KAPITEL 5

Miles war aus dem Bett und schon halb angezogen, bevor es seinem vom Schlaf noch benommenen Gehirn klar wurde, daß das elektrisierende Gehupe nicht die Wahwah-Warnung war. Er hielt inne, mit einem Stiefel in der Hand. Kein Feuer und kein feindlicher Angriff. Also fiel es nicht in seine Zuständigkeit, was immer es auch war. Das rhythmische Tuten hörte auf. Das Sprichwort hatte recht: Schweigen war Gold.

Er warf einen prüfenden Blick auf die leuchtende Digitaluhr. Sie behauptete, es sei mitten am Abend. Er hatte nur ungefähr zwei Stunden geschlafen, nach einer langen Fahrt durch einen Schneesturm in den Norden der Insel zur Reparatur von Windschäden an der Wetterstation Elf war er erschöpft ins Bett gefallen. Der Kommunikator an seinem Bett blinkte nicht mit dem roten Ruflicht, das Miles sonst über irgendwelche überraschenden Aufgaben informierte, die er zu erfüllen hatte. Er konnte wieder ins Bett gehen.

Schweigen war verwirrend.

Er zog den zweiten Stiefel an und streckte seinen Kopf zur Tür hinaus. Ein paar andere Offiziere hatten das gleiche getan und stellten jetzt untereinander Mutmaßungen über den Anlaß des Alarms an. Leutnant Bonn kam aus seiner Unterkunft heraus, schritt den Korridor hinab und zog dabei seinen Parka über. Seine Miene verriet Anspannung, halb Besorgnis, halb Verdruß.

Miles griff nach seinem Parka und eilte hinter ihm her. »Brauchen Sie Hilfe, Leutnant?«

Bonn blickte auf ihn herab und verzog die Lippen. »Vielleicht«, gab er zu.

Miles schloß sich ihm an. Insgeheim freute er sich über Bonns implizite Feststellung, daß er tatsächlich von Nutzen sein könnte.

»Um was geht es denn?«

»Eine Art Unfall in einem Bunker mit toxischem Material. Wenn es der Bunker ist, an den ich denke, dann könnten wir ein echtes Problem bekommen.«

Sie gingen durch die doppelten Türen der wärmegedämmten Vorhalle der Offiziersunterkünfte direkt in die schneidend kalte Nacht hinaus.

Feiner Schnee knirschte unter Miles’ Stiefeln und wurde von einem schwachen Westwind über den Boden gefegt. Über ihnen behaupteten sich die hellsten Sterne gegen die Lichter der Basis.

Die beiden Männer glitten in Bonns Scatcat. Ihr Atem dampfte vor ihnen, bis die Verdeckheizung in Betrieb war. Bonn fuhr mit hoher Geschwindigkeit von der Basis aus in westliche Richtung.

Ein paar Kilometer hinter den letzten Übungsplätzen duckte sich eine Reihe von torfbedeckten Hügeln in den Schnee. Einige Fahrzeuge standen am Ende eines Bunkers — ein paar Scatcats, darunter auch das des Brandoffiziers der Basis, und Sanitätstransporter. Handlichter bewegten sich zwischen ihnen hin und her. Bonn kurvte hinein, hielt an und öffnete die Tür. Miles folgte ihm mit knirschenden Schritten über das feste Eis.

Der Sanitätsoffizier dirigierte zwei Sanitäter, die eine in Metallfolie gewickelte Gestalt und einen weiteren, mit einem Overall bekleideten zitternden und hustenden Soldaten in den Sanitätstransporter luden.

»Jeder von euch wirft alles, was er anhat, in den Vernichtungscontainer, sobald ihr durch die Tür seid«, rief er hinter ihnen her. »Laken, Bettzeug, Schienen, alles. Volle Dekontaminierungsduschen für alle, bevor ihr überhaupt anfangt, euch wegen seines gebrochenen Beins Gedanken zu machen. Der Schmerzstiller wird ihn durchhalten lassen, und wenn nicht, dann ignoriert ihn und macht weiter mit dem Schrubben. Ich komme gleich nach.« Der Arzt schüttelte sich, stieß einen Pfiff des Entsetzens aus und wandte sich ab.

Bonn ging auf die Bunkertür zu. »Nicht öffnen!«, riefen der Arzt und der Brandoffizier gleichzeitig. »Da ist niemand mehr drin«, fügte der Arzt hinzu. »Alle schon evakuiert.«

»Was ist passiert?« Bonn scheuerte mit seiner behandschuhten Hand an dem vereisten Fenster in der Tür und versuchte hineinzuschauen.

»Ein paar Burschen haben Vorräte umgelagert, um Platz zu machen für ein neue Sendung, die morgen ankommt«, unterrichtete ihn knapp der Brandoffizier, ein Leutnant namens Yaski. »Sie haben ihren Lader umgekippt, ein Mann wurde darunter mit gebrochenem Bein eingeklemmt.«

»Um das fertigzubringen, muß man schon … erfinderisch sein«, sagte Bonn, der sich offensichtlich die Mechanik des Laders bildlich vorstellte.

»Sie haben bestimmt Unfug getrieben«, sagte der Arzt ungeduldig. »Aber das ist noch nicht das Schlimmste, Sie haben auch einige Fässer mit Fetain dabeigehabt. Und mindestens zwei davon sind aufgeplatzt. Das Zeug ist jetzt da drinnen überall verstreut. Wir haben den Bunker so gut verschlossen, wie wir konnten. Das Aufräumen«, der Arzt atmete hörbar aus, »ist Ihr Problem. Ich gehe jetzt.«

Er sah aus, als wollte er ebenso aus seiner eigenen Haut kriechen wie aus den Kleidern. Er winkte und lief zu seinem Scatcat, um seinen Sanitätern und deren Patienten durch die medizinische Dekontaminierung zu folgen.

»Fetain!«, rief Miles überrascht aus. Bonn hatte sich hastig von der Tür zurückgezogen. Fetain war ein mutagenes Gift, das als Abschreckungswaffe erfunden, aber — soweit Miles wußte — noch nie im Kampf verwendet worden war. »Ich dachte, das Zeug wäre veraltet. Nicht mehr aktuell.«

In seinem Akademiekurs über chemische und biologische Waffen war es kaum noch erwähnt worden.

