oberstleutnant Elena Bothari-Jesek. Dringend. Oder, wenn es mit ihr nicht geht, dann zu Kommodore Jesek. Ist sie hier?«

»Sie sollte hier sein. Die Triumph liegt im Dock. Kommodore Jesek ist meines Wissens mit dem Reparaturtender draußen.«

»Nun gut, wenn nicht Elena, dann Tung. Oder Arde Mayhew. Oder Leutnant Elli Quinn. Aber ich ziehe Elena vor. Sagen Sie ihr — aber niemandem anderen —, daß ich unseren alten Freund Greg bei mir habe. Sagen Sie ihr, sie soll mich in einer Stunde in den Quartieren der Kontraktarbeiter treffen, in Greg Bleakmans Unterkunft. Geht das?«

»Es geht, Sir.« Chodak eilte davon, dabei sah er beunruhigt aus. Miles flickte seine arg lädierte Wand wieder zusammen, brachte das Paneel wieder an Ort und Stelle an, nahm seinen Werkzeugkasten auf und ging ganz lässig davon, wobei er das Gefühl zu unterdrücken suchte, als hätte er ein blinkendes rotes Licht auf dem Kopf. Er behielt seine Schutzbrille auf und hielt sein Gesicht gesenkt, und außerdem wählte er die am wenigsten bevölkerten Korridore, die er finden konnte. Sein Magen knurrte. Elena wird dich speisen, sagte Miles ihm mit Nachdruck. Später. Die blauen und grünen Kittel wurden mehr, und daran erkannte Miles, daß er sich den Quartieren der Kontraktarbeiter näherte.

Es gab ein automatisches Verzeichnis der Bewohner. Miles zögerte, dann tippte er ein: ›Bleakman, G.‹ Modul B, Raum 8. Er fand das Modul, sah auf sein Chrono — Gregor müßte jetzt schichtfrei haben — und klopfte. Die Tür öffnete sich mit einem Seufzen, und Miles schlüpfte hinein.

Gregor war da: er saß schläfrig auf seinem Bett. Es war ein Schlafraum für eine Person. Hier war man ungestört, wenn es auch kaum Platz genug zum Umdrehen gab. Ungestörtheit war ein größerer psychologischer Luxus als Raum. Selbst Technikersklaven mußten ein Minimum an Glück haben, sie hatten zuviel Möglichkeiten zur Sabotage, und deshalb konnte man es nicht riskieren, sie durchdrehen zu lassen.

»Wir sind gerettet«, verkündete Miles. »Ich habe gerade Kontakt mit Elena aufgenommen.« Er ließ sich auf das Ende des Bettes plumpsen, jetzt, da auf dieser Insel der Sicherheit seine Spannung plötzlich nachließ, fühlte er sich schwach.

»Elena ist hier?« Gregor fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. »Ich dachte, du wolltest zu deinem Hauptmann Ungari.«

»Elena ist der erste Schritt zu Ungari. Oder, wenn Ungari nicht erreichbar ist, dann der erste Schritt, um uns hier herauszuschmuggeln. Wenn Ungari nicht so verdammt darauf bestanden hätte, daß die linke Hand nicht wissen darf, was die rechte tut, dann wäre es viel leichter. Aber es wird funktionieren.«

Er musterte Gregor besorgt. »Ist bei dir alles gutgegangen?«

»Ein paar Stunden lang Beleuchtungskörper anzubringen, ruiniert meine Gesundheit noch nicht, da kannst du beruhigt sein«, sagte Gregor trocken.

»War das die Arbeit, die man dir zu tun gab? Irgendwie nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte …«

Gregor schien jedenfalls in Ordnung zu sein. Tatsächlich äußerte sich der Kaiser fast vergnügt über seine Tätigkeit als Arbeitssklave, sofern man Gregors Maßstab von Vergnügtheit zugrundelegte.

Vielleicht sollten wir ihn jedes Jahr für zwei Wochen in die Salzminen schicken, um ihn glücklich und mit seiner regulären Aufgabe zufrieden zu halten. Miles entspannte sich ein bißchen.

