Sieben

1

Muller war früher oft für längere Zeit allein. Bei der Unterzeichung seines ersten Ehevertrages hatte er auf der üblichen Unterbrechungsklausel bestanden. Lorayn hatte sich nicht dagegen gewehrt, weil sie wußte, daß seine Arbeit ihn gelegentlich an Orte führte, wohin sie ihn nicht begleiten konnte oder wollte. Während der acht Jahre dieser Ehe hatte er die Klausel dreimal in Anspruch genommen, für einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren.

Als sie den Ehevertrag ohne Erneuerung hatten auslaufen lassen, hatte das eigentlich kaum an Mullers langer Abwesenheit gelegen. Er hatte in jenen Jahren gelernt, mit der Einsamkeit zurechtzukommen, und wußte, daß sie sogar positiv auf ihn wirkte. Wir entwickeln alles in der Einsamkeit, außer Charakter, hat Stendhal einmal geschrieben. Muller konnte nicht sagen, inwieweit das zutraf, aber sein Charakter war bereits ausgeformt, bevor er Aufträge angenommen hatte, die ihn zu leeren, gefährlichen Welten führten. Er hatte sich freiwillig für diese Aufträge gemeldet. In einem anderen Sinn hatte er sich auch freiwillig hier auf Lemnos eingeschlossen. Dieses Exil war schmerzlicher zu ertragen als die früheren, einsamen Missionen. Doch er fand sich auch hier zurecht. Seine eigene Anpassungsfähigkeit erstaunte und erschreckte ihn zugleich. Er hätte nicht gedacht, daß er so leicht auf Geselligkeit und Gemeinschaft verzichten konnte. Die Sache mit dem Sex war natürlich recht schwierig, aber auch nicht so unlösbar, wie er sich das vorher ausgemalt hatte. Und der Rest, Gespräche und Anregungen, ständig neue Gruppenerlebnisse, das Zusammentreffen unterschiedlicher Persönlichkeiten — der Mangel daran hatte hier für ihn bald schon kein Problem mehr dargestellt. Er hatte genug Kassetten mitgebracht, um sich zu zerstreuen, und die Gefahren, denen er hier im Labyrinth ständig ausweichen mußte, ließen schon keine Langeweile aufkommen. Und dann besaß er auch noch seine Erinnerungen.

Er konnte Erlebnisse auf hundert Welten in sein Gedächtnis zurückzurufen. Die Menschheit breitete sich nach überallhin aus. Pflanzte den Samen der Erde auf Kolonien unter tausend Sternen. Delta Pavonis VI zum Beispiel: zwanzig Lichtjahre von der Erde entfernt und mit Bewohnern, die sich immer mehr der Mutterwelt entfremdeten. Sie nannten ihre Welt Loki, was Muller als krasse Fehleinschätzung vorkommen wollte; denn der Sage nach war Loki gewandt, verschlagen und schmächtig von Gestalt. Die Siedler von Loki aber huldigten, nach fünfzigjähriger Isolation von der Erde, durch glucostatische Maßnahmen einem Fettleibigkeitskult. Muller hatte der Welt einen Besuch abgestattet, zehn Jahre vor seiner unglücklichen Mission auf Beta Hydri IV. Der Zweck dieser hatte hauptsächlich darin bestanden, Mißverständnisse und Versäumnisse auf einem Planeten auszuräumen, der den Kontakt zur Mutterwelt verloren hatte. Muller erinnerte sich an eine warme Welt, von der nur ein schmaler Streifen mit gemäßigten Temperaturen bewohnbar war. Und er erinnerte sich weiter: die Fahrt auf einem Schwarzen Fluß, vorbei an undurchdringbar dichtem, grünem Dschungel; Tiere mit Rubinaugen, die sich an sumpfigen Uferbänken drängten; endlich die Ankunft in einer Siedlung, wo schwitzende Buddhagestalten, die mehrere hundert Kilogramm wogen, starr und in Meditation versunken vor strohbedeckten Hütten saßen. Noch nie zuvor hatte er so viel Fleisch pro Kubikmeter gesehen. Die Lokiten beschäftigten sich hauptsächlich mit ihren am Körper angebrachten Glucose-Rezeptoren, um eine weitere Körperverfettung zu veranlassen. Eine sinnlose Beschäftigung, die in keiner Weise von irgendeinem Umweltproblem oder sonstigen Eigenarten der Welt herrührte. Es war bei ihnen einfach zur Mode geworden, dick und schwer zu sein. Muller erinnerte sich an Arme, die wie Oberschenkel aussahen, an Oberschenkel wie Säulen, an Bäuche von kolossalem Umfang.

