Zwei

1

Im Zentrum des Labyrinths saß Muller. Er versuchte, sich ein Bild über seine Lage zu machen und die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten abzuwägen. Durch die milchiggrünen Wände der Beobachtungskammer konnte er das Schiff und die Plastikkuppeln, die neben ihm aufgetaucht waren, erkennen. Und auch die winzigen Gestalten, die dort herumliefen. Er wünschte sich jetzt, er hätte bereits die Feineinstellung in der Kammer gefunden. Die Bilder, die er auf den Schirmen empfing, waren schrecklich unscharf. Aber er schätzte sich immer noch glücklich, diese Kammer überhaupt benutzen zu können. Viele der uralten Instrumente in dieser Stadt waren schon vor langer Zeit durch den Ausfall eines wichtigen Teils unbrauchbar geworden. Aber eine erstaunlich große Anzahl von Geräten hatte die Äonen unbeschädigt überstanden und den hohen technischen Stand ihrer Erbauer bewiesen. Aber von den intakt gebliebenen hatte Muller erst bei wenigen die Funktion herausfinden können. Und die bediente er auch noch höchst unvollkommen.

Er beobachtete die verschwommenen Gestalten der Erdmenschen, die dort geschäftig zugange waren, und fragte sich, welche neue Pein sie für ihn vorbereiteten.

Er hatte versucht, keine Spuren über seinen Verbleib zu hinterlassen, als er von der Erde geflohen war. Muller hatte sich ein Schiff gemietet und einen falschen Flugplan mit Ziel Sigma Draconis abgegeben.

Während seines Warpfluges hatte er allerdings sechs Monitorstationen passieren müssen. Aber jeder einzelnen hatte er eine simulierte Rundreise durch die Galaxis angegeben, die so weit wie möglich in eine falsche Richtung führte.

Eine routinemäßige Überprüfung der Monitorstationen würde ergeben, daß Mullers sukzessive Ankündigungen aneinandergereiht reiner Blödsinn waren. Aber er hatte darauf gebaut, seinen Flug beenden und rechtzeitig untertauchen zu können, bevor sie mit ihren Nachforschungen begannen. Offensichtlich hatte er dieses kleine Spielchen sogar gewonnen, denn keine Abfangjäger hatten ihn verfolgt.

Als er nahe Lemnos die Warpzone verließ, führte er sein letztes Verschleierungsmanöver durch. Er ließ das Schiff im Orbit kreisend zurück und flog mit einer Landekapsel auf den Planeten. An Bord des Schiffes hatte er eine vorprogrammierte Bombe zurückgelassen, die es in Moleküle zerblies und die Einzelteile auf Milliarden verschiedener und sich überschneidender Bahnen auf die Reise durchs Universum schickte. Da mußte schon ein ausgeklügelter Computer zur Stelle sein, um den wahrscheinlichen Zusammenhang dieser winzigen Fragmente zu erkennen und von ihnen auf den Standort zu schließen! Die Bombe war konstruiert, pro Quadratmeter Explosionsoberfläche fünfzig falsche Vektoren zu erzeugen. Eine mehr als ausreichende Garantie, daß kein Fährtensucher in einem begrenzten Zeitraum etwas Wesentliches entdecken konnte. Und Muller benötigte nur einen relativ kurzen Zeitraum, etwa sechzig Jahre. Er war fast sechzig gewesen, als er die Erde verlassen hatte. Normalerweise hätte er mit mindestens weiteren hundert gesunden Lebensjahren rechnen können. Aber hier, wo ihm die irdische Medizin nicht mehr zur Verfügung stand und er sich mit nicht mehr als einem billigen Diagnostat behelfen mußte, konnte er im günstigsten Fall noch mit fünf oder sechs Dekaden rechnen. Sechzig Jahre voller Einsamkeit und dann einen friedlichen, ganz privaten Tod, mehr verlangte er gar nicht. Aber nun störte man seine Zurückgezogenheit schon nach neun Jahren.

Waren sie ihm wirklich auf die Spur gekommen?

Muller entschied, daß dem nicht so war. Wenn er eines getan hatte, dann alle nur erdenklichen Vorsorgemaßnahmen getroffen, um eine Entdeckung unmöglich zu machen. Davon abgesehen hatten sie auch gar kein Motiv, ihm zu folgen. Er war kein Ausbrecher, den man einfangen und der Gerechtigkeit wieder zuführen mußte. Er war lediglich ein Mensch mit einem entsetzlichen Leiden, ein abscheuliches Geschöpf in den Augen seiner Rassegenossen. Und ohne Zweifel war die Erde zufrieden, ihn losgeworden zu sein. Für die Menschen war er Objekt der Scham und Stein des Anstoßes zugleich, ein immersprudelnder Quell von Schuldgefühl und schlechtem Gewissen, ein Stich im Bewußtsein der planetaren Gemeinschaft. Das Nützlichste und Beste, was er für seine eigene Art tun konnte, war, sich aus ihrer Mitte zu entfernen. Und das hatte er so gründlich getan, wie ihm das nur möglich gewesen war. Sie würden sich kaum die Mühe machen, nach jemandem zu suchen, der so viel Ekel in ihnen hervorrief.

Aber wer waren dann diese Eindringlinge?

Archäologen, vermutete er. Die Ruinenstadt von Lemnos übte noch immer eine magnetische, fatale Faszination auf sie aus… nicht nur auf sie, auf alle. Muller hatte gehofft, die Gefahren des Labyrinths würden die Menschen fernhalten. Vor über einem Jahrhundert hatte man es entdeckt, aber vor seiner Ankunft Lemnos lange Jahre gemieden. Und das aus gutem Grund: Muller hatte mehrere Male die Leichen derjenigen gesehen, die versucht hatten, das Labyrinth zu betreten, und dabei gescheitert waren. Teilweise hatten ihn selbstmörderische Absichten hierher getrieben, zum anderen hatte er natürlich auch seine übergroße Neugierde befriedigen, hineingelangen und das Geheimnis des Labyrinths lösen wollen, auch aus dem Wissen heraus, daß er im Falle eines erfolgreichen Durchkommens nicht allzu viele Störungen seiner Zurückgezogenheit zu befürchten hatte. Jetzt befand er sich mitten im Labyrinth, trotzdem waren Störenfriede gekommen.

Aber sie werden nicht hineingelangen, beruhigte sich Muller.

Geschützt und geborgen im Herz des Irrgartens sitzend, hatte Muller genügend Beobachtungs- und Überwachungsinstrumente zur Verfügung, um, wenn auch teilweise vage und verschwommen, die Manöver aller lebenden Wesen außerhalb der Mauern zu verfolgen. Er war damit auch in der Lage, die interzonalen Wanderungen der Tiere zu beobachten, die seine Beute werden sollten, und auch die der riesigen Lebewesen, denen er nicht zu nahe kommen durfte. In bescheidenem Umfang konnte Muller sogar die Fallen des Labyrinths kontrollieren. Normalerweise handelte es sich bei ihnen um passive Anlagen. Aber unter gewissen Voraussetzungen konnte man sie in aggressive Tötungsvorrichtungen umwandeln und gegen jeden Feind einsetzen. Mehr als einmal hatte Muller ein elefantengroßes Raubtier in eine unterirdische Fallgrube gelockt, nachdem es sich bis in Zone D vorgewagt hatte. Er fragte sich nun, ob er diese Verteidigungsanlagen auch gegen Menschen einsetzen wollte, sobald sie so weit vordringen würden. Aber er konnte sich darauf keine Antwort geben. In Wirklichkeit haßte er seine eigene Rasse nicht, er zog es nur vor, allein zu bleiben, für sich zu sein, in Ruhe gelassen zu werden.

Er warf einen Blick auf die Bildschirme. Muller befand sich in einer schmucklosen, sechseckigen Kammer — offensichtlich eine ehemalige Wohneinheit im Stadtkern —, von der eine Wand mit Panoramascheiben bestückt war. Er hatte mehr als ein Jahr gebraucht, bis er herausgefunden hatte, welche Teile des Labyrinths mit den Bildern auf den Monitoren korrespondierten. Nachdem er geduldig Kennzeichen ausgemacht und immer neue Markierungspunkte gesetzt hatte, war es ihm gelungen, die matten Abbildungen mit der sonnenhellen Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Die sechs unteren Bildschirme zeigten ihm Ausschnitte aus den Zonen A bis F. Die Kameras, oder was auch immer dahinter stecken mochte, umfaßten einen Bereich von 180° und ermöglichten so den versteckten, geheimnisvollen Augen, die gesamte Region rund um die jeweiligen Zoneneingänge zu überwachen. Da nur ein einziger Eingang sicheren Zugang zu der dahinterliegenden Zone ermöglichte und alle anderen Todesfallen waren, gestatteten die Bildschirme Muller eine effektive Observierung des Vordringens eines jeden umherstreifenden Lebewesens. Es spielte gar keine Rolle, was sich im einzelnen an den Scheineingängen abspielte — jeder, der es dort versuchte, mußte sterben.