»Es ist schwer, sich Elena Bothari als Söldnerin vorzustellen«, sagte Gregor nachdenklich.

»Unterschätze sie nicht.« Miles verbarg einen Moment elementaren Zweifels. Fast vier Jahre. Er wußte, wie sehr er sich während dieser vier Jahre verändert hatte. Wie stand es mit Elena? Ihre Jahre konnten kaum weniger hektisch gewesen sein. Die Zeiten ändern sich. Die Menschen ändern sich mit ihnen … Nein. Dann müßte er sich ebenso in Zweifel ziehen wie Elena.

Das halbstündige Warten, bis sein Chrono den vereinbarten Zeitpunkt erreicht hatte, war eine ungute Pause: genug, um die Spannung, die Miles antrieb, zu lockern und ihn von Müdigkeit überfluten zu lassen, aber nicht genug, um ihn ausruhen zu lassen oder ihn zu erfrischen. Er war sich kläglich bewußt, daß er seinen Schwung verlor, daß Wachsamkeit gerade jetzt dringend notwendig war, wo Wachsamkeit und folgerichtiges Denken wie Sand zwischen seinen Fingern zerronnen. Er blickte abermals auf sein Chrono. Eine Stunde war zu unbestimmt gewesen. Er hätte die genaue Minute nennen sollen. Aber wer wußte, welche Schwierigkeiten und Aufschübe Elena von ihrer Seite her überwinden mußte?

Miles blinzelte heftig. An seinen schwankenden und unzusammenhängenden Gedanken erkannte er, daß er dabei war, im Sitzen einzuschlafen. Die Tür öffnete sich zischend, ohne daß Gregor auf den Knopf gedrückt hatte.

»Hier ist er, Leute!«

Eine halbe Korporalschaft grau und weiß gekleideter Söldner füllte die Öffnung und den dahinter liegenden Korridor. Es brauchte kaum die Betäuber und Schockstäbe in ihren Händen und die gezielte Attacke auf seine Person, um Miles zu verdeutlichen, daß diese unangenehme Truppe nicht im Auftrag von Elena kam.

Der Adrenalinstoß vertrieb kaum den Nebel der Müdigkeit in seinem Kopf. Und was gebe ich jetzt vor zu sein? Ein bewegliches Ziel? Er sackte gegen die Wand und regte sich nicht einmal auf, obwohl Gregor sich mit einem Ruck erhob und in dem beschränkten Raum einen tapferen Versuch der Verteidigung unternahm: mit einem treffsicheren Karatetritt stieß er einem der anstürmenden Söldner den Betäuber aus der Hand. Daraufhin schmetterten zwei Männer Gregor gegen die Wand. Miles zuckte zusammen.

Dann wurde Miles selbst mit einem Ruck aus der Koje geholt, um von einem Wirrnetzfeld umwickelt, dreifach umwickelt zu werden. Das Feld verursachte ihm einen brennenden Schmerz. Sie benutzten eine Stärke, die ausgereicht hätte, um ein galoppierendes Pferd zu lähmen. Was denkt ihr denn bloß, was ich bin, Jungs?

Der aufgeregte Anführer der Gruppe rief in den Kommunikator an seinem Handgelenk: »Ich habe ihn, Sir!«

Miles hob ironisch die Augenbrauen. Der Anführer wurde rot und stellte sich kerzengerade hin, seine Hand zuckte bei dem Bemühen, nicht zu salutieren. Miles lächelte leicht. Der Anführer preßte seine Lippen aufeinander. Ha. Habe ich dich fast dazu gebracht, nicht wahr?

»Nehmt sie mit!«, befahl der Anführer.

Miles wurde zwischen zwei Männern zur Tür hinausgetragen, seine gebundenen Füße baumelten lächerliche Zentimeter über den Boden. Hinter ihm wurde der stöhnende Gregor dahingeschleift. Als sie an einem Querkorridor vorbeikamen, sah Miles aus den Augenwinkeln Chodaks angespanntes Gesicht in den Schatten.