»Es ist veraltet«, sagte Bonn grimmig. »Man hat seit zwanzig Jahren nichts mehr davon produziert. Soweit ich weiß, ist dies der letzte Vorrat auf Barrayar. Verdammt, diese Vorratsfässer dürften nicht einmal dann aufplatzen, wenn man sie aus einem Shuttle schmeißt.«

»Diese Vorratsfässer sind also dann mindestens zwanzig Jahre alt«, betonte der Brandoffizier. »War es Korrosion?«

»Falls ja«, Bonn reckte den Hals, »was ist dann mit den übrigen?«

»Genau.« Yaski nickte.

»Wird Fetain nicht durch Hitze zerstört?« fragte Miles nervös und vergewisserte sich, daß sie bei dieser Erörterung auf der Windseite des Bunkers standen. »Chemisch aufgespalten in harmlose Komponenten, wie ich gehört habe.«

»Nun ja, nicht gerade harmlos«, sagte Leutnant Yaski. »Aber zumindest dröseln sie nicht die ganze DNS in Ihren Eiern auf.«

»Sind da drinnen irgendwelche Explosivstoffe gelagert, Leutnant Bonn?«, fragte Miles.

»Nein, nur das Fetain.«

»Wenn man ein paar Plasmaminen durch die Tür hineinwirft, würde sich dann das ganze Fetain chemisch auflösen, bevor das Dach zusammenschmilzt?«

»Es ist nicht zu wünschen, daß das Dach zusammenschmilzt. Oder der Boden. Wenn dieses Zeug je im Permafrost freigesetzt würde … Aber wenn man die Minen auf langsame Hitzefreigabe einstellt und mit ihnen ein paar Kilo neutrales PlasDichtungsmaterial reinwirft, dann würde sich der Bunker vielleicht von selbst abdichten.« Bonns Lippen bewegten sich in stummen Berechnungen. »Klar, das würde funktionieren. Tatsächlich könnte das die sicherste Methode sein, um mit diesem Scheißzeug fertigzuwerden. Besonders wenn der Rest der Fässer auch schon seine Festigkeit verliert.«

»Das hängt davon ab, aus welcher Richtung der Wind kommt«, warf Leutnant Yaski ein und blickte zuerst auf die Basis zurück und dann auf Miles.

»Wir erwarten einen leichten Ostwind mit sinkenden Temperaturen bis etwa 7 Uhr morgen früh«, antwortete Miles auf Yaskis Blick. »Dann wird der Wind auf Nord umschlagen und heftiger werden. Mögliche Wahwah-Bedingungen treten morgen abend gegen 18 Uhr ein.«

»Wenn wir es auf diese Weise erledigen, dann sollten wir’s also besser noch heute abend tun«, sagte Yaski.

»In Ordnung«, entschied Bonn. »Ich alarmiere meine Mannschaft, Sie die Ihre. Ich hole mir die Pläne für den Bunker, berechne die Freisetzungsrate der Ladungen und treffe Sie und den Waffenoffizier in einer Stunde im Verwaltungsgebäude.«

Bonn postierte den Sergeanten des Brandoffiziers als Wache, er sollte alle vom Bunker fernhalten. Ein Dienst, um den er nicht zu beneiden war, der aber unter den gegenwärtigen Umständen nicht unerträglich war, denn der Wächter konnte sich in sein Scatcat zurückziehen, wenn die Temperatur gegen Mitternacht fiel. Miles fuhr mit Bonn zum Verwaltungsgebäude zurück, um seine Versprechungen über die Windrichtung noch einmal im Wetterbüro zu überprüfen.

Miles schickte die neuesten Daten noch einmal durch die Wettercomputer, damit er Bonn die aktuellsten und besten Vorhersagen über die Windvektoren am nächsten 26,7-stündigen barrayaranischen Tag präsentieren konnte. Aber bevor er noch die Druckausgabe in der Hand hatte, sah er durch das Fenster, wie drunten Bonn und Yaski aus dem Verwaltungsgebäude in die Dunkelheit forteilten. Vielleicht trafen sie sich mit dem Waffenoffizier woanders?

Miles erwog, hinter ihnen herzurennen, aber die neue Vorhersage unterschied sich nicht signifikant von der älteren. War es wirklich notwendig, daß er zuschaute, wie sie den Giftmüll abbrannten? Es konnte interessant sein — lehrreich —, aber andererseits hatte er dort jetzt keine wirkliche Funktion.

Da er das einzige Kind seiner Eltern war — der Vater, vielleicht, eines zukünftigen Grafen Vorkosigan —, konnte man durchaus in Frage stellen, ob er überhaupt das Recht hatte, sich selbst einer so schlimmen mutagenen Gefährdung aus purer Neugierde auszusetzen. Es schien sowieso keine unmittelbare Gefahr für die Basis zu bestehen, solange der Wind sich nicht drehte. Oder maskierte sich hier Feigheit als Logik? Klugheit war eine Tugend, hatte man ihm einmal gesagt.

Da er jetzt durch und durch wach war und zu aufgekratzt, um überhaupt wieder an Schlaf zu denken, stöberte er im Wetterbüro herum und erledigte all die Routinearbeiten, die er am Morgen zugunsten seiner Reparaturfahrt zurückgestellt hatte. Eine Stunde ständiger Plackerei brachte alles zu Ende, was selbst entfernt nach Arbeit ausgesehen hatte. Als er sich dabei ertappte, wie er zwanghaft Geräte und Regale abstaubte, entschied er, daß es Zeit war, wieder ins Bett zurückzukehren, egal, ob er schlafen konnte oder nicht. Aber ein schwankendes Licht, das er durch das Fenster sah, zog seinen Blick auf sich, ein Scatcat, das draußen anhielt.

Aha, Bonn und Yaski wieder zurück. Schon? Dann war das aber schnell gegangen, oder hatten sie noch gar nicht begonnen? Miles riß die Plastikfolie mit den neuen Winddaten ab und eilte die Treppe hinab in das Pionierbüro der Basis am Ende des Korridors. Bonns Büro war dunkel. Aber aus dem Büro des Kommandanten der Basis fiel Licht in den Korridor. Mit der Folie in der Hand trat Miles näher.

Die Tür zum inneren Büro stand offen. Metzov saß an seiner Schreibtischkonsole, mit einer geballten Faust auf der flimmernden farbigen Oberfläche. Bonn und Yaski standen nervös vor ihm. Miles raschelte vorsichtig mit der Folie, um seine Anwesenheit anzuzeigen. Yaski wandte den Kopf, und sein Blick fiel auf Miles.

