KAPITEL 16

Miles beobachtete über Vid, wie der erste Ranger in Raumrüstung den Fährenlukenkorridor der Ariel betrat. Dem vorsichtigen Vordermann folgten unmittelbar vier weitere. Sie überprüften den leeren Durchgang, der durch die geschlossenen Drucktüren, die seine beiden Enden abriegelten, zu einer Kammer geworden war. Keine Feinde, keine Ziele, nicht einmal automatische Waffen, die sie bedrohten. Eine völlig verlassene Kammer. Verwirrt nahmen die Rangers eine Verteidigungsstellung um die Fährenluke ein. Gregor trat hindurch. Miles war nicht überrascht zu sehen, daß Cavilo dem Kaiser keine Raumrüstung zur Verfügung gestellt hatte. Gregor trug eine ordentlich gebügelte Arbeitsuniform der Rangers, ohne Abzeichen, sein einziger Schutz waren seine Stiefel. Selbst die wären ganz unzulänglich, wenn eines dieser schwergepanzerten Monster ihm auf die Zehen träte.

Eine Kampfrüstung war eine großartige Sache, undurchlässig für Betäuber- und Nervendisruptorfeuer, für die meisten Gifte und biologischen Kampfstoffe, widerstandsfähig (bis zu einem gewissen Grad) gegen Plasmafeuer und Radioaktivität, vollgestopft mit intelligenter eingebauter Bewaffnung, Taktikcomputern und Telemetrie. Sehr geeignet für eine Prisenaktion. Allerdings hatte Miles tatsächlich einmal selbst die Ariel mit weniger Leuten, weniger eindrucksvoll bewaffnet und völlig ungepanzert gekapert. Damals hatte er die Überraschung auf seiner Seite gehabt.

Cavilo kam hinter Gregor herein. Sie hatte eine Raumrüstung an, jedoch trug sie im Moment ihren Helm wie einen abgeschlagenen Kopf unter dem Arm. Sie blickte in dem leeren Korridor umher und runzelte die Stirn.

»Also gut, was ist der Trick dabei?«, fragte sie laut.

»Um deine Frage zu beantworten« … Miles drückte den Knopf an der Fernsteuerungsbox in seiner Hand. Eine gedämpfte Explosion ließ den Korridor erbeben. Das Anschlußrohr wurde gewaltsam von der Fährenluke weggerissen. Die automatischen Türen, die den Druckabfall spürten, klappten sofort zu. Bloß ein Hauch von Luft entwich. Ein gutes System.

Miles hatte die Techniker angehalten, sicherzustellen, daß es richtig funktionierte, bevor sie die Richtminen in die Fährenklampen einfügten.

Er blickte auf seine Monitore. Cavilos Kampffähre taumelte von der Flanke der Ariel weg, ihre Korrekturtriebwerke und Sensoren waren von derselben Explosion beschädigt worden, die sie hinausgetrieben hatte. Ihre Waffen und in Reserve wartenden Rangers waren nutzlos, bis der Pilot, der jetzt zweifellos hektisch am Rudern war, wieder die Herrschaft über die Fluglage der Fähre gewonnen hatte. Falls er das schaffte.

»Hab ein Auge auf ihn. Bei, ich möchte nicht, daß er zurückkommt, um uns zu verfolgen«, sagte Miles über seinen Kommunikator zu Thorne, der sich im Taktikraum der Ariel befand.

»Ich kann ihn jetzt hochgehen lassen, wenn du willst.«

»Wart ein bißchen. Wir sind noch lange nicht klar hier unten.«

Jetzt helfe uns Gott.

Cavilo zog ihren Helm über, ihre überraschten Kämpfer umringten sie in einer Verteidigungsformation. Alle waren voll gerüstet — und hatten nichts, worauf sie schießen konnten. Sollen sie sich nur einen Moment beruhigen, genug, um reflexartige Schießereien zu verhindern, aber nicht genug, um sie zum Nachdenken kommen zu lassen … Miles blickte schnell auf seine eigenen Leute in Raumrüstung, sechs an der Zahl, und schloß seinen Helm. Nicht, daß Zahlen eine Rolle spielten. Eine Million Soldaten mit Nuklearwaffen, ein Kerl mit einer Keule: beide wären gleich ausreichend, wenn das Ziel eine einzige unbewaffnete Geisel war.

Die Situation zu miniaturisieren, erkannte Miles traurig, hatte keinen qualitativen Unterschied gebracht. Er konnte es immer noch großartig verpfuschen. Der Hauptunterschied war seine Plasmakanone, die den Korridor hinab gerichtet war. Er nickte Elena zu, die an der großen Waffe stand. Das war normalerweise kein Spielzeug für Innenräume, aber sie würde anstürmende Gegner in Raumrüstungen aufhalten — und den Rumpf an der gegenüberliegenden Seite aufsprengen. Miles rechnete, daß sie theoretisch aus dieser Entfernung … hm … einen von Cavilos fünf Leuten wegpusten konnten, wenn es zu einem verzweifelten Ansturm kam, bevor die Aktion ganz in einen Kampf Mann gegen Mann, oder Rüstung gegen Rüstung, überging.

»Also los«, warnte Miles über seinen Befehlskanal, »erinnert euch an die Übung.« Er drückte auf einen anderen Knopf, die Drucktüren zwischen seiner Gruppe und Cavilos Leuten begannen zur Seite zu gleiten. Langsam, nicht plötzlich, in einer Geschwindigkeit, die sorgfältig berechnet worden war, um Furcht ohne Erschrecken auszulösen.

Volle Übertragung auf allen Kanälen plus Lautsprecher. Es war absolut wesentlich für Miles’ Plan, daß er das erste Wort hatte.

»Cavilo!«, rief er. »Deaktivieren Sie Ihre Waffen und bleiben Sie stehen, oder ich atomisiere Gregor!«

Körpersprache war eine wunderbare Sache. Es war erstaunlich, wieviel Ausdruck durch die blank glänzende Oberfläche einer Raumrüstung dringen konnte. Die kleinste der gepanzerten Gestalten stand mit offenen Händen da, wie betäubt. Der Worte beraubt, wertvolle Sekunden lang auch der Reaktionen beraubt. Natürlich deshalb, weil Miles ihr gerade ihre einleitenden Worte zunichte gemacht hatte. Na, was hast du jetzt zu sagen, meine Liebe? Es war ein verzweifelter Trick.

Miles war zu dem Schluß gekommen, daß das Geiselproblem logisch unlösbar war, deshalb war es klar, daß seine einzige Chance darin bestand, daß er es zu Cavilos Problem machte, statt zu seinem eigenen.

Nun gut, er erreichte immerhin das Stehenbleiben. Aber er wollte den Stillstand nicht anhalten lassen. »Hören Sie auf damit, Cavilo! Nur ein nervöses Zucken ist nötig, um Sie von einer Kaiserbraut in jemanden ohne jegliche Bedeutung zu verwandeln. Und dann in überhaupt niemanden. Und Sie machen mich wirklich nervös.«

»Du hast gesagt, daß er ungefährlich sei«, zischte Cavilo Gregor zu.

»Seine Medikation muß geringer sein, als ich dachte«, erwiderte Gregor und blickte besorgt drein. »Nein, paß auf er blufft. Ich beweise es dir.«

Mit beiderseits offen ausgestreckten Händen ging Gregor direkt auf die Plasmakanone zu. Miles blieb hinter seiner Gesichtsscheibe der Mund offen stehen. Gregor, Gregor, Gregor …!

Gregor blickte standhaft auf Elenas Gesichtsscheibe. Sein Schritt wurde nicht langsamer und geriet nicht ins Stocken. Er blieb erst stehen, als seine Brust die wulstige Mündung der Kanone berührte. Es war ein außerordentlich dramatischer und eindrucksvoller Augenblick.

Miles war so in der Würdigung dieser Situation versunken, daß er etwas länger brauchte, um seinen Finger ein paar verschwindend wenige Zentimeter zu bewegen und den Knopf an seiner Steuerbox zu drücken, der die Drucktüren schloß.