Ihre Höflichkeit und Gastfreundlichkeit hatten ihnen geboten, dem Spion von der Erde eine ihrer Frauen anzubieten. Für Muller war es eine Lektion darüber gewesen, wie relativ kulturelle Werte sein können. Im Dorf lebten zwei oder drei Frauen, die, obwohl sicher nicht mit einer Mannequinfigur versehen, nach örtlichen Maßstäben als knochig und verkümmert angesehen wurden. Für Muller hingegen entsprachen sie gerade so eben noch seinen Vorstellungen von weiblicher Attraktivität. Aber die Lokiten überließen ihm keine von diesen Frauen, ihrer Ansicht nach bedauernswerte, unterentwickelte Geschöpfe, die gerade hundert Kilogramm auf die Waage brachten; denn es hätte einen unverzeihlichen Bruch der Sitten bedeutet, einem Gast eine kärgliche Bettgefährtin zu geben. Statt dessen „verwöhnten“ sie ihn mit einem blonden Koloß, der Brüste wie Kanonenkugeln und Hinterbacken wie Kontinente aus wabbeligem Fleisch besaß.

Es war ein in jeder Hinsicht unvergeßliches Erlebnis gewesen.

Und es hatte viele solcher Welten gegeben. Er war ein rastloser Wanderer gewesen. Die Feinheiten der politischen und diplomatischen Manipulation hatte er Männern wie Charles Boardman überlassen. Muller besaß auch Fingerspitzengefühl, konnte staatsmännisch handeln und auftreten, aber er sah sich selbst mehr als Entdecker denn als Diplomat. Er hatte in Methanmeeren gefroren, war in unberührten Wüsten von titanischen Ausmaßen gebraten worden, war mit nomadischen Siedlern über eine purpurrote Ebene auf die Suche nach ihrem herumstreunenden arthropodischen Vieh gegangen. Er hatte durch Computerfehler auf atmosphärelosen Welten Schiffbruch erlitten. Er hatte die kupferhaltigen, neunzig Kilometer hohen Klippen auf Damballa gesehen. Er war im schwerkraftlosen Meer von Mordred geschwommen. Er hatte am Ufer eines buntschillernden Baches unter einem Himmel geschlafen, von dem drei Sonnen herabbrannten. Und er war über die Kristallbrücken von Prokyon XIV gegangen. Er hatte viel gesehen und bedauerte davon nur wenig.

Nun hatte er sich ins Zentrum seines Labyrinths verkrochen, beobachtete seine Monitore und wartete darauf, daß der Fremde ihn fand. Eine Waffe lag kühl in seiner Hand.

2

Der Nachmittag verging rasch. Rawlins begann darüber nachzudenken, ob er nicht doch besser auf Boardman gehört und vor seinem Aufbruch zu Muller noch eine Nacht im Camp verbracht hätte. Vielleicht ein dreistündiger Tiefschlaf, um die Spannungen aus seinem Gehirn zu waschen — sich rasch einmal an das Schlafgerät anzuschließen, war immer von Nutzen. Nun, er hatte geglaubt, es auch so zu schaffen. Jetzt hatte er keine andere Wahl mehr. Seine Sensoren zeigten an, daß Muller ganz in der Nähe war.

Moralische Fragen quälten ihn aufs neue, und auch die Frage, wie mutig er eigentlich war.