»Schicken Sie Vorkosigan, er ist doch schon ein Mutant, oder?«

Miles salutierte in eine unbestimmte Richtung und sagte sofort: »Verzeihen Sie, Sir, aber nein, ich bin kein Mutant. Meine letzte Begegnung mit militärischem Gift bewirkte einen teratogenen Schaden, aber keinen genetischen. Meine zukünftigen Kinder dürften so gesund sein wie die von jedermann. Ach, übrigens, wohin mich schicken, Sir?«

Metzov blinkte finster auf Miles, ging aber auf Yaskis beunruhigende Anregung nicht ein. Miles übergab wortlos die Folie an Bonn, der einen Blick darauf warf, das Gesicht verzog und die Folie dann achtlos in seine Hosentasche steckte.

»Natürlich hatte ich beabsichtigt, daß sie Schutzkleidung tragen«, fuhr Metzov gereizt zu Bonn fort, »ich bin ja nicht verrückt.«

»Das habe ich verstanden, Sir. Aber die Männer weigern sich auch, den Bunker mit Kontaminationsausrüstung zu betreten«, berichtete Bonn mit ausdrucksloser, gleichmäßiger Stimme. »Ich kann ihnen da keinen Vorwurf machen. Nach meiner Einschätzung sind die Standardvorkehrungen bei Fetain unzureichend. Das Zeug hat einen unglaublich hohen Penetrationswert, wegen seines Molekulargewichts. Geht praktisch durch alles durch, was permeabel ist.«

»Sie können ihnen keinen Vorwurf machen?«, wiederholte Metzov erstaunt. »Leutnant, Sie haben einen Befehl gegeben. Oder zumindest sollten Sie das getan haben.«

»Ich habe es getan, Sir, aber …«

»Aber …? Sie lassen sie Ihre eigene Unentschlossenheit spüren. Ihre Schwäche. Verdammt, wenn Sie einen Befehl geben, dann müssen Sie ihn geben, und nicht drum herum schleichen!«

»Warum müssen wir überhaupt dieses Zeug retten?«, sagte Yaski mürrisch.

»Das haben wir doch schon abgehakt. Wir haben die Verantwortung«, knurrte Metzov ihn an. »Unsere Befehle. Sie können nicht von einem Mann Gehorsam verlangen, den Sie selbst nicht leisten.«

Wie, etwa blind? »Sicher hat die Forschung noch das Rezept«, warf Miles ein, der den Eindruck hatte, daß er endlich die alarmierende Tendenz dieses Streits erfaßte. »Die können doch sicherlich noch mehr davon zusammenmischen, falls sie es wirklich wollen. Frisch.«

»Halten Sie den Mund, Vorkosigan«, brummte Bonn verzweifelt aus dem Mundwinkel, während General Metzov ihn anfuhr: »Wenn heute abend noch ein weiteres Beispiel Ihres Humors über Ihre Lippen kommt, Fähnrich, dann werde ich Sie vor das Truppengericht bringen.«

Miles Lippen schlossen sich über seinen Zähnen zu einem verkniffenen, starren Lächeln. Unterordnung. Die Prinz Serg, erinnerte er sich selbst. Metzov sollte das verdammte Zeug saufen, wenn es nach Miles ginge. Das würde ihn nicht jucken.

»Haben Sie noch nie von der schönen alten Schlachtfeldsitte gehört, einen Mann zu erschießen, der Ihrem Befehl nicht gehorcht, Leutnant?«, redete Metzov weiter auf Bonn ein.

»Ich … glaube, ich kann das nicht androhen, Sir«, sagte Bonn verbissen.

Und außerdem, dachte Miles, sind wir auf keinem Schlachtfeld. Oder?

»Techniker!«, sagte Metzov voller Abscheu. »Ich habe nichts von Androhen gesagt. Ich sagte: schießen. Statuieren Sie ein Exempel, und die übrigen werden parieren.«

Miles kam zu dem Schluß, daß er Metzovs Art von Humor auch nicht mochte. Oder meinte der General das buchstäblich?

»Sir, Fetain ist ein starkes Mutagen«, sagte Bonn hartnäckig. »Ich bin mir überhaupt nicht sicher, daß die übrigen parieren würden, egal, womit wir drohen. Es ist ein ziemlich unvernünftiges Thema. Ich bin … selbst etwas unvernünftig in dieser Hinsicht.«

»Das sehe ich.« Metzov blickte in kalter Wut auf Bonn, dann auf Yaski, der schluckte und sich noch gerader hinstellte, so daß sein Rückgrat kein Entgegenkommen andeutete. Miles versuchte, unsichtbar zu sein.

»Wenn ihr weiter vorgeben wollt, Offiziere der Streitkräfte zu sein, dann braucht ihr Techniker eine Lektion, wie ihr eure Männer zum Gehorchen bringt«, entschied Metzov. »Sie beide gehen jetzt und versammeln in zwanzig Minuten Ihre Mannschaft vor dem Verwaltungsgebäude. Wir werden dann einen kleinen altmodischen Strafappell abhalten.«

»Sie denken doch nicht — ernsthaft daran, irgend jemanden zu erschießen, oder?«, fragte Leutnant Yaski alarmiert.

Metzov lächelte säuerlich. »Ich zweifle, daß ich das tun muß.«

Er blickte Miles an. »Welche Temperatur haben wir im Augenblick draußen, Wärteroffizier?«

»Fünf Grad minus, Sir«, antwortete Miles, der jetzt darauf achtete, nur zu sprechen, wenn er zuvor angesprochen wurde.

»Und der Wind?«

»Ostwind mit neun Kilometern pro Stunde, Sir.«

»Sehr gut.« In Metzovs Augen erschien ein wölfisches Glühen.

»Sie können wegtreten, meine Herren. Schauen wir mal, ob Sie Ihre Befehle diesmal ausführen können.«


General Metzov stand mit schweren Handschuhen und in seinen Parka eingepackt neben der leeren Fahnenstange vor dem Verwaltungsgebäude und blickte die halbbeleuchtete Straße hinab.

Wonach hält er Ausschau? fragte sich Miles. Es ging jetzt auf Mitternacht zu. Yaski und Bonn ließen ihre Technikermannschaften in Appellaufstellung antreten, etwa fünfzehn Mann in Wärmeoveralls und Parkas.