Das Schott war nicht für langsames Schließen programmiert worden, es knallte schneller zu, als das Auge folgen konnte. Kurze Geräusche von Plasmafeuer auf der anderen Seite, Rufe — Cavilo schrie einen ihrer Männer an, gerade rechtzeitig, um ihn von dem fatalen Fehler abzuhalten, eine Mine gegen die Wand eines geschlossenen Raumes abzufeuern, in dem er sich selber aufhielt. Dann herrschte Schweigen.

Miles ließ sein Plasmagewehr fallen und riß seinen Helm herunter. »Allmächtiger Gott, das hatte ich nicht erwartet. Gregor, du bist ein Genie.«

Gregor hob sanft einen Finger und schob die Mündung der Plasmakanone zur Seite.

»Hab keine Angst«, sagte Miles. »Keine unserer Waffen ist geladen. Ich wollte keinen Unfall riskieren.«

»Ich war mir fast sicher, daß es so war«, murmelte Gregor. Er blickte über die Schultern auf die Drucktüren zurück. »Was hättest du gemacht, wenn ich mich nicht in Bewegung gesetzt hätte?«

»Weiter geredet. Verschiedene Kompromisse ausprobiert. Ich hatte noch einen Trick oder zwei … hinter der anderen Drucktür ist ein Kommando mit geladenen Waffen. Am Ende, wenn sie nicht anbiß, wäre ich bereit gewesen, aufzugeben.«

»Genau das hatte ich befürchtet.«

Einige seltsame gedämpfte Geräusche drangen durch die Drucktür.

»Elena, übernimm du«, sagte Miles. »Räum auf. Fang Cavilo lebend, wenn möglich, aber ich möchte nicht, daß irgendwelche Dendarii bei dem Versuch ums Leben kommen. Geh kein Risiko ein. Vertrau auf nichts, was sie sagt.«

»Ich habe kapiert.« Elena salutierte schwungvoll und gab ihrem Kommando ein Zeichen. Die Leute traten zur Seite, um ihre Waffen zu laden. Elena begann über den Befehlskanal mit dem Anführer des zweiten Kommandos zu beraten, das auf Cavilos anderer Seite wartete, und mit dem Kommandanten der Kampffähre der Ariel, die sich aus dem Raum näherte.

Miles führte Gregor durch den Korridor, um ihn so schnell wie möglich aus dem Gebiet des möglichen Durcheinanders zu entfernen. »In den Taktikraum, und dann werde ich dich informieren. Du mußt einige Entscheidungen treffen.«

Sie betraten ein Liftrohr und fuhren aufwärts. Mit jedem Meter, um den die Entfernung zwischen Gregor und Cavilo zunahm, atmete Miles leichter.

»Meine größte Sorge«, sagte Miles, »bis wir persönlich miteinander sprachen, war, daß Cavilo wirklich gelungen war, was sie glaubte getan zu haben, nämlich deinen Geist zu vernebeln. Ich konnte nicht erkennen, woher sie ihre Ideen haben sollte, wenn nicht von dir. Ich war nicht sicher, was ich in diesem Fall tun konnte, außer mitzuspielen, bis ich dich an höhere Experten auf Barrayar weitergeben konnte. Wenn ich überlebte. Ich wußte nicht, wie schnell du sie durchschauen würdest.«

»Oh, sofort«, sagte Gregor und zuckte die Achseln. »Sie hatte das gleiche hungrige Lächeln im Gesicht, das Vordrozda zu zeigen pflegte. Und seit ihm ein Dutzend zweitrangiger Kannibalen. Einen machthungrigen Schmeichler kann ich jetzt schon auf tausend Meter Entfernung riechen.«

»Ich ergebe mich meinem Meister der Strategie«, Miles gepanzerte Hand machte die Andeutung eines Kniefalls. »Weißt du, daß du dich selbst gerettet hast? Sie hätte dich den ganzen Weg mit nach Hause genommen, wenn ich nicht vorbeigekommen wäre.«

»Es war leicht.« Gregor runzelte die Stirn. »Voraussetzung war nur, daß ich überhaupt keine persönliche Ehre habe.« Der Blick aus Gregors Augen war todernst, erkannte Miles, bar jeden Triumphs.

»Man kann einen ehrlichen Menschen nicht betrügen«, sagte Miles unsicher. »Oder eine ehrliche Frau. Was hättest du getan, wenn sie dich heimgebracht hätte?«

»Das hängt davon ab.« Gregor starrte in die Ferne. »Wenn es ihr gelungen wäre, dich umzubringen, dann hätte ich sie vermutlich hinrichten lassen.«

Gregor blickte zurück, als sie aus dem Liftrohr traten. »Das ist besser. Vielleicht … vielleicht gibt es einen Weg, ihr eine faire Chance zu geben.«

Miles blinzelte. »Ich wäre sehr vorsichtig damit, Cavilo überhaupt irgendeine Art von Chance zu geben, wenn ich du wäre. Ich würde sie nicht einmal mit einer Zange anfassen. Verdient sie eine Chance? Weißt du wirklich, was los ist, wie viele sie verraten hat?«

»Zum Teil. Und doch …«

»Doch was?«

Gregors Stimme wurde so leise, daß sie fast unhörbar wurde: »Ich wünschte mir, sie wäre echt gewesen.«


»… und das ist die gegenwärtige taktische Situation in der Nabe und im Lokalraum von Vervain, soweit meine Informationen reichen«, schloß Miles seine Darstellung für Gregor. Sie hatten den Besprechungsraum der Ariel ganz für sich allein, Arde Mayhew stand Wache im Korridor.

Miles hatte mit seinem Schnellüberblick begonnen, als Elena berichtete, daß die feindliche Entermannschaft erfolgreich hinter Schloß und Riegel gebracht war. Er hatte nur eine Pause gemacht, um sich aus seiner schlecht sitzenden Rüstung zu schälen und wieder seine graue Dendari-Uniform anzuziehen. Die Rüstung hatte er eilends von derselben Soldatin geliehen, die ihm schon vorher mit Kleidung ausgeholfen hatte, und die Installationen waren notgedrungenermaßen nicht angeschlossen gewesen.

Miles hielt das Holoviddisplay in der Mitte des Tisches an. Könnte er doch auch die echte Zeit und die Ereignisse mit dem Tippen auf eine Taste anhalten, um ihr schreckliches Vorwärtsstürmen aufzuhalten.

»Du wirst feststellen, daß unsere größten Wissenslücken bei den genauen Informationen über die cetagandanischen Streitkräfte liegen. Ich hoffe, daß die Vervani einige dieser Lücken füllen werden, wenn wir sie überzeugen können, daß wir ihre Verbündeten sind, und daß die Rangers noch mehr Informationen übergeben werden. Auf die eine oder andere Weise.

Nun — Majestät — liegt die Entscheidung bei dir. Kämpfen oder fliehen? Ich kann die Ariel jetzt unmittelbar von den Dendarii abziehen, um dich heimzubringen, und das wäre eine geringe Einbuße bei diesem heißen und schmutzigen Wurmlochkampf. Feuerkraft und Panzerung werden dort gefragt sein, nicht Schnelligkeit. Es gibt wenig Zweifel daran, wofür mein Vater und Illyan stimmen würden.«

»Nein.« Gregor bewegte sich. »Andrerseits sind sie nicht hier.«

»Stimmt. Im Gegensatz dazu, um das gegenteilige Extrem zu nehmen, willst du der Oberbefehlshaber in dem Schlamassel sein? Sowohl dem Namen nach als auch de facto?«

Gregor lächelte sanft. »Was für eine Versuchung. Aber meinst du nicht, es wäre eine gewisse … äh … Hybris, die Führerschaft im Kampf zu übernehmen, ohne vorher Gefolgschaft im Kampf gelernt zu haben?«

Miles errötete leicht. »Ich — hm! — war mit einem ähnlichen Dilemma konfrontiert. Du hast die Lösung getroffen, sie heißt Ky Tung. Wir werden uns mit ihm beraten, wenn wir später wieder auf der Triumph sind.« Miles hielt inne. »Es gibt noch ein paar andere Dinge, die du für uns tun könntest. Wenn du das willst. Echte Dinge.«

Gregor rieb sich das Kinn und betrachtete Miles so, wie er auch ein Spiel beobachten würde. »Heraus damit, Lord Vorkosigan.«

»Legitimiere die Dendarii. Präsentiere sie den Vervani als die barrayaranische Eingreiftruppe. Ich kann nur bluffen. Dein Wort ist Gesetz. Du kannst einen rechtlich bindenden Verteidigungspakt zwischen Barrayar und Vervain schließen — mit Aslund auch, wenn wir sie dazu bewegen können. Dein größter Wert ist — tut mir leid — diplomatisch, nicht militärisch. Geh auf die Vervain-Station und verhandle mit diesen Leuten. Und ich meine wirklich verhandeln.«

»Sicher hinter der Front«, bemerkte Gregor trocken.

