Neun

1

Boardman hatte sich im Camp der Zone F bequem und behaglich eingerichtet. In seinem Alter brauchte er sich nicht dafür zu entschuldigen. Er hatte nie einer spartanischen Lebensweise angehangen, und als Ausgleich für diese gefährlichen und anstrengenden Reisen pflegte er alle Annehmlichkeiten mit sich zu führen. Roboter hatten ihm das Nötige vom Schiff nachgebracht. Unter der milchweißen Kuppel des Pneumozelts hatte er sich einen Privatsektor abgetrennt — mit einem Heizkörper, wärmedämmenden Vorhängen, einem Schwerkraftneutralisator und selbst einer Hausbar. Brandy und andere „Muntermacher“ befanden sich immer in seiner Reichweite. Er schlief auf einer weichen, aufblasbaren Matratze. Darauf lag eine dicke, rote Heizdecke.

Er wußte, daß die anderen Männer im Camp, die unter ganz anderen Bedingungen fertigwerden mußten, sich nicht darüber empörten. Sie erwarteten einfach von Charles Boardman, daß er sich mit Luxus umgab, wo immer er sich auch aufhielt.

Greenfield trat ein. „Wir haben eine weitere Drohne verloren, Sir“, meldete er knapp. „Somit haben wir noch drei in den inneren Zonen.“

Boardman setzte die Zündungskappe an die Spitze einer Zigarre. Zog daran, schlug die Beine übereinander, löste sie wieder, atmete aus und lächelte. „Wird Muller die auch noch knacken?“

„Ich fürchte ja. Er kennt die Zugänge besser als wir. Und er überwacht sie alle.“

„Haben Sie denn keine Roboter auf eine Route geschickt, die wir noch nicht vermessen haben?“

„Zwei, Sir, und wir haben beide verloren.“

„Hm. Dann schicken wir am besten einen ganzen Haufen Roboter auf einmal los und hoffen, daß wenigstens einer sich an Muller vorbeimogeln kann. Der arme Junge hat keine große Lust mehr, noch länger in seinem Käfig zu bleiben. Ändern Sie bitte das Programm ab. Das Schiffsgehirn kann mehrere Taktiken gleichzeitig einschlagen, wenn man es entsprechend programmiert. Ich schätze, zwanzig Drohnen dürften reichen.“

„Wir haben nur noch drei“, sagte Greenfield.

Boardman kaute verbissen auf seiner Zigarre herum. „Drei hier im Lager — oder insgesamt?“

„Drei im Lager und fünf außerhalb des Labyrinths. Sie rollen gerade hinein.“

„Wer ist dafür verantwortlich? Rufen Sie sofort Hosteen! Und sorgen Sie dafür, daß die Reproduktionsanlagen zu arbeiten beginnen! Ich will bis morgen früh fünfzig Drohnen haben! Nein, besser achtzig! Eine unglaubliche Fahrlässigkeit, Greenfield!“

„Jawohl, Sir.“

„Raus mit Ihnen!“

„Jawohl, Sir.“

Boardman sog vor Ärger heftig an der Zigarre. Er bestellte bei der Hausbar einen Brandy — das dicke, reichhaltige und zähflüssige Teufelszeug, das die Bruderschaft der Voraussicht auf Deneb XIII herstellte. Die Situation entwickelte sich höchst unangenehm. Er kippte ein halbvolles Cognacglas in einem Zug, keuchte und ließ sich noch einmal einschenken. Er wußte, daß er in Gefahr war, sein Wahrnehmungsvermögen erheblich zu beeinträchtigen — die schlimmste aller Sünden. Die Schwachstellen seines Auftrags wurden ihm nun deutlich. Sie kamen nur in winzigkleinen Schritten voran, ständig gab es kleine, aber schmerzliche Komplikationen, ein nervenzermürbender Wechsel von Erfolgen und Rückschlägen, und jetzt auch noch Rawlins im Käfig. Überhaupt Rawlins und seine unablässigen Gewissensbisse. Dann Muller mit seiner neurotischen Weltsicht. Die kleinen Ungeheuer, die einem die Ferse anknabberten, während sie einem gleichzeitig auf die Gurgel starrten. Die Fallen, die diese Teufel installiert hatten. Und schließlich die Extragalaktiker mit ihren riesigen Augen und der Fähigkeit, Radiowellen sensorisch wahrzunehmen, die irgendwo in Lauerstellung standen und für die selbst ein Charles Boardman nicht mehr als verstandloses Gemüse war. Wo man auch hinsah, überall kleinere oder größere Katastrophen. Irritiert drückte Boardman seine Zigarre aus. Verwundert starrte er sofort danach auf das große Stück, das er verschwendet hatte. Die Zündkapsel würde nicht ein zweites Mal funktionieren. Boardman beugte sich vor, hielt die erloschene Zigarre an den Infrarotstrahler seiner Heizung und zündete sie erneut an. Er zog und blies heftig, bis sie richtig brannte. Mit einer gereizten Handbewegung aktivierte er die Funkverbindung mit Ned Rawlins wieder.

