Drei

Im Zentrum des Labyrinths verfolgte Muller auf den trüben Übertragungsschirmen die Ereignisse in den Außenzonen. Er entdeckte, daß sie irgendwelche Roboter hineinschickten. Eine nach der anderen wurden die Maschinen recht brutal ausgeschaltet. Aber jeder neue Roboter drang ein paar Meter weiter in das Labyrinth ein. Aus unaufhörlichen Versuchen und aus jedem Fehlschlag hatten die Eindringlinge gelernt, wie die richtige Route durch Zone H verlief. Mittlerweile hatten sie die schon durchquert und befanden sich weit in G. Muller war auf eine effektive Verteidigung eingerichtet, falls die Roboter die inneren Zonen erreichen sollten. Bis dahin blieb er ganz gelassen im Zentrum der Stadt und ging seiner täglichen Routine nach.

Morgens verbrachte er den Großteil seiner Zeit damit, über die Vergangenheit nachzudenken. In früheren Jahren hatte es für ihn andere Welten gegeben, andere Arten von Frühling, wärmere Jahreszeiten als diese hier. Sanfte Augen hatten in seine gesehen, andere Hände die seinen gehalten. Lächeln, Gelächter, blankpolierte Böden und elegant gekleidete Menschen, die sich unter halbkreisförmigen Bögen bewegten. Muller hatte zweimal geheiratet. Beide Male hatten sie sich nach der festgesetzten Zeit friedlich voneinander getrennt. Er war viel gereist und weit herumgekommen. Er hatte mit Königen und Ministern zu tun gehabt. In seiner Nase steckte der Duft von hundert Planeten, die quer über die Galaxis verstreut waren. Wir kommen nur ein kleines Stück voran, bevor wir die Weltbühne verlassen, dachte er. Im Frühling und Sommer seines Lebens war er verwöhnt worden und hatte viel Farbe bekommen. Es war hell gewesen. Jetzt war er nicht der Ansicht, er habe diesen dumpfen, freudlosen Herbst verdient.

Die Stadt sorgte auf ihre Weise für ihn. Er hatte eine Wohnung — konnte unter Tausenden Wohnungen wählen. Von Zeit zu Zeit zog er um, bloß um einmal eine andere Aussicht zu haben. Alle Häuser hier waren nicht mehr als leere Kästen. Er hatte sich aus Tierhäuten ein Bett gebaut, es mit Fellstücken gefüllt und aus Leder, Sehnen und Knochen einen Stuhl gefertigt. Mehr brauchte er nicht. Die Stadt gab ihm Wasser. Wilde Tiere zogen in solchen Mengen durch die Stadt, daß es ihm nie an Nahrung mangeln würde, solange er nur so gesund blieb, um auf die Jagd gehen zu können. Einige wichtige Gegenstände hatte er von der Erde mitgebracht. Zum Beispiel drei Buch- und einen Musikwürfel, insgesamt ein Stapel von knapp einem Meter Höhe. Sie würden ausreichen, seiner Seele und seinem Gemüt in den Jahren Nahrung zu geben, die ihm noch verblieben. Er hatte auch einige erotische Würfel mitgebracht. Und er besaß einen kleinen Recorder, in den er manchmal seine Memoiren diktierte. Er hatte einen Schreibblock. Er verfügte über Waffen und einen Massedetektor. Er hatte ein Diagnostat, das selbständig und in ausreichender Menge Medikamente produzierte. Es reichte aus.

Er aß regelmäßig. Er schlief lange und gut. Er machte sich nie Gewissensbisse, zweifelte nie an seinem Tun. Er war fast so weit, mit seinem Schicksal zufrieden zu sein. Bitterkeit kann man nur eine gewisse Zeit lang nähren, dann bildet das Unterbewußtsein eine Schutzkapsel um die Stelle, aus der das Gift kommt.

Er machte heute niemandem mehr einen Vorwurf für das, was ihm zugestoßen war. Sein eigener Ehrgeiz war daran schließlich nicht unschuldig gewesen. Er hatte versucht, das ganze Universum zu erobern. Er hatte danach gestrebt, ein Gott zu sein. Und irgendeine unerbittlich lenkende Schicksalsmacht hatte ihn vom höchsten Ruhm hinabgestoßen, hatte ihn immer weiter stürzen lassen und zerschmettert, hatte ihn so besiegt zurückgelassen, daß er nur noch zu dieser toten Welt kriechen konnte, um dort seine gebrochene Seele so gut es ging zusammenzuflicken.

Die Stationen seines Weges zu dieser Welt waren ihm nur zu gut bekannt. Mit achtzehn hatte er nackt unter den Sternen gelegen, die Wärme gespürt und sich seiner hochtrabenden Pläne gerühmt. Mit fünfundzwanzig war er sich seiner Ambitionen bewußt geworden und hatte sie erfüllt. Bevor er vierzig war, hatte er an die hundert Welten besucht und war auf dreißig von ihnen berühmt und bekannt. Ein Jahrzehnt später war er einer Verblendung erlegen, er glaubte sich zum Staatsmann berufen. Und im Alter von dreiundfünfzig hatte er sich von Charles Boardman dazu überreden lassen, die Mission nach Beta Hydri IV zu übernehmen.

