KAPITEL 8

Victor Rotha, Agent für Beschaffungen. Das klang fast wie ein Zuhälter. Unschlüssig betrachtete Miles seine neue Persönlichkeit, die über die Vidscheibe in seiner Kabine verdoppelt wurde. Was war denn überhaupt falsch an einem simplen spartanischen Spiegel? Woher hatte Illyan dieses Schiff bekommen? Es stammte aus betanischer Produktion und war mit betanischen technischen Spielereien der Luxusklasse vollgestopft. Miles vergnügte sich mit einer schauerlichen Vision, was geschehen könnte, wenn je bei der Programmierung des komplizierten sonischen Zahnreinigers etwas danebenging.

›Rotha‹ war unbestimmt gekleidet, mit Rücksicht auf seinen vermeintlichen Herkunftsort. Miles hatte vor einem betanischen Sarong haltgemacht, Station Sechs von Pol war bei weitem nicht warm genug dafür. Seine weiten grünen Hosen wurden allerdings von einer betanischen Sarongschnur gehalten. Er trug dazu betanische Sandalen, ein grünes Hemd aus billiger synthetischer Seide (Made on Escobar) und eine teure bauschige cremefarbene Jacke im gleichen Stil. Die bunt zusammengewürfelte Kleidung von jemand, der ursprünglich von Kolonie Beta kam und sich schon eine Weile mit mancherlei Auf und Ab in der Galaxis herumgetrieben hat. Gut.

Er hielt halblaut gemurmelte Selbstgespräche, um seinen lang nicht mehr benutzten betanischen Akzent wieder zu üben, während er in der bestens eingerichteten Eignerkabine herumtrödelte.

Sie hatten ohne einen Zwischenfall einen Tag zuvor hier an Pol Sechs angedockt. Die ganze dreiwöchige Reise von Barrayar hierher war ohne Zwischenfall verlaufen. Ungari schien es so zu mögen. Der Sicherheitshauptmann hatte die meiste Zeit auf der Reise damit verbracht, Dinge zu zählen, Bilder aufzunehmen und wieder zu zählen: Schiffe, Truppen, zivile wie auch militärische Sicherheitswachen. Sie hatten es geschafft, Vorwände dafür zu finden, an vier der sechs Sprungpunktstationen auf der Strekke zwischen Pol und der Hegen-Nabe haltzumachen, wobei Ungari auf dem ganzen Weg gezählt, gemessen, eingeteilt, in den Computer eingegeben und gerechnet hatte. Nun waren sie an Pols letztem (oder erstem, je nach der Reiserichtung) Außenposten angekommen, an seinem Brückenkopf in der Hegen-Nabe selbst.

Früher einmal hatte Pol Sechs nur den Sprungpunkt markiert, war nicht mehr gewesen als ein Nothalt und eine VerbindungsStation zur Nachrichtenübertragung. Noch hatte niemand das Problem gelöst, wie man Nachrichten durch einen Wurmlochsprung brachte, außer daß man sie physikalisch auf dem Sprungschiff transportierte. In den am meisten entwickelten Regionen des Wurmlochgeflechts machten Kommunikationsschiffe den Sprung stündlich oder noch öfter, um einen Dichtstrahlimpuls auszusenden, der mit Lichtgeschwindigkeit zum nächsten Sprungpunkt in diesem Bereich des Lokalraums wanderte, wo die Nachrichten aufgenommen und dann wieder weiterübertragen wurden, dies war der schnellstmögliche Informationsfluß.

In weniger entwickelten Regionen mußte man einfach warten, manchmal Wochen oder Monate, bis ein Schiff zufällig vorbeikam, und dann hoffen, daß die Leute an Bord nicht vergessen würden, die ihnen anvertraute Post abzugeben.

Jetzt war Pol Sechs nicht mehr bloß zur Markierung da, sondern ganz offen auch zur Bewachung. Ungari hatte aufgeregt mit der Zunge geschnalzt, als er die Schiffe der polianischen Raumflotte identifizierte und zusammenaddierte, die in dem Gebiet um die neue Konstruktion versammelt waren. Die Barrayaraner hatten ihr Raumschiff in einer spiralförmigen Flugbahn zum Dock manövriert, auf diese Weise hatten sie alle Seiten der Station sehen können, sowie alle Schiffe, die an der Station angedockt waren oder sich um sie herum bewegten.

»Ihre Hauptaufgabe hier«, hatte Ungari zu Miles gesagt, »wird sein, allen, die uns beobachten, etwas Interessanteres zur Beobachtung zu geben als mich. Gehen Sie herum. Ich glaube, Sie brauchen sich nicht besonders anzustrengen, um aufzufallen. Entwickeln Sie Ihre Tarnidentität — mit Glück werden Sie sogar den einen oder anderen Kontakt herstellen, der weiterer Untersuchung wert ist. Obwohl ich bezweifle, daß Sie sofort auf etwas von großem Wert stoßen werden, so einfach funktioniert es nämlich nicht.«

Jetzt legte Miles seinen Musterkoffer offen auf sein Bett und überprüfte ihn nochmals. Ich bin nur ein reisender Handelsvertreter. Ein Dutzend Handwaffen, deren Energiezellen herausgenommen worden waren, schimmerten ihm tückisch entgegen. Eine Reihe von Viddisketten beschrieb größere und interessantere Waffensysteme. Eine noch interessantere — man konnte sogar sagen, eine noch ›fesselndere‹ — Sammlung von winzigen Disketten war in Miles Jacke versteckt. Tod. Ich habe ihn en gros im Angebot.

Miles Leibwächter traf ihn an der Luke zum Dock. Warum, o Gott, hatte Illyan Sergeant Overkill dieser Mission zugeteilt? Aus demselben Grund, weshalb er ihn nach Kyril geschickt hatte: weil man ihm vertraute, ohne Zweifel, aber es brachte Miles in Verlegenheit, mit einem Mann zusammenzuarbeiten, der ihn einmal verhaftet hatte. Was hielt Overholt jetzt von Miles?

Glücklicherweise gehörte der große Mann zum schweigsamen Typ.

Overholt war ebenso informell und kunterbunt gekleidet wie Miles, allerdings mit Sicherheitsstiefeln statt Sandalen. Er sah genau aus wie ein Leibwächter, der versuchte, wie ein Tourist auszusehen.

Genau die Art von Mann, die ein unbedeutender Waffenhändler wie Victor Rotha engagieren würde. Sowohl zweckmäßig wie auch dekorativ, er schneidet, würfelt und hackt … Miles und Overholt waren schon jeder für sich allein bemerkenswert. Zusammen, nun ja … Ungari hatte recht. Sie brauchten nicht zu befürchten, daß man sie übersehen würde.