Die darüber liegenden Schirme sieben bis zehn übertrugen wahrscheinlich Bilder von den Zonen G und H, den äußersten, weitflächigsten und gefährlichsten im Labyrinth. Muller verspürte keine Verlangen, diese Bereiche noch einmal aufzusuchen, um die Richtigkeit seiner Annahme im Detail zu überprüfen. Ihm reichte es zu wissen, daß diese Monitore Ausblicke auf bestimmte Stellen in den äußeren Zonen gestatteten. Und das Risiko, wieder in diese Zonen einzudringen, um dort genauer festzustellen, was das für bestimmte Stellen waren, war ihm zu groß. Schirm elf und zwölf schließlich zeigten offensichtlich Ausschnitte von der Ebene, die den Irrgarten rundum umgab. Von der Ebene, auf der das Sternschiff von der Erde gelandet war.

Kaum ein anderes von den antiken Erbauern zurückgelassenes Gerät im Labyrinth war ähnlich leicht zu verstehen. Auf einem Podium in der Mitte des Zentralplatzes der Stadt befand sich, abgeschirmt von einem Kristallgewölbe, ein zwölfseitiger, rubinfarbener Stein, in dessen Innern ein raffinierter Mechanismus tickte und pulsierte, der an ein Schloß erinnerte. Muller hielt das Ganze für eine Art Uhr, die von nuklearen Schwingungen angetrieben wurde und die Zeiteinheiten verkündete, nach denen sich ihre Erbauer richteten. Periodisch durchlief der Stein Veränderungen: Seine Außenfläche wurde matt und Ton um Ton immer dunkler, bis sie blau oder sogar schwarz war, und er drehte sich auf seiner Achse. Mullers sorgfältige Aufzeichnungen hatten ihm noch keinen Hinweis auf die Bedeutung dieser Veränderungen geben können. Es gelang ihm nicht einmal, die Periodenfolge zu bestimmen. Die Metamorphosen vollzogen sich nicht willkürlich, aber das Muster, dem sie folgten, entzog sich seinem Verständnis.

An den acht Ecken des Platzes standen acht glatte und spitze Metallpfeiler, die bis in eine Höhe von etwa sechs Metern aufragten. Sie drehten sich im Jahreszyklus in versteckten Lagern, bildeten also anscheinend einen Kalender. Muller wußte, daß sie mit jedem dreißigmonatigen Umlauf des Planeten Lemnos um seinen düster orangeroten Zentralstern eine ganze Umdrehung vollführten. Aber er vermutete einen tief erliegenden Zweck bei diesen schimmernden Pfeilern. Die Suche danach nahm einen großen Teil seiner Zeit ein.

Die Straßen der Zone A waren mit ordentlichen Käfigreihen aus Streben gesäumt, die aus einem alabasterartigen Gestein gehauen waren, Muller entdeckte keine Möglichkeit, diese Käfige zu öffnen. Doch zweimal während seines hiesigen Aufenthalts hatte er nach dem Erwachen festgestellt, daß die Streben zurückgezogen und im steinernen Straßenbelag verschwunden waren. Die Käfige standen weit offen. Beim ersten Mal waren sie drei Tage lang geöffnet gewesen. Dann waren die Streben, während Muller schlief, wieder ausgefahren worden, hatten die Käfige wieder verschlossen und zeigten keine Naht an den Stellen, wo sie sich gelöst hatten. Als die Käfige sich wenige Jahre später wieder öffneten, ließ Muller sie keinen Moment aus den Augen, um hinter das Geheimnis dieses Mechanismus zu kommen. Aber in der vierten Nacht nickte er kurz, aber trotzdem lange genug ein, um den Schließprozeß wieder zu verpassen.

Als ähnlich mysteriös erwies sich auch der Aquädukt. Durch die gesamte Länge von Zone B lief eine Rohrleitung, möglicherweise aus Onyx. In regelmäßigen Intervallen von fünfzig Metern waren dort viereckige Wasserspeier angebracht. Hielt man irgendein Gefäß darunter, selbst eine hohle Hand reichte schon, spien sie reines Wasser aus. Aber wenn Muller versuchte, mit einem ausgestreckten Finger in den Wasserspeier einzudringen, fand er dort weder eine Öffnung, noch konnte er irgendwo eine entdecken, sobald das Wasser ausfloß. Es war ganz so, als käme die Flüssigkeit durch einen durchlässigen Steinpfropfen, obwohl Muller das kaum glauben konnte. Doch war er andererseits dankbar für das frische Wasser.

Es überraschte ihn, daß so viel von der Stadt überlebt hatte. Die Archäologen waren auf Grund ihrer Studien an Artefakten und Skeletten, die man außerhalb des Labyrinths auf Lemnos gefunden hatte, zu dem Schluß gekommen, daß es seit über einer Million Jahren — man sprach sogar von fünf oder sechs Millionen — kein intelligentes Leben mehr auf dieser Welt gab. Muller war nur Amateurarchäologe, aber er besaß genügend praktische Erfahrung, um die Auswirkungen der Kräfte der Zeit zu kennen. Die Fossilien in der Ebene waren eindeutig uralt, und die Schichtungen an den Außenmauern der Stadt bewiesen, daß das Labyrinth aus der gleichen Zeit wie die Fossilien stammen mußte.

Und trotzdem schien der größte Teil der Stadt, die höchstwahrscheinlich noch vor der Entstehung des Menschen auf der Erde erbaut worden war, von den Erosionskräften der Zeit unberührt zu sein. Teilweise konnte man das trockene Klima auf Lemnos dafür verantwortlich machen. Hier gab es keine Stürme, und seit Mullers Ankunft war noch kein Tropfen Regen gefallen. Aber der Wind und der von ihm aufgewirbelte Sand konnten Wände und Straßen angreifen. Aber auch dafür ließen sich im Irrgarten keine Anzeichen finden. Auch hatte sich der Flugsand nirgendwo auf den Straßen zu Verwehungen angehäuft. Muller kannte den Grund dafür: Verborgene Pumpen sammelten und saugten allen Unrat auf und hielten jede Stelle makellos sauber. Muller hatte einmal ganze Hände voll Erdreich aus den Gartenanlagen der Stadt genommen und damit eine Spur hinter sich hergezogen. Binnen Minuten hatten die kleinen Erdhäufchen damit begonnen, über den spiegelglatten Straßenbelag zu rutschen, und waren schließlich in Öffnungen verschwunden, die sich kurz an den Nahtstellen zwischen Gebäuden und Boden geöffnet hatten und sich ebenso rasch wieder schlossen.

Offenbar lag unter der Stadt ein ganzes Netzwerk unzerstörbarer Maschinenanlagen — unvergängliche Instandhaltungsgerätschaften, die die Stadt vor dem Biß des Zahns der Zeit bewahrten. Muller war es noch nie gelungen, zu diesem unterirdischen Maschinenpark vorzustoßen. Er besaß einfach nicht das geeignete Werkzeug, um das Pflaster zu durchstoßen. Es schien an jeder Stelle unzerstörbar. Mit selbstangefertigten Geräten hatte er begonnen, in den Gartenanlagen ein Loch zu graben. Er hatte gehofft, auf diese Weise den unterirdischen Teil der Stadt zu erreichen. Aber nachdem er ein Loch bis zu einer Tiefe von fast fünf Metern gegraben hatte und später ein zweites, noch tieferes, war er auf keinen Hinweis gestoßen, daß sich unter den Gärten etwas anderes als weiteres Erdreich befunden hätte. Aber irgendwo mußten die heimlichen Wächter doch stecken: die Anlagen, die die Panoramascheiben in Gang hielten, die Straßen reinigten, das Mauerwerk instand hielten und die mörderischen Fallen kontrollierten, mit denen die äußeren Zonen des Labyrinths bestückt waren.

Es war kaum vorstellbar, daß eine Rasse eine solche Stadt erbauen konnte. Eine Stadt, die dazu angelegt war, die Jahrmillionen zu überdauern. Und noch unfaßbarer war die Antwort auf die Frage, wie und warum sie verschwunden waren. Ging man davon aus, daß die Knochen, die man in den Gräbern außerhalb der Mauern gefunden hatte, von den Erbauern stammten — und diese Annahme stand keinesfalls auf sicheren Füßen —, dann war die Stadt von stämmigen Humanoiden errichtet worden, die im Durchschnitt ein Meter fünfzig groß gewesen waren und unglaublich breite Brustkörbe und Schultern, lange, geschickte Finger — an jeder Hand acht — und kurze, dreigliedrige Beine besessen hatten.