In jenem Jahr hatte er im Tau Ceti-System Ferien gemacht, ein Dutzend Lichtjahre von der Erde entfernt. Marduk, der vierte Planet in diesem System, war zur Vergnügungswelt für die Minenarbeiter umfunktioniert worden, die damit beschäftigt waren, dem Bruderplaneten die überschwenglich vorhandenen reaktiven Metalle zu entreißen. Muller gefiel es nicht, wie diese Welten ausgeplündert wurden, aber das hinderte ihn nicht daran, auf Marduk Erholung zu suchen. Es war eine Welt, die mit senkrechter Achse durch ihre Umlaufbahn zog und auf der es demzufolge kaum Jahreszeiten gab. Sie besaß vier Kontinente, die im stetigen Frühling von einem ruhigen, seichten Ozean umspült wurden. Das Wasser war grün, die Landflora hatte einen leichten Stich ins Bläuliche, und die Luft wies ein wenig vom Prickeln jungen Champagners auf. Irgendwie hatten sie den Planeten in ein Ebenbild der Erde umgewandelt — einer Erde, wie sie zu einer unschuldigeren Zeit einmal ausgesehen haben mochte: überall Parklandschaft, saftige Wiesen und einladende Wirtshäuser. Es war eine ruhevolle Welt, deren Herausforderungen selbst zu wählen waren. Die Riesenfische im Ozean waren von Natur aus träge und ließen mit sich spielen. Die hohen Berge mit ihren Schneekuppen sahen tückisch aus, selbst für Bergsteiger in Gravitronstiefeln. Aber bisher war noch nie jemand in ihnen verloren gegangen. Die Tiere, von denen es in den Wäldern wimmelte, waren groß und mächtig, und sie schnaubten wütend, wenn sie angriffen. Aber sie waren lange nicht so gefährlich wie sie aussahen. Im Grunde genommen sagten Muller solche Orte nicht zu. Aber er hatte genug Abenteuer erlebt und war nach Marduk gekommen, um sich für einige Wochen einem Scheinfrieden hinzugeben. Ein Mädchen, das er vor einem Jahr, zwanzig Lichtjahre von Marduk entfernt, kennengelernt hatte, begleitete ihn. Sie hieß Marta und war groß und schlank. Sie hatte große, dunkle Augen, die mit modischen, roten Lidschatten umrahmt waren, und trug glänzendes, blaues Haar, das um ihre weichen Schultern spielte. Marta sah aus wie zwanzig, hätte aber genausogut eine Neunzigjährige nach der dritten Verjüngungsoperation sein können. Man wußte nie, wie alt jemand wirklich war, besonders nicht bei den Frauen. Aber Muller glaubte aus unerfindlichen Gründen zu wissen, daß sie wirklich noch so jung war. Es lag nicht direkt an der Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen und ihrer spontanen Agilität — solche Eigenschaften konnte man sich antrainieren —, sie besaß vielmehr einen unterschwelligen Enthusiasmus, so etwas wie unverfälschte Mädchenhaftigkeit, von dem er gerne annahm, er sei nicht das Produkt eines Chirurgen.

Ob es nun beim Powerschwimmen war, beim Flößersport, bei der Blasrohrjagd oder im Bett, immer schien Marta sich so vollständig den Vergnügungen hinzugeben, daß sie ihr wirklich relativ neu gewesen sein mußten.

Muller hatte kein Interesse daran, solchen Dingen intensiv nachzugehen. Marta war reich, eine Erdgeborene, hatte keine erkennbaren Familienverpflichtungen und ging einfach dorthin, wo es ihr gerade gefiel. Aus einem plötzlichen Impuls heraus hatte er sie angerufen und gefragt, ob sie ihn auf Marduk treffen wolle. Ohne Fragen zu stellen war sie gekommen. Und es machte ihr auch nichts aus, mit Richard Muller dieselbe Suite im Hotel zu teilen. Sicher wußte sie genau, wer er war, aber die Aura des Ruhms, die ihn umgab, war ihr gar nicht wichtig. Ihr kam es mehr darauf an, was er zu ihr sagte, wie er sie festhielt und was sie zusammen taten. Seine Erfahrungen und Kenntnisse, die er zu anderen Zeiten erworben hatte, spielten da gar keine Rolle mehr.

Ihr Hotel war ein tausend Meter hoher, in der Sonne glitzernder Turm. Es erhob sich gerade und schlank wie eine Nadel aus einem Tal und bot einen herrlichen Ausblick auf einen glasklaren, ovalen See. Ihre Zimmer befanden sich im zweihundertsten Stock. Sie speisten auf einer hochliegenden Terrasse, die man mit einem Gravitrongleiter erreichte. Den ganzen Tag über standen ihnen alle Vergnügungen von Marduk zur Verfügung. Eine Woche lang blieb er ununterbrochen mit Marta zusammen. Das Wetter war ausgezeichnet. Ihre kleinen, frischen Brüste paßten sich wunderbar seinen zugreifenden Händen an. Ihre langen, schlanken Beine umschlossen ihn voller Wohlgefühl. Und bei den Höhepunkten stieß sie in plötzlicher wilder Unersättlichkeit ihre Fersen in seine Waden. Am achten Tag kam Charles Boardman auf Marduk an. Er nahm sich eine Suite, die einen halben Kontinent entfernt lag, und forderte Muller freundlich auf, ihm einen Besuch abzustatten.

„Ich mache hier Urlaub“, erklärte ihm Muller.