Miles ging Overholt voran durch das Andockrohr und nach Pol Sechs hinein. Die Speiche, an der sie angedockt hatten, schleuste die Ankommenden zu einem Zollbereich, wo Miles’ Musterkoffer und Person sorgfältig überprüft wurden und Overholt einen Waffenschein für seinen Betäuber vorlegen mußte.

Von dort aus hatten sie freien Zugang zu den Einrichtungen der Transitstation, abgesehen von bestimmten bewachten Korridoren, die natürlich zu den militärischen Zonen führten. Diese Bereiche, das hatte Ungari klargemacht, waren seine Angelegenheit, nicht Miles’.

Miles, der noch reichlich Zeit hatte bis zu seinem ersten Termin, schlenderte gemächlich dahin und genoß die Empfindung, auf einer Raumstation zu sein. Hier ging es zwar nicht so frei und ungebunden zu wie auf Kolonie Beta, aber ohne Frage war dieser Ort von der maßgebenden galaktischen Technokultur geprägt. Ganz anders als das arme, halb rückständige Barrayar. Die fragile künstliche Umgebung atmete ihren eigenen Hauch von Gefahr, einen Hauch, der sich im Falle eines plötzlichen Druckabfalls sofort zu einem klaustrophobischen Schrecken aufblähen konnte. Eine zentrale Halle, die mit Läden, Gastquartieren und Speiselokalen gesäumt war, bildete die Begegnungszone.

Ein merkwürdiges Trio lungerte genau gegenüber Miles in der belebten Halle herum. Ein großer Mann in lockerer Kleidung, die ideal zum Verbergen von Waffen war, suchte das ganze Gebiet unruhig mit den Augen ab. Ein professionelles Gegenstück zu Sergeant Overkill, ohne Zweifel. Er und Overholt entdeckten sich gegenseitig, tauschten grimmige Blicke aus und ignorierten einander danach sorgfältig. Der langweilige Mann, den der andere beschützte, verblaßte fast zur Unsichtbarkeit neben seiner Begleiterin.

Sie war klein, aber erstaunlich energisch. Ihre schmächtige Figur und ihr sehr kurz geschnittenes weißblondes Haar gaben ihr ein seltsames, elfenhaftes Aussehen. Ihr schwarzer Overall schien mit elektrischen Funken zu changieren und floß über ihre Haut wie Wasser — Abendkleidung während des Tageszyklus. Schwarze Schuhe mit dünnen Absätzen machten sie ein paar unbedeutende Zentimeter größer. Ihre Lippen waren blutrot karmin gefärbt, passend zu dem schimmernden Tuch, das um den alabasterfarbenen Hals geschlungen war und so von beiden Schultern herabfiel, daß es die nackte weiße Haut ihres Rückens einrahmte. Sie sah … kostspielig aus. Sie fing Miles’ faszinierten Blick auf, hob ihr Kinn und blickte kühl zurück.

»Victor Roma?« Die Stimme neben ihm ließ Miles aufschrekken.

»Ah … Mr. Liga?« Miles wandte sich schnell um. Kaninchenhafte, bleiche Gesichtszüge, eine vorstehende Lippe, schwarzes Haar: dies war der Mann, der behauptete, er wolle die Bewaffnung seiner Sicherheitswachen auf seiner Asteroidenbergwerksanlage verbessern. Gewiß.

Wie — und wo — hatte Ungari Liga aufgegabelt? Miles war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wissen wollte.

»Ich habe einen privaten Raum für unser Gespräch reserviert«, sagte Liga lächelnd und wies mit dem Kopf auf den Eingang eines Gastquartiers in der Nähe. »Nicht wahr«, fügte Liga hinzu, »es sieht aus, als würde alle Welt heute vormittag Geschäfte machen.«

Er nickte in Richtung auf das Trio auf der anderen Seite der Halle, das jetzt zu einem Quartett geworden war und sich entfernte. Die Enden des Halstuches flatterten wie Fahnen hinter der schnell davonschreitenden Blondine her.

»Wer war diese Frau?«, fragte Miles.

»Ich weiß es nicht«, sagte Liga. »Aber der Mann, hinter dem die drei hergehen, ist Ihr Hauptkonkurrent hier. Der Agent des Hauses Fell, der jacksonischen Rüstungsspezialisten.«

Er sah mehr wie der Typ eines Geschäftsmannes in mittleren Jahren aus, zumindest von hinten. »Pol läßt die Jacksonier hier operieren?«, fragte Miles. »Ich dachte, es gäbe zwischen ihnen starke Spannungen.«

»Zwischen Pol, Aslund und Vervain, ja«, sagte Liga. »Das Konsortium von Jackson’s Whole beteuert laut seine Neutralität. Sie hoffen, von allen Seiten profitieren zu können. Aber hier ist nicht der beste Ort, um über Politik zu reden. Gehen wir hinein, oder?«

Wie Miles erwartet hatte, etablierte Liga sie in einem ansonsten nicht belegten Zimmer des Quartiers, das er speziell für diesen Zweck gemietet hatte. Miles begann sein auswendig gelerntes Verkaufsgespräch, handelte die Handwaffen ab und quasselte etwas über verfügbare Vorräte und über Liefertermine daher.

»Ich hatte gehofft«, sagte Liga, »etwas … Maßgeblicheres zu sehen.«

»Ich habe eine andere Auswahl von Mustern an Bord meines Schiffes«, erklärte Miles. »Ich wollte den polianischen Zoll nicht damit belästigen. Aber ich kann Ihnen einen Überblick per Vid geben.«

Miles führte das Handbuch über schwere Waffen vor. »Dieses Vid dient natürlich nur zur Information, denn der Besitz dieser Waffen durch Privatpersonen ist im polianischen Lokalraum illegal.«

»Im Raum von Pol, ja«, stimmte Liga zu. »Aber die Gesetze von Pol gelten nicht in der Hegen-Nabe. Noch nicht. Alles, was Sie tun müssen, ist, von Pol Sechs abzulegen und einen kleinen Flug über die Zehntausend-Kilometer-Grenze für Handelskontrolle hinaus zu unternehmen, wo Sie vollkommen legal jede Art von Geschäft machen können, die Sie wollen. Das Problem entsteht dann, wenn Sie die Fracht zurück in den lokalen Raum von Pol liefern wollen.«

»Schwierige Lieferungen sind eine meiner Spezialitäten«, versicherte ihm Miles. »Für einen kleinen Aufschlag, natürlich.«

»Wie? — Na gut …« Liga blätterte den Vidkatalog schnell durch. »Diese Hochleistungsplasmabögen, nun … wie sind die im Vergleich zu den Nervendisruptoren der Geschützstufe?«

Miles hob die Schultern. »Das hängt ganz davon ab, ob Sie nur Menschen wegpusten wollen, oder Menschen und Hab und Gut. Ich kann Ihnen einen sehr guten Preis für die Nervendisruptoren machen.«

Er nannte eine Zahl in polianischen Credits.