Miles zitterte, und daran war nicht nur die Kälte schuld. Metzovs runzeliges Gesicht sah ärgerlich aus. Und müde. Und alt. Und unheimlich. Er erinnerte Miles ein bißchen an seinen Großvater an einem schlechten Tag. Doch Metzov war tatsächlich jünger als Miles’ Vater: Miles war geboren worden, als sein Vater in mittlerem Alter war; hier gab es eine Verschiebung der Generationen.

Sein Großvater, der alte General Graf Piotr selbst, hatte manchmal wie ein Flüchtling aus einem anderen Jahrhundert gewirkt. Nun, die wirklich altmodischen Strafappelle hatten auch bleigefüllte Gummischläuche erfordert. Wie weit zurück in der barrayaranischen Geschichte war Metzovs Denkweise verwurzelt?

»Meuterei?«, sagte Miles, zu verblüfft, als daß er sich an seinen Vorsatz hätte halten können, nur dann zu sprechen, wenn er zum Sprechen aufgefordert wurde. »Ich dachte, hier geht es um Gefährdung durch Gift.«

Metzov lächelte, ein Lächeln, das sich wie ein äußerer Glanz über seine Wut legte, und drehte den Kopf, als sich auf der Straße etwas bewegte.

In einer schrecklich freundlichen Stimme vertraute er sich Miles an: »Wissen Sie, Fähnrich, hinter der sorgfältig kultivierten Rivalität zwischen den verschiedenen Teilstreitkräften damals auf der guten alten Erde gab es ein Geheimnis. Wenn eine Meuterei stattfand, dann konnte man immer die Armee überreden, auf die Marine zu schießen und umgekehrt, wenn sie sich nicht länger selber disziplinieren konnten. Ein verborgener Nachteil bei kombinierten Streitkräften wie den unseren.«

Darum ging es.

»Unglücklicherweise hat Bonn die Sache falsch angepackt, und deshalb ist es jetzt eine Frage des Prinzips.« Die Muskeln spannten sich um Metzovs Kinn. »Das mußte ja einmal passieren, in den Neuen Streitkräften. Den Schlappen Streitkräften.«

Das war typisches Gerede der Alten Streitkräfte, alte Männer, die sich einander Scheiß erzählten darüber, wie hart sie in den alten Zeiten gewesen waren.

»Prinzip, Sir, welches Prinzip? Es geht um Abfallbeseitigung«, würgte Miles hervor.

»Es geht um eine massenhafte Weigerung, einen Befehl zu befolgen, Fähnrich. Meuterei, nach der Definition eines jeden Kasernenjuristen. Glücklicherweise kann so etwas leicht erschüttert werden, wenn man schnell Maßnahmen ergreift, solange es noch klein und konfus ist.«

Die Bewegung auf der Straße stellte sich heraus als ein Zug von Rekruten in winterweißen Tarnanzügen, der unter Leitung eines Sergeanten der Basis heranmarschierte. Miles erkannte den Sergeanten als jemanden aus Metzovs persönlichem Machtgeflecht, einen alten Veteranen, der schon damals in der Zeit der Revolte von Komarr unter Metzov gedient hatte und der seinem Herrn und Meister dann gefolgt war.

Die Rekruten, sah Miles, waren ausgerüstet mit tödlichen Nervendisruptoren, also mit ausschließlich gegen Personen gerichteten Handwaffen. Trotz all der Zeit, die sie damit verbrachten, über solche Waffen zu lernen, war die Gelegenheit, voll geladene tödliche Waffen in die Hand zu bekommen, selbst für Fortgeschrittene selten, und Miles spürte von seinem Standort aus, wie nervös und aufgeregt sie waren.

Der Sergeant ließ die Rekruten in einer Kreuzfeueraufstellung rings um die still stehenden Techniker antreten und bellte einen Befehl. Sie präsentierten ihre Waffen und zielten mit ihnen, die glockenförmigen Mündungen schimmerten in dem Licht, das da und dort aus dem Verwaltungsgebäude drang.

Ein Zucken ging durch Bonns Leute. Bonns Gesicht war gespenstisch weiß, seine Augen funkelten wie schwarzer Bernstein.

»Ausziehen«, befahl Metzov mit zusammengebissenen Zähnen. Zweifel, Verwirrung: nur einer oder zwei der Techniker begriffen, was verlangt wurde, und begannen sich zu entkleiden. Die anderen blickten unsicher um sich und folgten erst verspätet.

»Wenn ihr wieder bereit seid, euren Befehlen zu gehorchen«, fuhr Metzov fort, in einem Kasernenhofton, der jeden Mann erreichte, »dann könnt ihr euch anziehen und an die Arbeit gehen. Es liegt bei euch.«

Er trat zurück, nickte seinem Sergeanten zu und nahm Rührteuch-Haltung ein. »Das wird sie abkühlen«, murmelte er zu sich selbst, kaum laut genug, daß Miles es verstehen konnte. Metzov blickte drein, als erwartete er durchaus, nach längstens fünf Minuten nicht mehr draußen zu sein, in Gedanken schien er schon in seiner warmen Unterkunft ein heißes Getränk zu sich zu nehmen.

Olney und Pattas waren unter den Technikern, stellte Miles fest, zusammen mit den meisten von der griechisch sprechenden Gruppe, die damals über Miles gespottet hatte. Andere hatte Miles schon mal auf der Basis gesehen, mit einigen hatte er gesprochen, als er seine privaten Nachforschungen über den Ertrunkenen anstellte, etliche kannte er kaum.

Fünfzehn nackte Männer begannen heftig zu zittern, während der trockene Schnee um ihre Knöchel knisterte. Fünfzehn bestürzte Gesichter begannen erschreckt dreinzusehen. Blicke huschten zu den Nervendisruptoren, die auf sie gerichtet waren.

Gebt auf, drängte Miles sie im stillen, es ist es nicht wert. Aber mehr als ein Augenpaar blickte flackernd auf ihn und dann wurde entschlossen zugekniffen.

Miles verfluchte im stillen den unbekannten intelligenten Wissenschaftler, der Fetain als Schreckenswaffe erfunden hatte, nicht wegen seiner Chemie, sondern wegen seines Einblicks in die barrayaranische Psyche. Fetain konnte sicherlich nie benutzt worden sein, konnte nie benutzt werden. Jede Gruppierung, die das versuchen würde, müßte sich gegen sich selbst erheben und sich in moralischen Erschütterungen zerfleischen.