Der Bildschirm zeigte ihm Mondlicht, gebogene Gitterstäbe und kleine, fellbewachsene Schnauzen, die vor Zähnen strotzten.

„Ned?“ rief er. „Hier spricht Charles. Wir schicken Ihnen die Drohnen, mein Junge. In fünf Minuten haben wir Sie aus diesem verdammten Käfig befreit. Hören Sie mich, in fünf Minuten!“

2

Rawlins war ziemlich beschäftigt.

Es war irgendwie aberwitzig. Der Strom der kleinen Raubtiere schien kein Ende nehmen zu wollen. Schnüffelnd schoben sie erst ihre Schnauzen und dann den ganzen Körper durch das Gitter, immer zwei oder drei gleichzeitig — Wiesel, Frettchen, Nerze, Hermeline, was immer sie auch sein mochten. Sie schienen nur aus Zähnen und Augen zu bestehen. Aber es waren Aasfresser, keine wirklichen Raubtiere. Gott allein mochte wissen, was sie am Käfig anziehen mochte. Sie umzingelten ihn, kamen immer näher, strichen mit ihrem weichen Fell seine Knöchel, betasteten ihn mit ihren Pfoten, schlitzten mit ihren Krallen seine Haut auf und bissen ihn ins Schienbein.

Er trat nach ihnen. Er begriff schnell, daß ein einziger Stiefeltritt genügte, um ihnen das Rückgrat direkt hinter dem Kopf zu brechen. Eine rasche und effektive Methode. Danach konnte er das Opfer mit einem raschen Tritt in eine Ecke seines Käfigs befördern, wo die anderen dann sofort über den Kadaver herfielen. Kannibalen waren sie also auch. Rawlins entwickelte eine rhythmische Arbeitsweise. Drehen, Treten, Wegtreten. Umdrehen, Treten, Wegtreten. Umdrehen, Treten, Wegtreten. Knirsch. Knirsch. Knirsch.

Trotzdem richteten sie ihn übel zu.

In den ersten fünf Minuten hatte er kaum einmal Gelegenheit, Atem zu schöpfen. Umdrehen, Treten, Wegtreten. Er konnte etwa zwanzig von ihnen in diesem Zeitraum ausschalten. An der gegenüberliegenden Seite des Käfigs erhob sich ein Hügel zerschmetterter kleiner Körper. Ihre Kameraden suchten zwischen den Opfern nach den besten Stücken. Und dann kam schließlich auch der Moment, wo alle im Käfig befindlichen Aasfresser entweder tot oder mit dem Verspeisen ihrer Artgenossen beschäftigt waren. Und auch vor dem Gitter schlich kein Tier mehr herum. Rawlins bekam eine kleine Ruhepause. Mit einer Hand hielt er sich an einer Strebe fest, während er das linke Bein hob, um sich das Ausmaß der Bisse und Kratzer anzusehen. Ob man posthum das galaktische Ehrenkreuz verliehen bekam, wenn man an fremdplanetarer Tollwut zugrundeging? fragte er sich. Vom Knie an abwärts war sein Bein aufgerissen. Die Wunden waren zwar nicht tief, brannten und schmerzten aber höllisch. Plötzlich entdeckte er, warum die Aasfresser so versessen darauf gewesen waren, zu ihm in den Käfig zu kommen. Als er nämlich tief durchatmete, roch er den süßlichen Gestank verwesenden Fleisches. Er konnte sich die Ursache vor seinem geistigen Auge gut vorstellen: der Kadaver eines riesigen Tieres, dessen Unterleib aufgerissen war, aus dem die rotverklebten Organe quollen. Dicke, schwarze Fliegen bedeckten es wie ein Teppich. Die ersten Maden krochen bereits durch das Fleisch…

Aber hier drinnen gab es keinen faulenden Körper. Die erlegten Aasfresser waren noch nicht lange genug tot, um schon zu stinken. Außerdem war von ihnen kaum mehr als das Skelett übriggeblieben.