Sie waren nirgends auf den bekannten Welten der Galaxis aufzufinden, und in keinem Sternsystem waren mögliche Nachfolger von ihnen entdeckt worden. Vielleicht hatten sie sich in eine weit entfernte Galaxis zurückgezogen, in die der Mensch noch nicht vorgestoßen war. Möglicherweise waren sie aber auch eine Rasse gewesen, die nie Raumfahrt betrieben hatte. Eine Rasse, die sich hier auf Lemnos entwickelt hatte und auf dieser Welt auch wieder zugrunde gegangen war und nur die Stadt als ihr Monument zurückgelassen hatte.

Sonst ließen sich auf dem Planeten nirgends Spuren einer Besiedelung ausmachen. Allerdings hatte man Grabstätten, die sich kreisförmig um die Stadt zogen, selbst noch in einer Entfernung von tausend Kilometern vom Labyrinth entdeckt, wenn auch in immer bescheidenerem Maße. Möglich, daß die lange Zeit alle ihre Siedlungen bis auf diese eine Stadt erodiert hatte. Möglich aber auch, daß diese Stadt, die etwa eine Million Einwohner aufnehmen konnte, ihre einzige gewesen war. Es gab keinen Hinweis, der ihr Verschwinden geklärt hätte. Das teuflische Genie, das sich hinter der Konstruktion des Irrgartens erkennen ließ, legte den Schluß nahe, daß sie in ihren letzten Tagen von einem Feind bedrängt worden waren und sich in diese furchtbare Festung zurückgezogen hatten. Aber Muller wußte, daß auch diese Theorie nur blanke Spekulation war. Und er wußte nur mit Bestimmtheit, daß dieses Labyrinth das Erzeugnis einer kulturellen Paranoia war und keinen Hinweis auf die aktuelle Existenz einer äußeren Bedrohung zuließ.

Waren sie vielleicht von Invasoren heimgesucht worden, für die der Irrgarten kein Problem darstellte und die sie auf ihren glatten Straßen abgeschlachtet hatten? Und hatten die mechanischen Hüter danach die Knochen der Toten beseitigt? Es gab keine Möglichkeit, das noch in Erfahrung zu bringen. Sie waren verschwunden. Als Muller die Stadt betreten hatte, war sie still und verlassen gewesen, so als hätte sie nie Leben in ihren Mauern beherbergt. Eine automatische, eine sterile, eine fehlerlose Stadt — nur von Tieren bewohnt. Sie hatten Millionen Jahre Zeit gehabt, den Weg durch das Labyrinth zu finden und davon Besitz zu ergreifen. Muller hatte zwei Dutzend verschiedene Säugetierarten gezählt, in allen Formen und Größen, angefangen von einem rattenartigen bis zu einem elefantenähnlichen Tier. Es gab Grasfresser unter ihnen, die sich an den städtischen Gärten gütlich taten, und Raubtiere, die sich von den Pflanzenfressern ernährten. Insgesamt eine anscheinend funktionierende Biosphäre. Die Stadt im Labyrinth erinnerte an Jesaias Wort über Babylon: Die wilden Tiere der Wüste sollen in Dir lagern; und Eure Häuser sollen angefüllt sein mit beklagenswerten Kreaturen; und Eulen werden sich dort niederlassen, Satyre dort tanzen.

Jetzt gehörte die Stadt ihm. Den Rest seines Lebens würde er damit verbringen, ihre Geheimnisse zu entschleiern.

Andere waren vor ihm hierher gekommen, und nicht alle waren menschlich gewesen. Bei seinem Eintritt war Muller der Anblick derjenigen nicht erspart geblieben, die dabei gescheitert waren, den richtigen Weg zu finden. Er hatte eine Gruppe menschlicher Skelette in den Zonen H, G und F entdeckt. Drei Menschen waren bis in Zone E vorgestoßen, einer sogar nach D. Muller hatte erwartet, auf ihre Gebeine zu stoßen. Was ihn aber überraschte, war die Ansammlung außerirdischer Knochen. In H und G hatte er die Überreste großer, drachenähnlicher Wesen gesehen, an deren Skeletten immer noch die Fetzen ihrer Raumanzüge hingen. Eines Tages mochte bei ihm vielleicht die Neugierde über die Angst triumphiert haben, und er kehrte dorthin zurück, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Näher am Zentrum befand sich eine ganze Sammlung unterschiedlicher Lebensformen. Die meisten waren humanoid, wenn sie auch immer etwas von der Standardstruktur abwichen. Wie lange ihr Besuch zurücklag, konnte Muller nicht einmal schätzen. Ob durch das trockene Klima freiliegende Skelette länger als ein paar hundert Jahre überdauern konnten? Die galaktischen Überreste waren ständige ernüchternde Mahnung an etwas, über das sich Muller längst im klaren war: Trotz der zweihundert Jahre interstellarer Reisen, die die Menschheit nun hinter sich gebracht hatte und in denen sie nur einer außerirdischen Rasse begegnet war, beherbergte das Universum eine Fülle unterschiedlichster Lebensformen. Und früher oder später würde die Menschheit auf sie stoßen. Der Friedhof auf Lemnos enthielt die Überreste von einem guten Dutzend verschiedener Rassen. Es schmeichelte Mullers Ego, diese Erkenntnis offensichtlich ganz allein zu besitzen. Aber es bereitete ihm keine Freude, um die Mannigfaltigkeit des Universums zu wissen. Er hatte die Nase von Galaxien gestrichen voll.

Wie eigenartig der Umstand war, daß er die Knochenreste wahllos im Irrgarten aufgefunden hatte, ging ihm erst nach einigen Jahren auf. Er wußte, daß die Instandhaltungsmechanismen der Stadt allen Schmutz und Abfall restlos beseitigten. Sie säuberten alles, angefangen von Staubpartikeln bis zu den Knochen der Tiere, die Muller nach dem Verspeisen wegwarf. Nur die Skelette der Eindringlinge im Labyrinth wurden dort belassen, wo sie gerade lagen. Warum wurde hier das Sauberkeitsprinzip so verletzt? Warum wurde der Kadaver eines elefantengroßen Tieres, das in eine Energieschlinge geraten war, beseitigt und gleichzeitig die Überreste des abgeschlachteten Drachenwesens in derselben Schlinge unberührt liegengelassen? Weil der Drachen eine Art Schutzkleidung trug, also intelligent war? Leichen intelligenter Wesen, das wurde Muller klar, wurden unbekümmert liegengelassen.

Als Warnung: LASST ALLE HOFFNUNG FAHREN, IHR, DIE IHR HIER EINTRETET.

Diese Skelette waren Bestandteil der psychologischen Kriegsführung, die von der seelenlosen, unsterblichen, diabolischen Stadt gegen alle Eindringlinge eingesetzt wurde. An allen Ecken und Enden wurde man an die Gefahren erinnert. Sie lauerten überall. Woran die Wachmechanismen den feinen Unterschied zwischen Leichen erkannten, die liegengelassen werden konnten, und solchen, die weggeräumt werden mußten, blieb Muller ein Rätsel. Aber er war davon überzeugt, daß hier nach bestimmten Auswahlkriterien vorgegangen wurde.

Er sah wieder auf die Bildschirme und beobachtete die winzigen Gestalten, die auf der Ebene rund um das Schiff irgendwelchen Beschäftigungen nachgingen.

Sollen sie nur hereinkommen, dachte er. Die Stadt hat schon seit Jahren keine Opfer mehr gehabt. Sie wird sich schon um sie kümmern. Dort, wo ich bin, bin ich sicher und geborgen.

Und er wußte, selbst wenn ein Wunder geschah und sie ihn erreichen konnten, würden sie nicht lange bleiben. Seine eigene, ganz besondere Krankheit würde sie schon vertreiben. Sie mochten vielleicht geschickt genug sein, das Labyrinth zu bezwingen. Aber sie würden die Pein nicht ertragen, die Richard Muller seiner eigenen Spezies gegenüber unerträglich machte.

„Geht weg“, sagte Muller laut.

Er hörte das Schwirren eines Rotors und trat aus seiner Behausung. Er sah, wie ein dunkler Schatten über den Platz strich. Sie erkundeten den Irrgarten aus der Luft. Rasch lief er wieder hinein. Dann mußte er über sein plötzliches Bedürfnis, sich verstecken zu wollen, lächeln. Natürlich konnten sie ihn ausmachen, wo immer er sich auch aufhielt. Ihre Meßgeräte würden ihnen verraten, daß ein menschliches Wesen im Labyrinth wohnte. Und dann würden sie natürlich überrascht sein und mit ihm Kontakt aufnehmen wollen, obwohl sie gar nicht wissen konnten, wer er war. Und danach…

Muller verkrampfte, als ein plötzlicher, übermächtiger Wunsch ihn erfüllte: Menschen, die zu ihm kamen. Wieder mit Menschen reden können. Ein Ende seiner Isolation. Er wollte sie hier haben.

