KAPITEL 17

Bevor Miles den Taktikraum verließ, erkundigte er sich klugerweise bei der Sicherheitsabteilung der Triumph, wie ihre Razzia nach den entflohenen Gefangenen vorankam. Es fehlten und blieben noch ungeklärt Oser, der Kapitän der Peregrine und zwei weitere loyale oserische Offiziere, sowie Kommandantin Cavilo und General Metzov. Miles war sich ziemlich sicher, daß er über seine Monitore Augenzeuge gewesen war, als Oser und dessen Offiziere in radioaktive Asche verwandelt worden waren. Waren auch Metzov und Cavilo an Bord jener fliehenden Fähre gewesen? Hübsche Ironie, wenn am Ende Cavilo durch die Hände der Cetagandaner gestorben wäre. Obwohl es — zugegebenermaßen — ebenso ironisch gewesen wäre, wenn sie durch die Hände der Vervani, Randalls Rangers, Aslunder, Barrayaraner oder irgendwelcher anderer Leute gestorben wäre, mit denen sie in ihrer kurzen, kometenhaften Karriere in der Hegen-Nabe ihr Doppelspiel getrieben hatte. Ihr Ende war sauber und praktisch, falls es stimmte, aber ihm gefiel der Gedanke nicht, daß ihre letzten, wilden Äußerungen, die sie ihm gegenüber gemacht hatte, jetzt das prophetische Gewicht des Fluches einer Verstorbenen bekommen hatten. Eigentlich sollte er Metzov mehr fürchten als Cavilo. Sollte er eigentlich, aber er tat es nicht. Ihn schauderte, und er lieh sich einen Kommandowächter aus für den Rückweg zu seiner Kabine. Unterwegs begegnete er einer Fährenladung von Verwundeten, die in die Krankenstation der Triumph verlegt wurden. Die Triumph hatte in der Reservegruppe (in der sie nun einmal war) keine Schläge abbekommen, mit der ihre Abschirmungen nicht fertiggeworden wären, aber andere Schiffe waren nicht so glücklich dran gewesen. Die Proportionen der Verlustlisten eines Raumkampfes waren gewöhnlich umgekehrt zu denen von planetaren Kämpfen: die Toten waren in der Überzahl gegenüber den Verwundeten, jedoch bei glücklichen Umständen, wo die künstliche Umgebung erhalten geblieben war, konnten Soldaten ihre Verletzungen überleben. Unsicher änderte Miles seine Richtung und folgte dem Zug. Was konnte er auf der Krankenstation Gutes tun?

Die Mediziner, die die Triage durchführten, hatten nicht die leichteren Fälle auf die Triumph geschickt. Drei gräßliche Verbrennungen und eine massive Kopfverletzung kamen als erste an die Reihe und wurden von den besorgt wartenden Sanitätern weggebracht. Einige Soldaten waren bei Bewußtsein und warteten ruhig, bis sie drankamen, von Airbag-Bändern auf ihren Schwebepaletten ruhiggestellt, die Augen getrübt von Schmerz und von Schmerzmitteln. Miles versuchte, jedem ein paar Worte zu sagen. Einige starrten verständnislos vor sich hin, andere schienen dankbar dafür zu sein, bei letzteren hielt er sich ein bißchen länger auf und ermutigte sie, so gut er konnte.

Dann zog er sich zurück und stand einige Minuten lang stumm an der Tür, überflutet von den vertrauten, beängstigenden Gerüchen einer Krankenstation nach einem Kampf: Desinfektionsmittel und Blut, verbranntes Fleisch, Urin und Elektronik, bis er erkannte, daß die Erschöpfung ihn völlig stupid und nutzlos machte, zitterig und den Tränen nahe.

Er stieß sich von der Wand ab und stapfte hinaus. Ins Bett. Wenn irgendjemand wirklich seine Anwesenheit in der Führung wünschte, so konnte er kommen und ihn holen. Er betätigte das Codeschloß vor Osers Kabine. Jetzt, da er sie geerbt hatte, sollte er eigentlich die Zahlenkombination ändern, dachte er. Er seufzte und ging hinein. Als er eintrat, wurde er sich zweier bedauerlicher Tatsachen bewußt. Erstens, obwohl er seine Begleitwache vor dem Betreten der Krankenstation entlassen hatte, hatte er vergessen, sie wieder zu rufen, und zweitens, er war nicht allein. Die Tür schloß sich hinter ihm, bevor er in den Korridor zurückweichen konnte, und er bumste mit dem Rücken gegen sie, als er zurücksprang.

Das dunkle Rot von General Metzovs Gesicht fesselte seinen Blick noch mehr als der silbrige Schimmer der Parabolmündung des Nervendisruptors in seiner Hand, die auf seinen Kopf zielte. Metzov hatte sich irgendwie eine graue Dendarii-Uniform beschafft, die ein bißchen zu klein für ihn war. Kommandantin Cavilo, die hinter Metzov stand, hatte sich die gleiche Uniform beschafft, die ein bißchen zu groß für sie war. Metzov sah riesig und wütend aus. Cavilo wirkte … seltsam. Bitter, ironisch, auf unheimliche Art amüsiert. Blaue Flecken entstellten ihren Hals. Sie trug keine Waffen.

»Hab ich dich«, flüsterte Metzov triumphierend, »endlich.«

Mit einem breiten Lächeln kam er schrittweise auf Miles zu, bis er ihn mit einer großen Hand um den Hals gegen die Wand drücken konnte. Er ließ den Nervendisruptor klappernd zu Boden fallen und umfaßte auch mit den anderen Hand Miles’ Hals, nicht um ihn zu brechen, sondern um ihn zusammenzudrücken.

»Sie werden niemals überleben …«, war alles, was Miles hervorbringen konnte, bevor ihm die Luft abgewürgt wurde. Er spürte, wie seine Luftröhre zu knirschen begann, als die Blutzufuhr abgeschnitten wurde, fühlte sein Kopf sich an, als gäbe es gleich eine dunkle Explosion. Von diesem Mord konnte Metzov nicht durch Reden abgehalten werden …

Cavilo glitt nach vorn und beugte sich nieder, lautlos und unbemerkt wie eine Katze, um den Nervendisruptor vom Boden aufzuheben, dann trat sie zurück, zur linken Seite von Miles.

»Stanis, Liebling«, gurrte sie. Metzov, der von Miles’ allmählicher Erdrosselung besessen war, wandte seinen Kopf nicht um. In deutlicher Nachahmung von Metzovs Tonfall sagte Cavilo: ›»Mach deine Beine breit, du Schlampe, oder ich blase dir das Gehirn raus!‹« Da schnellte Metzovs Kopf herum, und seine Augen weiteten sich.

Sie blies ihm das Gehirn heraus. Der knisternde blaue Blitz traf ihn voll zwischen die Augen. Bevor er zu Boden fiel, brach er in seinem letzten Krampf Miles fast den Hals, obwohl diese Knochen mit Plastik verstärkt waren. Der ätzende elektrochemische Geruch des Todes aus dem Nervendisruptor schlug Miles ins Gesicht.

Miles sackte erstarrt gegen die Wand und wagte nicht, sich zu bewegen. Er hob den Blick von der Leiche zu Cavilo. Ihre Lippen waren zu einem Lächeln enormer Genugtuung verzogen, voll befriedigt. Waren Cavilos Worte ein direktes Zitat aus jüngster Zeit gewesen? Was hatten sie all die Stunden getrieben, die sie in ihrem Hinterhalt in Osers Kabine zugebracht haben mußten? Das Schweigen hielt an.

»Nicht«, Miles schluckte und versuchte, sich mit seiner gequetschten Kehle zu räuspern, und krächzte dann: »Nicht, daß ich mich beschweren will, wohlgemerkt, aber warum machen Sie nicht weiter und erschießen auch mich?«

Cavilo grinste. »Eine schnelle Rache ist besser als gar keine. Eine langsame und allmähliche ist noch besser, aber um sie voll genießen zu können, muß ich sie überleben. Ein andermal, Kleiner.«

Sie schwenkte den Nervendisruptor hoch, als wollte sie ihn mit Schwung in ein Halfter stecken, dann ließ sie ihn in ihrer entspannten Hand mit der Mündung nach unten an ihrer Seite hängen. »Sie haben geschworen, Sie würden mich sicher aus der Hegen-Nabe bringen, Vor-Lord. Und ich bin inzwischen bereit zu glauben, daß Sie tatsächlich dumm genug sind, Ihr Wort zu halten. Nicht, daß ich mich beschweren will, wohlgemerkt. Nun, wenn Oser uns mehr als eine Waffe gegeben hätte, oder wenn er den Nervendisruptor mir gegeben hätte und den Code für seine Kabine an Stanis, und nicht umgekehrt, oder wenn Oser uns mit sich genommen hätte, wie ich ihn bat … dann hätten sich die Dinge vielleicht anders entwickelt.«

Ganz anders. Sehr langsam und sehr, sehr vorsichtig näherte sich Miles Zentimeter um Zentimeter der Komkonsole und rief die Sicherheitsleute. Cavilo beobachtete ihn nachdenklich. Nach ein paar Augenblicken, als es an der Zeit war, daß gleich die Verstärkungen hereinstürmen mußten, kam sie langsam auf ihn zu. »Ich habe Sie unterschätzt, wissen Sie.«

»Ich habe Sie nie unterschätzt.«

»Ich weiß. Ich bin nicht gewöhnt an solche … danke.«

Verächtlich schleuderte sie den Nervendisruptor gegen Miles’ Körper. Dann fletschte sie plötzlich die Zähne, drehte sich um, schlang einen Arm um Miles’ Hals und küßte ihn heftig. Ihr Timing war perfekt: Die Sicherheitsleute, angeführt von Elena und Sergeant Chodak, stürmten durch die Tür, kurz bevor Miles Cavilo abschütteln konnte.