Er verfluchte sein schlechtes Urteilsvermögen. Du dachtest, du könntest die Leute durchschauen. Dein einziges vorführbares Talent. Richtig. Sicher. Hätte sollen, hätte sollen, hätte sollen, spottete sein Geist, wie das Krächzen eines üblen aasfressenden Vogels, der an einem Kadaver überrascht worden ist.

Als sie durch eine große Andockbucht und eine kleine Personalluke geschleppt wurden, wußte er sofort, wo sie waren. Die Triumph, das kleine Schlachtschiff, das gelegentlich als Flaggschiff der Flotte gedient hatte, erfüllte jetzt wieder diesen Dienst.

Tung, dessen Status jetzt zweifelhaft war, war einst vor dem Krieg von Tau Verde Kapitän-Eigner der Triumph gewesen. Oser hatte gewöhnlich seine Peregrine als Flaggschiff vorgezogen — war dies eine bewußte politische Aussage? Die Korridore des Schiffes waren von einer seltsamen, schmerzlichen, mächtigen Vertrautheit. Die Gerüche von Menschen, Metall und Maschinerie. Dieser verbogene Durchgang, Auswirkung des verrückten Kampfes, mit dem das Schiff bei der ersten Begegnung mit Miles erobert worden war, war immer noch nicht ganz in Ordnung gebracht … Ich dachte, ich hätte mehr vergessen.

Sie wurden schnell und geheim vorangebracht, zwei Männer aus dem Kommando gingen voran, um den Korridor vor ihnen von Zeugen freizuhalten. Dies wäre dann also eine sehr private Unterhaltung. Schön, das paßte Miles. Er hätte es vorgezogen, Oser überhaupt aus dem Weg zu gehen, aber wenn sie sich wieder begegnen mußten, dann würde er einfach eine Methode finden müssen, um daraus Nutzen zu ziehen.

Er überprüfte seine Rolle, als zöge er seine Manschetten zurecht — Miles Naismith, Weltraumsöldner und geheimnisvoller Unternehmer, in die Hegen-Nabe gekommen, um … um was? Und sein deprimierter, wenn auch treuer Kumpan Greg, natürlich — er würde sich eine besonders vorteilhafte Erklärung für Gregor ausdenken müssen.

Sie trampelten den Korridor entlang, vorbei am Taktikraum, dem Nervenzentrum der Triumph im Kampf, und kamen schließlich auf der gegenüberliegenden Seite im kleineren der beiden Besprechungsräume an. Die Holovidscheibe in der Mitte des glänzenden Konferenztisches war dunkel und still. Admiral Oser saß ebenso dunkel und still am Kopfende des Tisches, flankiert von einem bleichen blonden Mann, der, wie Miles annahm, ein Oser loyaler Leutnant war, er war Miles von früher nicht bekannt. Miles und Gregor wurden mit Gewalt auf zwei Stühle gesetzt, die etwas abseits vom Tisch standen, damit ihre Hände und Füße offen sichtbar waren. Oser schickte alle Wachen bis auf einen Mann hinaus auf den Korridor.

Osers Erscheinung hatte sich in den vier Jahren nicht viel verändert, stellte Miles fest. Immer noch hager und mit einem Falkengesicht, das dunkle Haar an den Schläfen vielleicht ein bißchen grauer. Miles hatte ihn größer in Erinnerung, aber er war in Wirklichkeit kleiner als Metzov. Oser erinnerte Miles irgendwie an den General. War es das Alter, der Körperbau? Der feindlich düstere Blick, die mörderischen Nadelspitzen roten Lichts in den Augen?

»Miles«, murmelte Gregor mit dem Mundwinkel, »was hast du dem Kerl angetan, daß er so stocksauer ist?«

»Nichts!« protestierte Miles leise. »Nichts absichtlich jedenfalls.«

Gregor sah keineswegs beruhigt drein. Oser legte seine Hände flach auf den Tisch vor sich, beugte sich vor und blickte Miles mit der Intensität eines Raubtiers an. Wenn Oser ein Tiger wäre, dann würde seine Schwanzspitze jetzt vor- und zurückzucken, stellte sich Miles vor.

»Was tun Sie hier?«, begann Oser unverblümt, ohne irgendeine Einleitung.