Aber dieser Wunsch währte nur einen Augenblick. Nach dem plötzlichen Aufwallen, dem Bedauern seiner Einsamkeit, setzte sich der kühle Verstand wieder durch… das frostkalte Wissen darum, wie es sein würde, seinesgleichen wieder zu begegnen. Nein, dachte er. Bleibt draußen! Oder verreckt im Irrgarten. Bleibt draußen. Bleibt draußen. Bleibt draußen.

2

„Direkt dort unten“, sagte Boardman. „Dort muß er sich aufhalten, Ned. Sie können doch das Glühen auf der Sichtscheibe sehen. Wir haben die richtige Masse, die richtige Dichte, alles stimmt. Ein lebendiger Mensch. Und es kann nur Muller sein.“

„Im Herzen des Labyrinths“, sagte Rawlins. „Also hat er es wirklich geschafft!“

„Irgendwie schon.“ Boardman starrte auf den Bildschirm. Aus der Höhe von etlichen Kilometern hatte er einen ausgezeichneten Blick auf die innere Struktur der Stadt. Er konnte acht verschiedene Zonen ausmachen. Jede einzelne besaß einen eigenen architektonischen Stil mit ihren Plätzen und Promenaden, ihren verwinkelten Mauern und Wänden, ihrem Gewirr von Straßen, die in einem unerklärlichen Muster zusammenliefen. Die Zonen waren konzentrisch angelegt. Sie breiteten sich von einem weiten Platz im Zentrum fächerförmig aus. Der Massedetektor im Hubschrauber hatte Muller in einer niedrigen Gebäudereihe gefunden, direkt am östlichen Rand des großen Platzes. Boardman konnte allerdings nirgends eine eindeutige Passage zwischen den verschiedenen Zonen entdecken. An Sackgassen mangelte es nicht. Doch selbst aus der Luft war der einzige richtige Weg nicht auszumachen. Was aber, wenn man sich unterirdisch vorarbeitete?

Auch die Unmöglichkeit dieses Weges war Boardman bekannt. Der Zentralcomputer im Schiff hatte die Berichte der früheren Expeditionen gespeichert, die das versucht hatten und gescheitert waren. Boardman hatte alle verfügbaren Informationen über die verschiedenen Bemühungen mitgebracht, in das Labyrinth einzudringen. Und darunter gab es nicht eine, die einem hätte Mut machen können. Bis auf die verblüffende, aber nicht zu verleugnende Tatsache, daß Muller es geschafft hatte.

„Das hört sich jetzt vielleicht etwas naiv an, Charles“, sagte Rawlins, „aber warum landen wir nicht einfach mitten auf dem großen Platz?“

„Das werde ich Ihnen sofort zeigen“, antwortete Boardman.

Er gab einen Befehl. Eine Robotsonde löste sich aus dem Bauch des Hubschraubers und flog die Stadt an. Boardman und Rawlins folgten mit ihren Blicken dem Flug des mattgrauen Metallprojektils, bis es sich nur noch wenige Meter über den Dächern der Gebäude befand. Durch das facettenartige Spionauge der Sonde erhielten sie eine ausgezeichnete Aussicht auf die Stadt und selbst auf das fein verschlungene Material des Mauerwerks und der anderen Bauten. Plötzlich verschwand die Sonde. Erst erschien eine weißglühende Stichflamme, dann grünlicher Rauch, und plötzlich war nichts mehr da.

Boardman nickte. „Nichts hat sich geändert. Das Schutzfeld über der Anlage ist immer noch vorhanden. Es pulverisiert alles, was von oben durchzustoßen versucht.“

„Auch Vögel, die zu nahe herankommen?“

„Auf Lemnos gibt es keine Vögel.“

„Und Regentropfen. Irgend etwas muß doch auf die Stadt fallen.“

„Auf Lemnos regnet es nie“, sagte Boardman scharf. „Zumindest nicht auf diesem Kontinent. Somit braucht sich das Feld nur darauf zu konzentrieren, Fremde fernzuhalten. Das wissen wir bereits seit der ersten Expedition. Einige brave Männer haben das am eigenen Leib zu spüren bekommen.“

„Warum haben sie denn nicht zuerst eine Sonde losgeschickt?“

Boardman lächelte und sagte: „Wenn man inmitten einer Wüste auf einer toten Welt eine leere Stadt findet, erwartet man eigentlich nicht, sofort vernichtet zu werden, sobald man in ihr landet. Im Grunde ein verzeihlicher Fehler, der nur den einen Haken hat, daß Lemnos keine Fehler durchgehen läßt.“ Er gab einen neuen Befehl, und der Hubschrauber ging tiefer und folgte einige Zeit dem Verlauf der äußeren Mauern. Danach stieg er wieder auf und schwebte über dem Zentrum der Stadt, damit von dort Photos gemacht werden konnten. Das Sonnenlicht glitzerte in fremdartiger Farbenpracht auf einer Spiegelhalle. Boardman spürte eine Unruhe in sich, die ihn erstarren ließ. Wieder und wieder kreisten sie über der Stadt und flogen alle vorgesehenen Markierungspunkte ab. Boardman entdeckte plötzlich, wie er sich mit schmerzhafter Intensität wünschte, ein plötzlicher Energiestrahl würde von den Spiegeln dort unten hochschießen und sie unverzüglich einäschern — und ihm damit den Ärger abnehmen, diesen Auftrag ausführen zu müssen. Er hatte den Geschmack an der Kleinarbeit verloren, hier standen zu viele kleine und wichtige Details zwischen ihm und dem Ziel seiner Arbeit. Es hieß, Ungeduld sei ein Zeichen für Jugend, und alte Männer knüpften ihre Netze mit Geschick und führten ihre Pläne mit Gelassenheit aus. Aber irgendwie sehnte sich Boardman danach, den Job so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Einfach irgendwelche Drohnen, Sondierungsroboter, auf ihren Metallfüßen durch das Labyrinth jagen, um Muller zu finden und herauszuzerren. Dann dem Mann klar machen, was man von ihm wollte, und ihn dazu bringen, daß er mitmachte. Und danach ganz, ganz schnell zurück zur Erde. Auch diese Stimmung verging wieder. Boardman war wieder der alte, gerissene Fuchs.

Captain Hosteen, der die Expedition in das Innere des Labyrinths leiten sollte, kam nach achtern, um Boardman zu begrüßen. Er war ein kleiner, schwergewichtiger Mann mit einer flachen Nase und sonnengebräunter Hautfarbe. Er trug seine Uniform so, als würde er glauben, sie könne jeden Moment von seiner linken Schulter rutschen. Aber Boardman wußte, was für ein fähiger Mann er war, bereit, ein ganzes Dutzend Leben, sein eigenes eingeschlossen, zu opfern, um in dieses Labyrinth zu kommen.

Hosteen warf rasch einen Blick auf den Schirm, sah dann zu Boardman und sagte: „Schon irgendwas herausgefunden?“

„Nein, nichts Neues. Uns steht ein hartes Stück Arbeit bevor.“

„Wollen Sie ins Lager zurück?“

„Es gibt im Moment hier eigentlich nichts mehr zu tun“, sagte Boardman. Er sah zu Rawlins. „Außer, Sie wollen noch irgend etwas überprüfen, Ned?“

„Ich? Äh, nein… nein. Doch, nun, ich frage mich, ob wir überhaupt selbst ins Labyrinth müssen? Ich meine, wenn wir Muller irgendwie herauslocken könnten, ihn dazu überreden, die Stadt zu verlassen…“

„Nein.“

„Besteht dazu keine Aussicht?“

„Nein“, antwortete Boardman nachdrücklich. „Punkt eins: Muller käme nicht heraus, wenn wir ihn darum bitten. Er ist ein Misantroph, wie Sie sicher bereits mitbekommen haben. Er hat sich hier irgendwo eingebuddelt, um möglichst weit von der Menschheit weg zu sein. Warum sollte er sich jetzt mit uns zusammentun wollen? Punkt zwei: Wir können ihn nicht nach draußen bitten, ohne ihn allzuviel von dem erfahren zu lassen, was wir mit ihm vorhaben. Bei diesem Job, Ned, müssen wir unsere Trümpfe zusammenhalten und dürfen sie nicht gleich alle zu Anfang ausspielen.“

„Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.“

Geduldig antwortete Boardman: „Angenommen, wir entscheiden uns für Ihre Taktik. Was würden Sie Muller denn erzählen, um ihn herauszulocken?“