Miles trat von der Fähre der Triumph durch das kurze Anschlußrohr an Bord der Prinz Serg. Er blickte sich neidisch in dem sauberen, geräumigen und schön beleuchteten Korridor um, dann schaute er auf die Reihe schneidiger und glitzernder Ehrenwachen, die Haltung annahmen, auf die geschniegelten Offiziere, die in ihren grünen kaiserlich barrayaranischen Uniformen warteten. Er blickte verstohlen und besorgt an seiner eigenen grauweißen Dendarii-Uniform hinab. Die Triumph, Haupt und Stolz der Dendarii-Flotte, schien zu etwas Kleinem, Abgenutztem und Verbrauchten zu schrumpfen. Na klar, aber ihr Burschen würdet jetzt nicht so hübsch aussehen, wenn wir uns nicht so hart abgenutzt hätten, tröstete Miles sich selbst.

Tung, Elena und Chodak guckten auch alle wie Touristen.

Miles ließ sie Haltung annehmen, um die schneidigen militärischen Willkommensgrüße ihrer Gastgeber entgegenzunehmen und zu erwidern.

»Ich bin Oberstleutnant Natochini, stellvertretender Kommandeur der Prinz Serg«, stellte sich der ranghöchste Barrayaraner vor. »Leutnant Yegorov hier wird Sie und Oberstleutnant Bothari-Jesek zu Ihrem Treffen mit Admiral Vorkosigan führen, Admiral Naismith. Kommodore Tung, ich werde Sie persönlich auf der Prinz Serg herumführen, und es wird mir eine Freude sein, alle Ihre Fragen zu beantworten. Falls die Antworten nicht der Geheimhaltung unterliegen, natürlich.«

»Natürlich.« Tungs breites Gesicht sah enorm befriedigt aus. Wirklich, wenn Tung noch ein bißchen selbstgefälliger würde, dann könnte er implodieren.

»Wir werden uns Admiral Vorkosigan zum Mittagessen in der Offiziersmesse der höheren Ränge anschließen, nach Ihren Treffen und unserem Rundgang«, fuhr Oberstleutnant Natochini an Miles gewandt fort. »Unsere letzten Dinnergäste hier waren der Präsident von Pol und seine Begleitung, vor zwölf Tagen.«

In dem sicheren Bewußtsein, daß die Söldner die Bedeutung des Privilegs verstanden, das ihnen eingeräumt wurde, führte der barrayaranische Offizier Tung und Chodak, die beide glücklich waren, den Korridor hinab. Miles hörte, wie Tung leise kicherte: »Mittagessen mit Admiral Vorkosigan, höhö …«

Leutnant Yegorov dirigierte Miles und Elena in die entgegengesetzte Richtung. »Sie sind Barrayaranerin, Madame?«, wollte er von Elena wissen.

»Mein Vater war achtzehn Jahre lang ein durch Lehnseid gebundener Gefolgsmann des verstorbenen Grafen Piotr«, erklärte Elena. »Er starb im Dienste des Grafen.«

»Ich verstehe«, sagte der Leutnant respektvoll. »Sie sind also mit der Familie bekannt.« Das erklärt Ihre Einladung, konnte Miles ihn fast denken sehen.

»Ah, ja.«

Der Leutnant blickte mit etwas mehr Zweifel auf ›Admiral Naismith‹ herab. »Und … hm … ich habe gehört, daß Sie Betaner sind, Sir?«

»Ursprünglich«, sagte Miles in seinem breitesten betanischen Akzent.

»Sie … finden vielleicht die Art, wie wir Barrayaraner manche Dinge tun, ein bißchen formeller, als Sie es gewohnt sind«, warnte der Leutnant. »Der Graf, verstehen Sie, ist an den Respekt und die Ehrerbietung gewöhnt, die seinem Rang zustehen.«

Miles beobachtete amüsiert, wie der ernsthafte Offizier nach einer höflichen Methode suchte, um ihm zu sagen: Nennen Sie ihn ›Sir‹, wischen Sie nicht Ihre Nase an Ihrem Ärmel ab und unterlassen Sie Ihre verdammten egalitären betanischen Frechheiten. »Sie dürften ihn als sehr respekteinflößend empfinden.«

»Ein echter Wichtigtuer, nicht wahr?«

Der Leutnant runzelte die Stirn. »Er ist ein großer Mann.«

»Och, ich wette, wenn wir ihm beim Essen genügend Wein zu trinken geben, dann wird er schon auftauen und schmutzige Geschichten erzählen wie jeder andere auch.«

Yegorovs höfliches Lächeln fror auf seinen Lippen fest. Elena rollte mit den Augen, beugte sich herab und flüsterte energisch: »Admiral, benehmen Sie sich!«

»Oh, ist schon gut«, seufzte Miles bedauernd. Der Leutnant war über Miles’ Kopf hinweg Elena einen dankbaren Blick zu.

Miles bewunderte im Vorübergehen, daß alles wie aus dem Ei gepellt aussah. Abgesehen davon, daß sie neu war, hatte man bei der Planung der Prinz Serg an die Diplomatie ebenso wie an den Krieg gedacht und ein Schiff gebaut, das geeignet war, den Kaiser bei Staatsbesuchen zu befördern, ohne an militärischer Wirksamkeit einzubüßen. In einem Querkorridor, dessen Wandverkleidung zum Teil offenstand, sah er einen jungen Fähnrich, der eine Technikergruppe bei kleineren Reparaturen dirigierte — nein, bei Gott, das war originale Installationsarbeit.

Die Prinz Serg hatte den Orbit mit den Arbeitsmannschaften noch an Bord verlassen, wie Miles gehört hatte. Er blickte schnell über die Schulter zurück. Wenn Gott und General Metzov es nicht anders gewollt hätten, dann wäre ich jetzt hier an Bord. Wenn er seine Nase auf der Insel Kyril bloße sechs Monate sauber gehalten hätte … — er empfand einen Stich unlogischen Neides auf den geschäftigen Fähnrich.

Sie betraten den Offiziersbereich. Leutnant Yegorov führte sie durch ein Vorzimmer in ein spartanisch eingerichtetes Flaggbüro, das doppelt so groß war wie alles, was Miles je zuvor auf einem barrayaranischen Raumschiff gesehen hatte. Admiral Graf Aral Vorkosikan blickte von seinem Komkonsolenpult auf, als die Türen lautlos zur Seite glitten. Miles trat ein, und dabei wurde ihm plötzlich flau im Magen.

Um seine Emotionen zu verbergen und in den Griff zu bekommen, sagte er lässig: »He, ihr kaiserlichen Schnecken werdet alle dick und weichlich, wenn ihr in solchem Luxus herumhängt, wißt ihr das?«

»Ha!« Admiral Vorkosigan stolperte fast, als er sich von seinem Sessel erhob und hastig um die Ecke seines Schreibtisches polterte. Nun ja, kein Wunder, wie kann er richtig sehen mit all dem Wasser, das ihm in den Augen steht? Er schloß Miles heftig in die Arme. Miles grinste und blinzelte und schluckte, als sein Gesicht gegen den kühlen grünen Ärmel gedrückt wurde, und er hatte seine Züge fast wieder unter Kontrolle, als ihn Graf Vorkosigan eine Armlänge von sich hielt, um ihn besorgt und prüfend zu betrachten. »Geht es dir gut, Junge?«

»Wirklich gut. Wie hat dir dein Wurmlochsprung gefallen?«

»Wirklich gut«, erwiderte Graf Vorkosigan flüsternd. »Sieh dich vor! Es gab Momente, da manche meiner Berater wollten, daß man dich erschießt. Und es gab Momente, da war ich einer Meinung mit ihnen.«

Leutnant Yegorov, dem das Wort mitten in der Ankündigung ihrer Ankunft abgeschnitten worden war (Miles hatte ihn nicht sprechen hören, und er zweifelte, ob sein Vater ihn gehört hatte), stand da, den Mund noch offen und vollkommen verwirrt. Leutnant Jole, der selber ein Grinsen unterdrückte, erhob sich von der anderen Seite des Komkonsolenpults und führte Yegorov sanft und gütig wieder zur Tür hinaus. »Danke, Leutnant. Der Admiral weiß Ihre Dienste zu schätzen, das wäre es dann …«

Jole blickte schnell über die Schulter zurück, verzog nachdenklich die Augenbrauen und folgte Yegorov nach draußen. Bevor sich die Türen schlossen, erhaschte Miles noch einen Blick auf den blonden Leutnant, wie er sich auf einem Sessel im Vorzimmer niederließ und den Kopf in der entspannten Pose eines Mannes zurücklehnte, der sich auf ein langes Warten einrichtet. Jole konnte manchmal geradezu übernatürlich höflich sein.