Yaski, der abseits von seinen Männern stand, blickte völlig entsetzt drein. Bonn, dessen Gesichtsausdruck schwarz und hart wie Obsidian war, begann seine Handschuhe und seinen Parka abzulegen.

Nein, nein, nein! schrie Miles stumm in seinem Kopf. Wenn Sie sich ihnen anschließen, dann werden sie nie nachgeben. Sie werden wissen, daß sie im Recht sind. Ein schlimmer Fehler, schlimm… Bonn ließ den Rest seiner Kleider auf einen Haufen fallen, trat vor, gliederte sich in die Reihe ein, drehte sich um und blickte Metzov unverwandt an.

Metzov kniff seine Augen in neuer Wut zusammen.

»Also«, zischte er, »Sie verurteilen sich selbst. Dann erfrieren Sie doch!«

Wie hatte es sich so schnell so schlimm entwickelt? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sich an eine Aufgabe im Wetterbüro zu erinnern und, zum Teufel noch mal, hier abzuhauen. Wenn doch nur diese zitternden Mistkerle nachgäben, dann käme Miles durch diese Nacht ohne einen besonderen Eintrag in seine Dienstakte. Er hatte hier keine Verpflichtung, keine Funktion …

Metzovs Blick fiel auf Miles. »Vorkosigan, Sie können entweder eine Waffe aufnehmen und sich hier nützlich machen oder sich als entlassen betrachten.«

Er konnte weggehen. Konnte er weggehen? Als er sich nicht bewegte, kam der Sergeant herüber und drückte Miles einen Nervendisruptor in die Hand. Miles nahm ihn auf, während er noch versuchte, mit einem Gehirn zu denken, das sich plötzlich in Hafergrütze verwandelt hatte.

Er behielt noch soviel Vernunft, sich zu vergewissern, daß die Waffe gesichert war, bevor er mit dem Disruptor vage in die Richtung der frierenden Männer deutete.

Daraus wird keine Meuterei. Daraus wird ein Massaker.

Einer der bewaffneten Rekruten kicherte nervös. Was hatte man ihnen darüber gesagt, was sie hier tun sollten? Was glaubten sie, was sie hier taten? Achtzehn-, Neunzehnjährige — konnten sie überhaupt einen verbrecherischen Befehl erkennen? Oder wissen, was zu tun war, wenn sie ihn erkannten?

Konnte Miles es?

Die Situation war unklar, das war das Problem. Sie paßte in kein Schema. Miles wußte über verbrecherische Befehle Bescheid, jeder Mann von der Akademie wußte Bescheid. Sein Vater kam persönlich und hielt um die Jahresmitte für die höheren Jahrgänge ein Eintagesseminar über dieses Thema. Dieses Seminar hatte er zu einer Pflichtveranstaltung für die Graduierung gemacht, durch kaiserlichen Erlaß, als er Regent war. Was genau einen verbrecherischen Befehl ausmachte, wann und wie ihm der Gehorsam zu verweigern sei. Mit Vidaufnahmen von verschiedenen historischen Testfällen und schlimmen Beispielen, wozu auch das politisch katastrophale Solstice-Massaker gehörte, das unter dem eigenen Kommando des Admirals stattgefunden hatte.

Unweigerlich mußten immer ein paar Kadetten bei diesem Teil den Raum verlassen, weil ihnen schlecht wurde. Die anderen Instruktoren haßten Vorkosigans Tag. Ihre Klassen waren danach für Wochen aufgewühlt. Das war einer der Gründe, weshalb Admiral Vorkosigan mit seinem Seminar nicht bis zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr wartete, er mußte fast immer ein paar Wochen später noch einmal wiederkommen, um einen verstörten Kadetten davon abzubringen, fast am Ende seiner Ausbildung die Akademie zu verlassen.

Nur die Akademiekadetten bekamen diese Vorlesung live, soweit Miles wußte, doch sein Vater sprach davon, sie auf Holovid aufnehmen zu lassen und zu einem Teil der Grundausbildung in den ganzen Streitkräften zu machen. Teile des Seminars waren selbst für Miles eine Offenbarung gewesen.

Aber das hier … Wenn die Techniker Zivilisten wären, dann hätte Metzov eindeutig unrecht. Wenn es sich in Kriegszeiten ereignet hätte, während sie von irgendeinem Feind heimgesucht würden, dann könnte sich Metzov im Rahmen seiner Rechte, vielleicht sogar seiner Pflicht, bewegen. Diese Situation hier war irgendwo dazwischen. Soldaten, die den Gehorsam verweigerten, allerdings passiv. Kein Feind in Sicht. Nicht einmal eine physikalische Bedingung, die zwangsläufig auf der Basis Menschenleben bedrohte (außer ihrem eigenen), doch wenn der Wind sich drehte, konnte sich das ändern.

Ich bin dafür nicht bereit, noch nicht, nicht schon so bald. Was war richtig? Meine Karriere … Klaustrophobische Panik kam in Miles auf, wie in einem Mann, dessen Kopf in einem Abwasserrohr festklemmte. Der Nervendisruptor schwankte ganz leicht in seiner Hand. Über den Parabolreflektor konnte er sehen, wie Bonn stumm dastand, zu erstarrt jetzt, um noch weiter zu argumentieren. Die Ohren der nackten Männer wurden allmählich weiß, wie die Finger und die Zehen. Einer sank zu einem bebenden Haufen zusammen, zeigte aber kein Zeichen der Kapitulation. Gab es in Metzovs Starrsinn noch einen Anflug von Zweifel, der ihn umstimmen konnte?

Einen irrsinnigen Augenblick lang stellte sich Miles vor, wie er mit dem Daumen die Sicherung ausschaltete und Metzov erschoß. Und was dann — die Rekruten erschießen? Er konnte sie doch unmöglich alle erwischen, bevor sie ihn erledigten.