Sie haben mich hierher gebracht, wissen Sie das nicht? Es war nicht der richtige Zeitpunkt, den Schlaumeier zu spielen, nein. Miles war sich in hohem Maß der Tatsache bewußt, daß er nicht besonders gut aussah. Aber Admiral Naismith würde das nichts ausmachen, er war zu sehr auf sein Ziel fixiert. Naismith würde auch weitermachen, wenn er blau angemalt wäre, wenn er weitermachen müßte. Er antwortete ebenso unverblümt: »Ich wurde engagiert, um eine militärische Einschätzung der Hegen-Nabe zu erstellen, und zwar für einen interessierten Nichtkombattanten, der Transporte durch die Nabe durchführt.«

Das war die Wahrheit, und hier würde man sie sicher nicht glauben.

»Da meine Auftraggeber keine Lust haben, Bergungsexpeditionen auszurüsten, wollten sie rechtzeitig gewarnt werden, um ihre Bürger aus der Nabe abzuziehen, bevor die Feindseligkeiten ausbrechen. Nebenbei handle ich ein bißchen mit Waffen. Eine Tarnung, die sich selbst bezahlt macht.«

Osers Augen verengten sich. »Nicht Barrayar …«

»Barrayar hat seine eigenen Agenten.«

»So auch Cetaganda … Aslund fürchtet die Ambitionen von Cetaganda.«

»Das ist gut so.«

»Barrayar ist gleich weit entfernt.«

»Nach meiner fachlichen Meinung«, mit dem Wirrnetzfeld kämpfend verneigte Miles sich leicht in Richtung auf Oser und setzte sich dann wieder hin — Oser war fast daran, zurückzunikken, unterdrückte dann aber die Geste —, »ist Barrayar in dieser Generation keine Bedrohung für Aslund. Um die Hegen-Nabe zu kontrollieren, müßte Barrayar Pol kontrollieren. Mit der Terraformung seines eigenen zweiten Kontinents und der Erschließung des Planeten Sergyar hat Barrayar gegenwärtig eher zuviel Neuland. Und dann gibt es da noch das Problem, das widerspenstige Komarr im Zaum zu halten. Ein militärisches Abenteuer gegen Pol wäre gerade jetzt eine ernsthafte Überbeanspruchung von Barrayars menschlichen Ressourcen. Es ist billiger, befreundet zu sein, oder zumindest neutral.«

»Aslund fürchtet auch Pol.«

»Es ist unwahrscheinlich, daß die Polianer kämpfen, wenn sie nicht zuvor angegriffen wurden. Mit Pol Frieden zu halten, ist billig und leicht. Man braucht einfach nichts zu tun.«

»Und Vervain?«

»Ich habe noch keine Einschätzung von Vervain vorgenommen. Es ist der nächste Punkt auf meiner Liste.«

»So?« Oser lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme. Es war keine entspannte Geste. »Als Spion könnte ich Sie hinrichten lassen.«

»Aber ich bin kein feindlicher Spion«, antwortete Miles und simulierte Ungezwungenheit. »Ein freundlicher Neutraler oder — wer weiß? — ein potentieller Verbündeter.«

»Und Was für ein Interesse haben Sie an meiner Flotte?«

»Mein Interesse für die Denda… für die Söldner ist rein akademisch, das versichere ich Ihnen. Sie sind einfach ein Teil der Szenerie. Sagen Sie mir, wie sieht Ihr Vertrag mit Aslund aus?« Miles hob herausfordernd den Kopf, als wollte er fachsimpeln.

Beinahe hätte Oser ihm geantwortet, dann preßte er verärgert die Lippen zusammen. Wenn Miles eine Zeitbombe gewesen wäre, hätte er die Aufmerksamkeit des Söldners nicht totaler bannen können als jetzt.