»Hinter der Front ist das nur, wenn wir auf der anderen Seite des Wurmlochsprungs gewinnen. Wenn wir verlieren, dann kommt die Front zu dir.«

»Ich wünschte mir, ich könnte ein Soldat sein. Ein einfacher Leutnant mit nur einer Handvoll Leute, für die ich sorgen müßte.«

»Es gibt keinen moralischen Unterschied zwischen einem und zehntausend, das versichere ich dir. Du bist genauso verdammt, egal wie viele du in den Tod schickst.«

»Ich möchte beim Kampf dabei sein. Vielleicht die einzige Chance für echtes Risiko, die ich in meinem Leben haben werde.«

»Was, das Risiko, das du jeden Tag von Seiten verrückter Attentäter hast, ist noch nicht genügend Nervenkitzel für dich? Du willst mehr?«

»Aktiv. Nicht passiv. Echten Dienst.«

»Wenn — nach deinem Urteil — der beste und stärkste Dienst, den du allen anderen leisten kannst, die hier ihr Leben riskieren, in der Aufgabe eines niedrigen Frontoffiziers besteht, dann werde ich dich natürlich nach meinen besten Möglichkeiten unterstützen«, sagte Miles düster.

»Autsch«, murmelte Gregor. »Du kannst einem einen Satz herumdrehen wie ein Messer, weißt du das?« Er hielt inne. »Verträge, ja?«

»Wenn Sie so freundlich wären, Majestät.«

»Oh, hör auf«, seufzte Gregor. »Ich werde die Rolle übernehmen, die mir zugeteilt ist. Wie immer.«

»Ich danke dir.« Miles dachte daran, eine Entschuldigung anzubieten, einen Trost, dann besann er sich eines besseren. »Der andere Joker im Spiel sind Randall’s Rangers. Die jetzt, wenn ich mich nicht ganz irre, in beträchtlicher Unordnung sein dürften. Ihr stellvertretender Kommandant ist verschwunden, ihre Kommandantin ist beim Beginn der Aktion desertiert — wie kam es übrigens, daß die Vervani sie weggehen ließen?«

»Sie sagte ihnen, sie würde hinausfahren, um sich mit dir zu beraten — dabei gab sie zu verstehen, daß sie dich irgendwie in ihre Truppe eingegliedert hätte. Sie sollte danach mit ihrem Schnellkurier direkt auf die heiße Seite springen.«

»Hm. Sie mag unabsichtlich uns den Weg bereitet haben — leugnet sie eine Verstrickung mit den Cetagandanern?«

»Die Vervani haben, glaube ich, noch nicht kapiert, daß die Rangers den Cetagandanern das Tor öffnen. Zu dem Zeitpunkt, als wir die Vervain-Station verließen, schrieben sie den Mißerfolg der Rangers bei der Verteidigung des Wurmlochsprungs auf der Seite nach Cetaganda hin noch deren Unfähigkeit zu.«

»Vermutlich unterstützen viele Indizien diesen Eindruck. Ich bezweifle, daß die Masse der Rangers von dem Verrat wußte, sonst hätte er nicht so lang geheim bleiben können. Und welcher innere Kader auch immer mit den Cetas zusammenarbeitete, er wurde im Ungewissen gelassen, als Cavilo unvermittelt auf ihren Kaiserinnentrip ging. Erkennst du, Gregor, daß du dies gemacht hast? Die cetagandanische Invasion eigenhändig sabotiert?«

»Oh«, flüsterte Gregor, »es waren beide Hände dazu nötig.«

Miles beschloß, dieses Thema nicht zu vertiefen. »Auf jeden Fall müssen wir die Rangers loseisen — wenn wir können. Sie unter Kontrolle bekommen, oder wenigstens aus ihrer Stellung hinter dem Rücken aller anderen herausholen.«

»Sehr gut.«

»Ich schlage eine Runde des Spiels vom guten Kerl und vom bösen Buben vor. Ich übernehme gern die Rolle des bösen Buben.«


Cavilo wurde von zwei Männern mit Handtraktoren hereingebracht. Sie trug noch ihre Raumrüstung, die jetzt verschandelt und verkratzt war.

Ihr Helm war weg. Die Waffenhüllen waren entfernt, die Steuersysteme abgeschaltet und die Gelenke blockiert, wodurch aus der Rüstung ein hundert Kilo schweres Gefängnis geworden war, eng wie ein Sarkophag. Die beiden Dendarii-Soldaten stellten sie am Ende des Konferenztisches aufrecht hin und traten schwungvoll zurück. Eine Statue mit einem lebendigen Kopf, an der eine Metamorphose nach Art von Pygmalion unterbrochen worden und schrecklich unvollständig geblieben war.

»Danke, meine Herren, Sie können gehen«, sagte Miles.

»Oberstleutnant Bothari-Jesek, bleiben Sie bitte.«

Cavilo drehte ihren kurzgeschorenen blonden Kopf in vergeblichem Widerstand, es war die einzige Bewegung, die ihr jetzt physisch möglich war.

Sie blickte wütend auf Gregor, als die Soldaten hinausgingen. »Du Schlange«, knurrte sie, »du Scheißkerl.«

Gregor saß da, mit den Ellbogen auf dem Konferenztisch, das Kinn auf die Hände gestützt. Er hob den Kopf, um müde zu sagen: »Kommandantin Cavilo, meine Eltern sind beide aufgrund politischer Intrigen gewaltsam ums Leben gekommen, bevor ich sechs Jahre alt war. Eine Tatsache, die Sie hätten in Erfahrung bringen können. Glaubten Sie, Sie hätten es mit einem Amateur zu tun?«

»Sie waren von Anfang auf Abwegen, Cavilo«, sagte Miles und ging langsam um sie herum, als nehme er seinen Preis in Augenschein. Sie drehte den Kopf, um ihn im Auge zu behalten, dann mußte sie ihn schnell auf die andere Seite wenden, um Miles’ Kreisbahn zu folgen. »Sie hätten sich an Ihren ursprünglichen Kontrakt halten sollen. Oder an Ihren zweiten Plan. Oder den dritten. Sie hätten sich genaugenommen an irgend etwas halten sollen. Egal was. Ihr totaler Eigennutz machte Sie nicht stark, er machte Sie zu einem Fetzen im Wind, den jeder beliebige aufheben konnte. Nun meint Gregor — jedoch nicht ich —, Sie sollten eine Chance haben, Ihr wertloses Leben zu verdienen.«

»Sie haben nicht dem Mumm, mich zur Luftschleuse hinauszustoßen.« Vor Wut waren ihre Augen zu engen Schlitzen geworden.

»Das hatte ich nicht geplant.«

Da es ihr sichtlich Gänsehaut bereitete, umkreiste Miles sie aufs neue. »Nein. Wenn ich in die Zukunft schaute — wo alles vorbei ist —, so dachte ich, ich könnte Sie den Cetagandanern übergeben. Ein Leckerbissen für die Vertragsverhandlungen, der uns nichts kostet und uns helfen würde, sie freundlich zu stimmen. Ich nehme an, sie werden nach Ihnen lechzen, meinen Sie nicht auch?«

Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Die Sehnen traten an ihrem zarten Hals hervor.