Rawlins begriff, daß es sich hier um eine Sinnestäuschung handeln mußte: offensichtlich eine Art Geruchsfalle, die im Käfig angebracht war. Ganz klar sonderte der Käfig den Fäulnisgeruch ab. Und warum? Na, um dieses Rudel Wiesel in den Käfig zu locken. Eine besonders ausgeklügelte Foltermethode. Er fragte sich, ob Muller wohl dahinterstecken konnte. Ob er in ein nahegelegenes Kontrollzentrum gegangen war und die Geruchsausstrahlung aktiviert hatte.

Aber Ned blieb keine Zeit mehr, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Ein frisches Bataillon von Raubtieren rannte über den Platz auf den Käfig zu. Sie sahen schon eine Nummer größer aus, waren aber noch klein genug, um zwischen die Gitterstäbe zu passen. Ihre Fänge glänzten unangenehm im Mondlicht. Rawlins tötete rasch drei der Biester in seinem Käfig, die überlebt hatten, und warf sie, einem rettenden Einfall zur Folge, durch die Stäbe nach draußen.

Sie flogen acht bis zehn Meter weit. Sehr gut, die Neuankömmlinge blieben stehen. Abwartend schnupperten sie, dann fielen sie wie auf Kommando über die zuckenden, noch nicht ganz toten Körper her, die da vor ihren Füßen gelandet waren. Kaum einer von ihnen machte sich die Mühe, zum Käfig vorzudringen. Und sie erschienen einzeln, so daß Rawlins die Möglichkeit erhielt, sie der Reihe nach totzutreten und nach draußen zu schleudern, um der Horde neue Nahrung zu verschaffen. Er sagte sich, daß er so alle erledigen konnte, wenn keine neuen Rudel auftauchen würden.

Als er siebzig oder achtzig von ihnen getötet hatte, sahen die Aasfresser davon ab näherzukommen. Der Geruch von frischem Blut überlagerte den synthetischen Gestank aus dem Käfig. Seine Beine schmerzten von der Anstrengung der Abschlachterei, und sein Kopf dröhnte. Aber allmählich kehrte die Nachtruhe wieder ein. Kadaver lagen in weitem Bogen rund um den Käfig verstreut. Manche trugen noch ihr Fell, von anderen waren nur noch die Knochen übrig. Eine dicke, tiefrot gefärbte Blutlache breitete sich über einige Quadratmeter aus. Die wenigen letzten Überlebenden waren, vollgestopft bis oben hin, davongetrabt, ohne noch einen Versuch zu unternehmen, den Insassen des Käfigs zu belästigen. Müde, erschöpft und in einem Zustand, in dem er in einem Moment laut auflachen und im nächsten Moment losheulen wollte, stellte sich Rawlins an die Gitterstäbe. Er sah nicht auf seine pochenden, blutüberströmten Beine hinab. Er spürte, wie das Feuer in ihnen immer heftiger brannte, und stellte sich vor, wie sich jetzt unzählige, fremdartige Mikroorganismen in seinem Blutkreislauf ausbreiteten. Am Morgen würde noch ein aufgedunsener, purpurrot verfärbter Leichnam von ihm übrig sein, ein Märtyrer für Charles Boardmans nimmersatte Pläne. Was für ein Blödsinn, in diesen Käfig zu gehen! Was für ein einfältiger Weg, Mullers Vertrauen zu gewinnen!

Doch plötzlich erkannte Rawlins, daß der Käfig auch seine Vorteile hatte.

Drei größere Tiere marschierten aus unterschiedlichen Richtungen auf ihn zu. Sie bewegten sich majestätisch wie Löwen, hatten ansonsten aber mehr Ähnlichkeit mit einem Wildschwein: niedrige Körper mit einem scharfen Rücken, ein Gewicht von um die hundert Kilogramm, langgezogene, dreieckige Köpfe, sabbernde Mäuler mit dünnen Lippen und winzige, schielende Augen, die in Paaren an jeder Seite direkt vor den zotteligen Hängeohren standen. Gebogene Stoßzähne ragten aus dem Maul und unterteilten die kleineren und schärferen Eckzahnreihen, die sich aus mächtigen Kiefern erhoben.