„Opfern Sie mir einen halben Tag.“

„Ich bin nicht allein, Charles.“

„Das weiß ich. Bringen Sie sie doch mit. Wir machen einen kleinen Ausflug. Es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.“

„Ich bin hierher gekommen, um den wichtigen Angelegenheiten zu entkommen.“

„Es gibt kein Entkommen, Dick. Das wissen Sie auch. Sie sind so wie Sie sind, und deshalb brauchen wir Sie. Werden Sie kommen?“

„Zum Teufel mit Ihnen“, sagte Muller leise.

Am nächsten Morgen flogen Marta und er mit dem Schnellgleiter zu Boardmans Hotel. Muller erinnerte sich heute noch so deutlich an den Ausflug, als hätte er letzten Monat stattgefunden und nicht vor fünfzehn Jahren. Sie waren über den Kontinentaleinschnitt geschwebt und so niedrig über den schneebedeckten Gipfeln geflogen, daß sie die beeindruckende Gestalt eines langhörnigen, ziegenartigen Felsenspringers entdecken konnten, wie er über die glitzernden Eisflüsse hüpfte. Zwei Tonnen Muskeln und Knochen, ein unglaublicher Koloß des Hochgebirges, die kostspieligste Beute, die Marduk anzubieten hatte. Manche Menschen verdienten in ihrem ganzen Leben nicht so viel Geld, um die Lizenz für die Jagd auf den Felsspringer zu erwerben. Und Muller wollte es damals so vorkommen, als sei selbst dieser Preis noch zu niedrig.

Dreimal umkreisten sie das riesige Tier, bevor sie zum Seen-Distrikt weiterflogen, der Ebene jenseits der Gebirgskette, wo eine ganze Platte diamantklarer Gewässer den fetten Leib des Kontinents umgürtete. Gegen Mittag waren sie am Rand eines lieblichen Waldes aus Immergrün gelandet. Boardman hatte die Fürstensuite des Hotels gemietet — in der es von Bildschirmen und Überwachungsgeräten wimmelte. Er ergriff Mullers Handgelenk zum Salut und umarmte Marta mit unverfrorener Lüsternheit. Sie ging auf Distanz und hielt ihn von sich ab. Unübersehbar betrachtete sie diesen Ausflug als reine Zeitverschwendung.

„Haben Sie Hunger?“ fragte Boardman. „Erst das Essen, dann die Arbeit!“

Er servierte den beiden auf seinem Zimmer Aperitifs: bernsteinfarbenen Wein in Pokalen, die aus einem blauen, auf Ganymed gewonnenen Felskristall gehauen waren. Danach bestiegen sie einen Speisegleiter und verließen das Hotel, um während der Mahlzeit über Wälder und Seen zu fliegen. Sie nahmen in Pneumosessein vor einem Panoramafenster Platz. Währenddessen rollte die Mahlzeit aus einem Container auf sie zu: frischer Salat, gegrillter einheimischer Fisch, importiertes Gemüse; zerriebener Streukäse von Centauri; Flaschen mit eiskaltem Reisbier; ein würziger grüner Likör zum Nachtisch. Völlig passiv und eingeschlossen in ihrer fliegenden Kapsel ließen sie sich das Essen, die Getränke und die Aussicht vorsetzen, atmeten die prickelnde Luft, die von außen hereingepumpt wurde, und beobachteten bunte Vögel, die an ihnen vorbeiflatterten und sich dann zwischen den weichen, fallenden Nadeln der in dichtem Grün stehenden Bäume in den Wäldern verloren. Boardman hatte alles sorgfältig vorbereitet, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. Aber bei Muller waren diese Anstrengungen umsonst. So leicht ließ er sich nicht einlullen. Das hieß nicht, daß er Boardmans Auftrag, wie immer der auch aussehen mochte, nicht annehmen würde. Aber dann keinesfalls deswegen, weil man ihn durch bestimmte Tricks beeindrucken konnte.

Marta langweilte sich. Sie zeigte das mit der gleichgültigen Miene, mit der sie Boardmans auffordernd lüsternen Blicken begegnete. Das schimmernde Tageskleid, das sie trug, war mehr auf Enthüllen als auf Verbergen angelegt. Während die langgezogenen Moleküle kaleidoskopartig in einem bestimmten Muster über den Stoff zogen, gaben sie immer wieder kurze, freizügige Blicke auf ihre Oberschenkel und Brüste, ihren Unterleib und ihre Taille, auf ihre Hüften und auf ihren Hintern frei. Boardman wußte diese Vorstellung zu würdigen und schien bereit, in Martas scheinbare Bereitwilligkeit zu investieren. Aber sie ignorierte seine wortlosen Avancen völlig. Muller amüsierte das. Boardman nicht.

Nach dem Lunch landete der Gleiter am Ufer eines juwelengleichen Sees mit tiefem und klarem Wasser. Eine Seiten wand öffnete sich, und Boardman sagte: „Vielleicht möchte die junge Dame schwimmen gehen, während wir hier rasch die trockenen Geschäfte hinter uns bringen?“

„Eine ausgezeichnete Idee“, sagte Marta gleichgültig.

Sie stand auf und öffnete dabei die Schnalle an ihrer Schulter. Das Kleid glitt bis zu den Knöcheln hinab. Boardman zog eine große Show ab, indem er das Stück auffing und über eine Ablage hängte. Sie schenkte ihm ein mechanisches Lächeln, drehte sich um und ging zum Rand des Sees. Eine nackte, braungebrannte Gestalt, auf deren geschmeidigem Rücken und sanft gerundetem Hintereil die Reflexe der durch die Bäume scheinenden Sonne spielten. Mit den Waden im Wasser blieb sie einen Moment stehen. Dann sprang sie nach vorn und teilte den Wasserspiegel mit kräftigen und gleichmäßigen Stößen.