Ich bin hier wahrscheinlich der einzige Soldat unter dreißig, der schon einmal einen Feind getötet hat, innerhalb eines Kampfes oder außerhalb. Die Rekruten könnten vielleicht aus Unwissenheit feuern, oder aus bloßer Neugier. Sie wußten nicht genug, um nicht zu schießen. Was wir in der nächsten halben Stunde tun, wird sich in unseren Köpfen immer wieder abspielen, solange wir leben. Er konnte versuchen, nichts zu tun. Nur Befehle zu befolgen. Wie viele Schwierigkeiten konnte er bekommen, wenn er nur Befehle befolgte? Jeder Kommandant, den er bisher gehabt hatte, stimmte darin überein, daß er Befehle besser befolgen mußte. Meinst du etwa, du könntest dich dann an deinem Schiffsdienst erfreuen, Fähnrich Vorkosigan, du und dein Haufen erfrorener Gespenster? Wenigstens wirst du dann nie mehr einsam sein …

Miles stahl sich, noch immer den Nervendisruptor hochhaltend, nach hinten davon, aus der Sichtlinie der Rekruten, aus Metzovs Augenwinkel. Tränen ließen seinen Blick verschwimmen. Wegen der Kälte, zweifellos. Er setzte sich auf den Boden. Zog seine Handschuhe und Stiefel aus. Ließ seinen Parka fallen, und dann seine Hemden. Hosen und Wärmeunterwäsche kamen oben auf den Haufen, und der Nervendisruptor wurde sorgfältig daraufgebettet. Er trat vor. Seine Beinschienen fühlten sich an den Waden wie Eiszapfen an.

Ich hasse passiven Widerstand. Ich hasse ihn wirklich, wirklich.

»Was, zum Teufel, glauben Sie da zu tun, Fähnrich?«, fauchte Metzov, als Miles an ihm vorbeihumpelte.

»Dem hier ein Ende machen, Sir«, antwortete Miles standhaft. Selbst jetzt schreckten einige der zitternden Techniker vor ihm zurück, als könnten seine Mißbildungen sie anstecken. Pattas allerdings zuckte nicht zurück. Und auch Bonn nicht.

»Bonn hat schon diesen Bluff versucht, jetzt bereut er es. Das funktioniert bei Ihnen auch nicht, Vorkosigan.« Metzovs Stimme bebte ebenfalls, allerdings nicht wegen der Kälte.

Sie hätten ›Fähnrich‹ sagen sollen. Was bedeutet schon ein Name?

Miles sah, wie diesmal eine Welle von Bestürzung durch die Rekruten lief. Nein, bei Bonn hatte das nicht funktioniert. Miles war hier vielleicht der einzige, bei dem diese Art von individueller Intervention funktionieren könnte. Das hing davon ab, wie weit Metzov der Irre jetzt schon ausgerastet war.

Miles richtete jetzt seine Worte sowohl an Metzov wie auch an die Rekruten: »Es ist — gerade noch — möglich, daß die Sicherheitsabteilung der Streitkräfte den Tod von Leutnant Bonn und seinen Männern nicht untersuchen würde, wenn Sie den Bericht frisierten und behaupteten, es sei ein Unfall gewesen. Ich garantiere Ihnen, daß der Kaiserliche Sicherheitsdienst meinen Tod untersuchen wird.«

Metzov grinste seltsam. »Nehmen wir mal an, es überleben keine Zeugen, die sich beschweren können?«

Metzovs Sergeant blickte so unnachgiebig drein wie sein Herr und Meister. Miles dachte an Ahn, den besoffenen Ahn, den schweigsamen Ahn. Was hatte Ahn gesehen, vor langer Zeit, als auf Komarr verrückte Dinge geschahen? Was für eine Art überlebender Zeuge war er gewesen? Vielleicht ein schuldiger?

»T-t-tut mir leid, Sir, aber ich sehe mindestens zehn Zeugen, hinter diesen Nervendisruptoren.« Silberne Parabolmündungen — sie wirkten aus diesem neuen Blickwinkel riesig, wie Servierteller. Der Wechsel des Gesichtspunktes sorgte auf erstaunliche Weise für Klarheit. Jetzt gab es keine Unklarheiten mehr.

Miles fuhr fort: »Oder haben Sie vor, Ihr Exekutionskommando zu exekutieren und dann sich selber zu erschießen? Der Kaiserliche Sicherheitsdienst wird jeden in Sichtweite unter SchnellPenta verhören. Sie können mich nicht zum Schweigen bringen. Ob lebendig oder tot, ob durch meinen Mund oder Ihren — oder den der Rekruten dort —, ich werde Zeuge sein.«

Zittern überfiel Miles Körper. Erstaunlich, die Wirkung von so einem bißchen Ostwind bei dieser Temperatur. Er bemühte sich, das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten, damit Kälte nicht als Furcht mißverstanden werden konnte.

»Geringer Trost, wenn Sie … hm … sich selbst erlauben zu erfrieren, würde ich sagen, Fähnrich.« Metzovs beißender Sarkasmus zerrte an Miles’ Nerven. Der Mann dachte immer noch, er würde gewinnen. Irrsinnig.

Miles’ nackte Füße fühlten sich jetzt seltsam warm an. An seinen Augenwimpern hing Eis. Er holte die andern schnell ein beim Erfrieren, ohne Zweifel aufgrund seiner geringeren Körpermasse. Auf seinem Körper zeigten sich purpurrote und blaue Flecken. Die schneebedeckte Basis war so still. Er konnte fast hören, wie die einzelnen Schneekristalle über die Eisfläche glitten. Er konnte hören, wie die Knochen jedes einzelnen Mannes um ihn herum vibrierten, konnte das dumpfe, furchtsame Atmen der Rekruten heraushören. Die Zeit dehnte sich endlos.

Er konnte Metzov drohen, seine Selbstgefälligkeit mit dunklen Hinweisen auf Komarr zerbrechen, die Wahrheit wird herauskommen … Er konnte an den Rang und die Position seines Vaters appellieren. Er konnte … verdammt, Metzov mußte erkennen, daß er das Spiel zu weit getrieben hatte, egal wie verrückt er war.

Sein Bluff mit dem Strafappell hatte nicht funktioniert, und jetzt hing er damit fest, verteidigte steinern seine Autorität bis zum Tod, Er kann auf eine komische Art gefährlich sein, wenn Sie ihn wirklich bedrohen … Es war schwer, durch den Sadismus hindurch die zugrundeliegende Angst zu sehen. Aber sie mußte da sein, unten drunter … Schieben funktionierte nicht. Metzov war praktisch versteinert vor Widerstand. Wenn man versuchte zu ziehen …?