Er hatte noch nie etwas Vergleichbares tun müssen. Er hatte studiert, hatte in Boardmans Büro Routinearbeiten und -fälle erledigt und nur hin und wieder eine Angelegenheit regeln müssen, die etwas Grips und Fingerspitzengefühl verlangte. Und immer war er der Überzeugung gewesen, seine wirkliche Karriere stünde ihm noch bevor, daß bisher alles nur Ouvertüre gewesen sei. Er hatte auch hier auf Lemnos das Gefühl, daß seine Zukunft ihm noch bevorstand, aber mittlerweile mußte er sich eingestehen, daß er auf der Schwelle stand. Das hier war kein Routinefall mehr. Hier stand er nun, groß, blond, jung und stur und entschlossen zu seiner großen Tat, die — und Boardman hatte in diesem Punkt ganz und gar nicht übertrieben — durchaus dazu angelegt war, den Verlauf der zukünftigen Geschichte zu beeinflussen.

Ping.

Ned sah sich um. Die Sensoren hatten wieder angesprochen. Aus dem vor ihm liegenden Schatten löste sich die Gestalt eines Menschen. Richard Muller.

Sie starrten sich über eine Distanz von zwanzig Metern an. Rawlins hatte sich Muller als Riesen vorgestellt. Überrascht stellte er nun fest, daß sie beide von gleicher Größe waren, beide gut zwei Meter groß. Muller trug ein dunkles, speckiges Hemd. Das Sonnenlicht zu dieser Stunde zeigte Mullers Gesicht als Konglomerat von widerstrebenden Falten und hervorstehenden Kanten.

In Mullers Hand befand sich das apfelgroße Gerät, mit dem er die Drohne vernichtet hatte.

Boardmans Stimme ertönte summend in Neds Ohr: „Gehen Sie näher heran. Lächeln Sie. Geben Sie sich schüchtern, unsicher und freundlich. Und zeigen Sie, daß es Ihnen ernst ist. Vor allem aber müssen Sie die Hände so halten, daß er sie ständig sehen kann, und zwar die ganze Zeit.“

Rawlins gehorchte. Er fragte sich, wann er wohl die negativen Schwingungen empfangen würde, die Muller aussandte. Er konnte kaum den Blick von der glänzenden Kugel wenden, die wie eine Handgranate in Mullers Hand lag. Als er nur noch zehn Meter von ihm entfernt war, begann er Mullers Ausstrahlung zu verspüren. Ja, das mußte sie sein. Er sagte sich, daß er sie ertragen konnte, wenn es bei dieser Entfernung blieb.

Muller sagte: „Was wollen Sie…“

Die Worte hörten sich an wie ein heiserer, krächzender Schrei.

Muller hielt inne, und seine Wangen liefen rot an, während er versuchte, seinen Kehlkopf wieder unter Kontrolle zu bekommen. Rawlins nagte an seiner Unterlippe. Er spürte ein unkontrollierbares Zucken in seinem rechten Augenlid. Heftiges Atmen von Charles Boardman ertönte in seinem Ohrempfänger.

Muller versuchte es noch einmal. „Was wollen Sie von mir?“ Diesmal klang seine Stimme wie immer. Sie war tief, und kaum unterdrückte Wut schwang in ihr mit.

„Ich wollte nur mit Ihnen reden, wirklich. Aber ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten machen, Mr. Muller.“

„Sie kennen mich!“

„Aber natürlich. Jeder kennt Richard Muller. Ich will sagen, Sie waren schon der galaktische Held, als ich noch zur Schule gegangen bin. Wir haben Aufsätze über Sie geschrieben, Klassenarbeiten. Wir…“

„Hauen Sie ab! Raus hier!“ Wieder kippte seine Stimme über.

„…und Stephen Rawlins war mein Vater. Ich kenne Sie, Mr. Muller.“

Das apfelförmige Gerät richtete sich auf ihn. Das kleine viereckige Fenster in ihm zeigte direkt auf Neds Gesicht. Rawlins erinnerte sich daran, wie urplötzlich die Übertragung der Drohne geendet hatte.