»Elena.« Mit einer gewissen Anstrengung riß sich Graf Vorkosigan von Miles los, um Elenas beide Hände mit einem kurzen festen Griff zu umfassen. »Geht es dir gut?«

»Ja, Sir.«

»Das freut mich … mehr als ich sagen kann. Cordelia läßt dich herzlich grüßen, sie hofft das Beste für dich. Falls ich dich sehen sollte, so sollte ich dich daran erinnern … ah — ich muß die Worte richtig zusammenbekommen, es war einer ihrer schlauen betanischen Sprüche — ›Dein Zuhause ist dort, wo man, wenn du dort hingehen mußt, dich aufnehmen muß.‹«

»Ich kann direkt ihre Stimme hören«, sagte Elena und lächelte.

»Übermitteln Sie ihr meinen Dank. Sagen Sie ihr … ich werde mich daran erinnern.«

»Gut.« Graf Vorkosigan drang nicht weiter in sie. »Setzt euch, setzt euch«, er winkte sie zu Stühlen, die er bequem an das Komkonsolenpult herangezogen hatte, und setzte sich selbst. Für einen Augenblick schaltete er quasi in einen anderen Gang, und seine Gesichtszüge entspannten sich, dann konzentrierte er sich wieder mit aller Aufmerksamkeit. Gott, er sieht müde aus, erkannte Miles, für den Bruchteil einer Sekunde fast todmüde. Gregor, du hast viel zu verantworten. Aber Gregor wußte das ja.

»Was ist die neueste Nachricht bezüglich des Waffenstillstands?« fragte Miles.

»Er hält noch, danke. Die einzigen cetagandanischer Schiffe, die nicht dorthin zurückgesprungen sind, vor wo sie kamen, hatten beschädigte Necklin-Stäbe oder beschädigte Steuersysteme oder verletzte Piloten.

Oder alles drei. Wir lassen sie zwei dieser Schiffe reparieren und dann mit Kernbesatzungen hinausspringen, die übrigen sind nicht mehr zu retten. Ich schätze, daß der kontrollierte kommerzielle Verkehr in sechs Wochen wieder aufgenommen werden kann.«

Miles schüttelte den Kopf. »So endet der Fünftage-Krieg. Ich habe nie einen Cetagandaner von Angesich zu Angesicht gesehen. All die Mühe und all das Blutvergießen, nur um zum Status quo ante zurückzukehren.«

»Nicht für alle. Eine Anzahl höherer Offiziere der Cetagandaner wurden in ihre Hauptstadt zurückgerufen, um ihrem Kaiser ihr ›unbefugtes Abenteuer‹ zu erklären. Man erwartet, daß ihre Entschuldigungen fatal sein werden.«

Miles schnaubte. »Es geht doch eher darum, daß sie für ihre Niederlage büßen. ›Unbefugtes Abenteuer‹ — glaubt das überhaupt jemand? Warum macht man sich überhaupt die Mühe?«

»Das ist Raffinesse, mein Junge. Einem Feind, der sich zurückzieht, sollte man soviel von seinem Gesicht überlassen, wie er davontragen kann. Laß ihn nur nicht irgend etwas anderes davontragen.«

»Ich habe gehört, daß du die Polianer eingewickelt hast. Die ganze Zeit erwartete ich, daß Simon Illyan persönlich auf der Bildfläche erscheinen würde, um uns verlorene Knaben nach Hause zu holen.«

»Er wollte unbedingt kommen, aber es gab keinen Weg, wie wir beide die Heimat zur selben Zeit verlassen konnten. Die wackelige Tarnung, die wir über Gregors Abwesenheit gebreitet hatten, hätte jeden Augenblick zusammenfallen können.«

»Wie habt ihr übrigens das geschaukelt?«

»Wir suchten einen jungen Offizier aus, der Gregor sehr ähnlich sah, sagten ihm, es gebe ein Attentatskomplott gegen den Kaiser und er solle den Köder spielen. Segen über ihn, er machte sofort bereitwillig mit. Er — und sein Sicherheitsteam, dem die gleiche Geschichte erzählt worden war — haben die nächsten paar Wochen damit verbracht, ein geruhsames Leben drunten in Vorkosigan Surleau zu führen und die besten Speisen zu schnabulieren — allerdings gab es dann eine Magenverstimmung.

Schließlich schickten wir ihn auf eine ländliche Campingreise, als die Anfragen aus der Hauptstadt immer drängender wurden. Die Leute werden es bald spitzkriegen, da bin ich mir sicher, wenn sie es nicht schon spitzgekriegt haben, aber jetzt, da wir Gregor wieder haben, können wir das Ganze erklären, wie immer wir wollen. Wie immer er will.« Graf Vorkosigan blickte einen Augenblick auf seltsame Weise finster drein, seltsam deshalb, weil er nicht gänzlich unzufrieden zu sein schien.

»Ich war überrascht«, sagte Miles, »obwohl sehr glücklich, daß du deine Streitkräfte so schnell an Pol vorbeigebracht hast. Ich fürchtete, sie würden dich nicht durchlassen, bis die Cetagandaner in der Nabe wären. Und dann wäre es zu spät gewesen.«

»Ja, also gut, das ist der andere Grund, weshalb ich gekommen bin anstatt Simon. Da ich Premierminister bin und früherer Regent, war es für mich vollkommen angemessen, einen Staatsbesuch auf Pol zu machen. Wir stellten schnell eine Liste zusammen mit den fünf wichtigsten diplomatischen Zugeständnissen, die sie seit Jahren von uns haben wollten, und schlugen sie als Tagesordnung vor. Da alles sehr förmlich und offiziell und einwandfrei war, war es dann vollkommen angemessen für uns, meinen Besuch mit der Jungfernfahrt der Prinz Serg zu verbinden.

Wir befanden uns im Orbit von Pol und pendelten immerzu hinauf und hinunter zu offizieller Empfängen und Parties« — seine Hand rieb unbewußl seinen Unterleib in einer Schmerz abwehrenden Geste —, »wobei ich noch verzweifelt versuchte, durch Reden unseren Weg in die Nabe zu erreichen, ohne daß wir auf jemand schießen müßten, als die Nachricht von dem cetagandanischen Überraschungsangriff gegen Vervain eintraf.

An diesem Punkt bekamen wir plötzlich ganz schnell die Erlaubnis weiterzufahren. Und wir waren nur Tage, nicht Wochen, vom Schauplatz entfernt. Die Aslunder dazu zu bringen, daß sie gemeinsame Sache mit den Polianern machten, war eine delikatere Angelegenheit. Gregor überrascht mich, wie er das hinkriegte. Die Vervani waren kein Problem, sie waren zu dem Zeitpunkt hochmotiviert sich Verbündete zu suchen.«

»Wie ich höre, ist Gregor jetzt sehr populär auf Vervain.«

»Er wird in ihrer Hauptstadt gerade gefeiert während wir hier miteinander reden, glaube ich.« Graf Vorkosigan blickte auf sein Chrono. »Sie sind ganz verrückt nach ihm. Ihn im Taktikraum der Prinz Serg mit in den Kampf fliegen zu lassen, war vielleicht eine bessere Idee, als ich dachte. Vom rein diplomatischen Standpunkt aus gesehen.«

Graf Vorkosigan schaute ziemlich zerstreut drein.

»Es … hat mich überrascht, daß du ihm erlaubt hast, mit euch in die Kampfzone zu springen. Das hatte ich nicht erwartet.«

»Nun ja, wenn du darauf zu sprechen kommst, der Taktikraum der Prinz Serg mußte wohl zu den am stärksten verteidigten paar Kubikmetern im ganzen Lokalraum von Vervain gehört haben. Er war … er war …«

Miles beobachtete fasziniert, wie sein Vater versuchte, die Worte vollkommen sicher auszusprechen, und statt dessen an ihnen herumwürgte. Ihm ging ein Licht auf. »Das war nicht deine Idee, oder? Gregor war auf seinen eigenen Befehl hin an Bord!«

»Er hatte verschiedene gute Argumente, um seine Haltung zu rechtfertigen«, sagte Graf Vorkosigan. »Der Propagandaaspekt scheint Früchte zu tragen.«

»Ich dachte, du wärest zu … vorsichtig. Um ihm das Risiko zu gestatten.«

Graf Vorkosigan studierte seine breiten Hände. »Ich mochte diese Idee gar nicht, nein. Aber ich habe einmal einen Eid geschworen, einem Kaiser zu dienen. Der moralisch gefährlichste Augenblick für einen Vormund kommt dann, wenn die Versuchung, ein Marionettenspieler zu werden, am vernünftigsten erscheint. Ich wußte immer, dieser Moment mußte … nein. Ich wußte, falls dieser Moment nie käme, dann hätte ich meinen Eid am tiefsten verfehlt.« Er hielt inne. »Es war trotzdem ein Schock für mich. Das Loslassen.«

Gregor hat dich in einer Machtprobe besiegt? Oh, dabei als Mäuschen zugegen gewesen zu sein …

»Obwohl ich alle diese Jahre mich an dir üben konnte«, fügte Graf Vorkosigan nachdenklich hinzu.