„Sie ist ganz nett, Dick!“ sagte Boardman. „Wer ist sie?“

„Ein Mädchen, noch ziemlich jung, glaube ich.“

„Jünger jedenfalls als die übliche Sorte, würde ich sagen. Und etwas schnippisch. Kennen Sie sie lange?“

„Seit letztem Jahr, Charles. Interesse?“

„Natürlich.“

„Ich werde es ihr sagen“, erklärte Muller. „Irgendwann einmal.“

Boardman lächelte ihn mit der Großzügigkeit und Freundlichkeit eines Buddhas an und deutete auf die gleitereigene Bar. Muller schüttelte den Kopf. Marta schwamm rücklings auf dem See. Die rosigen Spitzen ihrer Brüste waren gerade noch über der glatten Wasseroberfläche sichtbar. Die beiden Männer sahen sich an. Sie schienen im gleichen Alter zu sein, in den Fünfzigern. Boardman feist, kräftig und ergraut, Muller dagegen mager, kräftig und ergraut. Im Sitzen schienen sie sogar die gleiche Körpergröße zu haben. Aber dieser erste Anschein war falsch: Boardman war eine Generation älter, Muller knapp zwanzig Zentimeter größer. Sie kannten sich seit über dreißig Jahren.

In gewisser Weise gingen sie auch einer ähnlichen Arbeit nach. Beide gehörten zum Personal des Stabes, der nicht in der Verwaltung tätig war, gehörten zu den Männern und Frauen, die die Struktur der menschlichen Gesellschaft, die über die ganze Galaxis verstreut lebte, zusammenhielten. Keiner von ihnen besaß einen Dienstgrad oder offiziellen Rang. Beiden gemeinsam waren eine gewisse Einsatzfreude und der Wunsch, ihre Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit zu stellen.

Muller respektierte Boardman für die Art, mit der er diese Fähigkeiten während einer langen und beeindruckenden Karriere eingesetzt hatte. Aber er wußte nicht, ob er den älteren Mann mochte. Er wußte, daß Boardman gerissen, skrupellos und dem Wohlergehen der Menschheit bedingungslos ergeben war. Und er wußte auch, daß diese Kombination von Ergebenheit und Skrupellosigkeit immer gefährlich war.

Boardman zog einen Visionswürfel aus einer Tasche seiner Robe und legte ihn vor Muller auf den Tisch. Dort lag er wie ein Spielstein aus einem kniffligen Spiel. Er war an jeder Seite sechs oder sieben Zentimeter lang und von sanftgelber Farbe, die sich von der polierten, schwarzen Marmoroberfläche des Tisches abhob. „Legen Sie ihn ein“, sagte Boardman freundlich. „Der Rekorder steht direkt neben Ihnen.“

Muller ließ den Würfel in den Eingabeschlitz ein. Aus der Tischmitte erhob sich ein großer Sichtwürfel mit einer Seitenlänge von fast einem Meter. Bilder erwachten in ihm. Muller sah einen wolkenumhüllten Planeten von mattgrauer Farbe. Es hätte die Venus sein können. Der Planet kam näher, und in dem Grau tauchten dunkelrote Streifen auf. Also nicht die Venus. Das Spionauge durchstieß die Wolkendecke und zeigte eine fremdartige Welt. Der Boden sah feucht und schwammig aus, gummiartige Bäume von der Form gigantischer Giftpilze erhoben sich aus ihm. Es war schwierig, ein Maß für die Größe zu finden, aber die Bäume wirkten tatsächlich riesig. Ihre blassen Stämme waren von spröden Fasern bedeckt und zwischen Boden und Wipfel wie ein Bogen gespannt. Tassenartiger Bewuchs umgab die Bäume an ihren Wurzeln und umringte sie bis zu etwa einem Fünftel der Stammeshöhe.

Die Kronen wiesen weder Äste noch Blätter auf, sondern nur breite, flache Kappen, deren Unterseiten runzelig und besprenkelt waren. Während Muller zusah, traten drei fremdartige Gestalten aus einem dichten Gehölz. Sie besaßen einen unnatürlich langen, insektenähnlichen Körper. Bündel aus acht oder zehn miteinander verbundenen Extremitäten entsprangen ihren schmalen Schultern. Die Köpfe liefen spitz zu und waren rundum mit Augen besetzt. Die Nase bestand aus vertikalen Schlitzen, die sich von der Haut abhoben. Die Münder öffneten sich an den Seiten. Die Fremden gingen aufrecht auf zierlichen Beinen, die in kleinen, halbkugelförmigen Sockeln ausliefen. Obwohl sie bis auf einige wohl als Schmuck gedachte Stoffstreifen zwischen dem zweiten und dritten Gelenk nackt waren, konnte Muller nirgends Anzeichen für Geschlechtsmerkmale erkennen. Ihre Haut war unpigmentiert, wies das gleiche Grau auf, wie es auf dieser Welt vorzuherrschen schien, und war von rauher Beschaffenheit. Sie war mit einer Schicht kleiner und diamantförmiger Schuppengrate überzogen.