Darauf sagte Gregor: »Aber wenn Sie das tun, was wir verlangen, dann werde ich Ihnen sicheres Geleit aus der Hegen-Nabe hinaus zusichern, über Barrayar. Zusammen mit allen überlebenden Resten Ihrer Truppe, die Ihnen noch folgen. Das gibt Ihnen einen Vorsprung von zwei Monaten gegenüber der cetagandanischen Rache für dieses Debakel.«

»Tatsächlich«, warf Miles ein, »könnten Sie, wenn Sie Ihren Part spielen, aus dieser Geschichte sogar als Heldin hervorgehen. Was für ein Spaß!«

Der düstere Blick, mit dem Gregor ihn bedachte, war nicht gänzlich gespielt.

»Ich werde Sie kriegen«, keuchte Cavilo Miles zu.

»Das ist das beste Angebot, das Sie heute bekommen werden. Leben. Rettung. Ein neuer Beginn, weit weg von hier — sehr weit weg von hier. Dafür wird Simon Illyan sorgen. Weit weg, aber nicht unbeobachtet.«

Berechnung begann die Wut in ihren Augen einzuschränken. »Was wollt ihr von mir?«

»Nicht viel. Übergeben Sie alle Kontrolle, die Sie noch über Ihre Truppe haben, an einen Offizier unserer Wahl. Wahrscheinlich an einen Verbindungsoffizier von Vervain, denn schließlich bezahlen die Sie ja. Sie werden Ihren Ersatzmann in Ihre Befehlskette einführen und sich dann für die Dauer der Reise in die Sicherheit des Schiffsgefängnisses der Triumph zurückziehen.«

»Es wird keine überlebenden Reste der Rangers geben, wenn das alles um ist!«

»Diese Möglichkeit besteht«, gestand Miles zu. »Sie waren drauf und dran, alle wegzuwerfen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich nicht eine Wahl anbiete zwischen diesem Vorschlag und einem besseren Handel. Entweder dies oder die Cetagandaner — deren Billigung von Verrat sich strikt auf diejenigen beschränkt, die zu Gunsten der Cetagandaner handeln.«

Cavilo blickte drein, als wollte sie ausspucken, aber sie sagte: »Also gut. Ich ergebe mich. Sie haben Ihren Handel.«

»Danke.«

»Aber Sie …« — ihre Augen waren Splitter von blauem Eis, ihre Stimme leise und giftig — »Sie werden lernen, kleiner Mann. Sie haben heute Oberwasser, aber die Zeit wird Sie herunterbringen. Ich würde sagen, warten Sie einfach zwanzig Jahre, aber ich bezweifle, daß Sie so lange leben werden. Die Zeit wird Sie lehren, wieviel Nichts Ihnen Ihre Loyalitäten einbringen. Der Tag, an dem man Sie schließlich zermalmen und ausspucken wird — es tut mir einfach leid, daß ich nicht dabei sein werde, um ihn zu erleben, denn man wird Hackfleisch aus Ihnen machen.«

Miles rief die Soldaten wieder herein. »Bringt sie weg!« Es war fast eine Bitte. Als sich die Tür hinter der Gefangenen und ihren Trägern schloß, wandte er sich um und fand Elenas Augen auf sich gerichtet.

»Gott, diese Frau macht mich frösteln«, sagte er zitternd.

»So?«, bemerkte Gregor, immer noch mit den Ellbogen auf dem Tisch.

»Aber auf eine unheimliche Weise scheint ihr miteinander zurechtzukommen. Ihr denkt auf die gleiche Weise.«

»Gregor!«, protestierte Miles. »Elena?«, rief er um eine Gegenstimme.

»Ihr seid beide ganz schön verdreht«, sagte Elena voller Zweifel. »Und … hm … klein.«

Als Miles sie mit zusammengepreßten Lippen wütend anschaute, erklärte sie: »Die Ähnlichkeit besteht mehr in der Verhaltensweise als im Wesen. Wenn du verrückt nach Macht wärst anstelle von, von …«

»Einer anderen Art von Verrücktheit, ja, fahr fort!«

»… dann könntest du Ränke schmieden wie sie. Du schienst es irgendwie zu genießen, herauszubringen, was sie denkt.«

»Ich sollte wohl danke sagen.« Er machte einen Buckel. War es wahr? Konnte er in zwanzig Jahren so sein? Krank vor Zynismus und unterdrückter Wut, ein abgekapseltes Ich, das nur von Gewalt, Machtspielen, Herrschaft erregt wurde, eine gepanzerte Rüstung mit einem verwundeten Tier drinnen?

»Kehren wir zur Triumph zurück«, sagte er kurz angebunden, »wir haben alle eine Arbeit zu erledigen.«


Miles ging ungeduldig an der Breitseite von Admiral Osers Kabine auf der Triumph auf und ab. Gregor lehnte schief an der Ecke des Komkonsolenpults und beobachtete sein Hin und Her.

»Natürlich werden die Vervani mißtrauisch sein, aber mit den Cetagandanern im Nacken werden sie den echten Willen haben, uns zu glauben. Und mit uns zu verhandeln. Du wirst es so attraktiv wie möglich machen wollen, um die Dinge schnell zum Abschluß zu bringen, aber natürlich gibst du nicht mehr preis, als du mußt …«

Gregor sagte trocken: »Vielleicht würdest du gern mitkommen und meinen Holoprompter bedienen?«

Miles blieb stehen und räusperte sich. »Tut mir leid. Ich weiß, du weißt mehr über Verträge als ich. Ich … plappere manchmal, wenn ich nervös bin.«

»Ja, das weiß ich.«

Miles gelang es, seinen Mund zu halten, bis der Kabinensummer ertönte. Seine Füße konnte er allerdings nicht stillhalten.

»Die Gefangenen, wie befohlen, Sir«, meldete Sergeant Chodaks Stimme über die Bordsprechanlage.

»Danke sehr, kommen Sie herein.« Miles lehnte sich über den Tisch und drückte den Türöffner.

Chodak und sein Trupp brachten Hauptmann Ungari und Sergeant Overholt in die Kabine. Die Gefangenen waren tatsächlich genau so hergerichtet, wie Miles es befohlen hatte: gewaschen, rasiert, gekämmt und in frisch gebügelte graue DendariiUniformen mit den entsprechenden Rangabzeichen gekleidet. Wegen letzterem waren sie auch spürbar sauer und feindselig.

»Danke, Sergeant, Sie und Ihre Leute können gehen.«

»Gehen?« Chodaks Augenbrauen zeigten, daß er die Klugheit dieser Maßnahme anzweifelte. »Sind Sie sicher, daß wir uns nicht wenigstens auf dem Korridor bereithalten sollen, Sir? Erinnern Sie sich an letztesmal.«

»Diesmal wird es nicht nötig sein.«

Ungaris zorniger Blick strafte diese lässige Behauptung Lügen. Chodak zog sich voller Zweifel zurück und hielt seinen Betäuber ständig auf die beiden gerichtet, bis die Tür sich schloß und ihm die Sicht nahm.

Ungari holte tief Luft. »Vorkosigan! Sie meuterischer kleiner Mutant, ich werde dafür sorgen, daß Sie vors Kriegsgericht kommen, daß Sie gehäutet werden, ausgestopft und aufgehängt für diese …«

Sie hatten noch nicht den schweigenden Gregor bemerkt, der immer noch über die Komkonsole gebeugt war und auch eine geliehene graue Dendarii-Uniform trug, allerdings ohne Abzeichen, da es bei den Dendarii kein Äquivalent für Kaiser gab.

»Mm, Sir …« Miles lenkte den Blick des düster dreinblickenden Hauptmanns auf Gregor.

»Diese Empfindungen werden von so vielen Leuten geteilt, Hauptmann Ungari, daß ich fürchte, Sie werden sich an einer Schlange anstellen müssen und warten, bis Sie drankommen«, bemerkte Gregor und lächelte leicht.