„Stephen Rawlins?“ Die Waffe sank wieder.

„Mein Vater.“ Rawlins’ linkes Knie schien zu Pudding geworden zu sein. Verdampfter Schweiß schwebte wie eine Wolke um seine Schultern. Er empfing Mullers Strahlung jetzt intensiver, so als brauche sie einige Minuten, um sich auf seine Wellenlänge einzustellen. Ned spürte jetzt Wirbel von Pein, von Traurigkeit und ein Gefühl wie von gähnenden Abgründen, die friedliche Wiesen zerrissen. „Ich habe Sie vor langer Zeit kennengelernt“, sagte Rawlins. „Sie kehrten gerade von einer Reise nach — Moment, bitte, was war es denn noch gleich, ja, Eridani 82, glaube ich — zurück und waren tiefgebräunt und windgegerbt. Ich glaube, ich war damals acht Jahre alt. Sie haben mich hochgehoben und mich in die Luft geworfen. Sie waren nicht mehr an die irdische Schwerkraft gewohnt und haben mich zu heftig hochgeworfen. Ich stieß gegen die Decke und begann zu weinen. Und Sie haben mir etwas geschenkt, damit ich mit dem Weinen aufhörte eine kleine Perle, die ständig ihre Farbe änderte…“

Mullers Hände hingen schlaff an den Seiten. Die Waffe war irgendwo in einer Hemdfalte verschwunden.

Zwischen zusammengepreßten Lippen sagte er: „Wie war doch gleich dein Name? Fred, Ted, Ed… ja, sicher, Ed. Edward Rawlins.“

„Später hat man mich Ned genannt. Sie erinnern sich also an mich?“

„Ein wenig. An deinen Vater kann ich mich besser erinnern.“ Muller wandte sich ab und hustete. Er steckte eine Hand in die Tasche. Dann hob er den Kopf, und die untergehende Sonne glitzerte unheimlich auf seinem Gesicht und färbte es orangerot. Er machte eine rasche, abgehackte Handbewegung. „Geh fort, Ned. Sag deinen Freunden, daß ich nicht gestört werden möchte. Ich bin ein sehr kranker Mann und möchte allein sein.“

„Krank?“

„Ich leide an einer mysteriösen Krankheit, einer Art Seelenfäulnis. Paß auf, Ned, du bist ein lieber, netter Junge, und ich habe deinen Vater sehr gemocht. Aber ich möchte nicht, daß du in meiner Nähe bist. Du wirst es nämlich bereuen. Ich will dir damit keineswegs drohen, sondern nur eine Tatsache feststellen. Geh weg von mir. Geh ganz weit weg.“

„Lassen Sie sich nicht abweisen“, erklärte ihm Boardman. „Gehen Sie näher an ihn heran. So weit, bis es kaum noch auszuhalten ist.“

Rawlins trat unsicher einen Schritt vor, dachte dabei an die Waffe in Mullers Tasche und erkannte in den Augen seines Gegenübers, daß er sich nicht allzu sehr auf dessen logisches Denkvermögen verlassen durfte. Er verkürzte die Distanz um zehn Prozent. Die Wucht der negativen Strahlen schien sich dadurch zu verdoppeln.

Er sagte: „Bitte schicken Sie mich nicht fort, Mr. Muller. Ich möchte doch bloß freundlich sein. Mein Vater würde es mir nie verziehen haben, wenn er herausgefunden hätte, daß ich Sie hier überraschenderweise getroffen hätte, ohne Ihnen meine Hilfe anzubieten.“

„Würde nicht? Herausgefunden hätte? Was ist denn mit Ihrem Vater?“

„Er ist gestorben.“

„Wie? Wann denn und wo?“

„Vor vier Jahren, auf Rigel XXII. Er arbeitete gerade daran mit, eine Kurzstrahl-Verbindung zu errichten, mit der die Rigel-Welten untereinander verbunden werden sollten. Eines Tages kam es zu einer Störung in einem der Verstärker, und dabei polte die Spannung um. Vater hat die ganze Ladung abbekommen.“