»Ach … wie geht es deinen Magengeschwüren?«

Graf Vorkosigan verzog das Gesicht. »Frag nicht danach.« Sein Gesicht hellte sich etwas auf. »Besser, in den letzten drei Tagen. Vielleicht kann ich zum Lunch wirkliches Essen verlangen statt diesen miserablen medizinischen Brei.«

Miles räusperte sich. »Wie geht es Hauptmann Ungari?«

Graf Vorkosigan zuckte mit den Lippen. »Er ist nicht sonderlich erfreut über dich.«

»Ich … kann nicht um Entschuldigung bitten. Ich habe eine Menge Fehler gemacht, aber die Nichtbefolgung seines Befehls, auf der Aslund-Station zu warten, gehörte nicht dazu.«

»Offensichtlich nicht.« Graf Vorkosigan blickte mit gerunzelter Stirn auf die Wand am anderen Ende des Raums. »Und doch … ich bin mehr als je zuvor der Überzeugung, daß die regulären Streitkräfte nicht der richtige Platz für dich sind. Es ist, als wollte man einen viereckigen Pflock — nein, schlimmer: als wollte man einen Tesserakt in ein rundes Loch einpassen.«

Miles unterdrückte einen Anflug von Panik. »Ich werde doch nicht entlassen, oder?«

Elena, die ihre Fingernägel betrachtete, warf ein: »Wenn du entlassen würdest, dann könntest du einen Job als Söldner bekommen. Genau wie General Metzov. Ich habe gehört, Kommandantin Cavilo sucht ein paar gute Männer.« Miles jaulte fast auf, seinen wütenden Blick erwiderte sie mit einem sarkastischen Grinsen.

»Mir tat es fast leid zu hören, daß Metzov umgekommen ist«, bemerkte Graf Vorkosigan. »Wir hatten geplant, seine Auslieferung zu betreiben, bevor alles wegen Gregors Verschwinden durcheinanderlief.«

»Aha! Habt ihr endlich entschieden, daß der Tod jenes komarranischen Gefangenen damals während ihrer Revolte Mord war? Ich dachte mir schon, es könnte …«

Graf Vorkosigan hielt zwei Finger hoch. »Zwei Morde.«

Miles stockte. »Mein Gott, er hat doch nicht etwa versucht, den armen Ahn aufzuspüren, bevor er von Barrayar wegging, oder?« Er hatte Ahn fast vergessen.

»Nein, aber wir spürten Ahn auf. Allerdings leider nicht, bevor Metzov Barrayar verlassen hatte. Und ja, der komarranische Rebell war zu Tode gefoltert worden. Nicht ganz absichtlich, er hatte anscheinend eine verborgene gesundheitliche Schwäche gehabt. Aber es war nicht, wie der ursprüngliche Ermittler geglaubt hatte, eine Rache für den Tod des Wächters. Es war umgekehrt. Der barrayaranische Wachkorporal, der an der Folter teilgenommen oder sie zumindest geduldet hatte, allerdings nach einem schwachen Protest, laut Ahn — der Korporal hatte plötzlich einen Umschwung seiner Gefühle erlebt und drohte damit, Metzov anzuzeigen.

Metzov ermordete ihn in einem seiner panischen Wutanfälle, dann zwang er Ahn, ihm zu helfen, die Sache zu vertuschen und sich für die Tarngeschichte mit der Flucht zu verbürgen. Metzov hielt Ahn in Schrecken, aber er befand sich doch gleicherweise in Ahns Gewalt, wenn die Tatsachen je ans Licht kämen, auf seltsame Weise hatten sie einander gegenseitig in der Hand … bis Ahn sich schließlich davonmachte. Ahn schien fast erleichtert zu sein und war freiwillig zu einem Schnell-Penta-Verhör bereit, als Illyans Agenten ihn aufspürten.«

Miles dachte mit Bedauern an den Wettermann. »Wird Ahn jetzt irgend etwas Schlimmes passieren?«

»Wir hatten geplant, ihn als Zeugen bei Metzovs Prozeß auftreten zu lassen … Illyan dachte, wir könnten das Ganze sogar zu unseren Gunsten wenden, im Hinblick auf die Komarraner. Ihnen diesen armen Idioten von Wachkorporal als einen unbesungenen Helden präsentieren. Metzov aufhängen als Beweis der Ehrlichkeit des Kaisers und seines Engagements für Gerechtigkeit gegenüber Barrayaranern und Komarranern gleicherweise … ein hübsches Szenario.« Graf Vorkosigan runzelte bitter die Stirn. »Ich denke, wir werden es jetzt still und heimlich fallen lassen. Wieder einmal.«

Miles stieß seinen Atem aus. »Metzov. Ein Sündenbock bis zuletzt. An ihm muß ein schlimmes Karma gehangen haben … nicht, daß er es nicht verdient hätte.«

»Hüte dich vor dem Wunsch nach Gerechtigkeit. Du könntest sie sonst bekommen.«

»Das habe ich schon gelernt, Sir.«

»Schon?« Graf Vorkosigan blickte ihn schräg an. »Hm.«

»Da wir gerade von Gerechtigkeit sprechen«, Miles ergriff die Gelegenheit, »ich bin besorgt über die Geschichte mit der Bezahlung der Dendarii. Sie haben eine Menge Schäden erlitten, mehr als eine Söldnerflotte gewöhnlich ertragen kann. Ihr einziger Vertrag war meine mündliche Zusage. Wenn … wenn das Kaiserreich nicht für mich eintritt, dann bin ich des Meineids schuldig.«

Graf Vorkosigan lächelte verhalten. »Wir haben diese Angelegenheit schon beraten.«

»Wird Illyans Budget für verdeckte Operationen ausreichen, um das abzudecken?«

»Illyans Budget würde bersten, wenn er versuchen würde, dies abzudecken. Aber du … hm … scheinst einen Freund an höchster Stelle zu haben. Wir werden dir eine Anweisung ausstellen für einen Sonderkredit aus den Mitteln des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes, dem Fonds dieser Flotte und der Privatschatulle des Kaisers, und wir hoffen alles später wiederzubekommen durch eine Gesetzesvorlage für eine Sonderbewilligung, die wir im Ministerrat und im Rat der Grafen durchbringen werden. Reiche eine Rechnung ein.«

Miles fischte eine Datendiskette aus seiner Tasche. »Hier, Sir. Von der Buchhalterin der Dendarii-Flotte. Sie war die ganze Nacht auf. Einige Schadens-Schätzungen sind noch vorläufig.« Er legte die Diskette am Komkonsolenpult ab.

Graf Vorkosigan hob einen Mundwinkel. »Du lernst schnell, mein Junge …« Er schob die Diskette in die Konsole zu einer schnellen Überprüfung. »Ich werde dir während des Mittagessens eine Kreditanweisung ausstellen lassen. Du kannst sie mitnehmen, wenn du wieder gehst.«

»Danke, Sir.«

»Sir«, warf Elena ein, die sich mit ernstem Gesicht vorbeugte, »was wird jetzt mit der Dendarii-Flotte geschehen?«

»Was immer die Dendarii wollen, nehme ich an. Allerdings können sie sich nicht so nah an Barrayar aufhalten.«

»Werden wir wieder aufgegeben?«, fragte Elena.

»Aufgegeben?«

»Ihr habt uns einmal zu einer Kaiserlichen Streitmacht gemacht. Dachte ich. Dachte Baz. Dann verließ Miles uns, und dann … nichts.«

»Genau wie die Insel Kyril«, bemerkte Miles. »Aus den Augen, aus dem Sinn.« Er zuckte traurig die Achsen. »Ich habe gehört, sie haben einen ähnlichen Verfall der Moral erlebt.«

Graf Vorkosigan blickte ihn scharf an. »Das Schicksal der Dendarii — wie deine zukünftige militärische Karriere, Miles — ist eine Angelegenheit, die sich noch in der Diskussion befindet.«

»Werde ich an dieser Diskussion beteiligt? Und sie auch?«

»Wir werden es euch wissen lassen.« Graf Vorkosigan stützte sich mit seinen Händen auf den Tisch und erhob sich. »Das ist alles, was ich jetzt sagen kann, selbst euch gegenüber. Wollen wir jetzt nicht zum Mittagessen gehen?«

Miles und Elena erhoben sich notgedrungen ebenfalls.

»Kommodore Tung weiß noch nichts über unsere wirkliche Beziehung«, warnte Miles.