Mißtrauisch beäugte das Trio die Grausamkeit. Dann führten die Tiere eine kompliziert aussehende Serie von hüpfenden Bewegungen durch, was hinreichend auf das Problem von drei Konkurrenten verwies, die in runden, ineinander übergreifenden Wegen gegenseitig ihr Territorium abgrenzten. Sie verweilten etwas länger bei dem Haufen von Wieseltierkadavern, gehörten selbst aber eindeutig nicht zur Gruppe der Aasfresser. Sie suchten nach lebendem Fleisch. Daß sie die zum Teil von den Artgenossen zerrissenen kleinen Tiere verschmähten, war nicht zu übersehen. Als sie den Haufen lange genug inspiziert hatten, drehten sie sich um und schenkten Rawlins ihre volle Aufmerksamkeit. Sie standen in einem fünfundvierzig-Grad-Winkel zu ihm, so daß zumindest jeweils ein Augenpaar ihn anstarren konnte. Rawlins begrüßte in diesem Moment die Sicherheit seines Käfigs. Er legte angesichts dieses Trios, das da auf der Suche nach einem Nachtmahl durch die Stadt streifte, keinen Wert mehr auf eine Freiheit, in der er vornehmlich ungeschützt und ausgepumpt war. Leider begannen die Streben seines Käfigs in diesem Augenblick, geräuschlos in der Erde zu verschwinden.

3

Muller, der in diesem Moment erschien, erfaßte mit einem Blick die Situation. Er blieb nur kurz stehen, um das einmalige Schauspiel vom Verschwinden des Käfigs in den ansonsten verborgenen Öffnungen zu verfolgen. Dann erfaßte sein Blick die drei hungrigen Raubschweine und die erschöpfte, blutüberströmte Gestalt von Ned Rawlins, der sich ihnen plötzlich ungeschützt ausgeliefert sah. „Runter mit dir!“ schrie Muller.

Rawlins lief vier Schritte nach links, rutschte auf der Blutlache aus und blieb bei einem Kadaverhaufen am Straßenrand liegen. Im gleichen Augenblick gab Muller Feuer. Er hatte sich nicht damit aufgehalten, seine Waffe vorher auf Handbedienung umzustellen, da es sich hier nicht um die Beschaffung von Nahrungsmitteln handelte. Drei rasch hintereinander abgefeuerte Energiestrahlen warfen die Raubschweine nieder. Sie rührten sich nicht mehr. Muller lief auf Rawlins zu. In diesem Moment erschien aus dem Camp in Zone F ein Sondierungsroboter und rollte unbeschwert auf sie zu. Muller fluchte leise. Er zog die Desintegrator-Kugel aus einer Tasche und zielte mit dem kleinen Fenster auf die Drohne. Der Roboter wandte ihm sein seelenloses, blankes Gesicht zu, als er feuerte.

Die Drohne verdampfte. Rawlins hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt. „Du hättest sie nicht vernichten sollen“, sagte er noch halb benommen. „Sie kam nur, um mir zu helfen.“

„Diese Hilfe war nicht notwendig“, erklärte Muller. „Kannst du laufen?“

„Ich glaube schon.“

„Wie schwer bist du verletzt?“

„Ich bin ein wenig angeknabbert worden, mehr nicht. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.“

„Komm mit“, sagte Muller. Neue Aasfresser marschierten auf dem Platz ein, angezogen von der riesigen Blutlache. Kleine, zahnbewehrte Wesen machten sich mit Feuereifer an die Arbeit, das Trio der Raubschweine zu zerlegen. Rawlins sah mitgenommen aus; er wankte und murmelte vor sich hin. Ohne an seine Ausstrahlung zu denken, packte ihn Muller am Arm und zog ihn mit sich. Rawlins fuhr zusammen und wollte sich aus dem Griff befreien. Aber dann schien er seine Unhöflichkeit zu bereuen und hielt Muller freiwillig den Arm hin. Sie überquerten den Platz. Rawlins zitterte, und Muller wußte nicht, ob das eher der Auswirkung seines eben erlebten Abenteuers zuzuschreiben war oder ob es an seiner Ausstrahlung lag, der Rawlins jetzt so nahe war.