„Nun, äh, daß wir von der Erde kommen und ihn bitten möchten, uns in der Zeit einer systemweiten Krise zu helfen. Daß wir auf eine fremde Rasse gestoßen sind, mit der keine Verständigung möglich scheint. Daß wir mit ihnen schnellstmöglich Kontakt aufnehmen müßten und nur er dazu der geeignete Mann ist. Wir…“ Rawlins hielt inne, so als sei ihm die Naivität seiner Worte gerade zu Bewußtsein gekommen. Seine Wangen liefen rot an. Mit krächzender Stimme sagte er nach einer Weile: „Muller wird sich einen Dreck um diese Argumente scheren, nicht wahr?“

„Ganz genau, Ned. Die Erde hat ihn schon einmal zu einer Gruppe Außerirdischer geschickt, und die haben ihn kaputtgemacht. Er wird kaum Lust verspüren, so etwas nochmal auf sich zu nehmen.“

„Aber wie wollen wir ihn dann dazu bringen, uns zu helfen?“

„Indem wir ihn an seiner Ehre kitzeln. Aber im Augenblick ist das noch nicht unser Problem. Im Moment ist für uns die Frage viel wichtiger, wie wir ihn aus seinem Bau herausbekommen. Sie haben also den Vorschlag gemacht, wir stellen einen großen Lautsprecher auf und erklären ihm genau, was wir wollen. Und danach brauchen wir nur zu warten, wie er vor Freude hüpfend herauskommt und inständig schwört, sein Bestes zu geben, wenn es nur der guten alten Erde nützt. Nicht wahr?“

„So ähnlich.“

„Aber das funktioniert nicht. Deshalb müssen wir uns persönlich ins Labyrinth bemühen, Mullers Vertrauen und ihn für eine Zusammenarbeit mit uns gewinnen. Und wenn wir Erfolg haben wollen, dürfen wir kein Sterbenswörtchen über die wahre Lage verlautbaren lassen — bis wir ihm sein Mißtrauen ausgeredet haben.“

Rawlins Gesicht drückte erneut aus, daß er auf der Hut sein wollte. „Und was werden wir ihm also erzählen, Charles?“

„Nicht wir. Sie.“

„Nun gut, was also soll ich ihm erzählen?“

Boardman seufzte leise. „Lügen, Ned, nichts als einen Haufen Lügen.“

3

Sie hatten jede erdenkliche Ausrüstung zur Lösung der Probleme mit dem Labyrinth nach Lemnos mitgebracht. Der Schiffscomputer war allein schon eine erstklassige Anlage und hatte alle Daten von jeder früheren irdischen Expedition gespeichert, die den Versuch unternommen hatte, in die Stadt einzudringen. Nur ein Versuch fehlte, unglücklicherweise der einzige, dem Erfolg beschieden gewesen war. Aber auch die Unterlagen über Fehlschläge aus der Vergangenheit haben ihren Nutzen. Das Schiff besaß weiterhin mehr als ausreichend mobiles Sondierungsinventar: fliegende und Landdrohnen, Spionaugen, Sensoren und vieles mehr. Bevor ein Menschenleben dem Labyrinth ausgesetzt würde, wollten Boardman und Hosteen das ganze mechanische Aufgebot ausprobieren. Maschinen konnten im Gegensatz zu einem Menschenleben geopfert werden. Das Schiff hatte auch eine Reihe von Anlagen, mit denen ohne großen Aufwand alle zerstörten Geräte nachproduziert werden konnten. Aber eines Tages würde der Moment kommen, wo Drohnen und Sonden nicht mehr ausreichten und die Menschen ihre Rolle übernehmen mußten. Ihre Aufgabe bestand hauptsächlich darin, für die Menschen so viele Informationen wie möglich zu sammeln, damit diese sich ihrer bedienen konnten.

Noch nie zuvor hatte jemand versucht, das Labyrinth auf diese Weise zu besiegen. Frühere Expeditionen waren, nichts Böses ahnend, einfach hineinmarschiert und dabei ums Leben gekommen. Ihre Nachfolger hatten genug aus ihrem Scheitern gelernt, um die Hauptfallen zu meiden. Und in gewissem Umfang hatten sie sich auch mit ausgeklügelten Sonden weitergeholfen. Aber hier handelte es sich um den ersten Versuch einer konzentrierten Voraberforschung mit mechanischen Hilfsmitteln, bevor die Menschen es selbst wagen wollten. Niemand im Lager war übermäßig zuversichtlich, daß sie mit dieser neuen Methode ungeschoren eindringen konnten, aber es war der beste denkbare Weg, das Problem zu lösen.

Die Erkundungsflüge am ersten Tag hatten jedermann einen guten visuellen Eindruck von den Ausmaßen des Labyrinths vermittelt. Im Grunde genommen hätten sie gar nicht den Boden zu verlassen brauchen. Sie hätten sich in aller Ruhe im Lager die Bilder auf den großen Schirmen ansehen können und trotzdem eine genaue Vorstellung von der Anordnung und Zusammensetzung der Stadt gewinnen können, indem sie den fliegenden Drohnen die ganze Arbeit überlassen hätten. Aber Boardman war anderer Ansicht gewesen und hatte sie auch hartnäckig vertreten. Der menschliche Verstand registriert auf gewisse Weise Informationen von einem Bildschirm, aber es ist etwas ganz anderes, wenn er diese Eindrücke aus erster Hand, durch die eigenen Sinne erhält. Und jetzt hatten alle mitbekommen, wie die Stadt von der Luft aus aussah und was die Anlagen des Labyrinths mit einem Spionauge anstellen konnten, das sich zu nahe an das Schutzfeld heranwagte, das die ganze Stadt überspannte.

Rawlins hatte auf die Möglichkeit eines Nullpunkts oder einer neutralen Stelle im Schutzschirm aufmerksam gemacht. Am späten Nachmittag untersuchten sie diese Theorie: Eine Flugdrohne wurde mit Metallkugeln beladen und fünfzig Meter über dem höchsten Punkt des Labyrinths stationiert. Auf den Bildschirmen wurde übertragen, wie die Drohne sich langsam drehte und dabei einzelne Kugeln auf ausgesuchte Stellen von einem Quadratmeter Größe verschoß. Jede einzelne wurde von der Energie des Schirms im Flug vernichtet. Aber die Menschen erfuhren dabei, daß die Dicke des Schutzfelds variierte: Vom Rand zum Zentrum wurde es immer dünner. Über den innersten Zonen betrug die Dicke nur noch zwei Meter, während sie am Außenrand ein Vielfaches davon aufwies — und so eine unsichtbare Schüssel über der Stadt bildete. Aber nirgendwo gab es eine Lücke oder einen Nullpunkt. Das Feld war dicht. Hosteen probierte danach die Möglichkeit aus, ob der Schirm überlastet werden konnte. Er belud die Drohne erneut mit Metallkugeln, die nun simultan auf die einzelnen Testvierecke verschossen wurden. Das Feld wurde mit allen mühelos fertig. Einen Moment lang vereinigten sich die Flammen und bildeten eine Feuerschicht über der Stadt.

Auf Kosten von einigen Maulwurfsdrohnen fanden sie heraus, daß man auch nicht durch einen Tunnel in die Stadt eindringen konnte. Die Roboter gruben sich ein Stück von den Außenwällen entfernt in den grobkörnigen, sandigen Boden, fraßen sich fünfzig Meter unter der Oberfläche Tunnel und stießen wieder nach oben, als sie sich unter dem Labyrinth befanden. Zwanzig Meter unter der Oberfläche vernichtete sie das Schutzfeld. Auch der Versuch, sich direkt an der Basis der Wälle in den Boden zu graben, scheiterte. Das Feld erstreckte sich offensichtlich kugelförmig um die Stadt.

Ein Energiefachmann schlug vor, eine Störanlage zu errichten, die dem Schirm die Energie entziehen sollte. Aber auch das war ein Fehlschlag. Der hundert Meter hohe Störmast saugte zwar so viel ab, daß blaue Blitze zwischen ihm und seinen Akkumulatoren hin und her sprangen, aber das Schutzfeld blieb stabil. Der Mast wurde umgepolt und schickte eine Million Kilowatt in das Feld, um es kurzzuschließen. Aber der Schirm saugte die ganze Energie in sich auf und schien gar nicht genug bekommen zu können. Niemand im Lager konnte mit einer vernünftigen Theorie aufwarten, woher das Feld seine Energie bezog und was es aufrecht erhielt. „Es muß direkt die Rotationsenergie des Planeten anzapfen“, sagte der Energiefachmann, der den Versuch mit dem Mast unternommen hatte. Dann begriff er, daß er sich diese Bemerkung auch hätte sparen können, und rief in barschem Ton Befehle in das Mikrophon, das er mit sich führte.