„Großer Gott, er war noch so jung.“

„In einem Monat wäre er fünfzig geworden. Wir wollten alle zum Rigel-System fliegen, um ihn dort zu besuchen und ihm zu gratulieren. Als Überraschung sozusagen. Statt dessen bin ich dann alleine hingeflogen, um seine Leiche zu überführen.“

Mullers Gesicht verlor etwas von seiner Schärfe. Die Unruhe in seinen Augen ließ etwas nach. Die Lippen waren nicht mehr so zusammengepreßt. Es war ganz so, als hätte ihn das Leid eines anderen für einen Moment von seiner eigenen Pein abgelenkt.

„Gehen Sie näher an ihn heran“, befahl Boardman.

Ein Schritt vor… als Muller das nicht zu bemerken schien, noch einen. Rawlins spürte Hitze. Keine normale, sondern eine psychische Hitze, ein Feuerhauch wie aus einem Hochofen, entstanden aus richtungslosen Emotionen. Ned zitterte vor Furcht. Er hatte nie wirklich daran geglaubt, daß das, was die Hydrier Richard Muller angetan hatten, so elementar der Wahrheit entsprach. Ned war viel zu stark im pragmatischen Geist seines Vaters erzogen worden. Wenn man etwas im Labor nicht reproduzieren konnte, dann existierte es nicht. Was sich nicht graphisch darstellen ließ, das gab es nicht. Was nicht in einem Stromkreislauf floß, besaß auch keine Existenz. Wie sollte es möglich sein, ein menschliches Wesen so zu ändern, daß es seine eigenen Emotionen ausstrahlte? Kein Schaltkreis konnte so etwas. Und dennoch spürte Rawlins die Ausläufer dieser Ausstrahlungen.

„Was tust du denn hier auf Lemnos, mein Junge?“ fragte Muller.

„Ich bin Archäologe.“ Die Lüge wollte ihm nur mit Mühe über die Lippen. „Dies ist meine erste Felduntersuchung. Wir sind gekommen, um das Labyrinth vollständig zu kartographieren.“

„Zufälligerweise ist das Labyrinth mein Heim. Ihr stört hier.“

Ned stockte.

„Sagen Sie ihm, Sie hätten nicht gewußt, daß er sich hier aufhalte“, flüsterte Boardman ihm zu.

„Wir hatten keine Ahnung, daß jemand hier lebt“, sagte Rawlins. „Woher hätten wir auch wissen sollen…“

„Ihr habt Eure verdammten Roboter hereingeschickt, nicht wahr? Seit Ihr hier jemanden entdeckt habt — jemand, von dem Ihr verdammt gut wußtet, daß er keine Gesellschaft um sich haben will…“

„Ich verstehe nicht ganz“, sagte Rawlins. „Wir nahmen an, Sie hätten hier Schiffbruch erlitten. Und da wollten wir Ihnen unsere Hilfe anbieten.“

Wie leicht mir doch diese Lügen fallen, sagte er sich.

Muller warf ihm einen finsteren Blick zu. „Du weißt wirklich nicht, warum ich hier bin?“

„Ich fürchte nein.“

„Wahrscheinlich weißt du das tatsächlich nicht. Du warst damals noch zu jung. Aber die anderen,… sobald sie mein Gesicht erkannten, hätten sie es eigentlich wissen müssen. Warum haben Sie dir nichts gesagt? Euer Roboter hat mein Gesicht übertragen, nicht wahr? Ihr wußtet, wer hier ist. Und sie haben dir kein einziges Wort gesagt?“

„Ich verstehe leider immer noch nicht…“

„Komm näher!“ rief Muller barsch.