„Hier hinein“, sagte Muller kurz und bündig.

Sie traten in einen sechseckigen Raum. Hier stand Mullers Diagnostat. Er verschloß die Tür, während Rawlins ermattet auf den blanken Boden hinabsank. Sein blondes Haar klebte verschwitzt an der Stirn. Seine Augen bewegten sich unruhig. Die Pupillen waren erweitert.

„Wie lange mußtest du dich gegen die Angriffe wehren?“ fragte Muller.

„Etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten, ich weiß es nicht genau. Es waren mindestens fünfzig Tiere, wahrscheinlich sogar hundert. Ich habe ihnen unablässig das Genick gebrochen. Nur ein kurzes, knackendes Geräusch, weißt du, wie beim Holzhacken. Und dann versenkten sich die Streben im Boden.“ Rawlins lachte wild auf. „Das war der Höhepunkt. Ich war gerade damit fertig geworden, diese kleinen Biester zu vernichten, und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, als diese drei großen Monster herantrabten. Tja, und in diesem Moment verschwand der Käfig dann…“

„Langsam“, sagte Muller. „Du redest so schnell, daß ich gar nicht richtig mitkomme. Kannst du deine Stiefel ausziehen?“

„Ja, das, was von ihnen übrig geblieben ist.“

„Gut. Dann runter damit, und wir flicken deine Beine zusammen. Lemnos hat sicher keinen Mangel an infizierenden Bakterien. Und auch nicht an Protozoen, Pilzen, Trypanosoma und auch anderen Mikroorganismen, soviel ich weiß.“

Rawlins zerrte hilflos an den Schnallen. „Kannst du mir helfen? Ich fürchte, ich werde allein damit nicht fertig…“

„Aber es wird dir nicht gefallen, wenn ich näherkomme“, warnte Muller.

„Na und? Zur Hölle damit!“

Muller zuckte die Achseln. Er ging zu Ned und machte sich daran, die eingerissenen und verbogenen Schnallen zu öffnen. Die Metallteile wiesen Kratzer von kleinen Zähnen auf. Ähnliches ließ sich auch auf den Stiefeln und den Beinen feststellen. Nach wenigen Sekunden war Ned seiner Stiefel und seiner Hose entledigt. Er lag ausgestreckt auf dem Boden, setzte ein schiefes Grinsen auf und bemühte sich, tapfer zu sein. Die Beine sahen übel aus, obwohl keine der Wunden wirklich ernst zu sein schien; es waren halt einfach zu viele. Muller schaltete den Diagnostat ein. Lampen glühten auf, und die Eingabeklappe öffnete sich.

„Ein altes Modell“, sagte Rawlins. „Damit kenne ich mich nicht aus.“

„Schieb einfach die Beine vor den Scanner.“

Rawlins reckte und rührte sich. Seine Beine wurden in blaues Licht getaucht. Im Inneren des Diagnostats ratterte und klickte es. Ein Tupfer wurde auf einem Ausleger ausgefahren und fuhr zielsicher und sanft über Neds linkes Bein, bis er an einem bestimmten Punkt über dem Knie angelangt war. Die Maschine zog den blutbeschmierten Tupfer wieder ein und begann irgendwo im hinteren Teil mit einer Molekularuntersuchung des Abstrichs, während ein zweiter Arm erschien, um Neds rechtes Bein zu desinfizieren und zu reinigen. Rawlins biß sich auf die Unterlippe. Seine Wunden wurden gesäubert und gleichzeitig mit einem Gerinnungsmittel behandelt. Als der Tupfer seine Arbeit beendet hatte, war alles Blut vom Bein verschwunden und die Wunden und leichten Risse in der Haut freigelegt. Das Bein sieht immer noch übel aus, dachte Muller, wenn auch nicht mehr so schlimm wie vorhin.