Nach drei Tagen ähnlicher Versuche war klar, daß die Stadt gegen jeden gewaltsamen Invasionsversuch gefeit war, ob er nun über oder unter der Erde erfolgte.

„Es gibt nur einen Weg hinein“, sagte Hosteen, „und zwar zu Fuß und durch das Haupttor.“

„Wenn die Bewohner der Stadt wirklich in Sicherheit leben wollten“, fragte Rawlins, „warum haben sie dann ein Tor offengelassen?“

„Vielleicht wollten sie selbst auch hin und wieder die Stadt verlassen und wieder betreten können, Ned“, meinte Boardman gelassen. „Oder sie wollten Invasoren eine faire Chance geben. Hosteen, sollen wir damit beginnen, die Drohnen hineinzuschicken?“

Ein grauer Morgen. Wolken in der Farbe von Holzrauch überzogen den Himmel. Es sah beinahe so aus, als stünde Regen an. Ein rauher Wind fegte lose Erde von der Ebene und schleuderte sie den Männern in die Gesichter. Hinter dem Wolkenschleier stand irgendwo die Sonne, eine flache, orangefarbene Scheibe, die an den Himmel geklebt zu sein schien. Sie wirkte nur wenig größer als Sol von der Erde aus gesehen. Aber sie war nur halb so weit weg. Die Sonne vom Planeten Lemnos war ein trüber Zwerg der M-Klasse, ein kalter, müder und alter Stern, der von einem Dutzend greiser Planeten umkreist wurde. Lemnos, der innerste Planet, war der einzige, der jemals Leben hervorgebracht hatte. Alle anderen Trabanten waren unfruchtbar und tot, lagen jenseits der lebensspendenden Strahlen dieser kraftlosen Sonne, waren vom Kern bis zur Oberfläche gefroren. Es war ein schläfriges Sonnensystem mit so geringer Anziehungskraft, daß selbst der sonnennächste Planet auf einem dreißigmonatigen Orbit bummelte. Die drei flinken Monde von Lemnos, die in überschneidenden Bahnen nur wenige tausend Kilometer über der Planetenoberfläche dahinsausten, wollten so gar nicht zu der in diesem System vorherrschenden Stimmung passen.

Ned Rawlins war nicht ganz wohl ums Herz, als er etwa tausend Meter von den Außenwällen entfernt neben dem Datenterminal stand und seine Kameraden die Roboter und Instrumente bereitstellten. Nicht einmal der tote Mars mit seiner pockennarbigen Oberfläche hatte den Jungen so beeindrucken können wie diese Welt. Denn der Mars war eine Welt, die niemals Leben hervorgebracht hatte, während hier auf Lemnos eine blühende Kultur existiert hatte und wieder vergangen war. Lemnos war heute wie ein Leichenhaus. In Theben hatte er einmal das Grab eines Pharaonenberaters besucht, der vor fünftausend Jahren gestorben war. Während die anderen aus der Gruppe nur Augen für die wunderbaren Wandmalereien gehabt hatten, die in lebendigen Szenen weißgekleidete Gestalten darstellten, die auf dem Nil ruderten, hatte er lediglich auf den kühlen Steinboden starren können, wo ein toter Käfer mit nach oben gereckten, hakenbesetzten Beinen auf einem kleinen Staubhaufen gelegen hatte. Für ihn würde Ägypten immer dieser erstarrte Käfer im Staub sein. Und Lemnos würde für ihn immer Herbstwinde, eine blank gefegte Ebene und die schweigende Stadt bedeuten. Ned fragte sich, warum ein Mensch, der so begabt und so voller Leben, Energie und menschlicher Wärme gewesen war wie Dick Muller, sich aus freien Stücken in dieses traurig schreckliche Labyrinth zurückgezogen hatte.

Dann erinnerte er sich, was Muller auf Beta Hydri IV zugestoßen war, und kam zu dem Schluß, daß selbst eine Persönlichkeit wie Muller gute Gründe gehabt haben mußte, sich auf einer Welt wie dieser zu verkriechen — in einer solchen Stadt. Lemnos war eine ausgezeichnete Zuflucht: eine erdähnliche Welt, außerdem unbewohnt und fast mit einer Garantie versehen, von menschlicher Gesellschaft frei zu sein. Und wir sind hier, um ihn herauszuscheuchen und fortzuschleppen. Neds Miene verfinsterte sich. Wie schmutzig, dachte er, wie schmutzig und gemein. Das alte Lied vom Zweck, der alle Mittel heiligt. Ein Stück weiter konnte Rawlins die stämmige Gestalt von Charles Boardman sehen, der direkt vor dem großen Datenterminal stand und mit den Armen in verschiedene Richtungen zeigte, um den Männern an den Außenwällen Anweisungen zu geben. Allmählich kam Ned zu der Erkenntnis, von Boardman zu einer unschönen Sache überredet worden zu sein. Der aalglatte alte Teufel hatte sich daheim auf der Erde gar nicht erst auf Einzelheiten eingelassen, hatte nichts über die Art und Weise verlauten lassen, mit der Muller zur Zusammenarbeit gebracht werden sollte. Aus Boardmans Mund hatte sich das Unternehmen wie ein glorienbeschienener Kreuzzug für eine gerechte Sache angehört. Statt dessen handelte es sich um einige schmutzige Tricks. Boardman nannte nie Roß und Reiter, erläuterte nie die einzelnen Umstände, bevor er nicht dazu gezwungen war, wie Rawlins jetzt begriff. Er handelte nach der Maxime: Laß dir nie in die Karten sehen. Behalte deine Strategien für dich. Gib nie zuviel preis. Und so fand Ned sich hier wieder, als Teil und Mitspieler bei einer Verschwörung.

Hosteen und Boardman hatten ein Dutzend Drohnen vor den verschiedenen Eingängen zum Innenteil des Labyrinths postiert. Es war bereits klar, daß der einzige Sichere Weg in die Stadt durch das nordöstliche Tor führte. Aber sie verfügten über mehr als genug Drohnen und wollten außerdem alle Informationen einholen, deren sie habhaft werden konnten. Der Bildschirm, vor dem Rawlins stand, zeigte ein Teildiagramm des Labyrinths — die Sektion, die unmittelbar vor ihm lag — und gab ihm lange Zeit Gelegenheit, sich ein Bild von den Windungen und überraschenden Sackgassen, von Zickzackwegen und Fehlverbindungen zu machen. Neds Arbeit bestand darin, auf dem Schirm den Weg der Drohne durch diesen Sektor zu verfolgen. Die anderen Sondierungsroboter wurden ebenfalls von einem Computer und einem Mann an einem Bildschirm überwacht. Boardman und Hosteen dagegen saßen am Zentralterminal und beobachteten und leiteten die Gesamtoperation.

„Hinein mit ihnen“, ordnete Boardman an.

Hosteen gab die entsprechenden Anweisungen, und die Roboter rollten durch die Tore. Rawlins warf nun durch die Augen seiner gedrungen dahinrollenden Drohnen einen ersten Blick auf die Zone H des Irrgartens. Er sah eine Wand, die an gekräuseltes, blaues Porzellan erinnerte. Wellenförmig bog sie nach links ab. Und er entdeckte ein Gitter aus metallischen Streben, die sich von einem schweren Steinblock zur anderen Seite erstreckten. Die Drohne bewegte sich nahe an den Streben vorbei, die auf Grund des schwachen Luftzuges leise zu klingeln und zu zittern begannen. Der Roboter lief nun an der Porzellanwand entlang und folgte einer Innenkurve, die etwa zwanzig Meter lang war. Dort endete die Wand in einer Art Spirale und bildete eine Kammer, die eigentlich nur nach oben offen war. Beim letzten Mal, als jemand das Labyrinth auf diese Weise betreten hatte — das war bei der vierten Expedition gewesen —, waren zwei Männer an diese Kammer geraten. Einer war draußen geblieben und vernichtet worden. Der andere hatte die Kammer betreten; ihm war nichts passiert. Die Drohne rollte hinein. Einen Augenblick später schoß ein Strahl aus reinem roten Licht aus dem Zentrum der mosaikartigen Dekoration an der Wand und bestrich die unmittelbar vor der Kammer liegende Fläche.