»Ich habe schon ein besseres Angebot bekommen, kürzlich, für ein Gerät mit der gleichen Kilowatt-Leistung«, erwähnte Liga desinteressiert.

»Aber sicher!«, lächelte Miles. »Das Gift kostet ein Credit, das Gegengift einhundert Credits.«

»Was soll das bedeuten, hä?«, fragte Liga mißtrauisch. Miles entrollte sein Jackenrevers, fuhr mit dem Daumen an der Unterseite entlang und zog eine winzige Viddiskette hervor.

»Schauen Sie sich das mal an.« Er legte die Diskette in den Vidprojektor ein. Eine Figur wurde lebendig und drehte eine Pirouette. Sie war vom Kopf bis zu den Finger- und Zehenspitzen in etwas gekleidet, was wie ein glitzerndes, hautenges Netz erschien.

»Ein bißchen zugig für lange Unterwäsche, was?«, sagte Liga skeptisch.

Miles lächelte gequält. »Was Sie hier sehen, würde jede bewaffnete Macht in der Galaxis gern in die Finger bekommen. Das perfekte Schutznetz für Einzelpersonen gegen Nervendisruptoren. Der neueste technologische Trumpf von Kolonie Beta.«

Ligas Augen weiteten sich. »Ich höre zum erstenmal, daß so etwas auf dem Markt ist.«

»Nicht auf dem offenen Markt. Diese hier sind gewissermaßen private Vorverkäufe.« Kolonie Beta machte nur für seine zweit- oder drittneuesten Errungenschaften Reklame, allen anderen immer ein paar Schritte in Forschung und Entwicklung vorauszusein war schon seit einigen Generationen die besondere Masche dieses rauhen Planeten. Zu gegebener Zeit würde Kolonie Beta sein neues Produkt in der ganzen Galaxis vermarkten. In der Zwischenzeit jedoch …

Liga leckte seine aufgeworfene Unterlippe. »Wir verwenden Nervendisruptoren sehr viel.«

Für Sicherheitswachen? Ganz recht, sicherlich. »Ich habe einen begrenzten Vorrat an Schutznetzen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

»Und der Preis?«

Miles nannte eine Zahl in betanischen Dollars.

»Unverschämt!« Liga fuhr auf seinem Schwebestuhl zurück.

Miles zuckte die Schultern. »Denken Sie darüber nach. Es könnte für Ihre … Organisation von erheblichem Nachteil sein, nicht als erste ihre Verteidigung zu verbessern. Ich bin sicher, Sie können sich das vorstellen.«

»Ich werde … das überprüfen müssen. Also kann ich diese Diskette mal haben, um sie meinem … äh … Vorgesetzten zu zeigen?«

Miles verzog seine Lippen. »Lassen Sie sich aber nicht damit erwischen.«

»Keineswegs.« Liga ließ das Demovid noch einmal durchlaufen und blickte fasziniert auf die funkelnde Soldatenfigur, bevor er die Diskette einsteckte.

Also. Der Köder war am Haken und in dunkle Wasser geworfen. Es würde sehr interessant sein zu sehen, was da anbiß: kleine Fische oder monströse Meeresungeheuer. Liga gehörte zu der Unterklasse der Saugfische, schätzte Miles. Nun ja, er mußte irgendwo beginnen.

Wieder draußen in der Halle murmelte Miles Overholt besorgt zu: »Habe ich alles richtig gemacht?«

»Sehr geschickt, Sir«, beruhigte ihn Overholt. Naja, vielleicht. Es hatte ihm ein gutes Gefühl gegeben, nach Plan zu verfahren. Er spürte fast, wie er in die ölige Persönlichkeit von Victor Rotha eintauchte.


Zum Mittagessen führte Miles Overholt zu einer Cafeteria, die zur Halle hin offen war, so konnte sie jeder, der Ungari nicht sehen sollte, besser beobachten. Er kaute ein Sandwich mit künstlich erzeugtem Protein und entspannte seine Nerven ein bißchen. Eigentlich dürfte diese Vorstellung in Ordnung sein. Nicht annähernd so aufputschend wie …

»Admiral Naismith!«

Miles erstickte fast an einem halbgekauten Bissen, sein Kopf fuhr alarmiert herum, um zu erkennen, woher der überraschte Ausruf gekommen war. Overholt war sofort in Alarmbereitschaft, doch es gelang ihm, seine Hände davon abzuhalten, vorzeitig nach dem versteckten Betäuber zu greifen.

Zwei Männer waren neben dem Tisch stehengeblieben. Den einen erkannte Miles nicht. Der andere … verdammt! Er kannte das Gesicht. Mit kantigem Kinn, brauner Haut, zu ordentlich und zu fit für sein Alter, um für was anderes als einen Soldaten gehalten zu werden, trotz der polianischen zivilen Kleidung. Der Name, der Name …! Einer von Tungs Kommandos, Kommandant einer Kampfshuttlemannschaft.

Miles hatte ihn zum letztenmal gesehen, als sie sich zusammen in der Waffenkammer der Triumph ausrüsteten und auf einen Enterkampf vorbereiteten. Clive Chodak, so hieß er.

»Es tut mir leid, Sie irren sich.« Miles’ Leugnen war ein reiner spinaler Reflex. »Mein Name ist Victor Rotha.«

Chodak blinzelte. »Was? Oh! Entschuldigung. Das heißt — Sie sehen jemandem sehr ähnlich, den ich einmal kannte.«

Er betrachtete Overholt von oben bis unten. Dann musterten seine Augen Miles hartnäckig. »Hm, dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«

»Nein!«, sagte Miles scharf und übernervös. Nein, warte. Einen möglichen Kontakt sollte er wohl nicht sausen lassen. Das hier war eine Komplikation, auf die er hätte vorbereitet sein sollen. Aber Naismith voreilig zu aktivieren, ohne Ungaris Befehle … »Jedenfalls nicht hier«, verbesserte er sich hastig.

»Ich … verstehe, Sir.« Mit einem kurzen Nicken zog sich Chodak sofort zurück und zog seinen widerstrebenden Begleiter mit sich. Er brachte es fertig, nur einmal über die Schulter zurückzublicken. Miles unterdrückte den Impuls, in seine Serviette zu beißen. Die beiden Männer mischten sich unter die Menschen in der Halle. Nach ihren heftigen Gesten zu schließen, schienen sie zu streiten.

»War das geschickt?«, fragte Miles kleinlaut.

Overholt schaute leicht bestürzt drein. »Nicht sehr.« Er blickte mit gerunzelter Stirn in die Halle, in die Richtung, wo die beiden Männer verschwunden waren.

Chodak brauchte nicht mehr als eine Stunde, um Miles an Bord seines betanischen Schiffs im Dock aufzuspüren. Ungari war noch unterwegs.