»Ach, kommen Sie schon«, sagte Miles spöttisch in das länger werdende Schweigen. »Was könnte ich tun, ich allein mit einem Mann?«

»Ich erinnere mich an das letzte Mal. Sie kamen in den Lokalraum von Tau Verde mit einem Stab von vier Leuten. Vier Monate später diktierten Sie die Bedingungen. Also, was planen Sie jetzt?«

»Sie überschätzen meinen Einfluß. Ich habe nur Leuten weitergeholfen in die Richtung, in die sie sowieso gehen wollten. Ein Beschleuniger sozusagen.«

»Nicht für mich. Ich habe drei Jahre gebraucht, um den Boden wieder zu gewinnen, den ich verloren hatte. In meiner eigenen Flotte.«

»Es ist schwer, jedermann zu gefallen.« Miles fing Gregors Blick stummen Schreckens auf und dämpfte sich etwas. Wenn er es sich recht überlegte, so war Gregor nie Admiral Naismith begegnet, oder? »Selbst Sie hatten keinen ernsthaften Schaden.«

Oser preßte seine Kiefer noch heftiger aufeinander. »Und wer ist der da?« Er zeigte mit dem Daumen auf Gregor.

»Greg? Der ist nur mein Offiziersbursche«, sagte Miles, bevor Gregor den Mund auftun konnte.

»Er schaut nicht wie ein Bursche aus. Er sieht aus wie ein Offizier.«

Gregor schien sich unvernünftigerweise über dieses unvoreingenommene Kompliment zu freuen.

»Man kann nicht nach dem Aussehen gehen. Kommodore Tung zum Beispiel sieht wie ein Ringer aus.«

Osers Augen wurden plötzlich starr. »In der Tat. Und wie lange haben Sie mit Kapitän Tung korrespondiert?«

An dem flauen Gefühl im Magen erkannte Miles, daß es ein grober Fehler gewesen war, Tung zu erwähnen. Er versuchte, auf seinem Gesicht einen kühl ironischen Ausdruck zu bewahren und sein Unbehagen nicht zu verraten. »Wenn ich mit Tung korrespondiert hätte, dann hätte ich mir nicht diese Mühe mit der persönlichen Einschätzung der Aslund-Station gemacht.«

Die Ellbogen auf dem Tisch und die Hände verschränkt, studierte Oser Miles schweigend eine volle Sekunde lang. Schließlich öffnete er eine Hand und zeigte damit auf den Wächter, der aufmerksam Haltung annahm.

»Schmeißt sie ins All hinaus«, befahl Oser.

»Was?!«, schrie Miles auf.

»Sie«, der zeigende Finger schloß auch Osers schweigenden Leutnant ein, »gehen mit ihnen. Schauen Sie, daß es erledigt wird. Benutzen Sie die Zugangsschleuse auf der Backbordseite, sie ist am nächsten. Wenn er …« — er zeigte auf Miles — »zu reden anfängt, dann bringen Sie seine Zunge zum Schweigen. Sie ist sein gefährlichstes Organ.«

Der Wächter befreite Miles’ Füße aus dem Wirrnetzfeld und zerrte ihn auf die Beine.

»Wollen Sie mich nicht einmal chemisch verhören?«, fragte Miles, dem ob dieser plötzlichen Wendung ganz schwindelig wurde.

»Und damit meine Leute, die Sie verhören, infizieren lassen? Das allerletzte, was ich will, ist, Sie zu irgend jemandem frei reden zu lassen. Ich kann mir nichts Fataleres vorstellen, als daß die Fäulnis der Illoyalität in meiner eigenen Nachrichtenabteilung beginnt. Was für eine Rede auch immer Sie geplant haben, Ihnen die Luft zu nehmen, wird sie neutralisieren. Sie überzeugen ja beinahe mich.« Oser schauderte es fast.

Wir sind so gut miteinander ausgekommen, ja …

»Aber ich …« — sie hievten auch Gregor auf die Beine — »aber Sie brauchen doch nicht …«

Zwei wartende Mitglieder des Kommandos schlossen sich an, als Miles und Gregor zur Tür hinausgeschleift und mit auf den Rücken gedrehten Armen schnell den Korridor hinabgeschleppt wurden.

»Aber …!«

Die Tür des Konferenzraums schloß sich mit einem Zischen.