»Wenn du das geheimzuhalten wünschst, dann muß ich weiter Admiral Naismith spielen, wenn wir uns ihm wieder anschließen.«

Graf Vorkosigan lächelte sonderbar. »Illyan und Hauptmann Ungari sind sicherlich dafür, eine möglicherweise nützliche Tarnidentität nicht aufzugeben. Mit allen Mitteln. Dürfte faszinierend sein.«

»Ich sollte dich warnen. Admiral Naismith ist nicht sonderlich respektvoll.«

Elena und Graf Vorkosigan blickten einander an und brachen beide in Gelächter aus. Miles wartete, in alle Würde gehüllt, die er aufbieten konnte, bis sie sich beruhigten. Endlich.

Admiral Naismith war übertrieben höflich während des Essens.

Leutnant Yegorov hätte an ihm nichts auszusetzen gehabt.

Der Kurier der Regierung von Vervain reichte die Kreditanweisung über das Komkonsolenpult des Kommandanten der Station auf der Vervain-Seite hinweg. Miles bestätigte den Empfang mit Daumenabdruck, Retinascan und Admiral Naismiths schwungvollem, unleserlichem Gekritzel, das in nichts Fähnrich Vorkosigans sorgfältiger Unterschrift glich.

»Es ist ein Vergnügen, Geschäfte mit rechtschaffenen Herren wie Ihnen zu machen«, sagte Miles, als er die Anweisung mit Befriedigung in die Tasche steckte und die Tasche sorgfältig verschloß.

»Das ist das Geringste, was wir tun können«, sagte der Kommandant der Sprungpunktstation. »Ich kann Ihnen meine Emotionen nicht ausdrücken, die ich hatte, als ich wußte, daß der nächste Stoß, den die Cetagandaner führten, ihr letzter sein würde, und mich darauf gefaßt machte, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, und als da die Dendarii erschienen, um uns zu verstärken.«

»Die Dendarii hätten es nicht allein tun können«, sagte Miles bescheiden. »Alles, was wir taten, war, Ihnen zu helfen, den Brückenkopf zu halten, bis die wirklich großen Kaliber ankamen.«

»Und wenn er nicht gehalten worden wäre, dann hätten die Streitkräfte der Hegen-Allianz — die großen Kaliber, wie Sie sagen — nicht in den Lokalraum von Vervain springen können.«

»Nicht ohne große Kosten, sicherlich«, räumte Miles ein.

Der Stationskommandant blickte auf sein Chrono. »Nun gut, mein Planet wird seine Meinung darüber in Kürze in einer greifbareren Form ausdrücken. Darf ich Sie zu der Zeremonie begleiten, Admiral? Es ist Zeit.«

»Danke.« Miles erhob sich und ging ihm voraus, zum Büro hinaus, wobei seine Hand nochmals den greifbaren Dank in seiner Tasche überprüfte. Medaillen … hm … mit Medaillen kann keine Flotte ihre Reparaturen bezahlen.

Er hielt an einem transparenten Aussichtsportal an, halb gefangen von dem Ausblick von der Sprungstation und halb von seinen Überlegungen. Die graue Dendarii-Ausgehuniform war schon in Ordnung, beschloß er: Eine Jacke aus weichem grauem Samt mit blendend weißen Verzierungen und silbernen Knöpfen auf den Schultern, dazu passende Hosen und graue Stiefel aus synthetischem Wildleder. Er stellte sich vor, daß diese Ausstattung ihn größer erscheinen ließ. Vielleicht würde er das Design beibehalten.

Jenseits des Aussichtsportals schwebten einige Schiffe der Dendarii, Rangers, Vervani und der Allianz. Die Prinz Serg war nicht darunter, sie befand sich jetzt im Orbit um die Heimatwelt der Vervani, während Gespräche auf — buchstäblich — höchster Ebene weitergeführt wurden, in denen die Einzelheiten des dauernden Vertrags über Freundschaft, Handel, Zollermäßigung und den gegenseitigen Verteidigungspakt etc. zwischen Barrayar, Vervain, Aslund und Pol ausgearbeitet wurden.

Gregor war, so hatte Miles gehört, ganz brillant sowohl in der Öffentlichkeitsarbeit als auch bei den praktischen Grundlagen des Geschäfts. Besser du als ich, alter Knabe.

Die Sprungpunktstation der Vervani hatte ihren eigenen Zeitplan für die Reparaturen gestreckt, um den Dendarii Hilfe zu leisten. Baz arbeitete rund um die Uhr. Miles riß sich von der Aussicht los und folgte dem Kommandanten. Sie hielten auf dem Korridor vor dem großen Besprechungsraum, wo die Zeremonie stattfinden sollte, und warteten, daß die Anwesenden sich niederließen.

Die Vervani wünschten offensichtlich, daß die Hauptakteure einen großen Auftritt hatten. Der Kommandant ging hinein, um die Vorbereitungen zu treffen. Die Zuhörerschaft war nicht groß — zu viele lebenswichtige Arbeiten waren auszuführen —, aber die Vervani hatten genügend Leute zusammengebracht, daß es respektabel aussah, und Miles hatte einen Zug von Dendarii auf Genesungsurlaub beigesteuert, um die Menge zu vergrößern. Er entschloß sich, in seiner Rede die Ehre in ihrem Namen anzunehmen.

Während Miles wartete, sah er Kommandantin Cavilo mit ihrer barrayaranischen Ehrenwache eintreffen. Seiner Kenntnis nach wußten die Vervani noch nicht, daß die Waffen der Ehrenwache scharf geladen waren und daß die Männer den Befehl hatten, tödliche Schüsse abzugeben, wenn ihre Gefangene versuchen sollte zu fliehen.

Zwei Frauen mit harten Gesichtern in den Uniformen des barrayaranischen Hilfskorps sorgten dafür, daß Cavilo Tag und Nacht bewacht wurde. Cavilo ignorierte ihre Anwesenheit glänzend. Die Ausgehuniform der Rangers war eine gefälligere Version ihrer Arbeitsuniform, in Gelbbraun, Schwarz und Weiß, und erinnerte Miles unterschwellig an das Fell eines Wachhundes.

Diese Hündin beißt, rief er sich ins Gedächtnis. Cavilo lächelte und näherte sich Miles. Sie roch nach ihrem giftig herb duftenden Parfüm, sie mußte darin gebadet haben.

Miles neigte den Kopf zum Gruß, dann griff er in eine Tasche und holte zwei Nasenfilter heraus. Er schob je einen in jedes Nasenloch, wo sie sich sanft ausdehnten und eine Abdichtung bildeten. Dann holte er tief Luft, um sie zu testen. Sie funktionierten gut. Sie würden noch viel kleinere Moleküle herausfiltern als die üblen organischen Stoffe dieses verdammten Parfüms. Miles atmete durch den Mund aus. Cavilo beobachtete diese Vorführung mit einem Ausdruck unterdrückter Wut. »Der Teufel soll Sie holen«, flüsterte sie.

Miles zuckte die Achseln und hielt dabei seine Hände ausgestreckt, als wollte er sagen: Was hätten Sie denn schon an mir?

»Sind Sie und Ihre Überlebenden schon bereit, hier abzuhauen?«

»Direkt nach diesem idiotischen Theater. Ich muß sechs Schiffe aufgeben, die zu beschädigt sind, um zu springen.«

»Das ist vernünftig von Ihnen. Falls die Vervani nicht bald kapieren, was Sie vorhatten, dann werden vermutlich die Cetagandaner, wenn sie erkennen, daß sie selbst Ihrer nicht habhaft werden können, den Vervani die häßliche Wahrheit mitteilen. Sie sollten sich nicht länger in dieser Gegend aufhalten.«

»Ich habe nicht die Absicht. Ich will diesen Ort nie wiedersehen. Das gilt doppelt für Sie, Sie Mutant. Wenn Sie nicht gewesen wären …«, sie schüttelte den Kopf in bitteren Gedanken.

»Übrigens«, fügte Miles hinzu, »die Dendarii sind jetzt dreimal für diese Operation bezahlt worden. Einmal von unseren ursprünglichen Auftraggebern, den Aslundern, einmal von den Barrayaranern, und einmal von den dankbaren Vervani. Alle drei waren einverstanden, alle unsere Ausgaben voll zu erstatten. Da bleibt ein sehr ordentlicher Profit übrig.«

Sie zischte wirklich. »Sie sollten lieber darum beten, daß wir uns nie wieder begegnen.«

»Also dann, adieu.«

Sie betraten den Raum, um ihre Ehrungen entgegenzunehmen. Würde Cavilo den Nerv haben, ihre Ehrung im Namen der Rangers anzunehmen, die durch ihre verdrehten Komplotte vernichtet worden waren? Es stellte sich heraus: ja. Miles würgte schweigend daran.