»Er sagt, er will mit Ihnen sprechen«, sagte Overholt. Er und Miles schauten prüfend auf den Vidmonitor für die Luke, wo Chodak ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. »Was, glauben Sie, will er wirklich?«

»Vermutlich mit mir sprechen«, sagte Miles. »Verdammt, wenn ich nicht auch mit ihm sprechen will.«

»Wie gut haben Sie ihn gekannt?«, fragte Overholt mißtrauisch, während er Chodaks Abbild betrachtete.

»Nicht gut«, gab Miles zu. »Er schien ein fähiger Unteroffizier zu sein. Kannte sein Gerät, hielt seine Leute in Bewegung, hielt unter Feuer stand.«

In Wirklichkeit, wenn Miles zurückdachte, so waren seine tatsächlichen Kontakte mit dem Mann kurz gewesen, alle rein sachlich … aber einige dieser Minuten waren kritisch gewesen, in der wilden Unsicherheit des Kampfes an Bord eines Raumschiffes. Waren Miles’ instinktive Empfindungen wirklich eine adäquate Sicherheitsüberprüfung für einen Mann, den er fast vier Jahre nicht mehr gesehen hatte? »Tasten Sie ihn ab, auf jeden Fall. Aber lassen wir ihn herein und sehen wir mal, was er zu sagen hat.«

»Wenn Sie es so befehlen, Sir«, sagte Overholt neutral.

»Ich befehle es.«

Chodak schien nichts dagegen zu haben, abgetastet zu werden. Er trug nur einen registrierten Betäuber. Allerdings war er auch ein Experte im Nahkampf gewesen, erinnerte sich Miles, eine Waffe, die niemand konfiszieren konnte. Overholt eskortierte ihn in das Kasino des kleinen Schiffes — die Betaner hätten es den Erfrischungsraum genannt.

»Mr. Rotha«, Chodak nickte, »ich … hm … hoffte, wir könnten hier privat miteinander reden.« Er schaute mißtrauisch auf Overholt. »Oder sind Sie der Nachfolger von Sergeant Bothari?«

»Keineswegs.« Miles gab Overholt ein Zeichen, ihm in den Korridor zu folgen, und sprach erst, als die Türen zugegangen waren. »Ich glaube, Ihre Anwesenheit ist hinderlich, Sergeant. Hätten Sie etwas dagegen, draußen zu warten?« Miles machte nicht deutlich, für wen Overholt hinderlich war. »Sie können natürlich über Monitor zuschauen.«

»Eine schlechte Idee«, sagte Overholt mit Stirnrunzeln. »Angenommen, er fällt über Sie her?«

Miles’ Finger klopften nervös auf seine Hosennaht.

»Das ist eine Möglichkeit. Aber unser nächstes Ziel ist Aslund, wo die Dendarii stationiert sind, sagt Ungari. Chodak kann nützliche Informationen bei sich haben.«

»Wenn er die Wahrheit sagt.«

»Sogar Lügen können etwas enthüllen.« Mit diesem zweifelhaften Argument schlüpfte Miles wieder in das Kasino und ließ Overholt hinter sich.

Er nickte seinem Besucher zu, der sich an einen Tisch gesetzt hatte. »Korporal Chodak.«

Chodaks Gesicht hellte sich auf. »Sie erinnern sich.«

»O ja. Und, ach … sind Sie immer noch bei den Dendarii?«

»Jawohl, Sir. Jetzt Sergeant Chodak.«

»Sehr gut. Ich bin nicht überrascht.«

»Und, hm … die Oserischen Söldner.«

»Wie ich gehört habe. Ob das gut ist oder nicht, bleibt zu sehen.«

»Als was treten Sie auf, Sir?«

»Victor Rotha ist ein Waffenhändler.«

»Das ist eine gute Tarnung.« Chodak nickte nachdenklich.

Miles versuchte, seinen nächsten Worten einen beiläufigen Klang zu geben, indem er an einem Automaten zwei Kaffees anforderte. »Und was tun Sie so auf Pol Sechs? Ich dachte, die Den… die Flotte sei auf Aslund angeheuert?«

»Auf der Aslund-Station, hier in der Nabe«, verbesserte Chodak. »Es ist nur ein Flug von ein paar Tagen, durch das System. Das heißt, auf dem, was schon da ist von der Station. Ach, die Lieferanten der Regierung!« Er schüttelte den Kopf.

»Hinter dem Plan zurück und die Kosten überschritten?«

»Sie haben es erfaßt.« Er nahm den Kaffee ohne Zögern an, hielt ihn in seinen schmalen Händen und nahm einen einleitenden Schluck. »Ich kann nicht lange bleiben.« Er drehte die Tasse und stellte sie auf den Tisch. »Sir, ich glaube, ich habe Ihnen vielleicht zufällig einen schlechten Dienst erwiesen. Ich war so verblüfft, Sie hier zu sehen …Auf jeden Fall wollte ich Sie … warnen, vermute ich. Sind Sie unterwegs zurück zur Flotte?«

»Ich fürchte, ich kann nicht über meine Pläne sprechen. Nicht einmal mit Ihnen.«

Chodak blickte ihn mit seinen schwarzen Mandelaugen forschend an.

»Sie waren immer raffiniert.«

»Bevorzugen Sie als im Kampf erfahrener Soldat Frontalangriffe?«

»Nein, Sir!« Chodak lächelte leicht.

»Das will ich doch meinen. Ich nehme an, Sie sind einer der Geheimagenten der Flotte, die über die Nabe verstreut sind. Es sind doch hoffentlich mehr als nur einer von euch da, oder die Organisation ist während meiner Abwesenheit arg auseinandergefallen.«

Tatsächlich waren zur Zeit vielleicht die Hälfte der Bewohner von Pol Sechs Spione der einen oder anderen Richtung, wenn man die Zahl der möglichen Mitspieler in diesem Spiel in Betracht zog. Nicht zu vergessen die Doppelagenten — sollte man die doppelt zählen?

»Warum sind Sie so lang weggewesen, Sir?« Chodaks Ton war fast anklagend.

»Es war nicht meine Absicht«, lavierte Miles. »Einen Teil der Zeit war ich Gefangener an einem … Ort, den ich lieber nicht beschreiben will. Ich bin erst vor etwa drei Monaten entflohen.« Nun ja, so konnte man die Insel Kyril auch beschreiben.

»Sie, Sir! Wir hätten Sie befreien können!«

»Nein, hättet ihr nicht können«, sagte Miles scharf. »Die Situation war extrem heikel, wurde jedoch zu meiner Befriedigung gelöst. Aber ich war dann konfrontiert mit … beträchtlichen Aufräumarbeiten in anderen meiner Operationsgebiete, die nicht die Dendarii-Flotte berühren. Weit entfernte Gebiete. Es tut mir leid, aber ihr seid nicht meine einzige Unternehmung. Trotzdem bin ich beunruhigt. Ich hätte mehr von Kommodore Jesek hören sollen.« In der Tat, das hätte er.