Die restliche Luft wich tonlos aus Ungari. Er nahm Haltung an; zu seinen Gunsten ist zu sagen, daß unter den wild sich mischenden Gefühlen, die sich auf seinem Gesicht abzeichneten, eine tiefe Erleichterung die Oberhand gewann. »Majestät!«

»Ich bitte um Verzeihung, Hauptmann«, sagte Miles, »daß ich Sie und Sergeant Overholt so eigenmächtig behandelt habe, aber ich betrachtete meinen Plan zur Rettung Gregors zu … hm … delikat für … für …« Ihre Nerven. »Ich dachte, ich sollte lieber die persönliche Verantwortung übernehmen.« Sie waren glücklicher dran, daß Sie nicht dabei zuschauen mußten, wirklich. Und ich war glücklicher dran, daß ich nicht ständig gegen den Ellbogen gestoßen wurde.

»Für Operationen dieser Größe haben Fähnriche keine persönliche Verantwortung, jedoch ihre Kommandanten«, knurrte Ungari. »Wie Simon Illyan Ihnen als erster dargelegt haben würde, wenn Ihr Plan — wie delikat er auch immer sein mochte — mißlungen wäre …«

»Also, dann meinen Glückwunsch, Sir: Sie haben soeben den Kaiser befreit«, versetzte Miles. »Der, als Ihr Oberbefehlshaber, ein paar Befehle für Sie hat, wenn Sie ihm erlauben, zu Wort zu kommen.«

Ungari biß die Zähne aufeinander. Mit sichtlicher Bemühung zog er seine Aufmerksamkeit von Miles ab und richtete sie auf Gregor.

»Majestät?«

Gregor sagte: »Als die einzigen Mitglieder des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes im Umkreis von ein paar Millionen Kilometern — abgesehen von Fähnrich Vorkosigan, der andere Aufgaben hat — unterstelle ich Sie und Sergeant Overholt meiner Person, bis wir Kontakt mit unseren Verstärkungen aufnehmen. Ich kann auch Kurierdienste von Ihnen verlangen. Bevor wir die Triumph verlassen, teilen Sie bitte alle einschlägigen Informationen, über die Sie vielleicht verfügen, der Führung der Dendarii mit, die sind jetzt meine Kaiserlichen … äh …«

»Gehorsamsten Diener«, schlug Miles flüsternd vor.

»Streitkräfte«, schloß Gregor. »Betrachten Sie diese graue Uniform« — Ungari blickte an seiner mit Widerwillen hinunter — »als vorschriftsmäßige Dienstkleidung, und respektieren Sie sie entsprechend. Sie werden ohne Zweifel Ihre grüne Uniform zurückbekommen, wenn ich meine auch zurückkriege.«

Miles warf ein: »Ich werde den leichten Kreuzer Ariel der Dendarii und das schnellere unseren beiden Eilkurierschiffe für Gregors persönlichen Dienst abstellen, wenn ihr nach der Vervain-Station abfliegt. Wenn Sie sich wegen Kurierpflichten trennen müssen, dann schlage ich vor, daß Sie das kleinere Schiff nehmen und die Ariel Gregor überlassen. Ihr Kapitän, Bei Thorne, ist mein zuverlässigster Kapitän unter den Dendarii.«

»Denkst du immer noch an meine Rückzugslinie, hm, Miles?«, fragte Gregor und hob die Augenbrauen.

Miles verbeugte sich leicht. »Wenn die Dinge ganz schiefgehen, dann muß jemand überleben, um uns zu rächen. Nicht zu vergessen, es muß auch unbedingt sichergestellt werden, daß die überlebenden Dendarii ihren Sold kriegen. Soviel schulden wir Ihnen, meine ich.«

»Ja«, sagte Gregor sanft.

»Ich habe auch meinen persönlichen Bericht über die jüngsten Ereignisse parat, den Sie an Simon Illyan abliefern sollen«, fuhr Miles fort, »für den Fall, daß ich … — für den Fall, daß Sie ihn vor mir sehen.«

Miles überreichte Ungari eine Datendiskette.

Ungari blickte verwirrt drein angesichts dieser schnellen Umkehr seiner Prioritäten. »Vervain-Station? Auf Pol Sechs sind Sie sicher, bestimmt, Majestät.«

»Auf der Vervain-Station erwartet mich meine Pflicht, Hauptmann, und wohl oder übel auch Sie die ihre. Kommen Sie mit. Ich werde Ihnen alles unterwegs erklären.«

»Lassen Sie Vorkosigan frei herumlaufen?« Ungari warf Miles einen kritischen Blick zu. »Mit diesen Söldnern? Ich habe ein Problem damit, Majestät.«

»Es tut mir leid, Sir«, sagte Miles zu Ungari, »ich kann nicht, kann nicht …« Ihnen gehorchen, aber Miles ließ dies ungesagt. »Ich habe ein größeres Problem, wenn ich für diese Söldner einen Kampf vorbereite und mich dann, wenn es losgeht, dabei nicht sehen lasse. Ein Unterschied zwischen mir und … der früheren Kommandantin der Rangers. Es muß einen Unterschied zwischen uns geben, vielleicht ist es das. Gre… — der Kaiser versteht es.«

»Hm«, sagte Gregor. »Ja. Hauptmann Ungari, ich ernenne Fähnrich Vorkosigan zu unserem Verbindungsoffizier zu den Dendarii. Unter meiner persönlichen Verantwortung. Was selbst für Sie ausreichend sein sollte.«

»Nicht ich bin es, für den es ausreichend sein muß, Majestät!«

Gregor zögerte kurz. »Dann in den besten Interessen von Barrayar. Ein ausreichendes Argument selbst für Simon. Gehen wir, Hauptmann.«

»Sergeant Overholt«, fügte Miles hinzu, »Sie werden des Kaisers persönlicher Leibwächter und Kammerdiener sein, bis Sie abgelöst werden.«

Overholt sah alles andere als erleichtert aus ob dieser abrupten Beförderung im Dienst.

»Sir«, flüsterte er verstohlen Miles zu, »ich habe den Fortgeschrittenenkurs noch nicht absolviert!«

Er bezog sich damit auf Simon Illyans obligatorischen, von ihm persönlich geführten Sicherheitskurs für die Palastwachen, die Gregors normaler Sicherheitsmannschaft diesen harten Schliff gab.

»Wir alle haben hier ein ähnliches Problem, Sergeant, glauben Sie mir«, murmelte Miles zurück. »Tun Sie Ihr Bestes.«

Der Taktikraum der Triumph war von lebhafter Aktivität erfüllt, jeder Stuhl war besetzt, jedes Holovid-Display leuchtete mit den Darstellungen von Schiffen und taktischen Veränderungen. Miles stand neben Tung und fühlte sich doppelt überflüssig. Er erinnerte sich an den Kalauer von der Akademie:

Regel 1) Überstimme den Taktikcomputer nur, wenn du etwas weißt, was er nicht weiß.

Regel 2) Der Taktikcomputer weiß immer mehr als du.

War das der Kampf? Dieser gedämpfte Raum, ein Wirbel von Lichtern, diese gepolsterten Stühle? Vielleicht war die Distanz eine gute Sache für Kommandanten. Sein Herz pochte sogar jetzt. Ein Taktikraum dieses Kalibers konnte Informationsüberlastung und Gedankensperre verursachen, wenn man es zuließ. Der Trick bestand darin, herauszunehmen, was wichtig war, und niemals zu vergessen, daß die Landkarte nicht die Wirklichkeit war.

Seine Aufgabe hier, erinnerte sich Miles, war nicht zu befehlen. Sie bestand darin, Tung beim Kommandieren zu beobachten und zu lernen, wie er es tat, seine Denkmethoden, die vom barrayaranischen Akademiestandard abwichen. Der einzige Moment, wo Miles Tung legitim überstimmen durfte, könnte kommen, wenn irgendeine äußere politisch/strategische Notwendigkeit Vorrang hätte vor innerer taktischer Logik. Miles betete darum, daß dieses Ereignis nicht einträte, denn ein kürzerer und häßlicherer Name dafür war ›die eigenen Truppen verraten‹.