Die erste Medaille, die ich je gewonnen habe, dachte Miles, als der Stationskommandant sie ihm mit peinlich übertriebenen Lobsprüchen ansteckte, und ich kann sie nicht einmal zu Hause tragen. Die Medaille, die Uniform und Admiral Naismith selbst mußten bald wieder in den Wandschrank zurückkehren. Für immer? Das Leben des Fähnrichs Vorkosigan war im Vergleich dazu nicht allzu attraktiv. Und doch … die Mechanik des Soldatentums war die gleiche, auf jeder Seite.

Wenn es irgendeinen Unterschied zwischen ihm und Cavilo gab, dann mußte er darin liegen, wessen Dienst sie wählten. Und wie sie zu dienen wählten. Nicht alle Pfade, aber ein Pfad …


Als Miles ein paar Wochen später wieder auf Barrayar zu seinem Heimaturlaub eintraf, lud ihn Gregor zum Mittagessen in die kaiserliche Residenz ein. Sie saßen an einem schmiedeeisernen Tisch in den Nördlichen Gärten, die berühmt waren, weil sie von Kaiser Ezar, Gregors Großvater, entworfen worden waren. Im Sommer würde diese Stelle in tiefem Schatten liegen, jetzt war sie durchmustert von Licht, das zwischen den jungen Blättern durchdrang, die leicht in der sanften Frühlingsbrise wogten. Die Wächter hielten ihre Wache außer Sicht, die Diener warteten außer Hörweite, wenn nicht Gregor seinen Piepser betätigte. Mit den ersten drei Gängen angefüllt, nippte Miles kochend heißen Kaffee und erwog einen Angriff auf eine zweite Torte, die am anderen Ende des leinengedeckten Tisches unter einer dicken Sahnetarnung hockte. Oder würde das seine Kräfte überfordern? Das war etwas ganz anderes als die Kontraktsklavenrationen, die sie einst geteilt hatten, nicht zu erwähnen Cavilos Hundekuchen.

Selbst Gregor schien alles mit neuen Augen zu sehen. »Raumstationen sind wirklich langweilig, weißt du? Alle diese Korridore«, bemerkte er und blickte an einem Springbrunnen vorbei, wobei seine Augen einem sich schlängelnden Pfad aus Ziegeln folgten, der in einer Orgie aus Blumen verschwand. »Ich hatte aufgehört zu sehen, wie schön Barrayar war, weil ich es jeden Tag anschaute. Ich mußte vergessen, um mich zu erinnern. Seltsam.«

»Es gab Momente, da konnte ich mich nicht erinnern, auf welcher Raumstation ich war«, stimmte Miles mit einem Mund voller Torte und Sahne zu. »Der Luxushandel ist eine andere Sache, aber die Stationen in der Hegen-Nabe tendierten zum bloß Zweckmäßigen.« Er verzog das Gesicht bei den Assoziationen dieses letzten Wortes.

Das Gespräch kreiste um die neuesten Ereignisse in der HegenNabe. Gregors Gesicht hellte sich auf, als er erfuhr, daß auch Miles niemals einen tatsächlichen Kampfbefehl im Taktikraum der Triumph ausgegeben hatte, außer daß er die innere Sicherheitskrise behandelt hatte, wie von Tung beauftragt.

»Die meisten Offiziere haben ihre Aufgaben erledigt, wenn die Aktion beginnt, weil der Kampf zu schnell vor sich geht, als daß die Offiziere ihn noch beeinflussen könnten«, versicherte ihm Miles. »Wenn du einmal einen guten Taktikcomputer aufgestellt hast — und wenn du Glück hast, einen Mann mit einer magischen Nase —, dann ist es besser, deine Hände in den Hosentaschen zu lassen. Ich hatte Tung, du hattest … hm.«

»Und hübsche tiefe Taschen«, sagte Gregor. »Ich denke noch immer darüber nach. Es erschien mir fast unwirklich, bis ich danach die Krankenstation besichtigte. Und erkannte, dieser oder jener Lichtpunkt bedeutete den Verlust des Armes dieses Mannes, die Lunge jenes Mannes erstarrt …«

»Du mußt bei diesen kleinen Lichtern aufpassen. Sie erzählen so beruhigende Lügen«, stimmte Miles zu. »Wenn du sie läßt.«

Er spülte einen weiteren klebrigen Happen mit Kaffee hinunter, machte eine Pause und bemerkte dann: »Du hast Illyan nicht die Wahrheit gesagt über deinen kleinen Sturz von dem Balkon, nicht wahr.« Das war eine Feststellung, keine Frage.

»Ich erzählte ihm, ich sei betrunken gewesen und dann hinabgeklettert.« Gregor betrachtete die Blumen. »Woher wußtest du das?«

»Er spricht über dich nicht mit geheimem Schrecken in den Augen.«

»Ich habe ihn gerade dazu gebracht … mir ein bißchen Raum zu geben. Ich möchte es jetzt nicht vermasseln. Du hast es ihm auch nicht erzählt — dafür danke ich dir.«

»Keine Ursache.« Miles trank noch mehr Kaffee. »Tu mir deinerseits einen Gefallen. Sprich mit jemandem.«

»Mit wem? Nicht mit Illyan. Nicht mit deinem Vater.«

»Wie wäre es mit meiner Mutter?«

»Hm.« Gregor biß zum erstenmal in seine Torte, in die er mit seiner Gabel Furchen gezogen hatte.

»Sie könnte die einzige Person auf Barrayar sein, die automatisch Gregor den Mann vor Gregor den Kaiser setzt. Alle unsere Ränge sehen für sie wie optische Täuschungen aus, glaube ich. Und du weißt, sie kann ihre Meinung für sich behalten.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Ich möchte nicht der einzige sein, der … der einzige. Ich weiß, wann ich den Boden unter den Füßen verliere.«

»Das weißt du?« Gregor hob seine Augenbrauen, einer seiner Mundwinkel zog sich nach oben.

»O ja. Ich laß es mir nur normalerweise nicht anmerken.«

»Also gut. Ich werde mit ihr reden«, sagte Gregor.

Miles wartete.

»Ich gebe dir mein Wort«, fügte Gregor hinzu.

Miles entspannte sich, grenzenlos erleichtert. »Danke.« Er faßte ein drittes Tortenstück ins Auge. Die Portionen waren irgendwie klein. »Fühlst du dich jetzt besser?«

»Viel besser, danke.« Gregor begann wieder, Furchen in seine Sahne zu pflügen.

»Wirklich?«

Jetzt wurde eine Kreuzschraffierung daraus. »Ich weiß es nicht. Anders als der arme Trottel, den sie herumführten und der mich spielte, während ich weg war, habe ich mich für das alles eigentlich nicht freiwillig gemeldet.«

»In diesem Sinne sind alle Vor Dienstpflichtige.«

»Jeder andere Vor könnte weglaufen und würde nicht vermißt.«

»Würdest du mich nicht ein bißchen vermissen?«, sagte Miles wehmütig.

Gregor kicherte.

Miles blickte im Garten umher. »Der Posten hier scheint nicht sonderlich hart zu sein, verglichen mit der Insel Kyril.«

»Versuch es allein im Bett um Mitternacht, wenn du dich fragst, wann deine Gene anfangen werden, Monster in deinem Geist zu erzeugen. Wie bei Großonkel Yuri dem Wahnsinnigen. Oder Prinz Serg.« Er warf Miles heimlich einen scharfen Blick zu.

»Ich … weiß über Prinz Sergs … hm … Probleme«, sagte Miles vorsichtig.

»Jedermann scheint davon gewußt zu haben. Außer mir.«

Also war das der Auslöser des ersten echten Selbstmordversuchs des depressiven Gregor gewesen. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, klick! Miles versuchte, nicht triumphierend zu wirken, nachdem er plötzlich diese Einsicht gewonnen hatte.

»Wann hast du das herausgefunden? «

»Während der Konferenz auf Komarr. Ich war schon vorher auf Hinweise gestoßen … hatte sie feindlicher Propaganda zugeschrieben.«

Der Tanz auf dem Balkon war dann also eine unmittelbare Reaktion auf den Schock gewesen. Gregor hatte niemanden gehabt, bei dem er sich hätte abreagieren können …

»Ist es wahr, daß er wirklich high wurde, wenn er folterte …«

»Nicht alle Gerüchte, die über Kronprinz Serg erzählt werden, sind wahr«, fiel ihm Miles hastig ins Wort. »Obwohl der wahre Kern … schlimm genug ist. Meine Mutter weiß es. Sie war Augenzeugin von verrückten Dingen, die selbst ich nicht weiß, bei der Invasion von Escobar. Aber sie wird es dir erzählen. Frag sie direkt, dann wird sie es dir direkt erzählen.«

»Das scheint auch in der Familie zu liegen«, räumte Gregor ein.

»Sie wird dir erzählen, wie verschieden du von ihm bist — am Blut deiner Mutter gibt es nichts auszusetzen, ich habe nie etwas gehört —, auf jeden Fall trage ich fast so viele Gene von Yuri dem Wahnsinnigen in mir wie du, durch die eine oder andere Abstammungslinie.«

Gregor grinste. »Gilt das als beruhigend?«

»Mm, mehr nach der Theorie, daß Elend Gesellschaft liebt.«

»Ich fürchte die Macht …« Gregors Stimme wurde leise, nachdenklich.