Mit wunderbarer Grazie traten die Gestalten an drei der riesigen Giftpilzbäume und kletterten an ihnen hoch, bis sie oben auf dem untertassenförmigen Gürtel standen. Aus dem Extremitätenbündel kam ein Arm hervor, der über eine spezielle Bestimmung zu verfügen schien. Im Gegensatz zu den anderen, die mit fünf rankenartigen, kreisförmig arrangierten Fingern bestückt waren, endete dieses Glied in einem nadelspitzen Organ. Mit Leichtigkeit drang es tief in den weichen, gummiartigen Baumstamm. Ein langer Augenblick verstrich, und es sah ganz so aus, als saugten die Fremden Saft aus den Bäumen. Dann stiegen sie wieder hinab und setzten — äußerlich unverändert — ihre Wanderung fort.

Einer von ihnen blieb plötzlich stehen, bückte sich und sah angestrengt auf den Boden. Er hob das Spionauge hoch, das die ganze Zeit über ihre Aktivitäten verfolgt hatte. Auf dem Bildschirm entstand ein Chaos. Muller vermutete, daß das Spionauge von einem zum anderen gereicht wurde. Plötzlich verdunkelte sich der Schirm. Das Spionauge war zerstört worden. Der Würfel war abgelaufen.

Nach einem Moment des Schweigens sagte Muller: „Sie haben sehr überzeugend ausgesehen.“

„Das sollten sie auch. Sie waren nämlich echt.“

„Wurden diese Aufnahmen bei einer extragalaktischen Expedition aufgenommen?“

„Nein“, sagte Boardman, „in unserer eigenen Milchstraße.“

„Etwa auf Beta Hydri IV?“

„Ja.“

Muller unterdrückte ein Schaudern. „Kann ich den Würfel noch einmal abspielen, Charles?“

„Aber sicher.“

Er aktivierte den Rekorder ein zweites Mal. Wieder stieg das Spionauge durch die Wolkendecke nach unten. Wieder die gummiartigen Bäume; wieder erschien das Trio der drei Außerirdischen, nahm von den Bäumen Nahrung auf, entdeckte das Spionauge und zerstörte es. Muller studierte fasziniert diese Bilder. Noch nie zuvor hatte er intelligente fremde Lebewesen zu sehen bekommen. Soweit er wußte, hatte das bis zu diesem Augenblick auch sonst noch niemand.

Die Bilder auf dem Schirm erloschen.

„Das wurde vor knapp einem Monat aufgenommen“, sagte Boardman. „Wir stationierten einen Drohnenträger in fünfzigtausend Meter Höhe über dem Planeten und haben etwa tausend Sonden auf Beta Hydri IV herabregnen lassen. Mindestens die Hälfte von ihnen ist im Meer gelandet und bis auf den Grund gesunken. Von den übrigen kamen die meisten an unbewohnten oder sonstwie uninteressanten Stellen auf. Dieses Spionauge ist das einzige gewesen, das Aufnahmen von den Einheimischen machen konnte.“

„Warum entschied man, die von uns über diese Welt verhängte Quarantäne zu durchbrechen?“

Boardman atmete langsam aus. „Wir waren der Ansicht, es wäre an der Zeit, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, Dick. Zehn Jahre lang haben wir sie nur beschnüffelt und uns nicht einmal vorgestellt. Das ist wohl kaum als gute Nachbarschaft zu bezeichnen. Und da die Hydrier und wir die einzigen intelligenten Wesen in der ganzen verdammten Galaxis sind — außer, jemand hat es irgendwo verstanden, sich erfolgreich vor uns zu verstecken —, sind wir zu der Ansicht gelangt, wir sollten endlich freundschaftliche Beziehungen aufnehmen.“

„Ich halte Ihren Schmus für nicht sehr überzeugend, Charles“, sagte Muller schroff. „Eine ordentliche Ratsentscheidung ist nach einer Debatte von einem vollen Jahr getroffen worden. Und sie besagte, die Hydrier sollten mindestens ein Jahrhundert in Ruhe gelassen werden; außer sie machten sich selbst daran, ins All vorzustoßen. Wer hat diese Entscheidung rückgängig gemacht? Und warum, und wann?“

Boardman lächelte verschlagen. Aber Muller wußte, daß die einzige Möglichkeit, ihm nicht ins Netz zu gehen, in einem Frontalangriff bestand. Langsam sagte Boardman: „Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, mit doppelter Zunge zu sprechen, Dick. Die Entscheidung wurde durch einen Ratsbeschluß vor acht Monaten rückgängig gemacht. Sie befanden sich gerade auf dem Flug nach Rigel.“

„Und der Grund dafür?“

„Eine unserer extragalaktischen Sonden kehrte mit einem überzeugenden Beweis zurück, daß mindestens eine hochintelligente und uns überlegene Spezies in einem der Nachbarsternhaufen zu Hause ist.“

„Und wo?“

„Das spielt im Moment keine Rolle, Dick. Verzeihen Sie, aber darüber kann und werde ich Ihnen im Augenblick nichts sagen.“

„Gut.“

„Lassen Sie mich Ihnen nur so viel verraten: Nach dem, was wir bis jetzt von ihnen wissen, sind sie uns haushoch überlegen. Sie haben einen Antrieb, der es ihnen ermöglicht, die Kluft zwischen den Galaxien zu überwinden, und wir können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß sie uns in einem der nächsten Jahrhunderte besuchen werden. Und wenn sie kommen, stehen wir vor einer Menge Probleme. Daher hat man die Entscheidung getroffen, vorzeitig mit den Bewohnern von Beta Hydri IV Beziehungen aufzunehmen… sozusagen als Rückversicherung für jenen Tag.“

„Wollen Sie damit sagen“, fragte Muller, „daß wir sicherstellen wollen, mit der zweiten intelligenten Spezies in dieser Galaxis auf gutem Fuß zu stehen, bevor die anderen auftauchen?“

„Ganz genau.“

„Jetzt möchte ich gerne einen Drink“, sagte Muller.