Der Diagnostat fuhr eine ultrasonische Nadel aus, die Rawlins eine goldfarbene Flüssigkeit ins Hinterteil injizierte. Nach einer zweiten Spritze, diesmal mit einer bernsteinfarbenen Lösung, die wahrscheinlich ein Breitband-Antibiotikum enthielt, um allen Infektionen vorzubeugen, löste sich Neds Anspannung sichtlich. Wenig später fuhren die vielfältigsten Arme der Anlage aus, um Neds Wunden gesondert und intensiver zu inspizieren und die notwendigen Heilmaßnahmen einzuleiten. Es summte im Diagnostat, dann klickte es dreimal. Danach begann die Anlage damit, die Bißwunden mit einer Sprühmasse zu verschließen.

„Bleib still liegen“, erklärte Muller. „In wenigen Minuten hast du alles überstanden.“

„Das hättest du nicht zu tun brauchen“, sagte Rawlins. „Im Camp verfügen wir über ausreichende medizinische Versorgung. Dir gehen ja die Vorräte aus. Du hättest mich von der Drohne ins Lager bringen lassen können, und…“

„Ich lasse nicht zu, daß diese Roboter hier herumfuhrwerken. Und der Diagnostat besitzt für mindestens fünfzig Jahre Vorräte. Ich werde nur selten krank. Das meiste kann die Anlage synthetisch herstellen, zumindest das, was ich benötige. Solange ich ihr von Zeit zu Zeit Protoplasma eingebe, arbeitet sie zur vollsten Zufriedenheit.“

„Dann laß uns dir doch wenigstens Nachschub an etwas selteneren Mitteln aus dem Lager schicken.“

„Schönen Dank, aber kein Bedarf. Barmherzigkeit ist unerwünscht. Aha! Du hast es hinter dir. Wahrscheinlich wirst du nicht einmal Narben zurückbehalten.“

Die Maschine schaltete sich ab. Rawlins zog die Beine an und sah zu Muller auf. Die Verwirrung war aus den Augen des Jungen gewichen. Muller lehnte lässig an einer Wand. Er rieb sich die Schulterblätter an einer Ecke, wo zwei Wände des sechseckigen Raums zusammentrafen, und sagte: „Ich hätte nicht geglaubt, daß die Tiere dich angreifen würden. Sonst hätte ich dich nicht solange allein gelassen. Hattest du denn keine Waffe dabei?“

„Nein.“

„Aasfresser kümmern sich eigentlich nie um lebende Beute. Warum haben sie dich angegriffen?“

„Das muß am Käfig gelegen haben“, sagte Rawlins. „Er hat den Geruch von fauligem Fleisch ausgestrahlt. Ein Köder sozusagen. Und plötzlich kamen sie von allen Seiten. Ich fürchtete schon, sie würden mich bei lebendigem Leib zerreißen.“

Muller lächelte. „Nicht uninteressant. Der Käfig kann also auch zur Falle werden. Wir können eine ganze Menge aus deinem kleinen schrecklichen Abenteuer lernen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mir daran gelegen ist, alles über die Käfige in Erfahrung zu bringen. Nicht nur über sie, sondern auch über alle Geräte und Anlagen in meiner Umgebung. Der Aquädukt zum Beispiel. Oder die Kalenderpfeiler. Der Straßenreinigungsmechanismus. Ich bin dir wirklich dankbar, daß du mir geholfen hast, wieder etwas Neues zu lernen.“

„Da kenn ich noch jemanden, der mit solchen Mitteln Lösungen zu finden sucht“, sagte Rawlins. „Dem es ganz egal ist, wie groß das Risiko ist oder welche Opfer es kostet, solange er nur für ihn wichtige Daten daraus gewinnen kann — Board…“

Er biß sich im letzten Moment auf die Lippen.

„Wer?“

„Bordoni“, sagte Rawlins. „Emilio Bordoni, mein Epistelmologieprofessor im College. Er hat eine sehr interessante Vorlesung gehalten. Eigentlich ging es dabei um angewandte Hermeneutik, eine Veranstaltung über Lernmethoden.“

„Das ist Heuristik“, bemerkte Muller.