»Du fürchtest nicht die Macht, du fürchtest es, Leute zu verletzen. Wenn du diese Macht ausübst«, folgerte Miles plötzlich.

»Hm. Ziemlich nah getroffen.«

»Nicht ins Schwarze?«

»Ich fürchte, ich könnte es genießen. Das Verletzen. Wie er.«

Er meinte Prinz Serg. Seinen Vater.

»Quatsch«, sagte Miles. »Ich habe beobachtet, wie mein Großvater jahrelang versucht hat, dich dazu zu bringen, die Jagd zu genießen. Du wurdest gut, vermutlich, weil du gedacht hast, es sei deine Pflicht als Vor, aber du mußtest dich jedesmal fast übergeben, wenn du nur halb getroffen hattest und wir irgendein verwundetes Tier aufspüren mußten. Du magst irgendeine andere Perversion in dir haben, aber nicht Sadismus.«

»Was ich gelesen … und gehört habe«, sagte Gregor, »ist so entsetzlich faszinierend. Ich kann nicht anders, ich muß darüber nachdenken. Ich bekomme es nicht aus dem Kopf.«

»Dein Kopf ist voller Greuel, weil die Welt voller Greuel ist. Schau auf die Greuel, die Cavilo in der Hegen-Nabe angerichtet hat.«

»Wenn ich sie im Schlaf erdrosselt hätte — wozu ich eine Chance gehabt hatte —, dann hätte sich keiner dieser Greuel ereignet.«

»Wenn sich keiner dieser Greuel ereignet hatte, dann hätte sie es nicht verdient, erdrosselt zu werden. Das ist eine Art von Zeitreiseparadoxon, fürchte ich. Der Pfeil der Gerechtigkeit fliegt nur in eine Richtung. Du kannst es nicht bereuen, sie nicht am Anfang erdrosselt zu haben. Allerdings nehme ich an, daß du es bereuen kannst, sie nicht danach erdrosselt zu haben …«

»Nein … nein … ich werde das den Cetagandanern überlassen, falls die sie einholen, nachdem sie jetzt ihren Vorsprung hat.«

»Gregor, es tut mir leid, aber ich glaube einfach nicht, daß ein Kaiser Gregor der Wahnsinnige möglich ist. Es sind deine Berater, die dabei sind, verrückt zu werden.«

Gregor starrte auf den Tortenteller und seufzte. »Ich fürchte, es würde die Wachen beunruhigen, wenn ich versuchte, dir eine Sahnetorte in die Nase zu schieben.«

»Zutiefst. Du hättest das tun sollen, als wir acht und zwölf Jahre alt waren, damals wärst du damit davongekommen. Die Sahntetorte der Gerechtigkeit fliegt nur in eine Richtung«, kicherte Miles.

Sie erörterten dann einige ungewöhnliche und kindische Dinge, die man mit einem Tablett voller Sahnetorte anstellen könnte, und brachen dabei in Gelächter aus. Gregor brauchte mal eine gute Sahnetortenschlacht, vermutete Miles, wenn auch nur in Worten und in der Phantasie.

Als das Gelächter endlich abebbte und der Kaffee kalt wurde, sagte Miles: »Ich weiß, bei Schmeicheleien kannst du senkrecht die Wand hochgehen, aber verdammt noch mal, du warst wirklich gut in deinem Job. Du mußt das wissen, auf irgendeiner Ebene innen drin, nach den Gesprächen in Vervain. Bleib da dran, ja?«

»Ich denke, ich werde dranbleiben.« Gregors Gabel fuhr kraftvoller in seinen letzten Bissen Nachtisch. »Und du bleibst auch bei dir dran, abgemacht?«

»Was immer es auch sein mag. Ich werde heute nachmittag Simon Illyan treffen, genau wegen dieses Themas«, sagte Miles. Er entschloß sich, doch auf das letzte Stück Torte zu verzichten.

»Du klingst nicht gerade, als seist du deswegen aufgeregt.«

»Ich nehme an, er kann mich nicht degradieren: es gibt keinen Rang unterhalb des Fähnrichs.«

»Du gefällst ihm, was sonst?«

»Er schaute nicht erfreut aus, als ich ihm meinen Einsatzbericht ablieferte. Er schaute mürrisch drein. Sagte nicht viel.« Miles blickte mit einem plötzlichen Verdacht schnell auf Gregor. »Du weißt etwas, nicht wahr? Raus mit der Sprache!«

»Ich darf mich nicht in die Befehlskette einmischen«, sagte Gregor salbungsvoll. »Vielleicht steigst du in ihr auf. Ich habe gehört, daß das Kommando auf Kyril offen ist.«

Miles lief ein Schauder über den Rücken.


Der Frühling war in Vorbarr Sultana so schön wie der Herbst, befand Miles. Er hielt einen Augenblick inne, bevor er zum Haupteingang des großen massiven Gebäudes des Hauptquartiers des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes einbog. Der Erdahorn stand immer noch da, unten an der Straße, um die Ecke. Die Nachmittagssonne schien von hinten auf seine jungen Blätter und ließ sie zartgrün leuchten. Die einheimische Vegetation von Barrayar brachte meist nur langweilige Rot- und Brauntöne hervor. Würde er je die Erde besuchen? Vielleicht.

Miles legte den Wachen an der Tür passende Ausweise vor. Ihre Gesichter waren vertraut, sie gehörten zu derselben Mannschaft, die zu beaufsichtigen er während jener endlosen Periode im letzten Winter geholfen hatte — vor nur ein paar Monaten? Es schien länger her zu sein.

Er konnte immer noch ihre Gehaltssummen aufsagen. Sie tauschten Höflichkeiten miteinander aus, aber da sie gute Sicherheitsleute waren, stellten sie nicht die Frage, die in ihren Augen leuchtete: Wo sind Sie gewesen, Sir? Miles wurde für den Weg zu Illyans Büro keine Sicherheitsbegleitung zugeteilt, ein gutes Zeichen.

Jetzt kannte er den Weg.

Er folgte den vertrauten Wendungen in das Labyrinth, hinauf durch die Liftrohre. Der Hauptmann in Illyans äußerem Büro winkte ihn einfach durch und blickte dabei kaum von seiner Komkonsole auf. Das innere Büro war unverändert, Illyans übergroßes Komkonsolenpult war unverändert, Illyan selbst sah … eher müder aus, bleicher. Er sollte eigentlich hinausgehen und etwas von dieser Frühlingssonne aufschnappen, oder? Wenigstens war sein Haar nicht ganz weiß geworden, es war immer noch in etwa dieselbe Mischung von Braun und Grau. Sein Geschmack in Kleidungsfragen war immer noch so fad, daß es fast wie Tarnung aussah.

Illyan deutete auf einen Stuhl — ein weiteres gutes Zeichen, Miles setzte sich sofort hin —, beendete das, was auch immer ihn beschäftigt hatte, und blickte schließlich auf. Er beugte sich nach vorn, stützte seine Ellbogen auf die Komkonsole, verschränkte seine Finger und betrachtete Miles mit einer Art klinischer Mißbilligung, als wäre er ein Datenpunkt, der eine Kurve durcheinanderbrachte, und als müßte Illyan entscheiden, ob er seine Theorie noch retten konnte, indem er Miles als Fehler beim Experiment einstufte.

»Fähnrich Vorkosigan«, seufzte Illyan, »es scheint, Sie haben immer noch ein kleines Problem mit der Unterordnung.«

»Ich weiß, Sir. Ich bedaure.«

»Haben Sie je vor, etwas in dieser Richtung zu tun, außer zu bedauern?«

»Ich kann nichts machen, Sir, wenn mir Leute die falschen Befehle geben.«

»Wenn Sie nicht meine Befehle befolgen können, dann möchte ich Sie nicht in meiner Abteilung haben.«

»Nun ja … ich dachte, ich hätte die Befehle befolgt. Sie wollten eine militärische Einschätzung der Hegen-Nabe. Ich habe sie erstellt. Sie wollten wissen, woher die Destabilisierung kam. Ich habe es herausgefunden. Sie wollten die Dendarii Söldner aus der Nabe heraushaben. Die werden sie in etwa drei Wochen verlassen, wie ich höre. Sie fragten nach Ergebnissen. Sie haben sie bekommen.«

»Jede Menge«, murmelte Illyan.

»Ich gebe zu, ich hatte keinen direkten Befehl, Gregor zu retten, ich nahm einfach an, daß Sie das wollten, Sir.«

Illyan forschte in Miles’ Gesicht nach Ironie, und er preßte die Lippen zusammen, als er sie anscheinend fand. Miles versuchte, sein Gesicht ausdruckslos zu halten, obwohl es beträchtliche Mühe bedeutete, ausdrucksloser als Illyan zu erscheinen.