Rawlins spürte, wie er näherglitt, obwohl ihm die einzelnen Schritte nicht bewußt wurden. Plötzlich stand er Muller von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wurde sich der massigen Gestalt des Mannes vollauf bewußt, seiner tiefgefurchten Stirn, seiner furchterregenden Augen mit dem starren Blick. Mullers riesige Hand umfaßte wie ein Schraubstock Neds Handgelenk. Rawlins schwankte. Der plötzliche Ansturm paralysierte ihn. Verzweiflung überwältigte ihn; so groß, daß sie ganze Universen verschlingen konnte. Er bemühte sich, nicht allzu sehr den weichen Knien nachzugeben.

„Jetzt geh wieder weg von mir!“ rief Muller heiser. „Hau ab! Raus hier! Raus!“

Rawlins rührte sich nicht.

Muller stieß einen Fluch aus und rannte schweren Schritts in ein Gebäude mit niedrigen Glaswänden, deren dunkle Fenster wie blinde Augen wirkten. Die Tür verschloß sich hinter ihm. Lückenlos, ohne erkennbare Naht. Rawlins atmete tief durch und bemühte sich, sein Gleichgewicht zu bewahren. Hinter seiner Stirn hämmerte es, als versuche dort etwas, mit aller Gewalt nach draußen zu gelangen.

„Bleiben Sie, wo Sie sind“, sagte Boardman. „Lassen Sie ihn erst seine verzweifelte Wut überwinden. Bis jetzt läuft alles bestens.“

3

Muller kauerte hinter der Tür. Der Schweiß rann ihm die Seiten herab. Ein Frösteln durchfuhr ihn. Er schlang die Arme so fest um sich, daß die Rippen zu schmerzen begannen.

So hatte er mit einem Eindringling ganz sicher nicht verfahren wollen.

Eine kurze Vorstellung vielleicht; dann der bestimmte Hinweis, daß sein Wunsch nach Zurückgezogenheit respektiert werden sollte; wollte der Störenfried danach immer noch nicht verschwinden, würde er eben mit der Kugelwaffe nachhelfen. So hatte Muller es sich vorgenommen. Aber bei dem jungen Rawlins hatte er gezögert. Er hatte sich zu lange mit ihm unterhalten, hatte zuviel erfahren. Der Sohn von Stephen Rawlins also? Hierhergeflogen mit einer Archäologengruppe? Der Junge schien von seiner Ausstrahlung kaum betroffen worden zu sein, außer wenn er sehr nahe an ihn herankam. Hatte sein Leiden im Lauf der Jahre etwas nachgelassen?

Muller kämpfte darum, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Warum war er so abweisend? Warum so ängstlich? Warum klammerte er sich so verzweifelt an seine Einsamkeit? Er hatte von den Erdmenschen nichts zu befürchten. Sie litten bei jedem Kontakt mit ihm, und nicht er. Verständlich, daß sie vor seiner Anwesenheit zurückschreckten. Deshalb gab es für ihn auch keinen Grund, sich so zurückzuziehen — außer auf Grund eines lähmenden Mangels an Selbstbewußtsein, der erstarrten Unbeweglichkeit, die nach neun Jahren Isolation nicht verwundern konnte. War es wirklich so weit mit ihm gekommen liebte er die Einsamkeit um ihrer selbst willen? War er ein Einsiedler? Anfangs hatte er sich eingeredet, er sei nur hierher gekommen, weil er an das Wohl seiner Mitmenschen gedacht habe. Daß er seine schmerzende, seelische Häßlichkeit nicht auf sie ausströmen lassen wollte. Doch dann war der Junge gekommen, war freundlich und hilfsbereit gewesen. Warum sollte er vor ihm fliehen? Warum sollte er so dumm und grob reagieren?

Langsam erhob Muller sich wieder und öffnete die Tür. Er trat nach draußen. So rasch, wie das beim hiesigen Winter üblich war, war die Nacht hereingebrochen. Der Himmel war schwarz, und die Monde zogen flink über ihn hinweg. Der Junge stand immer noch auf dem Platz. Er wirkte etwas unschlüssig. Clotho, der größte Mond, badete ihn in seinem goldenen Licht, so daß sein lockiges Haar von innen her zu funkeln schien. Neds Gesicht war sehr blaß und wurde jetzt noch stärker von den stark hervorstehenden Wangenknochen betont. Aus seinen blauen Augen leuchtete Verblüffung, wie von jemandem, der gerade eine Ohrfeige bekommen hatte.