»Das geht nicht gut«, bemerkte Gregor, auf seinem bleichen Gesicht mischten sich auf seltsame Weise Gleichgültigkeit, Empörung und Entsetzen. »Hast du noch irgendwelche tollen Ideen?«

»Du bist derjenige, der mit dem flügellosen Flug experimentiert hat. Ist das hier schlimmer, als wenn man etwa vom Balkon stürzt?«

»Aus freiem Willen«, Gregor ließ seine Füße schleifen und begann sich zu sträuben, als die Luftschleusenkammer in Sicht kam, »nicht nach der Laune einer Bande von …«, jetzt waren drei Wächter nötig, um mit ihm fertigzuwerden, »verdammten Bauern!«

Miles geriet ernsthaft in Panik. Zum Teufel mit der verdammten Tarnung. »Wißt ihr«, rief er laut, »daß ihr Burschen dabei seid, ein Vermögen an Lösegeld zur Luftschleuse hinauszuschmeißen?«

Zwei der Wächter rangen weiter mit Gregor, aber der dritte hielt inne. »Ein Vermögen? Wie groß?«

»Riesig«, versprach Miles. »Damit könnt ihr euch eure eigene Flotte kaufen.«

Der Leutnant ließ Gregor los und kam auf Miles zu, wobei er ein Vibra-Messer zog. Der Leutnant interpretierte seine Befehle erschreckend wörtlich, erkannte Miles, als der Mann nach seiner Zunge griff. Er erwischte sie fast — das böse insektenhafte Sirren des Messers kam bis auf Zentimeter an Miles’ Nase heran.

Miles biß in die kräftigen Finger, als sie sich in seinen Mund schoben, und wand sich gegen den Griff des Wächters, der ihn hielt. Das Wirrnetzfeld, das Miles’ Arme an seinen Rumpf band, sirrte und knisterte, es war unzerbrechlich. Miles rammte nach hinten in die Leistengegend des Mannes hinter ihm. Der jaulte auf, als das Feld ihm einen Schlag versetzte. Sein Griff ließ nach, Miles fiel hin und knallte gegen die Knie des Leutnants. Es war nicht gerade ein Judowurf, der Leutnant stolperte mehr oder weniger über ihn.

Gregors zwei Gegner waren abgelenkt, von der barbarischen Erwartung der blutigen Szene mit dem Vibra-Messer ebenso wie von Miles’ letztlich nutzlosem Kampf. Sie sahen den ledergesichtigen Mann nicht, der aus einem Querkorridor trat, mit seinem Betäuber zielte und schoß.

Sie krümmten sich in Krämpfen, als die sirrende Ladung ihre Rücken traf, und sie fielen übereinander auf den Boden. Der Mann, der Miles gehalten hatte und jetzt versuchte, ihn wieder zu packen, während Miles ihm auswich wie ein zappelnder Fisch, drehte sich um und bekam genau in diesem Augenblick einen Strahl direkt ins Gesicht. Miles warf sich auf den Kopf des blonden Leutnants und drückte ihn — leider nur für einen Moment — auf den Boden.

Miles wand sich, um das Wirrnetzfeld in das Gesicht des Mannes zu drücken, dann wurde er mit einem Fluch abgeworfen. Der Leutnant kam auf ein Knie hoch, bereitete eine Attacke vor und suchte schwankend nach seinem Ziel, als Gregor ihn ansprang und gegen das Kinn trat. Eine Betäuberladung traf den Leutnant am Hinterkopf, und er brach zusammen.

»Verdammt feine Arbeit«, sagte Miles keuchend zu Sergeant Chodak in die plötzliche Stille hinein. »Ich glaube, die haben nicht einmal gesehen, was sie getroffen hat.« Also, beim erstenmal habe ich ihn doch als zuverlässig eingestuft. Also habe ich mein Gefühl doch noch nicht verloren. Gott segne Sie, Sergeant.

»Sie beide sind auch nicht so schlecht, wenn man bedenkt, daß Ihnen die Hände hinter dem Rücken gebunden sind.«

Chodak schüttelte den Kopf, halb belustigt, halb bestürzt, und machte sich daran, die Wirrnetzfelder zu entfernen.

»Was für ein Team«, sagte Miles.

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