»Kommodore Jesek führt nicht länger das Kommando. Es gab vor etwa einem Jahr eine finanzielle Umorganisation und eine Umstrukturierung der Kommandos, durch das Komitee der Kapitän-Eigner und Admiral Oser. Mit Admiral Oser an der Spitze.«

»Wo ist Jesek?«

»Er wurde zum Flotteningenieur degradiert.«

Beunruhigend, aber Miles konnte es verstehen.

»Nicht notwendigerweise eine schlechte Sache. Jesek war nie so aggressiv wie zum Beispiel Tung. Und was ist mit Tung?«

Chodak schüttelte den Kopf. »Er wurde vom Stabschef zum Personaloffizier degradiert. Ein unwichtiger Job.«

»Das erscheint mir als … Verschwendung eines Talents.«

»Oser traut Tung nicht. Und Tung mag auch Oser nicht. Oser versucht seit einem Jahr, ihn hinauszudrängen, aber Tung bleibt weiter, trotz der Erniedrigung von … hm. Es ist nicht leicht, ihn loszuwerden. Oser kann es sich nicht leisten — noch nicht —, sein Personal zu dezimieren, und zu viele Leute in Schlüsselstellungen sind Tung persönlich loyal.«

Miles hob die Augenbrauen. »Eingeschlossen Sie selbst?«

Chodak sagte zurückhaltend: »Er hat etwas zuwege gebracht. Ich hielt ihn für einen überragenden Offizier.«

»Ich auch.«

Chodak nickte kurz. »Sir. die Sache ist … der Mann, der mit mir in der Cafeteria war, ist hier mein Vorgesetzter. Und er ist einer von Osers Leuten. Ich weiß eigentlich keinen Weg, wie ich ihn hindern könnte, unsere Begegnung zu melden, außer ihn umzubringen.«

»Ich habe kein Verlangen, einen Bürgerkrieg in meiner eigenen Kommando-Struktur anzufangen«, sagte Miles sanft. Noch nicht. »Ich glaube, es ist wichtiger, daß er Sie nicht verdächtigt, mit mir privat gesprochen zu haben. Lassen Sie ihn berichten. Ich habe schon vorher mit Admiral Oser Abkommen getroffen, zu unserem gegenseitigen Nutzen.«

»Ich bin nicht sicher, daß Oser das so sieht. Ich glaube, er denkt, daß er von Ihnen reingelegt wurde.«

Miles lachte bellend. »Was?! Ich habe die Größe der Flotte während des Krieges von Tau Verde verdoppelt. Selbst als dritter Offizier hatte er am Schluß mehr unter sich als zuvor, ein kleineres Stück von einem größeren Kuchen.«

»Aber die Seite, die uns den ursprünglichen Auftrag gab, hat verloren.«

»Nein. Beide Seiten haben an dem Waffenstillstand gewonnen, den wir erzwungen haben. Es war ein Ergebnis von Gewinn Gewinn, abgesehen von dem bißchen Gesichtsverlust. Wie, kann Oser sich nicht vorstellen, daß er gewonnen hat, wenn nicht jemand anderer verliert?«

Chodak blickte grimmig drein. »Ich glaube, das trifft vielleicht zu, Sir. Er sagt — ich habe es selbst gehört —, Sie hätten uns beschwindelt. Sie seien nie ein Admiral gewesen, niemals ein Offizier, egal welcher Art. Wenn Tung nicht mit ihm ein falsches Spiel getrieben hätte, dann hätte er Ihnen einen Arschtritt in die Hölle gegeben.«

Chodaks Blick ruhte nachdenklich auf Miles. »Was waren Sie wirklich?«

Miles lächelte freundlich. »Ich war der Gewinner. Erinnern Sie sich?«

Chodak prustete, halb amüsiert: »Ja klar.«

»Lassen Sie sich durch Osers revisionistische Geschichtsschreibung nicht den Geist vernebeln. Sie waren doch an Ort und Stelle dabei.«

Chodak schüttelte wehmütig den Kopf. »Sie hatten meine Warnung wirklich nicht nötig, nicht wahr.« Er schickte sich an aufzustehen.

»Lassen Sie sich nie zu Annahmen verleiten. Und, ach … passen Sie auf sich auf. Das heißt, hauen Sie rechtzeitig ab. Ich werde später an Sie denken.«

»Sir.« Chodak nickte. Overholt, der im Korridor in der Pose eines kaiserlichen Wachpostens wartete, eskortierte ihn zur Luke der Fähre.


Miles saß im Kasino und knabberte am Rand seiner Kaffeetasse herum, während er über gewisse überraschende Parallelen zwischen der Umstrukturierung des Kommandos in einer freien Söldnerflotte und den gegenseitigen Vernichtungskriegen der barrayaranischen Vor nachdachte. Konnte man in den Söldnern eine vereinfachte Miniatur- oder Laborversion der Realität sehen? Oser hätte während Vordarians Griff nach dem Thron dabeisein sollen und sehen, wie die großen Kerle operieren. Doch Miles sollte lieber die potentiellen Gefahren und Komplexitäten der Situation nicht unterschätzen. Der Tod in einem Miniaturkonflikt wäre genau so absolut wie in einem großen. Zum Teufel, was für ein Tod? Was hatte er denn überhaupt mit den Dendari oder den Oserern zu tun? Oser hatte recht, es war ein Schwindel gewesen, und das einzig Erstaunliche daran war, wie lange der Mann gebraucht hatte, diese Tatsache zu begreifen. Miles sah keine unmittelbare Notwendigkeit, weshalb er sich überhaupt wieder mit den Dendarii einlassen sollte. In der Tat konnte er auf eine gefährliche politische Komplikation gut verzichten. Laß Oser die Söldner behalten, sie haben ihm sowieso zuerst gehört.

Ich habe drei durch Eid gebundene Lehnsleute in dieser Flotte. Meine eigene, persönliche Gefolgschaft.

Wie leicht war es gewesen, wieder in die Rolle von Naismith zu schlüpfen …

Wie dem auch sei, Naismith zu aktivieren, war nicht Miles’ Entscheidung. Dafür war Hauptmann Ungari zuständig. Ungari machte ihm das auch sofort klar, als er später zurückkam und Overholt ihn informierte. Er war ein Mann von Selbstbeherrschung, sein Zorn zeigte sich in subtilen Zeichen: seine Stimme wurde etwas schärfer, die Falten der Spannung um Augen und Mund etwas tiefer. »Sie haben Ihre Tarnung beschädigt. Sie sollen niemals Ihre Tarnung aufgeben. Das ist die erste Regel zum Überleben in diesem Geschäft.«

»Sir, darf ich respektvoll darauf hinweisen, ich habe die Tarnung nicht aufgehoben«, erwiderte Miles standhaft. »Chodak hat es getan. Er schien das auch zu erkennen, er ist nicht dumm. Er hat sich entschuldigt, so gut er konnte.«

Chodak mochte in der Tat raffinierter sein, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte, denn jetzt hatte er einen Draht zu beiden Seiten in der mutmaßlichen Spaltung des Kommandos der Dendarii, egal, wer sich an der Spitze behauptete. Berechnung oder Zufall? Chodak war entweder klug, oder er hatte Glück, in jedem Fall konnte er eine nützliche Ergänzung von Miles’ Seite sein … Welche Seite denn? Ungari wird mich nach diesem Vorfall nicht an die Dendarii nahe ranlassen.