Muller ging vorsichtig auf ihn zu. Er wußte noch nicht recht, welche Taktik er einschlagen sollte. Er kam sich wie eine große, halbverrostete Maschine vor, die plötzlich wieder eingeschaltet worden war, nachdem man sie so viele Jahre in einer Ecke abgestellt hatte. „Ned“, sagte er. „Ned, ich, äh, ich möchte dir sagen, daß es mir leid tut. Aber du mußt verstehen, ich bin Menschen nicht mehr gewöhnt. Weiß… nicht… mehr umzugehen… mit… Menschen.“

„Aber das macht doch nichts, Mr. Muller. Ich kann mir vorstellen, daß es für Sie nicht immer einfach war.“

„Dick. Nenn mich Dick.“ Muller hob die Arme und streckte sie weit aus, so als wolle er Mondstrahlen einfangen. Ihm war plötzlich furchtbar kalt. An der Wand am Rand des Platzes tanzten und hüpften die Schatten der kleinen Tiere. Muller sagte: „Ich habe meine Einsamkeit schätzen gelernt. Man kann sogar Krebs begrüßen, wenn man ihn nur in bestimmten Stimmungen von der richtigen Seite her sieht. Paß auf, eins sollte von Anfang an klar sein: Ich bin freiwillig hierhergekommen. Es war kein Schiffbruch oder sonst was in der Art. Ich habe mir den Ort im ganzen Universum ausgesucht, wo ich am wenigsten gestört werden würde. Und hier habe ich mich verkrochen. Aber dann mußtet Ihr natürlich kommen, mit Euren raffinierten Robotern, und habt einen Weg hinein gefunden.“

„Wenn Sie mich nicht hier haben wollen, dann gehe ich wieder“, sagte Rawlins.

„Vielleicht wäre das das beste für uns. Nein. Warte. Bleib hier. Ist es sehr schlimm, auf so geringe Distanz bei mir zu stehen?“

„Es ist nicht übermäßig gemütlich“, antwortete Ned, „aber es ist auch nicht so schlimm wie… wie… nun, das weiß ich auch nicht. Auf diese Entfernung fühle ich mich nur ein wenig niedergeschlagen.“

„Weißt du warum?“ fragte Muller. „Aus der Art, wie du redest, Ned, schließe ich, daß du es weißt. Du gibst nur vor, nicht zu wissen, was mir auf Beta Hydri IV zugestoßen ist.“

Rawlins lief rot an. „Nun, ich denke, daß ich wirklich ein wenig darüber weiß. Sie haben etwas an Ihrem Gehirn geändert, nicht wahr?“

„Ja, das stimmt. Was du spürst, Ned, das bin ich. Meine verfluchte Seele, die undicht geworden ist und ausläuft. Du empfängst meine Gehirnströme, direkt aus meinem Kopf. Ist das nicht einmalig? Versuch doch, noch ein wenig näher zu kommen… dann weißt du erst richtig Bescheid.“ Rawlins zögerte. „So“, sagte Muller, „jetzt ist es schon stärker, nicht wahr? Jetzt ist die Dosis schon wesentlich stärker. Nun erinnere dich daran, wie es war, als du mir direkt gegenüber gestanden hast. Das war nicht so angenehm, was? Aus einer Entfernung von zehn Metern kann man es noch ertragen. Bei einer Distanz von einem Meter ist es nicht mehr zum Aushalten. Kannst du dir vorstellen, du hältst eine Frau in den Armen, während du solchen seelischen Unrat absonderst? Man kann eine Frau nicht aus zehn Metern Entfernung lieben. Zumindest ich kann das nicht. Setzen wir uns, Ned. Hier ist es sicher. Ich habe überall Detektoren angebracht, die mich warnen, falls eines von den unangenehmeren Tieren aufkreuzt. Aber in dieser Zone gibt es keine Fallen. Also setz dich.“ Er ließ sich auf den glatten, milchweißen Marmorboden nieder — der diesen Platz so sonderbar anheimelnd machte. Rawlins überlegte einen Augenblick, dann glitt er gewandt zu Boden und hockte sich im Schneidersitz hin. Ein Dutzend Meter von Muller entfernt.