»Wie ich mich erinnere«, sagte Illyan (und Illyans Gedächtnis war eidetisch, dank einem illyricanischen Biochip), »habe ich diesen Befehl Hauptmann Ungari erteilt. Ihnen gab ich nur einen einzigen Befehl. Können Sie sich daran erinnern, was das war?«

Diese Frage wurde in dem gleichen ermutigenden Ton gestellt, den man gegenüber einem Sechsjährigen gebrauchen mochte, der gerade lernte, seine Schnürsenkel zu binden.

Der Versuch, Illyan an Ironie zu übertreffen, war so gefährlich wie der Versuch, ihn an Ausdruckslosigkeit zu übertreffen.

»Hauptmann Ungaris Befehlen zu gehorchen«, erinnerte Miles sich widerstrebend.

»Genau so.« Illyan lehnte sich zurück. »Ungari war ein guter, zuverlässiger Detektiv. Wenn du es verpfuscht hättest, dann hättest du ihn mit dir hinabgezogen. Der Mann ist jetzt halb ruiniert.«

Miles machte kleine abwehrende Gesten mit der Hand. »Er traf die korrekten Entscheidungen, für seine Ebene. Sie können ihm keinen Vorwurf machen. Es ist nur … die Dinge wurden zu wichtig für mich, als daß ich weiter einen Fähnrich hätte spielen können, als der Mann, der gebraucht wurde, Lord Vorkosigan war.« Oder Admiral Naismith.

»Hm«, sagte Illyan. »Und doch … wem soll ich dich jetzt zuweisen? Welchem loyalen Offizier wird als nächstem seine Karriere zerstört?«

Miles dachte darüber nach. »Warum unterstellen Sie mich nicht direkt sich selbst, Sir?«

»Danke«, sagte Illyan trocken.

»Ich meinte nicht …« Miles begann seinen Protest hervorzusprudeln, hielt inne, entdeckte das verdeckte Funkeln von Humor in Illyans braunen Augen. Sie braten mich am Spieß zu Ihrem eigenen Spaß, nicht wahr?

»Tatsächlich wurde genau dieser Vorschlag ins Gespräch gebracht. Nicht von mir, das ist eigentlich unnötig zu sagen. Aber ein galaktischer Detektiv muß mit einem hohen Grad von Unabhängigkeit arbeiten. Wir überlegen uns, aus der Not eine Tugend zu machen und …«

Ein Licht, das auf Illyans Komkonsole aufleuchtete, lenkte ihn ab. Er überprüfte etwas und drückte eine Taste. Die Tür in der Wand rechts von seinem Tisch öffnete sich, und Gregor trat herein. Der Kaiser ließ einen Leibwächter zurück, der im Durchgang blieb, der andere ging schweigend durch das Büro hindurch und bezog Stellung jenseits des Vorzimmers. Alle Türen glitten wieder zu. Illyan stand auf, um einen Stuhl für den Kaiser herzuziehen, und nickte Gregor in einer Andeutung von Verbeugung zu, bevor er sich wieder setzte. Miles, der ebenfalls aufgestanden war, salutierte andeutungsweise und setzte sich auch wieder.

»Haben Sie ihm schon von den Dendarii erzählt?«, fragte Gregor Illyan.

»Ich war gerade dabei, mich an dieses Thema heranzutasten«, sagte Illyan. »Schrittweise.«

»Was ist mit den Dendarii?«, fragte Miles, unfähig, seine Ungeduld nicht in seiner Stimme anklingen zu lassen, so sehr er sich auch um eine jüngere Version von Illyans leidenschaftsloser Oberfläche bemühen mochte.

»Wir haben uns entschlossen, sie für ständig zu engagieren«, sagte Illyan. »Du, in deiner Tarnidentität als Admiral Naismith, wirst unser Verbindungsoffizier sein.«

»Beratende Söldner?« Miles blinzelte. Naismith lebt!

Gregor grinste. »Des Kaisers Eigene Söldner. Wir schulden ihnen, meine ich, etwas mehr als nur die Grundentlohung für ihre Dienste uns gegenüber — und Uns gegenüber — in der HegenNabe. Und sie haben sicherlich gezeigt, wie … hm … nützlich es ist, wenn man Orte erreichen kann, die unseren regulären Streitkräften aufgrund politischer Schranken verwehrt sind.«

Miles deutete den Ausdruck auf Illyans Gesicht eher als tiefe Trauer über das Budget seiner Abteilung denn als Mißbilligung an sich.

»Simon soll Ausschau halten nach Gelegenheiten, um sie aktiv einzusetzen«, fuhr Gregor fort. »Wir müssen schließlich diese Verpflichtung rechtfertigen.«

»Ich sehe für sie mehr Nutzen in der Spionage als in verdeckten Aktionen«, warf Illyan eilig ein. »Das ist nicht eine Lizenz, um auf Abenteuer auszugehen, oder, schlimmer, eine Art Kaperbrief. Tatsächlich ist das erste, was ich von dir will, daß du deine Abteilung Nachrichtendienst verstärkst. Ich weiß, daß ihr dafür bei Kasse seid. Ich werde dir ein paar meiner Experten leihen.«

»Nicht wieder Leibwächter, die gleichzeitig Marionettenspieler sind, Sir?«, fragte Miles nervös.

»Soll ich Hauptmann Ungari fragen, ob er sich freiwillig meldet?«, forschte Illyan mit einem unterdrückten Kräuseln seiner Lippen. »Nein. Du wirst unabhängig operieren. Gott helfe uns! Wenn ich dich schließlich nicht irgendwo anders hinschicke, dann wirst du hier bei mir sein. Also hat dieser Plan seine Meriten, selbst wenn die Dendarii nie etwas tun.«

»Ich fürchte, es ist hauptsächlich deine Jugend, die schuld ist an Simons Mangel an Zutrauen«, murmelte der fünfundzwanzigjährige Gregor. »Wir empfinden, daß es Zeit für ihn ist, dieses Vorurteil aufzugeben.«

Ja, das war ein kaiserliches Wir gewesen. Miles’ auf barrayaranische Feinheiten eingestellte Ohren hatten sich nicht getäuscht. Illyan hatte es ebenso deutlich gehört. Er, der sonst hauptsächlich Leute unter Druck setzte, wurde jetzt selber unter Druck gesetzt.

Diesmal hatte Illyans Ironie einen Anflug von — Zustimmung? »Aral und ich haben zwanzig Jahre daran gearbeitet, uns überflüssig zu machen. Wir leben vielleicht lange genug, um uns endlich in den Ruhestand zurückzuziehen.« Er hielt inne. »Das wird in meinem Geschäft ›Erfolg‹ genannt. Ich würde nicht widersprechen.« Und geflüstert: »… diesen höllischen Chip endlich aus meinen Kopf herauszubekommen …«

»Mm, gehen Sie bitte noch nicht auf die Suche nach einem Alterssitz an der Meeresbrandung«, sagte Gregor.

Das war kein Nachgeben, kein Rückzieher und keine Unterwerfung, sondern einfach ein Ausdruck des Vertrauens in Illyan. Nicht mehr, nicht weniger. Gregor blickte auf Miles’ … Hals? Die blauen Flecken von Metzovs Griff waren jetzt sicherlich fast ganz verschwunden.

»Haben Sie sich auch an die andere Sacht herangetastet?«, fragte Gregor Illyan.

Illyan öffnete eine Hand.

»Bitte sehr!« Er suchte in einer Schublade unter seiner Komkonsole.

»Wir — und Wir — dachten, wir schuldeten dir auch etwas mehr, Miles«, sagte Gregor.

Miles schwankte zwischen einem ›Quatsch, das war doch nichts‹ und einem ›Was hast du mir mitgebracht‹ und zeigte auf seinem Gesicht einen wachsam fragenden Ausdruck.

Illyan tauchte wieder auf und warf Miles etwas Kleines zu, das in der Luft rot aufblitzte. »Hier. Du bist jetzt Leutnant, was immer das dir bedeuten mag.«

Miles fing sie mit den Händen auf, die rechteckigen, aus Plastik gefertigten Kragenspiegel seines neuen Ranges. Er war so überrascht, daß er das erste aussprach, was ihm in den Kopf kam: »Nun ja, das ist der Beginn einer Lösung des Unterordnungsproblems.«

Illyan widmete ihm einen geplagten, finsteren Blick.

»Gerate nicht in Verzückung! Etwa zehn Prozent aller Fähnriche werden nach ihrem ersten Dienstjahr befördert. Deine gesellschaftlichen Kreise unter den Vor werden sowieso denken, es sei alles Vetternwirtschaft.«

»Ich weiß«, sagte Miles düster. Aber er öffnete seinen Kragen und begann auf der Stelle die Rangabzeichen auszutauschen.

Illyan wurde etwas sanfter. »Dein Vater wird es allerdings besser wissen. Und Gregor. Und … hm … ich selbst.«

Miles blickte auf, um ihm zum erstenmal während dieses Gesprächs direkt in die Augen zu blicken. »Ich danke Ihnen.«

»Du hast es verdient. Du wirst nichts von mir bekommen, was du nicht verdient hast. Das schließt auch die Standpauken ein.«

»Auf die freue ich mich ganz besonders, Sir.«

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