»Aber überlegen Sie, Sir«, Miles’ hervorgestammelte Worte sollten überzeugend klingen, »welche Vorteile Sie selber haben, wenn Sie jetzt aufhören. Sie haben jetzt den klaren Beweis für eine meuterische … äh … Verschwörung. Sie können uns alle festnehmen lassen, uns ins Militärgefängnis werfen. Das ist eine bessere Rache, weil Sie alles bekommen und nichts verlieren. Ich verliere meine Karriere, werde unehrenhaft entlassen oder komme vielleicht ins Gefängnis — glauben Sie nicht, ich würde nicht lieber sterben? Die Sicherheitsabteilung der Streitkräfte bestraft den Rest von uns für Sie. Sie bekommen alles.«

Miles’ Worte machten Wirkung auf Metzov, er hatte angebissen, Miles konnte es daran sehen, wie das rote Glühen in den zusammengekniffenen Augen nachließ, wie sich dieser so überaus starre Nacken leicht beugte. Miles mußte nur noch mehr Angelschnur geben, durfte nur nicht daran rucken und damit Metzovs Kampfeswut wieder wecken, warten …

Metzov trat näher, eine dunkle Gestalt in dem Halblicht, von seinem Atemdampf wie von einem Heiligenschein umgeben. Er sprach leiser, nur für Miles’ Ohren hörbar: »Eine schlappe Antwort, typisch Vorkosigan. Ihr Vater war schlapp mit dem Abschaum von Komarr. Das kostete uns Tote. Der kleine Sohn des Admirals vor dem Kriegsgericht — das könnte diesen scheinheiligen Scheißkerl fertigmachen, was?«

Miles schluckte eisige Spucke. Die ihre Geschichte nicht kennen, purzelten seine Gedanken, sind dazu verurteilt, sie fortzusetzen. Leider waren dazu auch die verurteilt, die sie kannten, so schien es.

»Verbrennen Sie das verdammte Fetain«, flüsterte er heiser, »und gehen Sie dann.«

»Ihr steht alle unter Arrest«, brüllte Metzov plötzlich und zog seine Schultern zusammen, »zieht euch an!«

Die anderen blickten ganz überwältigt vor Erleichterung drein. Nach einem letzten unsicheren Blick auf die Nervendisruptoren stürzten sie sich auf ihre Kleider und zogen sie hastig mit kältestarren Händen an. Aber Miles hatte das Ende sechzig Sekunden früher in Metzovs Augen gesehen. Es erinnerte ihn an jene Definition seines Vaters: Eine Waffe ist ein Gerät, mit dem du deinen Feind dazu bringst, sich anders zu besinnen. Der Geist war das erste und letzte Schlachtfeld, alles dazwischen war nur Getöse.

Leutnant Yaski hatte die Gelegenheit ergriffen, die Miles’ aufmerksamkeitheischender nackter Auftritt auf der Szene geboten hatte, um still ins Verwaltungsgebäude zu verschwinden und ein paar hektische Anrufe zu machen. Als Ergebnis davon trafen der Kommandant der Rekruten, der Sanitätsoffizier und Metzovs Stellvertreter ein, darauf vorbereitet, Metzov zu überreden oder vielleicht zu sedieren und einzusperren. Aber zu diesem Zeitpunkt waren Miles, Bonn und die Techniker schon wieder angezogen und marschierten stolpernd unter den Argusaugen der Nervendisruptoren zum Arrestbunker.

»S-soll ich Ihnen d-dafür d-danken?«, fragte Bonn Miles mit klappernden Zähnen. Ihre Hände und Füße waren wie gelähmte Klumpen. Bonn stützte sich auf Miles, Miles hängte sich an ihn hin, und zusammen humpelten sie die Straße entlang.

»Wir haben bekommen, was wir wollten, oder? Er wird das Fetain mit Plasma an Ort und Stelle vernichten lassen, bevor sich der Wind am Morgen dreht. Niemand stirbt. Niemand bekommt seine Eier aufgedröselt. Wir gewinnen. Glaube ich.«

Miles lachte krächzend mit tauben Lippen.

»Ich hatte nie geglaubt«, keuchte Bonn, »daß ich mal jemanden treffen würde, der noch verrückter ist als Metzov.«

»Ich habe nichts anderes getan als Sie«, protestierte Miles, »außer daß ich es zum Funktionieren gebracht habe. Sozusagen. Am Morgen wird sowieso alles anders aussehen.«

»Ja. Schlimmer«, prophezeite Bonn düster.

Miles ruckte auf seiner Pritsche aus einem unruhigen Schlummer hoch, als die Tür sich quietschend öffnete. Man brachte Bonn zurück.

Miles rieb sein unrasiertes Gesicht. »Wie spät ist es da draußen, Leutnant?«

»Morgendämmerung.« Bonn sah genauso bleich, stoppelbärtig und kriminell elend aus, wie Miles sich fühlte. Er ließ sich mit einem gequälten Grunzen auf seiner Pritsche nieder.

»Was geht da draußen vor sich?«

»Leute von der Sicherheitsabteilung der Streitkräfte sind überall. Sie haben einen Hauptmann vom Festland eingeflogen. Er ist gerade eingetroffen und hat anscheinend die Leitung. Metzov wird ihm die Ohren vollquatschen, glaube ich. Bisher sammeln sie nur Aussagen.«

»Kümmert man sich um das Fetain?«

»Ja.« Bonn kicherte grimmig. »Man hatte mich gerade geholt, um es zu überprüfen und die Sache als erledigt abzuhaken. Aus dem Bunker wurde ein hübscher kleiner Backofen, na ja.«

»Fähnrich Vorkosigan, Sie werden verlangt«, sagte der Sicherheitsmann, der Bonn abgeliefert hatte. »Kommen Sie jetzt mit.«

Miles stand auf und hinkte zur Zellentür.

»Bis später, Leutnant.«

»In Ordnung. Wenn Sie dort draußen irgend jemanden mit einem Frühstück treffen, dann benutzen Sie Ihren politischen Einfluß und schicken Sie ihn zu mir, ja?«

Miles grinste trübe. »Ich werde es versuchen.«

Er folgte dem Wächter durch den kurzen Korridor des Gefängnisses.