Miles’ Aufmerksamkeit nahm zu, als ein kleiner Sprungaufklärer an der Mündung des Wurmloches aufblinkte. Auf dem Taktikdisplay war er ein rosafarbener Lichtpunkt in einem langsam sich bewegenden Strudel von Dunkelheit. Auf einem Teleschirm war es ein schlankes Schiff vor unbewegten fernen Sternen. Vom Standpunkt des eigenen Piloten, der mit ihm verkabelt war, stellte das Schiff eine seltsame Erweiterung seines eigenen Körpers dar. Auf einem weiteren Viddisplay war es eine Sammlung telemetrischer Anzeigen, Numerologie, ein platonisches Ideal.

Was davon ist die Wahrheit? Alles. Nichts. »Haiköder Eins meldet an Flotte Eins«, erklang die Stimme des Piloten über Tungs Konsole. »Sie haben zehn Minuten Durchflugerlaubnis. Halten Sie sich bereit für den Dichtstrahlimpuls!«

Tung sprach in seinen Kommunikator: »Flotte beginnt Sprung, dicht hintereinander in numerischer Reihenfolge.« Das erste Dendarii-Schiff, das an dem Wurmloch wartete, ging in Ausgangsstellung, leuchtete auf dem Taktikdisplay hell auf (obwohl es auf dem Televid nichts zu tun schien) und verschwand. Ein zweites Schiff folgte nach dreißig Sekunden und reduzierte damit die Sicherheitsgrenze für die Zeitspanne zwischen zwei Sprüngen extrem. Wenn zwei Schiffe versuchten, am selben Ort zur selben Zeit zu rematerialisieren, dann wäre das Ergebnis: keine Schiffe, aber eine riesige Explosion.

Als die von Haiköder per Dichtstrahl übermittelten Telemetriedaten von dem Taktikcomputer verarbeitet waren, rotierte das Displaybild so, daß der dunkle Strudel, der das Wurmloch repräsentierte (aber keineswegs abbildete), plötzlich von einem Ausgangs-Strudel gespiegelt wurde. Jenseits dieses Ausgangs repräsentierte eine Anordnung von Punkten, Flecken und Linien Schiffe, die flogen, manövrierten, feuerten und flohen, die gepanzerte Kampfstation der Vervani auf der Heimatseite, Zwilling der Station auf der Nabenseite, wo Miles Gregor zurückgelassen hatte, die cetagandanischen Angreifer. Endlich ein Blick auf ihr Ziel. Alles war natürlich nicht mehr aktuell, um Minuten veraltet.

»Pfui Teufel«, kommentierte Tung. »Was für ein Durcheinander. Jetzt geht’s los …«

Die Sprungsirene ertönte. Jetzt war die Triumph an der Reihe. Miles griff nach der Lehne von Tungs Stuhl, obwohl er rational wußte, daß die Empfindung von Bewegung illusorisch war. Ein Wirbel von Träumen schien seinen Geist zu umwölken, einen Augenblick lang, eine Stunde lang, es war unmeßbar. Der Ruck in seinem Bauch und die darauf folgende scheußliche Welle von Übelkeit waren alles andere als traumhaft. Der Sprung hinüber. Einen Augenblick herrschte Schweigen im ganzen Raum, als die anderen sich bemühten, ihre Desorientierung zu überwinden. Dann ging das Gemurmel dort weiter, wo es aufgehört hatte. Willkommen in Vervain. Nehmen Sie einen Wurmlochsprung zur Hölle.

Das Taktikdisplay drehte und veränderte sich, nahm neue Daten auf, zentrierte sein kleines Universum aufs neue. Ihr Wurmloch wurde gegenwärtig von seiner umlauerten Station und einer dünnen und angeschlagenen Kette von vervanischen Schiffen und von Vervani kommandierten Rangerschiffen bewacht. Die Cetagandaner hatten ihnen schon einmal einen Schlag versetzt, waren abgeschlagen worden und schwebten jetzt außerhalb der Reichweite, wo sie auf Verstärkungen für den nächsten Schlag warteten. Cetagandanischer Nachschub strömte vom anderen Wurmloch aus durch das System von Vervain.

Das andere Wurmloch war schnell gefallen. Aus der Perspektive des Angreifers war es der einzige Zugang. Obwohl den Cetagandanern mit ihrem massiven Erstschlag eine vollkommene Überraschung gelungen war, hätten die Vervani sie vielleicht stoppen können, wenn drei Ranger-Schiffe nicht anscheinend ihre Befehle mißverstanden und den Kampf nicht abgebrochen hätten, als sie einen Gegenangriff starten sollten. Aber die Cetagandaner hatten ihren Brückenkopf gesichert und begannen durchzuströmen.

Das zweite Wurmloch, Miles’ Wurmloch, war besser für die Verteidigung ausgerüstet gewesen — bis die in Panik geratenen Vervani alles abgezogen hatten, was entbehrt werden konnte, um den Bereich des hohen Orbits um ihre Heimatwelt zu schützen. Miles konnte ihnen kaum einen Vorwurf machen, beide Optionen stellten eine schwere strategische Entscheidung dar. Aber jetzt brausten die Cetagandaner praktisch ungehindert durch das System. Sie übersprangen den massiv geschützten Planeten in einem kühnen Versuch, das Hegen-Wurmloch zu erobern, wenn nicht durch Überraschung, dann wenigstens durch Geschwindigkeit.

Die erste Methode zum Angriff auf ein Wurmloch, die zur Auswahl stand, war List, Bestechung und Infiltration, d. h. Betrug. Die zweite, zu deren Ausführung auch List bevorzugt wurde, bestand in einem Umweg, indem man Streitkräfte über eine andere Route (wenn es sie gab) in den umstrittenen Lokalraum schickte. Die dritte war, einen Angriff mit einem Opferschiff zu eröffnen, das eine ›Sonnenwand‹ legte, eine massive Decke von kleinen Nuklearprojektilen, die als Einheit plaziert wurden und eine Welle der Zerstörung aufbauten, die den Raum um das Wurmloch von fast allem freiräumte, häufig auch von dem Angriffsschiff, aber Sonnenwände waren teuer, schnell zerstreut und nur lokal wirksam.

Die Cetagandaner hatten versucht, alle drei Methoden zu kombinieren, wie die Unordnung der Rangers und der schmutzige radioaktive Nebel, der aus der Umgebung ihrer ersten Eroberung ausströmte, bezeugten.

Die vierte anerkannte Lösung des Problems eines Frontalangriffs auf ein bewachtes Wurmloch war, den Offizier zu erschießen, der den Angriff vorschlug. Miles hoffte, die Cetagandaner würden sich auch zu dieser Methode durchringen, sobald er mit seiner Arbeit fertig wäre. Die Zeit verging. Miles befestigte einen Stationsstuhl in der Halterung und studierte das zentrale Display, bis ihm die Augen tränten und sein Geist in einen hypnotischen Dämmerschlaf zu fallen drohte, dann stand er auf, schüttelte sich, ging zwischen den Dienststationen umher und schaute dabei den anderen über die Schulter.

Die Cetagandaner manövrierten. Das plötzliche und unerwartete Eintreffen der Dendarii-Streitmacht während ihrer Ruhepause hatte sie zeitweilig in Verwirrung gestürzt, ihr geplanter Schlußangriff auf die gestressten Vervani mußte notwendigerweise im Flug in noch eine weitere, sanfter werdende Runde von punktuellen Angriffen umgewandelt werden. Das war teuer. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Cetagandaner wenige Möglichkeiten, ihre Anzahl oder ihre Bewegungen zu verbergen. Das Eingreifen der Dendarii legte den Cetagandanern die Folgerung nahe, daß die Söldner über verborgene Reserven verfügten (wer wußte, wie unbegrenzt? Miles sicher nicht), die auf der anderen Seite des Wurmlochsprungs versteckt waren. In Miles flackerte kurz die Hoffnung auf, daß diese Drohung allein schon genügen könnte, um die Cetagander zum Abbruch ihres Angriffs zu veranlassen.