Boardman lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich selbst zu bedienen. Muller betätigte mehrere Knöpfe auf der Konsole und erhielt ein hochprozentiges Getränk. Er kippte es in einem Zug hinunter und ließ sich gleich danach noch ein Glas einschenken. Auf einmal hatte er große Schwierigkeiten, das alles zu verdauen. Er wandte den Blick von Boardman ab, nahm den Würfel vom Tisch und betastete ihn vorsichtig, so als handele es sich dabei um eine geheiligte Reliquie.

Einige Jahrhunderte lang hatte die Menschheit die Sterne erforscht, ohne auf Spuren einer zweiten Rasse zu stoßen. Es gab massenhaft Planeten, von denen auch etliche bewohnbar waren. Und eine erstaunlich hohe Anzahl war sogar erdähnlich. Aber man hatte ohnehin mit einer größeren Menge kolonisierbarer Welten gerechnet. Der Himmel war voll von Sonnen im Mittelbereich, unter denen es unzählige Sterne vom F- und G-Typ gab, die Leben hervorbringen konnten. Der Prozeß der Planetengenese ist nichts Außergewöhnliches. Die meisten dieser Sonnen besaßen im Schnitt zwischen fünf und zwölf Planeten. Einige dieser Welten besaßen sogar die richtige Größe, Masse und Dichte, um eine Atmosphäre zu entwickeln und zu behalten, und auch die anderen Voraussetzungen, die zur Entstehung und Evolution von Leben führten. Und von diesen Planeten bewegten sich einige in der geeigneten Umlaufbahn, in der sie vor extremen Temperaturen geschützt waren. Somit wimmelte es in der Galaxis von Leben — sehr zur Freude der Zoologen.

Doch bei seinem ungestümen Ausbruch aus dem eigenen System und seiner Expansion ins All war der Mensch nur auf Spuren von früheren intelligenten Rassen gestoßen. Tiere tummelten sich heute in den Ruinen von unvorstellbar alten Zivilisationen. Der spektakulärste Fund war das alte Labyrinth auf Lemnos. Doch auch andere Welten besaßen ihre Stadtruinen, verwitterten Bauwerke, Friedhöfe und verstreuten Scherbenhaufen. Somit wurde das All auch zur Fundgrube für die Archäologen. Die Sammler und Erfasser außerirdischer Tierarten und die Erforscher uralter Relikte blieben auf lange Zeit beschäftigt. Ganz neue Wissenschaftsdisziplinen schossen wie Pilze aus dem Boden. Man bemühte sich nun, Zivilisationen, die geblüht hatten, als auf der Erde noch keine Pyramiden standen, zu rekonstruieren.

Aber über all diese fremden Rassen in der Galaxis schien ein seltsamer Fluch gekommen zu sein, der sie ausgelöscht hatte. Offensichtlich waren ihre Zivilisationen schon vor so langer Zeit untergegangen, daß nicht einmal degenerierte Nachfahren bis heute überlebt hatten. Sie waren wie Ninive oder Tyrus ausgelöscht worden, waren einfach verschwunden. Genauere Überprüfungen hatten ergeben, daß die jüngste dieser etwa zwölf bekannten, extrasolaren Kulturen vor etwa achttausend Jahren untergegangen war.

Doch die Galaxis ist groß, und so suchten die Menschen weiter, ließen sich von einer sonderbaren Mischung aus Neugierde und Grauen weiter dazu treiben, nach Gefährten im All Ausschau zu halten. Aber obwohl der Warpantrieb rasche Flüge an alle Orte im Universum ermöglichte, reichten weder das zur Verfügung stehende Personal noch die vorhandenen Schiffe aus, die Erforschung der ungeheuren kosmischen Weite planvoll anzugehen. Etliche Jahrhunderte nach ihrem Vorstoß ins All machte die Menschheit tagtäglich immer noch neue Entdeckungen, manche sogar nicht weit vom Sol-System entfernt. Der Stern Beta Hydri besaß sieben Planeten. Und auf dem vierten lebte eine zweite intelligente Spezies.

Die Menschen landeten nicht auf dieser Welt. Die Möglichkeit der Entdeckung einer weiteren Spezies war schon lange vor dem eigentlichen Ereignis beraten und vorausgeplant worden. Man hatte einen Maßnahmenkatalog erstellt, der darauf abzielte, alle Fehler und Schnitzer bei einer ersten Begegnung zu vermeiden, aus denen unabsehbare Konsequenzen erwachsen könnten. Die Beobachtung von Beta Hydri IV war von oberhalb der Wolkendecke durchgeführt worden. Ausgeklügelte Geräte hatten die Aktivitäten unter der störenden grauen Maske gemessen. Die hydrische Energieproduktion war bis auf eine Fehlermarge von einigen wenigen Millionen Kilowatt bekannt. Ansiedlungen und Städte auf dem Planeten waren kartographiert und die Bevölkerungszahl daraus geschätzt worden. Der Stand der hydrischen industriellen Entwicklung war auf Grund von Messungen der thermischen Ausstrahlung errechnet worden. Eine tatkräftige, ständig wachsende und leistungsfähige Zivilisation befand sich unter der Wolkendecke, deren technischer Entwicklungsstand dem der Erde am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts ähnlich war. Es gab nur einen deutlichen Unterschied: Die Hydrier hatten nie damit begonnen, ins All vorzustoßen. Das lag an der alles verdeckenden Wolkenschicht. Eine Rasse, die nie am Himmel die Sterne sehen konnte, entwickelte kaum den Wunsch, zu ihnen zu reisen.