Boardmans Stimme drang durch den Kopfhörer an Neds Ohr. „Wir haben vier Drohnen verloren, als sie durch ihre Tore traten. Das ist genau das, was wir erwartet haben. Wie steht’s bei Ihnen?“

„Alles verläuft nach Plan“, sagte Rawlins. „Bis jetzt ist noch alles okay.“

„Sie müßten sie innerhalb von sechs Minuten nach dem Eintritt verlieren. Wieviel Zeit ist bis jetzt bei Ihnen verstrichen?“

„Zwei Minuten und fünfzehn Sekunden.“

Die Drohne hatte die Kammer nun hinter sich gebracht und rollte rasch an der Stelle vorbei, wo der Lichtstrahl eingeschlagen hatte. Rawlins schaltete den Geruchssinn des Roboters ein, der verbrannte Luft mit hohem Ozon-Anteil feststellte. Ein Stück voraus teilte sich der Weg. Auf der einen Seite befand sich eine Brücke aus Stein, die von einem Bogen gehalten wurde und sich über etwas spannte, das wie eine Flammengrube aussah. Auf der anderen Seite lag ein Haufen übereinandergestürzter, riesiger Steinblöcke. Sie waren so aufeinandergeschichtet, daß die oberen jeden Moment herabzustürzen drohten. Die Brücke schien einladender zu sein, aber die Drohne wandte sich plötzlich von ihr ab und begann, über die Blöcke zu klettern. Rawlins fragte sie nach dem Grund und erhielt die Information, daß es die „Brücke“ gar nicht gab. Sie war eine Projektion, die von Sendern innerhalb der gegenüberliegenden Wände ausgestrahlt wurde. Rawlins simulierte mit der Elektronik ein Betreten der Brücke und beobachtete dann auf dem Bildschirm, wie die Drohne auf den Überweg trat, völlig unerwartet durch die solide aussehende Brücke brach und dabei das Gleichgewicht verlor. Während die simulierte Drohne sich um die Wiedererlangung des Gleichgewichts bemühte, geriet der Boden in Bewegung und schleuderte sie in die Flammengrube. Hübsch, dachte Ned, während ihm ein Schauer über den Rücken lief.

Inzwischen hatte die echte Drohne die eine Seite des Steinhaufens bezwungen und machte sich unbeschädigt auf der anderen an den Abstieg. Drei Minuten und acht Sekunden waren mittlerweile vergangen. Ein Stück gerader Straße erwies sich als so sicher, wie es aussah. Zu beiden Seiten wurde die Straße von fensterlosen Türmen flankiert, die an die hundert Meter hoch und ganz schlank waren, aus einem schimmernden Mineral bestanden und eine ölig-glatte Oberfläche aufwiesen. Sie warfen glitzernde Moiremuster auf den Boden, während der Roboter an ihnen vorbeizog. Zu Beginn der vierten Minute wich die Drohne einigen Pfeilern aus, die an zuschnappende Zahnreihen erinnerten. Dann trat sie zur Seite und entging so einem regenschirmförmigen Rammbock, der plötzlich mit vernichtender Wucht vorstieß. Achtzig Sekunden später machte der Roboter einen Bogen um eine Falltür, die sich über einem gähnenden Abgrund öffnete, und entging geschickt fünf vierschneidigen Klingen, die sich unvermittelt aus dem Boden schoben. Danach bestieg die Drohne ein Gleitband, von dem sie rasch davongetragen wurde. Genau vierzig Sekunden lang.

Die bislang zurückgelegte Strecke war schon vor langer Zeit von einem terranischen Forscher namens Cartissant erkundet worden, bevor auch er den Tod gefunden hatte. Er hatte einen genauen Bericht über seine Erfahrungen und Entdeckungen im Irrgarten durchgegeben. Fünf Minuten und dreißig Sekunden lang, dann war er verstummt. Sein Fehler hatte darin bestanden, noch eine einundvierzigste Sekunde auf dem Gleitband zu bleiben. Seine Gefährten, die draußen geblieben waren und ihn auf ihren Monitoren verfolgt hatten, konnten nicht sagen, was ihm genau zugestoßen war.

Als der Roboter vom Band stieg, führte Rawlins eine weitere Simulation durch. Er bekam rasch eine Darstellung von dem geboten, was das Computergehirn als wahrscheinlichste Möglichkeit errechnet hatte: Das Gleitband tat sich plötzlich auf und verschluckte seinen Passagier. Die Drohne bewegte sich inzwischen rasch auf die Stelle zu, die wie der Ausgang dieser äußersten Labyrinthzone aussah. Dahinter lag ein hell erleuchteter, angenehm aussehender Platz, der von treibenden Kugeln aus einer perlartigen, glühenden Substanz umgeben war.

Rawlins meldete: „Ich bin jetzt in der siebten Minute, und wir rollen immer noch weiter, Charles. Vor uns scheint ein Tor zu Zone G zu liegen. Vielleicht sollten Sie sich einschalten und meiner Übertragung besondere Aufmerksamkeit schenken.“

„Wenn Sie noch zwei Minuten durchhalten, werde ich es tun“, sagte Boardman.

Der Roboter blieb vor dem Innentor stehen. Vorsichtig aktivierte er sein Gravitron und strahlte einen Energieball mit einer Masse aus, die der seinen entsprach. Er ließ den Ball durch das Tor schweben. Nichts geschah. Zufrieden wandte sich die Drohne danach selbst dem Durchgang zu. Als sie auf der Schwelle stand, prallten die beiden Seiten plötzlich abrupt wie die Backen einer gewaltigen Presse zusammen und zerstörten so den Roboter. Neds Schirm wurde dunkel. Rasch schaltete er auf eine der Flugdrohnen um und erhielt ein Bild, auf dem sein Roboter auf der anderen Seite der Schwelle lag, zusammengepreßt zu einer zweidimensionalen Karikatur seiner ehemaligen Form. Ein Mensch, der in die gleiche Falle geraten wäre, wäre zu Staub zermahlen worden.

„Meine Drohne ist soeben ausgeschaltet worden“, meldete er Boardman. „Sechs Minuten und vierzig Sekunden.“

„Wie erwartet“, ertönte die Antwort. „Wir haben nur noch zwei aktive Roboter. Schalten Sie um und sehen Sie es sich an.“

Das Hauptdiagramm erschien auf Neds Bildschirm: eine vereinfachte und stilisierte Tuschestiftdarstellung des gesamten Labyrinths, wie man es von der Luft aus sah. Ein kleines x war überall dort angebracht, wo ein Sondierungsroboter zerstört worden war. Nach einigem Suchen fand Rawlins den Weg, den seine Drohne gewählt hatte. Ein x war zwischen den Zonengrenzen an der Stelle eingezeichnet, wo sich die zuschnappende Tür befand. Es wollte Rawlins so vorkommen, als sei sein Roboter weiter vorangekommen als die meisten anderen. Aber dann mußte er über den kindischen Stolz lächeln, den diese Entdeckung in ihm hervorgerufen hatte. Schließlich bewegten sich zwei Roboter immer noch weiter hinein. Einer befand sich sogar schon in der zweiten Labyrinthzone, während der andere gerade ein Tor durchfuhr, das Zutritt zu dem inneren Ring gewährte.

Das Diagramm verschwand, und jetzt sah Rawlins auf das Labyrinth, wie es durch die Linsenaugen einer der Drohnen aufgenommen wurde. Fast zierlich bewegte sich der mannshohe Metallkörper durch die barocken Kniffe und Fallen des Labyrinths, zeigte durch seine Optik, wie er eine goldene Säule passierte, von der eine schwirrende Melodie in seltsamem Tonfall kam, einen Lichtsee, ein Netz aus glitzernden, metallischen Speichen und Haufen spitzer, gebleichter Knochen. Rawlins konnte nur kurze Blicke auf die Knochen werfen, da die Drohne rasch weiterrollte, aber er war davon überzeugt, daß nur wenige von Menschen stammten. Dieser Ort war ein galaktischer Friedhof für alle Mutigen und Verwegenen.

Die Erregung in ihm wurde immer stärker, als die Drohne weiter und weiter rollte. Er war so von den Bildern auf seinem Schirm gefesselt, daß es ihm so vorkam, als befände er sich selbst in dem Irrgarten und würde Todesfalle um Todesfalle ausweichen. Triumph stieg in ihm auf, als die Anzahl der Minuten sich immer mehr vergrößerte. Vierzehn waren bereits vergangen. Im zweiten Ring des Labyrinths herrschte nicht so ein dichtgedrängtes Wirrwarr wie im ersten. Hier gab es auch größere Plätze, hübsche Kolonnaden und lange Straßen, die strahlenförmig von der Hauptverbindung abgingen. Ned fühlte Ruhe in sich aufsteigen. Er spürte Stolz über die Beweglichkeit und Geschicklichkeit der Drohne und über die Präzision ihrer sensorischen Instrumente. Daher war der Schock um so stärker und störender, als eine Pflasterplatte sich plötzlich hochkant stellte und den Roboter auf eine lange Rutsche fallen ließ, die ihn zu einem Ort brachte, wo die Schneidezähne einer gigantischen Mühle sich bereits eifrig drehten.