Ungari blickte mit Stirnrunzeln auf die Vidscheibe, wo gerade die Aufzeichnung von Miles’ Gespräch mit dem Söldner abgespielt worden war. »Es klingt mehr und mehr, als wäre vielleicht die Naismith-Tarnung zu gefährlich, um überhaupt aktiviert zu werden. Wenn der kleine Palastputsch Ihres Oser sich auch nur annähernd so darstellt, wie dieser Bursche es andeutet, dann ist Illyans Phantasie, daß Sie den Dendarii einfach befehlen abzuhauen, eine Seifenblase. Ich dachte mir schon, daß sich das zu einfach anhörte.«

Ungari ging im Kasino auf und ab und schlug mit seiner rechten Faust in seine linke Hand. »Nun gut, wir können noch etwas Nutzen aus Victor Rotha ziehen. So gern ich Sie in Ihre Unterkunft einsperren würde …« Seltsam, wie viele seiner Vorgesetzten das gesagt hatten. »… Liga will Rotha heute abend nochmal treffen. Vielleicht um eine Bestellung für etwas aus unserer fiktiven Fracht abzugeben. Ziehen Sie es hin — ich möchte, daß Sie an ihm vorbei die nächste Ebene seiner Organisation erreichen. Seinen Boss, oder den Boss seines Bosses.«

»Wem gehört Liga? Was haben Sie da für einen Verdacht?«

Ungari blieb stehen und drehte seine Hände nach außen. »Den Cetagandanern? Jackson’s Whole? Irgendeinem aus einem halben Dutzend anderer? Der Kaiserliche Sicherheitsdienst ist hier nur sehr schwach vertreten. Aber wenn bewiesen würde, daß Liga und seine kriminelle Organisation Marionetten der Cetagandaner sind, dann könnte es sich lohnen, einen hauptamtlichen Agenten zu schicken, der in ihre Reihen eindringt. Also finden Sie es heraus! Weisen Sie darauf hin, daß Sie noch mehr Bonbons in Ihrem Sack haben. Nehmen Sie Bestechungen an. Passen Sie sich an. Und bringen Sie es voran. Ich bin hier fast fertig, und Illyan will speziell wissen, wann die Aslund-Station als Verteidigungsbasis voll einsatzbereit sein wird.«

Miles drückte die Türglocke des Zimmers im Gästequartier. Sein Kinn zuckte nervös nach oben. Er räusperte sich und richtete seine Schultern gerade. Overholt blickte den leeren Korridor hinauf und hinunter.

Mit einem Zischen öffnete sich die Tür. Miles blinzelte erstaunt.

»Ah, Mr. Rotha.« Die leichte, kühle Stimme gehörte der kleinen Blondine, die er in der Halle an diesem Morgen gesehen hatte. Sie trug jetzt einen Overall aus hautenger roter Seide mit einem tiefen Ausschnitt und einem glitzernden roten Rüschenkragen, der sich in ihrem Nacken erhob und ihren wohlgeformten Kopf einrahmte. Dazu hatte sie hochhackige rote Wildlederstiefel an. Sie schenkte ihm ein Lächeln von tausend Volt.

»Entschuldigung«, sagte Miles automatisch, »ich muß mich in der Tür geirrt haben.«

»Keineswegs.« Ihre schlanke Hand öffnete sich in einer weiten, begrüßenden Geste. »Sie sind pünktlich.«

»Ich hatte hier eine Verabredung mit einem Mr. Liga.«

»Ja, und ich habe die Verabredung übernommen. Treten Sie ein. Mein Name ist Livia Nu.«

Nun ja, bei ihrer Kleidung konnte sie praktisch keine verborgenen Waffen tragen. Miles trat ein. Er war nicht überrascht, ihren Leibwächter zu sehen, der in einer Ecke des Zimmers herumlungerte.

Der Mann nickte Overholt zu, der zurücknickte, beide wachsam wie zwei Katzen. Und wo war der dritte Mann? Nicht hier, offensichtlich.

Sie wanderte zu einem mit einer Flüssigkeit gefüllten Sofa und ließ sich darauf nieder.

»Sind Sie … hm … Mr. Ligas Vorgesetzte?«, fragte Miles. Nein, Liga hatte ja geleugnet zu wissen, wer sie sei …

Sie zögerte minimal. »In einem gewissen Sinn, ja.«

Einer von ihnen log — nein, nicht unbedingt. Wenn sie tatsächlich einen hohen Rang in seiner Organisation einnahm, dann hatte Liga sie gegenüber Rotha natürlich nicht identifiziert. Verdammt.

»… aber Sie dürfen in mir eine Agentin für Beschaffungen sehen.«

Gott! Pol Sechs war wirklich mit Spionen überschwemmt. »Für wen?«

»Ach«, sie lächelte, »einer der Vorteile des Handels mit kleinen Lieferanten ist immer ihre Politik, keine Fragen zu stellen. Einer der wenigen Vorteile.«

»Keine Fragen zu stellen ist der Slogan des Hauses Fell, glaube ich. Die haben den Vorteil einer festen und sicheren Basis. Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein im Verkauf von Waffen an Leute, die in der nahen Zukunft auf mich schießen könnten.«

Ihre blauen Augen weiteten sich. »Wer würde auf Sie schießen wollen?«

»Irregeleitete Menschen«, schüttelte Miles die Frage ab. Ihr Götter. Er hatte dieses Gespräch nicht in der Hand. Er wechselte einen gequälten Blick mit Overholt, der von seinem Pendant an gleichgültiger Miene übertroffen wurde.

»Wir müssen miteinander plaudern.« Sie tätschelte einladend das Kissen neben ihr. »Setzen Sie sich, Victor. Ach«, sie nickte ihrem Leibwächter zu, »warum wartest du nicht draußen?«

Miles setzte sich auf den Rand des Sofas und versuchte, das Alter der Frau zu erraten. Ihr Teint war glatt und weiß. Nur die Haut ihrer Augenlider war weich und zeigte leichte Fältchen. Miles dachte an Ungaris Befehle — nehmen Sie Bestechungen, passen Sie sich an …

»Vielleicht sollten Sie auch draußen warten«, sagte er zu Overholt.

Overholt war offensichtlich hin- und hergerissen, aber von den beiden Fremden wollte er offensichtlich eher den großen, bewaffneten Mann im Auge behalten. Er nickte — anscheinend ergeben, tatsächlich zustimmend — und folgte ihrem Leibwächter nach draußen.