„Bist du sicher? Ich dachte eigentlich…“

„Nein, du hattest unrecht“, erklärte Muller. „Du sprichst nämlich mit einem Experten. Hermeneutik ist die Kunst der Interpretation. Ursprünglich diente sie der skriptalen Interpretation, der Auslegung von Texten also, aber inzwischen hat sich das auf alle Kommunikationsformen erweitert. Dein Vater hätte den Unterschied gekannt. Meine Mission nach Beta Hydri IV war ein Experiment in angewandter Hermeneutik. Es war nicht erfolgreich.“

„Heuristik — Hermeneutik.“ Rawlins lachte. „Nun, jedenfalls bin ich froh, daß ich dir helfen konnte, etwas Neues über die Käfige zu lernen. Meine heuristische gute Tat. Bin ich von der nächsten Runde befreit?“

„Schon möglich“, sagte Muller. Auf unerklärliche Weise war das Gefühl über ihn gekommen, etwas Gutes tun zu müssen. Er hatte fast schon vergessen, wie schön es sein konnte, einem anderen zu helfen oder wenig anstrengende, angenehm unwichtige Konversation zu führen. Er fragte: „Trinkst du manchmal, Ned?“

„Alkoholisches?“

„Ja, das meine ich.“

„In Maßen.“

„Das hier ist sozusagen unsere Hausmarke“, erklärte Muller. „Ein Wässerchen, das irgendwo, tief im Innern dieses Planeten, von mysteriösen, im Dunkel hausenden Zwergen hergestellt wird.“ Er holte von irgendwo eine hübsche Flasche und kelchartige Gläser hervor. Vorsichtig kippte er beide Gefäße halbvoll. „Ich beziehe dieses Gebräu aus Zone C“, erklärte er, während er Rawlins ein Glas reichte. „Es kommt aus einem Springbrunnen. Man sollte es Trinkmilch’ nennen, denke ich.“

„Ja, etwa sechzig Prozent Alkohol. Gott allein weiß, was da sonst noch drin ist. Oder wie und woraus es hergestellt wird. Aber ich mag es gern. Einerseits ist es süß, und gleichzeitig hat es einen Beigeschmack von Ingwer. Aber es zieht mächtig rein. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine weitere Falle. Man trinkt sich davon leicht einen unbeschwerten Rausch an… und gerät um so leichter in eine Falle des Labyrinths.“ Er hob sein Glas und prostete Rawlins zu.

„Zum Wohle!“

„Zum Wohle!“

Beide mußten über den archaischen Trinkspruch lachen. Sie leerten die Gläser.

Vorsichtig, Dickie, sagte sich Muller. Du bist auf dem besten Weg, mit diesem Jungen Freundschaft zu schließen. Vergiß darüber nicht, wo du dich befindest. Und warum. Was für ein Typ bist du eigentlich, daß du dich hier so aufführst?

„Darf ich davon etwas ins Camp mitnehmen?“ fragte Rawlins.

„Aber klar doch. Warum?“

„Da ist einer, der dieses Wässerchen sicher zu schätzen weiß. Er ist in dieser und vielen anderen Beziehungen ein Gourmet. Er reist nie ohne seine Hausbar, die sicher hundert verschiedene Schnäpse, Liköre und was weiß ich noch von über vierzig verschiedenen Welten enthält. Es sind so viele, daß ich nicht einmal von allen die Namen weiß.“

„Ist etwas vom Planeten Marduk dabei?“ fragte Muller. „Von den Deneb-Welten? Oder vom Rigel?“

„Ich kann es wirklich nicht sagen. Weißt du, ich trinke ganz gern mal einen. Aber ich bin kein Kenner.“

„Vielleicht hätte dein Freund Lust, mit mir einen kleinen Tauschhandel…“ Muller hielt abrupt inne. „Nein. Nein, vergiß, was ich gesagt habe. Ich werde mich auf nichts einlassen.“

„Du könntest doch mit mir ins Camp kommen“, sagte Rawlins. „Er würde dir sicher erlauben, eine kleine Inspektionsreise durch seine Hausbar zu unternehmen, davon bin ich überzeugt.“

„Sehr geschickt von dir. Nein.“ Muller starrte düster auf sein Glas. „Ich lasse mich nicht übertölpeln, Ned. Mit den anderen will ich nichts zu tun haben.“

„Es schmerzt mich, daß du so denkst.“

„Noch ein Glas?“

„Nein, ich muß mich jetzt langsam auf den Weg ins Camp machen. Es ist schon spät. Es war nicht vorgesehen, daß ich den ganzen Tag hier verbringe. Und sie werden mir die Hölle heiß machen, weil ich heute meine Arbeit nicht erledigt habe.“

„Du warst ja auch längere Zeit im Käfig. Daraus können sie dir doch keinen Vorwurf machen.“

„Vielleicht doch. Gestern haben sie schon ein wenig die Nase gerümpft. Ich glaube, sie haben etwas dagegen, daß ich dich besuche.“

Muller spürte, wie er sich plötzlich wieder verkrampfte.