»Nö«, seufzte Tung, als Miles ihm diesen optimistischen Gedanken anvertraute. »Sie stecken schon zu tief drin. Die Metzgerrechnung ist schon zu hoch für sie, als daß sie noch vorgeben könnten, sie hätten nur Faxen gemacht. Selbst für sie selber. Ein cetagandanischer Kommandant, der jetzt aufstecken würde, käme zu Hause vor ein Kriegsgericht. Sie werden noch weitermachen, wenn es schon lange hoffnungslos ist, weil ihre hohen Tiere verzweifelt ihre blutenden Ärsche mit einer Siegesfahne bedecken wollen.«

»Das ist … abscheulich.«

»Das ist das System, mein Sohn, und nicht nur für die Cetagandaner. Einer der verschiedenen eingebauten Defekte des Systems. Und außerdem«, Tung grinste kurz, »es ist für sie noch nicht ganz so hoffnungslos. Eine Tatsache, die wir vor ihnen zu verheimlichen versuchen werden.«

Die cetagandanischen Kräfte begannen sich zu bewegen, ihre Richtungen und Beschleunigungen signalisierten die Absicht, einen schweren Stoß durchzuführen. Der Trick war, lokale Konzentration von Kräften zu versuchen, drei oder vier Schiffe, die sich gegen ein gegnerisches zusammenrotteten und so die Plasmaspiegel des Verteidigers überwältigten. Die Dendarii und die Vervani würden eine gleiche Strategie gegenüber versprengten Cetagandanern versuchen, ausgenommen ein paar bravouröse Kapitäne auf beiden Seiten, die mit den neuen Imploderlanzen ausgerüstet waren und ein wahnsinnig wagemutiges Spiel trieben, indem sie versuchten, ein Ziel in die kurze Reichweite der Waffe zu bekommen.

Miles versuchte auch, ein Auge auf die Dispositionen der Rangers zu haben. Nicht jedes Ranger-Schiff hatte vervanische Berater an Bord, und Kampfaufstellungen, die die Rangers vor die Cetgandaner brachten, waren solchen sehr vorzuziehen, in denen Rangers im Rücken von Dendarii positioniert wurden.

Das ruhige Gemurmel der Techniker und Computer in dem Taktikraum veränderte kaum seinen Rhythmus. Es hätte eigentlich einen Tusch geben sollen mit Trommelwirbel und Dudelsäcken, etwas, das diesen Tanz mit dem Tod ankündigte. Aber wenn die Realität überhaupt in diese gepolsterte Blase einbrach, dann plötzlich, absolut und endgültig.

Eine Vidnachricht unterbrach sie, eine schiffsinterne — ja, es gab noch ein wirkliches Schiff, das sie umhüllte: ein atemloser Offizier meldete sich bei Tung: »Hier das Schiffsgefängnis, Sir. Passen Sie dort oben auf sich auf. Wir hatten einen Ausbruch. Admiral Oser ist entkommen und hat auch all die anderen Gefangenen rausgelassen.«

»Verdammt«, sagte Tung, warf einen zornigen Blick auf Miles und zeigte auf das Vid.

»Erledige das. Scheuche Auson hoch.«

Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Taktikdisplay zu und murmelte: »Zu meiner Zeit wäre so etwas nicht passiert.«

Miles schlüpfte auf den Stuhl an der Kommunikationsstation und rief die Brücke der Triumph an. »Auson! Haben Sie das mit Oser gehört?«

Ausons irritiertes Gesicht erschien auf dem Schirm. »Ja, wir arbeiten daran.«

»Befehlen Sie extra Kommandowachen zum Taktikraum, zur Maschinenabteilung und Ihrer Brücke. Das ist eine wirklich schlechte Zeit für Unterbrechungen hier unten.«

»Wem sagen Sie das! Wir sehen, daß die Scheißkerle von Cetas auf uns zukommen.« Auson schaltete wieder ab.

Miles begann die internen Sicherheitskanäle abzuhören und hielt nur inne, um die Ankunft gut bewaffneter Wachen auf dem Korridor zur Kenntnis zu nehmen. Oser hatte offensichtlich Helfer bei dieser Flucht gehabt, einen loyalen oserischen Offizier oder derer mehrere, was Miles seinerseits zu der Frage veranlaßte, wie es mit der Sicherheit der Sicherheitswachen bestellt war.

Und würde Oser versuchen, sich mit Metzov und Cavilo zusammenzutun? Ein paar Dendarii, die für Disziplinarverfehlungen eingesperrt gewesen waren, wurden in den Korridoren herumwandernd aufgegriffen und ins Schiffsgefängnis zurückgebracht, ein weiterer kam von selbst zurück. In einem Laderaum wurde ein mutmaßlicher Spion gestellt. Noch kein Zeichen von den wirklich Gefährlichen …

»Da haut er ab!«

Miles wählte den Kanal an. Eine Frachtfähre löste sich aus ihrer Halterung an der Seite der Triumph und bewegte sich in den Raum hinaus.

Miles übersprang diverse Kanäle, bis er schließlich die Feuerleitstation fand. »Nicht, ich wiederhole, nicht auf diese Fähre feuern!«

»Hm …«, kam die Antwort. »Jawohl, Sir. Nicht feuern.«

Warum bekam Miles den unterschwelligen Eindruck, daß der Techniker überhaupt nicht die Absicht gehabt hatte, Feuer zu eröffnen?

Eine sichtlich gut koordinierte Flucht. Die spätere Hexenjagd würde scheußlich werden.

»Schalten Sie mich zu dieser Fähre durch!«, verlangte Miles vom Kommunikationsoffizier. Und, ach ja, schicken Sie eine Wache in die Korridore bei der Fährenluke … Dafür war es zu spät.

»Ich werd’s versuchen, Sir, aber sie antworten nicht.«

»Wie viele sind an Bord?«

»Einige, aber wir sind nicht ganz sicher …«

»Schalten Sie mich durch. Die müssen zuhören, auch wenn sie nicht antworten wollen.«

»Ich habe einen Kanal, Sir, aber ich weiß nicht, ob sie zuhören.«

»Ich werd’s versuchen.« Miles holte Atem. »Admiral Oser. Wenden Sie Ihre Fähre, und kommen Sie zur Triumph zurück. Es ist zu gefährlich dort draußen. Sie rasen Hals über Kopf in eine Gefechtszone. Kehren Sie um, und ich werde persönlich Ihre Sicherheit garantieren …«

Tung blickte über Miles’ Schulter. »Er versucht, zur Peregrine durchzukommen. Verdammt, wenn dieses Schiff ausschert, dann wird unsere Verteidigungsstellung zusammenbrechen.«

Miles warf schnell einen Blick zurück auf den Taktikcomputer.

»Sicherlich nicht. Ich dachte, wir haben die Peregrine im Reservegebiet aufgestellt, weil wir gerade ihre Zuverlässigkeit bezweifelt haben.«

»Ja, aber wenn die Peregrine ausschert, dann kann ich dir drei andere Kapitän-Eigner nennen, die folgen werden. Und wenn vier Schiffe ausscheren …«

»Dann werden die Rangers sich trotz ihrer VervaniKommandanten auflösen, und wir sind erledigt, stimmt, ich verstehe.«

Miles blickte wieder auf den Taktikcomputer. »Ich glaube nicht, daß er es schafft — Admiral Oser! Können Sie mich verstehen?«

»Zum Teufel!« Tung kehrte zu seinem Platz zurück und vertiefte sich wieder in die Cetagandaner. Vier cetagandanische Schiffe verbanden sich gegen den Rand der Dendarii-Formation, während ein anderes versuchte, in die Mitte einzudringen, offensichtlich, um in die Reichweite für einen Angriff mit der Imploder-Lanze zu kommen.

Beiläufig, im Vorüberfliegen, schoß ein cetagandanischer Plasmaschütze die fliehende Fähre ab. Eine Wolke leuchtender Funken …

»Bis er sich mit seiner gestohlenen Fähre von der Triumph absetzte, wußte er nicht, daß die Cetagandaner ihren Angriff durchführen«, flüsterte Miles. »Guter Plan, schlechtes Timing … Er hätte umkehren können, aber er entschied sich, es zu versuchen und Reißaus zu nehmen …« Hatte Oser seinen Tod selbst gewählt? War das der Trost?