Miles lächelte auf — wie er hoffte — freundliche Art. Sie sah wirklich verführerisch aus. Miles machte es sich vorsichtig in den Kissen bequem und versuchte, verführbar auszusehen. Eine echte Begegnung aus einer Spionagephantasie von der Art, wie sie nach Ungaris Worten nie stattfand. Vielleicht passierte sowas nur Ungari nicht, na? Meine Güte, was für scharfe Zähne Sie haben, Miss.

Ihre Hand griff in ihr Dekollete — eine fesselnde Geste — und zog eine winzige, wohlbekannte Viddiskette heraus. Sie beugte sich vor, um sie in den Vidprojektor auf dem niedrigen Tisch vor ihnen einzulegen, und Miles brauchte einen Augenblick, um seine Aufmerksamkeit auf das Vid zu lenken. Die kleine, glitzernde Soldatenfigur führte wieder ihre stilisierten Gesten vor. Ha. Also, sie war wirklich Ligas Vorgesetzte. Sehr gut, jetzt kam er irgendwie voran.

»Das ist wirklich bemerkenswert, Victor. Wie sind Sie da rangekommen? «

»Ein glücklicher Zufall.«

»Wie viele können Sie liefern?«

»Eine streng begrenzte Zahl. Sagen wir fünfzig. Ich bin kein Hersteller. Hat Liga Ihnen gegenüber den Preis erwähnt?«

»Ich hielt ihn für arg hoch.«

»Wenn Sie einen anderen Lieferanten finden können, der sie billiger liefert, dann werde ich glücklich sein, meinen Preis dem seinen anzupassen und zehn Prozent nachzulassen.« Miles schaffte es, sich im Sitzen zu verneigen.

Sie gab einen leicht amüsierten Laut von sich, tief in ihrer Kehle. »Die angebotene Menge ist zu gering.«

»Es gibt verschiedene Methoden, wie Sie sogar von einer kleinen Anzahl profitieren könnten, wenn Sie früh .genug in den Handel einsteigen. Wie zum Beispiel Versuchsmodelle an interessierte Regierungen zu verkaufen. Ich habe vor, mir einen Anteil an diesem Profit zu sichern, bevor der Markt gesättigt ist und der Preis fällt. Das könnten Sie auch.«

»Warum tun Sie’s nicht? Direkt an Regierungen verkaufen, meine ich.«

»Weshalb glauben Sie, daß ich das nicht getan habe?« Miles lächelte.

»Aber — bedenken Sie meine Route, wenn ich diese Gegend verlasse. Ich kam über Barrayar und Pol herein. Ich muß entweder über Jackson’s Whole oder über das Imperium von Cetaganda ausreisen.

Unglücklicherweise habe ich auf beiden Routen ein hohes Risiko, daß ich um diese spezielle Fracht ohne irgendeine Entschädigung erleichtert werde.« Ach ja, woher hatte übrigens Barrayar sein Versuchsmodell des Schutzanzugs herbekommen? Gab es einen echten Victor Rotha, und wo war er jetzt? Woher hatte Illyan ihr Schiff bekommen?

»Also führen Sie sie bei sich?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Hm.« Sie lächelte. »Können Sie ein Stück heute abend liefern?«

»Welche Größe?«

»Klein.« Ein Finger mit langem Nagel zeichnete eine Linie an ihrem Körper entlang, von der Brust bis zum Oberschenkel, um genau zu zeigen, wie klein.

Miles seufzte bedauernd. »Unglücklicherweise wurde die Größe für den durchschnittlichen bis großen Kämpfer bemessen. Zu kürzen ist ein beträchtliches technisches Problem — genaugenommen arbeite ich daran noch selbst.«

»Wie gedankenlos vom Hersteller.«

»Ich stimme völlig mit Ihnen überein, Bürgerin Nu.«

Sie schaute ihn gründlicher an. Wurde ihr Lächeln jetzt etwas echter?

»Wie dem auch sei, ich ziehe es vor, sie in Großhandelsmengen zu verkaufen. Wenn Ihre Organisation das finanziell nicht schafft …«

»Es könnte jedoch eine Vereinbarung getroffen werden.«

»Auf der Stelle, hoffe ich. Ich werde bald Weiterreisen.«

Sie murmelte geistesabwesend: »Vielleicht nicht …«, dann blickte sie mit einem schnellen Stirnrunzeln auf: »Wo ist Ihr nächster Halt?«

Ungari mußte sowieso einen öffentlichen Flugplan eintragen.

»Aslund.«

»Hm … ja, wir müssen zu einer Vereinbarung kommen. Absolut.«

War das Flackern dieser blauen Augen das, was man einen Schlafzimmerblick nannte? Die Wirkung war einlullend, fast hypnotisch. Ich habe endlich eine Frau getroffen, die kaum größer ist als ich, und ich weiß nicht einmal, auf welcher Seite sie steht. Von allen Männern dürfte gerade er geringe Körpergröße nicht mit Schwäche oder Hilflosigkeit verwechseln.

»Kann ich Ihren Boss sprechen?«

»Wen?« Sie senkte ihre Augenbrauen.

»Den Mann, mit dem ich Sie beide heute morgen gesehen habe.«

»… oh. Dann haben Sie ihn also schon gesehen.«

»Vereinbaren Sie für mich ein Treffen. Kommen wir zum ernsthaften Geschäft. Betanische Dollars, denken Sie daran.«

»Erst das Vergnügen, dann die Arbeit, gewiß.« Ihr Atem streifte sein Ohr, ein schwacher, aromatischer Hauch.

Versuchte sie ihn weichzumachen. Wofür? Ungari hatte gesagt, er solle seine Tarnung nicht aufgeben. Sicherlich würde es dem Charakter von Victor Rotha entsprechen, alles zu nehmen, was er bekommen konnte. Plus zehn Prozent. »Sie brauchen das nicht zu tun«, brachte er noch hervor. Sein Herz schlug viel zu schnell.

»Ich tue nicht alles aus geschäftlichen Gründen«, schnurrte sie.

Warum in der Tat sollte sie sich die Mühe machen, einen schäbigen kleinen Waffenhändler zu verführen? Welches Vergnügen lag für sie darin? Was lag für sie darin außer Vergnügen? Vielleicht mag sie mich? Miles zuckte zusammen, als er sich vorstellte, wie er Ungari diese Erklärung anbot. Ihr Arm umschlang seinen Nacken. Seine Hand hob sich unwillkürlich, um den feinen Pelz ihrer Haare zu streicheln.

Ein höchst ästhetisches Tasterlebnis, genau, wie er es sich vorgestellt hatte …

Ihre Hand wurde fester. In einem reinen Nervenreflex sprang Miles auf die Füße. Und stand da und kam sich wie ein Idiot vor. Das war eine Liebkosung gewesen, nicht der Beginn einer Erdrosselung. Für die Hebelwirkung eines Angriffs war der Winkel völlig falsch.