Sie hatten allerdings nicht erwartet, daß diese Drohne so weit kommen würde. Der Sondierungsroboter, den die anderen auf ihren Bildschirmen verfolgten, war der, der durch das Haupttor gekommen war — durch das sichere Tor. Der schmale Vorrat an Informationen, der um den Preis von so vielen Menschenleben zusammengetragen worden war, hatte die Drohne an allen Gefahren vorbeigeführt. Jetzt befand sie sich weit in Zone G, fast schon am Rand zu F. Bis jetzt war alles so abgelaufen, wie man es erwartet hatte. Die Erfahrungen des Roboters entsprachen denjenigen, von denen frühere Expeditionen berichteten, daß sie ihnen zu schaffen gemacht hatten. Der Roboter folgte exakt dem Kurs der menschlichen Vorgänger, bog hier ab, wich dort aus und befand sich jetzt bereits achtzehn Minuten im Irrgarten, ohne daß es zu Zwischenfällen gekommen war.

„Bisher noch alles in Butter“, sagte Boardman. „An dieser Stelle ist doch Mortenson ums Leben gekommen, nicht wahr?“

„Stimmt“, antwortete Hosteen. „Das letzte, was er noch sagen konnte, war, daß er vor dieser kleinen Pyramide dort stand. Danach hat man nie mehr etwas von ihm gehört.“

„Und von diesem Punkt an müssen wir uns selbst die nötigen Erfahrungen verschaffen. Bisher haben wir lediglich überprüft, ob unsere Unterlagen korrekt sind. Dieser Eingang ist der einzig sichere. Aber von jetzt an…“

Die Drohne bewegte sich nun deutlich langsamer, da ihr die Vorgehensvorgabe fehlte. Sie zögerte bei jedem Schritt, um ihre Datensammlungsanlagen zuerst nach allen Richtungen hin sondieren zu lassen. Sie suchte nach Falltüren, verborgenen Öffnungen im Straßenbelag, nach Projektoren, Laserkanonen, Massedetektoren und Energiequellen. Sie sandte alle neugewonnenen Informationen an die Zentraldatenbank zurück und bereicherte so den Wissensstand mit jedem neuen Zentimeter, den sie vorankam.

Insgesamt legte die Drohne auf diese Weise dreiundzwanzig Meter zurück. Als sie an der kleinen Pyramide vorbeikam, übertrug sie den Menschen an den Bildschirmen das Skelett des Forschers Mortenson, der zweiundsiebzig Jahre zuvor an dieser Stelle gescheitert war. Sie gab durch, daß Mortenson von einem auf Druck reagierenden Fallbeil erschlagen wurde, als er unbedachterweise der Pyramide zu nahe gekommen war. Auf dem weiteren Weg konnte der Roboter zwei kleineren Fallen ausweichen, bevor seine Sensoren von einem Neutralisationsfeld ausgeschaltet wurden, seine Sicherheit damit nicht mehr gewährleistet war und er ungeschützt von einem hervorbrechenden Steinklotz pulverisiert wurde.

„Der nächste, den wir schicken, muß alle Datenaufnahmeanlagen abschalten, bis er an dieser Stelle vorbei ist“, murmelte Hosteen. „Wenn er sozusagen blind und taub wird, dann müßte es klappen.“

„Vielleicht würde ein Mensch hier besser durchkommen als eine Maschine“, meinte Boardman. „Wir können nicht sagen, ob das Feld die Sinne eines Menschen genauso verwirren könnte wie die Sensoren eines Roboters.“

„Wir sind noch nicht soweit, dort einen Menschen hineinzuschicken“, erwiderte Hosteen.

Boardman ließ sich davon überzeugen — nicht übermäßig bereitwillig, dachte Rawlins, während er dem Meinungsaustausch zuhörte. Der Bildschirm erwachte wieder zum Leben. Ein neuer Sondierungsroboter rollte in den Irrgarten. Hosteen hatte eine zweite Abteilung Roboter auf den vorsichtigen Marsch durch das Labyrinth geschickt. Sie folgten dem Weg, der bisher als sicher bekannt war. Etliche von ihnen erreichten den Achtzehn-Minuten-Punkt, wo sich die tödliche Pyramide befand. Dort blieben sie in Wartestellung. Dann ließ Hosteen die erste Drohne losrollen. Sie gelangte in den Erfassungsbereich des Neutralisationsfelds und schaltete ihre Sensoren ab. Einen Moment lang schwankte sie wie betrunken, weil sie nicht wußte, in welche Richtung sie sich bewegen sollte. Doch ebenso schnell gewann sie ihr Gleichgewicht wieder. Sie war nun von jeglichem Kontakt mit ihrer Umgebung abgeschnitten und achtete daher auch nicht auf die sirenenhaften Lockrufe des Störfelds, das ihre Vorgängerin verleitet hatte, in den Wirkungsbereich des Schmetterkolbens zu treten. Die Phalanx der Sondierungsroboter, die als Nachfolger bereitstanden, befand sich außerhalb der Gefahrenzone dieser Falle, ihre Optiken übermittelten aber gleichzeitig dem Zentralcomputer ein klares und einwandfreies Bild von der Szene. Die Datenbank rechnete eingedenk des trügerischen Wegs der letzten Drohne einen neuen Pfad aus, der an dem gefährlichen Kolben vorbeiführte. Wenige Augenblicke später setzte sich die blinde Drohne endgültig in Bewegung. Innere Impulse leiteten sie. Da sie über keinerlei Feedback aus ihrer Umgebung verfügte, war sie vollkommen auf die Anweisungen des Computers angewiesen, der sie mit winzigen Schritten vorschob, bis sie die Gefahrenquelle sicher umrundet hatte. Dann durfte sie ihre Sensoren wieder einschalten. Um den Vorgang noch einmal zu überprüfen, schickte Hosteen einen zweiten Roboter hinterher. Auch diese Maschine bewegte sich blind und wurde vom Zentralcomputer geführt. Und auch sie schaffte es. Danach rollte ein dritter Roboter los, der seine Sensoren eingeschaltet ließ und so unter den Einfluß des Störfelds geriet. Der Computer sollte ihn mit Impulsen an der Gefahr vorbeilotsen. Aber der Roboter ließ sich von den falschen Informationen aus dem Feld verleiten, drängte ungestüm der Pyramide entgegen und wurde pulverisiert.

„Also gut“, sagte Hosteen, „wenn wir einen Weg kennen, eine Maschine vorbeizulotsen, dann wird uns das auch mit einem Menschen gelingen. Er braucht nur die Augen zu schließen und sich ganz auf den Computer zu verlassen, der jeden einzelnen seiner Schritte vorherberechnet. Wir schaffen es.“

Die erste Drohne setzte sich wieder in Bewegung. Sie kam siebzehn Meter über die Stelle mit dem Störfeld hinaus, bis sie auf einem silbrigen Rost ihr Ende fand, aus dem unvermittelt zwei Elektroden stießen, die die Drohne in einem Flammenbad vergehen ließen. Rawlins sah mißgestimmt zu, wie der nächste Roboter der Elektrodenfalle ausweichen konnte und kurz darauf dem nächsten Hindernis zum Opfer fiel. Die verbliebenen Drohnen in der Phalanx warteten geduldig darauf, selbst an die Reihe zu kommen.

Nicht mehr lange, dann sind die Menschen dran, dachte Rawlins. Dann gehen wir hinein.

Er schaltete sein Terminal aus und marschierte zu Boardman hinüber.

„Wie sieht es denn bis jetzt aus?“ wollte er wissen.

„Schwierig, aber nicht unmöglich“, sagte Boardman. „Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, daß es überall so schlimm ist.“

„Und wenn doch?“

„Uns werden die Drohnen schon nicht ausgehen. Wir erkunden jede Ecke im Labyrinth, bis wir festgestellt haben, wo all die Fallen angebracht sind. Und danach brechen wir selbst auf.“

„Gehen Sie selbst auch hinein, Charles?“ fragte Rawlins.

„Natürlich, genau wie Sie.“

„Und wie stehen die Chancen, gesund wieder herauszukommen?“

„Sehr gut“, sagte Boardman. „Andernfalls glaube ich kaum, daß ich dabei persönlich mitmachen würde. Natürlich bleibt es ein gefährlicher Marsch, Ned, aber deswegen braucht einem noch nicht das Herz schwer zu werden. Wir haben doch gerade erst damit begonnen, das Labyrinth auszukundschaften. In ein paar Tagen kennen wir es sicher gut genug.“

Rawlins dachte einen Augenblick darüber nach. „Muller hatte keine Drohnen“, sagte er schließlich. „Wie ist er nur an all den Fallen vorbeigekommen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Boardman halblaut, „ich kann mir nur vorstellen, daß er unglaublich viel Glück gehabt hat.“

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