Muller war Zeuge der hitzigen Debatten gewesen, die der Entdeckung der Hydrier gefolgt waren. Er kannte die Gründe, warum ihre Welt unter Quarantäne gelegt worden war. Er begriff nun, daß außerordentlich wichtige Gründe vorliegen mußten, diese Sperre aufzuheben. Da die Erde sich nicht ganz im klaren darüber war, wie und ob sie die Aufnahme von Beziehungen zu Fremdwesen meistern könne, hatte man beschlossen, die Hydrier einstweilen noch in Ruhe zu lassen. Aber nun war dieses Vorhaben umgestürzt worden.

„Und wie soll es jetzt weitergehen?“ fragte Muller. „Wird eine Expedition ausgesandt?“

„Jawohl.“

„Und wie bald?“

„Innerhalb des nächsten Jahres, schätze ich.“

In Muller zog sich alles zusammen. „Unter wessen Führung?“

„Vielleicht unter Ihrer, Dick.“

„Warum vielleicht’?“

„Vielleicht haben Sie kein Interesse daran.“

„Als ich achtzehn war“, erklärte Muller, „lag ich einmal mit einem Mädchen in einem Wald — auf der Erde, in einer Schonung. Wir haben uns dort geliebt. Es war für mich nicht das erste Mal, aber erst dort hat es in jeder Beziehung hundertprozentig geklappt. Danach lagen wir auf dem Rücken und sahen zu den Sternen hinauf. Und ich sagte ihr, ich wollte zu ihnen und sie besuchen. Sie sagte,Oh, wie wunderbar, Dick’. Aber im Grunde hatte ich gar nichts Besonderes gesagt. Jeder Junge in diesem Alter sagt so etwas, wenn er zu den Sternen hinaufsieht. Ich erklärte ihr weiter, daß ich das All erforschen wollte und spätere Generationen sich an mich erinnern würden, wie an Kolumbus, Magellan oder die ersten Astronauten. Ich sagte, ich würde immer in der ersten Reihe stehen, ganz gleich, um was es ging. Und daß ich mich wie ein Gott zwischen den Sternen bewegen wollte. Ich redete unaufhörlich. Etwa zehn Minuten lang sprudelte es aus mir heraus, bis wir beide ganz vom Zauber dieser Vorstellung gefangen waren. Ich drehte mich zu ihr, und sie zog mich auf ihren Körper. Und ich streckte den Sternen meinen nackten Hintern entgegen und beschäftigte mich damit, sie am Erdboden festzunageln. Dies war die Nacht, in der meine Pläne und Ambitionen erwachten.“ Muller lachte auf. „Mit achtzehn kann man Dinge sagen, die später unmöglich sind.“

„Man kann mit achtzehn auch Dinge tun, die man später nicht mehr vollbringen kann“, sagte Boardman. „Nun, Dick? Sie haben mittlerweile die Fünfzig überschritten, nicht wahr? Und Sie haben die Sterne besucht. Fühlen Sie sich wie ein Gott?“

„Manchmal.“

„Wollen Sie nach Beta Hydri IV gehen?“

„Sie wissen genau, daß ich das will.“

„Allein?“

Muller dachte, der Erdboden würde sich unter ihm auf tun.

Und plötzlich stand in seinem Bewußtsein die Erinnerung an seinen ersten Ausflug in den freien Raum, wo er auch ungehemmt durch das Universum gefallen war.

„Allein?“

„Wir haben die ganze Angelegenheit durchgecheckt und sind zu dem Schluß gekommen, daß es zu diesem Zeitpunkt ein Fehler wäre, ein ganzes Rudel Menschen hinabzuschicken. Die Hydrier haben eindeutig und unmißverständlich auf unsere Spionaugen reagiert. Das konnten Sie selbst feststellen: Sie haben sie aufgehoben und zerstört. Uns ist es im Augenblick nicht möglich, ihre Psyche auszuloten, weil wir es noch nie zuvor mit Außerirdischen zu tun gehabt haben. Daher halten wir es für das Sicherste — sowohl was die möglichen Ausfälle an Menschen betrifft als auch was die möglichen Auswirkungen auf ihre Gesellschaft angeht —, ihnen einen einzelnen Botschafter entgegenzuschicken. Ein einziger Mensch, der sich ihnen in friedlicher Absicht nähert, ein gewitzter und erfahrener Mensch, der sich in einer ganzen Palette von außergewöhnlichen Situationen bewährt hat und der von alleine auf die richtigen Methoden kommt, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.

Dieser Mann findet sich vielleicht dreißig Sekunden, nachdem er diesen Kontakt initiiert hat, zu Hackfleisch verarbeitet wieder. Aber wenn er andererseits überlebt, wird er etwas absolut Einzigartiges in der menschlichen Geschichte vollbracht haben. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“

Wie sollte er dem widerstehen können? Als Botschafter der Menschheit zu den Hydriern! Allein und auf sich gestellt über fremden Boden zu schreiten und den kosmischen Nachbarn den ersten Gruß der Menschheit zu überbringen…

Das war seine Eintrittskarte zur Unsterblichkeit. Sein Name würde auf ewig zwischen den Sternen geschrieben stehen.