Sie warf sich in dem Sitz zurück und streckte oben auf den Kissen einen schlanken Arm aus. »Victor!« Ihre Stimme klang amüsiert, ihre Augenbrauen waren hochgezogen. »Ich hatte nicht vor, Sie in den Hals zu beißen.«

Sein Gesicht war heiß. »Ich-muß-jetzt-gehen.« Er räusperte sich, um in seiner Stimme wieder der tieferen Töne Herr zu werden. Seine Hand sauste herab, um die Viddiskette aus dem Gerät zu ziehen. Ihre Hand zuckte danach, fiel dann schlaff zurück und simulierte Desinteresse.

Miles tippte auf den Türschalter.

Overholt war sofort da, als sich die Tür zur Seite gleitend öffnete.

Miles’ Inneres entspannte sich. Wenn sein Leibwächter verschwunden wäre, dann hätte Miles sofort gewußt, daß dies eine Art Falle war. Zu spät, natürlich.

»Vielleicht später«, brabbelte Miles. »Wenn Sie die Lieferung übernommen haben. Da könnten wir zusammenkommen.« Lieferung einer nicht existierenden Fracht? Was sagte er da?

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Ihr Gelächter folgte ihm den Korridor entlang. Es klang gereizt.


Miles war mit einem Ruck wach, als die Lichter in seiner Kabine angingen. Ungari stand in voller Kleidung in der Tür. Hinter ihm stand nervös und unsicher ihr Sprungpilot, nur in Unterwäsche und mit einem verschlafenen Ausdruck im Gesicht.

»Ziehen Sie sich später an«, knurrte Ungari den Piloten an. »Sorgen Sie nur dafür, daß wir vom Dock loskommen und steuern Sie uns dann über die Zehntausend-Kilometer-Grenze hinaus. Ich werde in ein paar Minuten bei Ihnen oben sein und Ihnen helfen, den Kurs festzulegen.«

Er fügte hinzu, halb zu sich selbst gesprochen: »Sobald ich weiß, wohin, zum Teufel, wir fliegen. Los, Bewegung!«

Der Pilot machte sich aus dem Staub. Ungari trat an Miles’ Bett.

»Vorkosigan, was, zum Teufel, ist in dem Zimmer im Gästequartier passiert?«

Miles kniff die Augen zusammen, sowohl gegen das grelle Licht wie auch gegen Ungaris zornigen Blick, und unterdrückte einen Impuls, sich unter der Bettdecke vor beiden zu verstecken. »Hä?« Sein Mund war noch trocken vom Schlaf.

»Ich habe gerade eine Vorwarnung bekommen — Vorwarnung von nur ein paar Minuten —, daß vom zivilen Sicherheitsbüro von Pol Sechs ein Haftbefehl für Victor Rotha ausgestellt wurde.«

»Aber ich habe die Dame doch gar nicht angefaßt!«, protestierte Miles verwirrt.

»Liga wurde ermordet in eurem Begegnungszimmer aufgefunden.«

»Was!«

»Das Sicherheitslabor hat gerade die Zeitbestimmung abgeschlossen — für etwa den Zeitpunkt, als ihr euch getroffen habt. Treffen wolltet. Der Haftbefehl wird in wenigen Minuten auf dem Netz sein, und wir werden hier eingesperrt sein.«

»Aber ich habe es nicht getan. Ich habe Liga nicht einmal getroffen, nur seinen Boss, Livia Nu. Ich meine — wenn ich so etwas getan hätte, dann hätte ich es Ihnen doch sofort gemeldet, Sir!«

»Danke«, sagte Ungari trocken. »Freut mich, das zu wissen.« Seine Stimme wurde schärfer. »Natürlich will jemand Ihnen was anhängen.«

»Wer …« Ja. Es konnte noch eine schlimmere Methode für Livia Nu gegeben haben, Liga diese äußerst geheime Viddiskette abzunehmen.

Aber wenn sie nicht Ligas Vorgesetzte war oder vielleicht überhaupt kein Mitglied seiner polianischen kriminellen Organisation, wer war sie dann? »Wir müssen mehr wissen, Sir! Dies könnte der Anfang von etwas sein.«

»Dies könnte das Ende unserer Mission sein. Verdammt! Und jetzt können wir uns nicht über Pol nach Barrayar zurückziehen. Der Weg ist abgeschnitten. Wohin als nächstes?«

Ungari ging auf und ab und dachte dabei offensichtlich laut nach. »Ich möchte nach Aslund gehen. Sein Auslieferungsvertrag mit Pol ist im Augenblick aufgehoben … aber dann sind da Ihre Komplikationen mit den Söldnern. Nachdem die jetzt Rotha mit Naismith in Verbindung gebracht haben. Dank Ihrer Nachlässigkeit.«

»Dem zufolge, was Chodak gesagt hat, glaube ich, daß man Admiral Naismith nicht unbedingt mit offenen Armen begrüßen würde«, stimmte Miles widerstrebend zu.

»Die Station des Konsortiums von Jackson’s Whole hat mit niemandem einen Auslieferungsvertrag. Ihre Tarnung ist völlig kaputt. Rotha und Naismith sind beide nutzlos. Wir müssen also zum Konsortium. Ich werde dieses Schiff dort stehenlassen, untertauchen und auf eigene Faust Richtung Aslund kehrtmachen.«

»Und was ist mit mir, Sir?«

»Sie und Overholt werden sich von mir trennen und auf den langen Weg nach Hause machen müssen.«

Nach Hause. Nach Hause in Schande.

»Sir … wegzulaufen sieht schlecht aus. Angenommen, wir rühren uns nicht vom Fleck und entlasten Rotha von der Beschuldigung? Wir wären nicht mehr abgeschnitten, und Rotha wäre immer noch eine brauchbare Tarnung. Es ist doch möglich, daß man uns genau dazu drängen will, daß wir abhauen.«

»Ich sehe nicht, wie irgend jemand etwas von meiner Quelle im polianischen zivilen Sicherheitsbüro hätte wissen können. Ich glaube, man wollte uns hier am Dock festhalten.«

Ungari schlug einmal mit seiner rechten Faust in die linke Hand, diesmal als Geste der Entschlossenheit. »Auf zum Konsortium!«

Er drehte sich um und ging hinaus. Seine Stiefeltritte stapften das Deck hinab. Eine Veränderung in der Vibration und im Luftdruck und ein etwas gedämpftes Klirren zeigten Miles an, daß ihr Schiff nun von Pol Sechs abhob.

Miles sagte laut zu der leeren Kabine: »Aber was, wenn die anderen Pläne für beide Eventualitäten haben? Ich würde sie haben.« Er schüttelte zweifelnd den Kopf und stand auf, um sich anzuziehen und Ungari zu folgen.

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