Rawlins fuhr fort: „Nachdem ich heute mein Tagespensum nicht erledigt habe, wäre ich nicht überrascht, wenn sie mir untersagen würden, weiterhin hierher zu kommen. Ich glaube, da würden sie nicht mehr mit sich spaßen lassen. Ich meine, angesichts der Tatsache, daß du dich nicht sehr kooperativ zeigst, sehen sie es sicher als Zeitverschwendung an, wenn ich dich besuchen gehe. Ich wäre viel nützlicher, wenn ich in Zone E oder F aushelfen würde.“ Rawlins trank den letzten Rest aus seinem Glas und erhob sich dann. Er stöhnte leicht auf. Ned sah auf seine Beine hinab. Der Diagnostat hatte die Wunden mit einer Heilmasse überzogen. Sie war fleischfarben, und man konnte beim besten Willen nicht mehr erkennen, wo die Wunden gewesen waren. Umständlich zog er sich die Reste seiner Hose an. „Ich denke, ich verzichte auf die Stiefel“, sagte er. „Sie sehen so kaputt aus, daß ich mir die Mühe sparen möchte, sie irgendwie um meine Beine zu wickeln. Ich kann auch barfuß ins Camp zurückgehen.“

„Das Pflaster ist glatt und eben“, sagte Muller.

„Gibst du mir etwas von dem Schnaps für meinen Freund mit?“

Schweigend reichte Muller ihm die Flasche. Sie war noch halbvoll.

Rawlins befestigte sie an seinem Gürtel. „Es war ein interessanter Tag. Ich hoffe, ich kann bald wiederkommen.“

4

Als Rawlins sich humpelnd auf dem Weg zu Zone E befand, meldete sich Boardman: „Was machen Ihre Beine?“

„Sie sind noch etwas steif. Aber sie verheilen rasch. Ich schaffe es schon.“

„Passen Sie auf, daß Ihnen die Flasche nicht hinfällt.“

„Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Charles. Sie hängt fest an meinem Gürtel. Ich werde Sie schon nicht Ihres Vergnügens berauben.“

„Ned, hören Sie, wir haben versucht, Drohnen zu Ihnen zu schicken. Ich habe jede dieser schrecklichen Minuten am Bildschirm mitgezittert, als diese Bestien Sie angegriffen haben. Aber uns waren wirklich die Hände gebunden. Muller hat jede einzelne Drohne aufgespürt und vernichtet.“

„Ist schon gut“, sagte Rawlins.

„Er leidet eindeutig an psychischen Störungen. Er hat nicht einen Roboter zu Ihnen durchgelassen.“

„Ist ja nicht mehr schlimm, Charles, schließlich habe ich es überlebt.“

Aber Boardman wollte noch nicht aufhören. „Ich habe mir überlegt, ob Sie nicht besser drangewesen wären, wenn wir nicht versucht hätten, die Drohnen zu Ihnen zu schicken, Ned. Denn die Roboter haben Muller einige Zeit lang beschäftigt. Andernfalls hätte er früher wieder zu Ihnen zum Käfig kommen können, um Sie herauszulassen oder die Aasfresser zu töten. Er…“ Boardman schwieg. Er preßte die Lippen zusammen und tadelte sich selbst wegen seines Gefasels. Ein untrügliches Anzeichen für das Älterwerden. Er befühlte die fleischigen Falten seines Bauchs. Eine neue Verjüngungsbehandlung war vonnöten. Er könnte sich zu einem Sechzigjährigen machen lassen und gleichzeitig den physiologischen Verfall auf den Stand eines biologisch Fünfzigjährigen zurückführen. Älter aussehen, als er es unter der Oberfläche war. Eine raffinierte Fassade, um die innere Raffinesse zu verbergen.

Nach einer langen Weile sagte er: „Es sieht so aus, als wären Muller und Sie mittlerweile gute Freunde geworden. Das gefällt mir. Der Moment ist nicht mehr fern, wo Sie versuchen sollten, ihn herauszulocken.“

„Und wie soll ich das anfangen?“

„Versprechen Sie ihm die Heilung“, sagte Boardman.

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