„Wie hoch sind die Überlebenschancen berechnet worden?“ fragte Muller.

„Wir gehen von einer Chance von eins zu fünfundsechzig aus, diese Mission unversehrt zu überleben, Dick. Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie ein Lebenserhaltungssystem mitführen müssen, da jene Welt der Erde nicht sonderlich ähnlich ist. Und Sie sind nicht gegen einen frostigen Empfang gefeit. Wie steht’s? Eins zu fünfundsechzig.“

„Nicht allzu schlecht.“

„Ich persönlich würde mich nie auf ein solches Verhältnis einlassen“, sagte Boardman und grinste.

„Nein, Sie nicht, aber ich möglicherweise.“ Er trank sein Glas bis zum letzten Tropfen aus. Die Durchführung dieser Mission verhieß unsterblichen Ruhm. Zu versagen, selbst von den Hydriern abgeschlachtet zu werden, war unter diesen Voraussetzungen nicht so schlimm. Er hatte bisher ein gutes Leben geführt. Und es gab schlimmere Schicksalsschläge, als bei dem Versuch zu sterben, das Banner der Menschheit auf einer fremden Welt zu pflanzen. Der in seinem Innern pulsierende Stolz, sein Hunger nach Anerkennung, die kindische Sehnsucht nach immerwährendem Ruhm, der er seit seiner Jugend nicht entwachsen war, ließen keine Ablehnung zu. Und so schlecht sahen seine Chancen ja gar nicht aus.

Marta kehrte zurück. Sie war ganz naß, ihr nackter Körper glitzerte. Das nasse Haar klebte an ihrem schlanken Nacken. Die Brüste hoben und senkten sich in rascher Folge, kleine Halbkugeln aus Fleisch, an deren Spitze gekräuselte, rosafarbene Warzen standen. Sie könnte durchaus als etwas frühreife Vierzehnjährige durchgehen, dachte Muller, während er auf ihre schmalen Hüften und schlanken Oberschenkel sah. Boardman schob ihr einen Trockenapparat zu. Sie schaltete ihn ein, trat in das gelbe Feld und drehte sich einmal um sich selbst. Dann nahm sie ihr Kleid von der Ablage und zog sich ohne übertriebene Eile an. „Es war großartig“, erklärte sie. Ihr Blick traf Muller zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr. „Dick, was ist mit dir los? Du siehst so seltsam aus… wie benommen. Ist alles in Ordnung?“

„Alles bestens.“

„Was ist geschehen?“

„Mr. Boardman hat mir einen Vorschlag gemacht.“

„Sie können ihr alles erzählen, Dick. Wir haben nicht vor, die Sache streng geheim zu halten. Es soll ohnehin bald auf allen von Menschen bewohnten Welten bekanntgegeben werden.“

„Man will auf Beta Hydri IV landen“, sagte Muller mit heiserer Stimme. „Ein Mann soll hinab. Ich. Wie soll das überhaupt aussehen, Charles? Wird ein Schiff im Orbit stationiert, und dann fliege ich mit einem Beiboot hinab, das auch rückflugtauglich ist?“

„Ja.“

„Das ist Wahnsinn, Dick“, sagte sie. „Bitte geh nicht. Du wirst es dein Leben lang bereuen.“

„Falls es schiefgeht, Marta, bringt mir das einen raschen Tod ein. Und ich habe mich schon größeren Gefahren ausgesetzt.“

„Ach was. Ich will dir einmal etwas sagen, Dick. Manchmal habe ich so etwas wie ein zweites Gesicht. Ich kann in die Zukunft sehen.“ Sie lachte nervös auf. Ihre coole, intellektuelle Haltung war mit einem Schlag zunichte gemacht. „Ich glaube nicht, daß du das Leben verlierst, wenn du dorthin gehst. Aber ich weiß auch, daß du danach nicht mehr lange leben wirst. Bitte sag, daß du nicht gehst. Sag es, Dick.“

„Sie haben bislang noch nicht offiziell zugesagt“, erklärte Boardman.

„Das weiß ich“, sagte Muller. Er stand auf und stieß dabei beinahe mit dem Kopf gegen das niedrige Dach des Speisegleiters. Er trat auf Marta zu, legte die Arme um sie und erinnerte sich an das andere Mädchen in jener Nacht vor so langer Zeit in Kalifornien. Er dachte wieder an den wilden Ansturm von Macht, der über ihn gekommen war, als er sich von den strahlenden Sternen abgewandt und dem warmen, willigen Fleisch der geöffneten Schenkel unter sich gewidmet hatte. Muller drückte Marta fest an sich. Sie sah ihn erschrocken an. Er küßte sie auf die Nasenspitze und das linke Ohrläppchen. Sie fuhr vor ihm zurück, stolperte dabei und wäre beinahe Boardman in den Schoß gefallen. Boardman fing sie auf und ließ sie nicht mehr los. Muller sagte: „Du weißt, wie meine Antwort ausfallen muß.“


An diesem Nachmittag erreichte ein Sondierungsroboter die Zone F. Sie hatten immer noch ein gutes Stück vor sich. Aber Muller wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie das Herz des Labyrinths erreicht hatten.

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