Das Militärgefängnis von Basis Lazkowski war nicht genau das, was man eine Hochsicherheitseinrichtung nennen würde, sondern eher ein Unterkunftsbunker mit Türen, die man nur von außen absperren konnte, und ohne Fenster. Das Wetter stellte gewöhnlich eine bessere Wache dar als eine Abschirmung durch eine Mannschaft, nicht zu vergessen der 500 km breite Eiswassergraben rings um die Insel.

Im Sicherheitsbüro der Basis herrschte an diesem Morgen Hochbetrieb. Zwei grimmig aussehende Fremde standen wartend vor der Tür, ein Leutnant und ein großer Sergeant mit dem Horusauge, dem Abzeichen des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes, auf ihren gepflegten Uniformen.

Kaiserlicher Sicherheitsdienst, nicht Sicherheitsabteilung der Streitkräfte. Miles’ höchst persönlicher Sicherheitsdienst, der seine Familie durch das ganze politische Leben seines Vaters hindurch bewacht hatte. Miles betrachtete die Männer mit besitzergreifender Freude.

Der Schreiber des Sicherheitsbüros sah besorgt aus, seine Schreibtischkonsole war beleuchtet und blinkte.

»Fähnrich Vorkosigan, Sir, ich brauche Ihren Händeabdruck hier drauf.«

»In Ordnung. Was unterzeichne ich denn da?«

»Nur den Reisebefehl, Sir.«

»Was? Aha …« Miles stockte und hielt seine Hände hoch, die in Plastikhandschuhen steckten. »Welche?«

»Die rechte dürfte genügen, Sir.«

Mit einer gewissen Schwierigkeit schalte Miles mit seiner unbeholfenen linken Hand den rechten Handschuh herunter. Auf seiner Hand schimmerte das medizinische Gel, das die Erfrierungen heilen sollte. Seine Hand war geschwollen, rot gefleckt und sah entstellt aus, aber es mußte gehen. Alle seine Finger krümmten sich jetzt. Er mußte dreimal seine Handfläche auf das Identifikationsfeld drücken, bis der Computer ihn erkannte.

»Jetzt die Ihre, Sir«, der Schreiber nickte dem Leutnant vom Kaiserlichen Sicherheitsdienst zu. Der legte seine Hand auf das Feld, und der Computer piepste zustimmend. Der Leutnant hob seine Hand, blickte verwirrt auf die klebrige Schicht und sah sich vergeblich nach einem Handtuch um. Schließlich wischte er die Hand verstohlen an seiner Hosennaht ab, direkt hinter seinem Halfter mit dem Betäuber.

Der Schreiber tupfte mit seinem Uniformärmel nervös auf das Identifikationsfeld und drückte einen Knopf auf seiner Gegensprechanlage.

»Bin ich froh, euch zu sehen«, sagte Miles zu dem Sicherheitsoffizier. »Ich wünschte, ihr wäret schon gestern abend hier gewesen.«

Der Leutnant erwiderte das Lächeln nicht. »Ich bin nur ein Kurier, Fähnrich. Ich darf Ihren Fall nicht erörtern.«

General Metzov kam durch die Tür aus dem inneren Büro, ein Bündel Plastikfolien in der Hand und einen Hauptmann der Sicherheitsabteilung neben sich, der seinem Kollegen von der kaiserlichen Seite bedächtig zunickte.

Der General lächelte fast. »Guten Morgen, Fähnrich Vorkosigan.« Sein Blick nahm die Leute von Kaiserlichen Sicherheitsdienst ohne Entsetzen zur Kenntnis.

Verdammt, die Sicherheitsleute müßten eigentlich diesen Beinahemörder in seinen Kampfstiefeln erzittern lassen.

»Es sieht so aus, als sei da eine Wendung in diesem Fall, die nicht einmal ich vorhergesehen habe. Wenn ein Vor-Lord sich in eine militärische Meuterei verwickeln läßt, dann folgt automatisch eine Anklage wegen Hochverrats.«

»Was?« Miles schluckte, um seine Stimme wieder normal klingen zu lassen. »Leutnant, ich bin doch nicht vom Kaiserlichen Sicherheitsdienst festgenommen, oder?«

Der Leutnant holte ein Paar Handschellen hervor und schickte sich an, Miles an den großen Sergeant anzuhängen. Overholt lautete der Name auf dem Abzeichen des Mannes, was Miles innerlich zu Overkill umtaufte. Der Sergeant brauchte nur seinen Arm zu heben, um Miles daran wie eine Katze baumeln zu lassen.

»Wie lang?«

»Sie sind vorläufig verhaftet, bis zu einer weiteren Untersuchung«, sagte der Leutnant formell. »Auf unbestimmte Zeit.«

Der Leutnant ging zur Tür, der Sergeant und Miles folgten ihm, letzterer zwangsweise.

»Wohin?« fragte Miles verzweifelt.

»Ins Hauptquartier des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes.«

Vorbarr Sultana! »Ich muß noch meine Sachen holen…«

»Ihre Unterkunft wurde schon geräumt.«

»Werde ich wieder hierher kommen?«

»Ich weiß es nicht, Fähnrich.«


Die späte Morgendämmerung überzog Camp Permafrost mit Grau und Gelb, als das Scatcat sie am Shuttle-Landeplatz absetzte. Die suborbitale Kurierfähre der Kaiserlichen Sicherheit saß auf dem eisigen Beton wie ein Raubvogel, der versehentlich in einen Taubenschlag geraten war. Glänzend, schwarz und tödlich, schien sie die Schallmauer zu durchbrechen, indem sie einfach dort verharrte. Der Pilot war auf seinem Posten, die Triebwerke waren bereit für den Start.

Miles schlurfte unbeholfen die Rampe hinter Sergeant Overkill hinauf, wobei die Handschelle kalt an seinem Handgelenk ruckte. Winzige Eiskristalle tanzten im Wind, der aus Nordosten kam. Die Temperatur würde sich heute morgen stabilisieren, er konnte das erkennen durch den besonders trockenen Biß der relativen Feuchtigkeit in seinen Nebenhöhlen. Lieber Gott, es war höchste Zeit, von dieser Insel wegzukommen.

Miles holte ein letztes Mal Luft, dann schlossen sich die Türen der Fähre mit einem schlangenhaften Zischen. Drinnen herrschte dichte, gepolsterte Stille, in die selbst das Heulen der Triebwerke kaum drang. Wenigstens war es warm.

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