Die Cetagandaner brachen ihre Angriffswelle nicht eigentlich ab, sondern beendeten sie, in deprimierend guter Ordnung. Das Ergebnis stand leicht zugunsten der Dendarii. Eine Anzahl von cetagandanischen Schiffen war schlimm beschädigt, und eins war völlig zerstört worden.

Auf den Schadenskontrollkanälen der Dendarii und der Rangers herrschte hektischer Sprechverkehr. Die Dendarii hatten noch keine Schiffe verloren, jedoch Feuerkraft, Maschinen, Flugsteuerungen, Lebenserhaltungssysteme, Abschirmungen.

Die nächste Angriffswelle würde noch mehr Verheerungen anrichten. Sie können sich es leisten, drei zu verlieren für eines von den unseren. Wenn sie immer wieder kommen, immer weiter knabbern, dann ist es unvermeidlich, daß sie gewinnen, überlegte Miles kühl. Es sei denn, wir bekommen Verstärkung.

Stunden vergingen, während die Cetagandaner sich neu formierten. Miles machte kurze Pausen in dem Erfrischungsraum, der für diese Zwecke neben dem Taktikraum zur Verfügung stand, aber er war zu aufgedreht, um Tung nachzuahmen, der erstaunlicherweise auf der Stelle ein fünfzehnminütiges Nickerchen machen konnte. Miles wußte, daß Tung nicht Entspannung heuchelte, um die Moral zu heben, niemand konnte ein so abstoßendes Schnarchen simulieren.

Im Televid konnte man beobachten, wie die cetagandanischen Verstärkungen durch das System von Vervain herankamen. Das war der Kompromiß mit der Zeit, das Risiko. Je länger die Cetagandaner warteten, desto besser ausgerüstet konnten sie sein, aber je länger sie warteten, desto größer war auch die Chance für ihre Gegner, sich zu erholen. Es gab ohne Zweifel einen Taktikcomputer auf dem Kommandoschiff der Cetagandaner, der eine Wahrscheinlichkeitskurve generiert hatte, die den optimalen Schnittpunkt von ›wir‹ und ›sie‹ markierte. Wenn nur diese verdammten Vervani aggressiver wären im Angriff auf diesen Nachschubstrom von ihrer planetarischen Basis aus …

Und hier kamen sie wieder heran. Tung beobachtete seine Displays, wobei er seine Hände unbewußt im Schoß zu Fäusten ballte und dann wieder öffnete, zwischen den ruckhaften Tänzen kräftiger Finger auf seiner Steuertastatur, von wo aus er Befehle schickte, korrigierte, vorwegnahm. Miles’ Finger zuckten in winzigen Echos, während sein Geist versuchte, hinter Tungs Gedanken zu kommen und alles aufzusaugen.

Ihr Bild der Realität bekam immer mehr verborgene Löcher, weil Datenerfassungspunkte ausfielen, wenn Sensoren oder Sender auf verschiedenen Schiffen beschädigt oder vernichtet wurden. Die Cetagandaner flogen durch die Dendarii-Formation und teilten Schläge aus … ein Dendarii-Schiff explodierte, ein anderes, dessen Waffen ausgefallen waren, versuchte sich aus der Reichweite der Cetagandaner zu entfernen, drei Rangerschiffe scherten als Einheit aus … es sah schlimm aus …

»Haiköder Drei meldet sich«, übertönte eine schroffe Stimme alle anderen Kommunikationskanäle. Miles sprang aus seinem Sitz hoch.

»Halten Sie dieses Wurmloch frei. Es kommt Hilfe.«

»Nicht jetzt«, knurrte Tung, aber er begann den Versuch einer schnellen Umgruppierung, um diesen kleinen Bereich des Raumes zu schützen, ihn freizuhalten von Trümmern, Projektilen, feindlichem Feuer und vor allem von feindlichen Schiffen mit Imploderlanzen. Diejenigen Schiffe der Cetagandaner, die in einer Position waren, um darauf zu reagieren, schienen fast ihre Ohren aufzustellen und zögerten, da die Bewegungen der Dendarii-Schiffe signalisierten: Veränderungen im Gange. Die Dendarii zogen sich vielleicht zurück … Es ergab sich vielleicht eine Gelegenheit, die man ausnutzen konnte …

»Was, zum Teufel, ist das?«, sagte Tung, als etwas Riesiges, vorerst nicht zu Enträtselndes in der Mündung des Wurmloches erschien und sofort zu beschleunigen begann. Er rief Anzeigen am Computer ab. »Es ist zu groß, um so schnell zu sein. Es ist zu schnell, um so groß zu sein.«

Miles erkannte das Energieprofil, noch bevor das Televid eine Visualisierung anbot. Was für einen Testflug sie haben. »Es ist die Prinz Serg. Unsere kaiserlich barrayaranischen Verstärkungen sind soeben eingetroffen.« Er holte verwirrt Luft. »Habe ich euch nicht versprochen …«

Tung fluchte schrecklich — vor purer ästhetischer Bewunderung. Andere Schiffe folgten, Aslunder, Polianische Raumflotte, und schwärmten schnell in eine Angriffsformation aus.

Durch die Formationen der Cetagandaner ging eine Welle wie ein stummer Schrei des Entsetzens. Ein mit Implodern bewaffnetes cetagandanisches Schiff flog kühn auf die Prinz Serg zu und wurde in zwei Hälften zerschnitten, denn die Imploderlanzen der Serg waren verbessert worden und hatten die dreifache Reichweite der Lanzen der Cetagandaner. Das war der erste tödliche Schlag.

Der zweite kam über Funk, ein Ruf an die cetagandanischen Aggressoren, sich zu ergeben, ansonsten würden sie vernichtet — im Namen der Flotte der Hegen-Allianz, Kaiser Gregor Vorbarra und Admiral Graf Aral Vorkosigan, Vereinigte Befehlshaber.

Ein Moment lang dachte Miles, Tung würde gleich ohnmächtig werden. Tung japste besorgniserregend und brüllte mit Vergnügen: »Aral Vorkosigan! Hier? Nicht zu glauben!« Und in einem nur leicht vertraulicheren Flüsterton: »Wie hat man ihn aus dem Ruhestand gelockt? Vielleicht gelingt es mir, ihn zu sehen!«

Tung, der Enthusiast für Militärgeschichte, war einer der fanatischsten Fans von Miles’ Vater, wie sich Miles erinnerte, und er konnte — solange man ihn nicht entschlossen daran hinderte — jedes öffentlich bekannte Detail der frühen Aktionen des barrayaranischen Admirals herunterrasseln.

»Ich werde sehen, was ich machen kann«, versprach Miles.

»Wenn du das arrangieren kannst, mein Sohn …« Mit sichtlicher Anstrengung zog Tung die Gedanken von seinem geliebten Hobby, dem Studium der Militärgeschichte, ab und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu, nämlich Militärgeschichte zu schreiben.

Die cetagandanischen Schiffe wichen zurück, zuerst einzeln in Panik, dann in mehr koordinierten Gruppen, die versuchten, einen ordentlich gesicherten Rückzug zu organisieren. Die Prinz Serg und ihre taktische Unterstützungsgruppe vergeudeten keine Millisekunde, sondern folgten den Cetagandanern sofort, griffen die Formationen feindlicher Schiffe an, die versuchten, sich gegenseitig zu sichern, und brachten sie durcheinander, und dann setzten sie den dadurch Versprengten zu.

In den folgenden Stunden wurde aus dem Rückzug eine wirklich wilde Flucht, als die Schiffe der Vervani, die ihren hohen planetarischen Orbit schützten, endlich ermutigt den Orbit verließen und sich dem Angriff anschlossen. Die Reserven der Vervani kannten keine Gnade, angesichts der schrecklichen Angst um ihre Heimat, die die Cetagandaner ihnen eingeflößt hatten.

Die detaillierten Säuberungs- und Aufräumarbeiten, die erschreckenden Probleme der Schadenskontrolle, die Rettungsaktionen für Besatzungen, all das nahm Miles so sehr in Anspruch, daß er mehrere Stunden brauchte, bis er allmählich einsah, daß der Krieg für die Dendarii-Flotte vorüber war. Sie hatten ihre Aufgabe erfüllt.

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