„Wie alt bis du, Ned?“ fragte Muller.

„Dreiundzwanzig.“

„Verheiratet?“

Ein scheues Lächeln. „Leider nein.“

„Eine Freundin?“

„Es gab eine. Wir hatten eine Art Verlobungs-Kontrakt, haben ihn aber wieder aufgelöst, als ich diesen Job hier annahm.“

„Ach. Nehmen Frauen an dieser Expedition teil?“

„Nein, wir haben nur Mädchenwürfel“, sagte Rawlins.

„Die sind aber lange nicht so gut, was, Ned?“

„Hmmm. Wir hätten ja einige Frauen mitbringen können, aber…“

„Was aber?“

„Die Gefahren erschienen uns zu groß. Das Labyrinth…“

„Wie viele Männer habt Ihr denn bislang verloren?“

„Fünf, glaube ich. Ich wüßte gern mehr über die Wesen, die eine solche Anlage erbaut haben. Dahinter stecken gut fünfhundert Jahre Planung, um sie mit derart teuflischen Todesfallen zu spicken.“

„Das reicht noch nicht“, sagte Muller. „Ich denke mir, es handelt sich bei diesem Irrgarten um das größte Werk, um den Triumph jener Rasse. Sie müssen sehr stolz auf eine solche Todesanlage gewesen sein. In ihr war die gesamte Essenz ihrer Philosophie vereint: Töte alles Fremde.“

„Ist das Spekulation, oder haben Sie irgendwelche Hinweise auf ihre Kultur oder ihr Geistesleben gefunden?“

„Der einzige Hinweis auf ihre Denkweise ist das, was uns hier umgibt. Aber ich darf mich wohl als Experten in Fragen der außerirdischen Psychologie ansehen, Ned. Ich weiß darüber mehr als jeder andere Mensch. Denn ich bin der einzige gewesen, der jemals bei einer außerirdischen Rasse gewesen ist. Töte das Fremde,… das ist das Gesetz des Universums. Und wenn du es schon nicht gleich umbringst, dann verpaß’ ihm wenigstens eine gehörige Abreibung.“

„Wir sind nicht so“, sagte Rawlins. „Wir sind nicht instinktiv feindlich eingestellt gegen…“

„Quatsch.“

„Aber…“

„Wenn ein fremdes Raumschiff jemals auf einer unserer Welten landen sollte, dann würden wir es sofort unter Quarantäne stellen, die Besatzung gefangen nehmen und sie solange ausquetschen, bis sie zu Tode gekommen wäre. Was immer wir auch an guten Manieren heutzutage aufweisen mögen, sie sind aus unserer Dekadenz und Selbstgefälligkeit erwachsen. Wir bilden uns ein, wir seien zu nobel, um Fremde zu hassen, aber unsere Höflichkeit heißt in Wahrheit Vogel-Strauß-Politik. Man braucht doch nur einmal an die Zeit der Entdeckung der Hydrier zu denken. Eine nicht zu übersehende Minderheit innerhalb unserer Regierung trat offen dafür ein, innerhalb der Wolkenschicht von Beta Hydri IV ein paar Bomben hochgehen zu lassen. Den Fremden sozusagen eine Extrasonne zu bescheren,…statt zuerst einen Emissär zu ihnen zu schicken, der sich dort umsehen könnte.“

„Nein!“

„Doch. Sie wurden überstimmt. Man schickte einen Emissär aus, und die Hydrier haben ihn kaputtgemacht — mich.“ Plötzlich schien Muller eine Idee gekommen zu sein. Entsetzt fragte er: „Welche Beziehungen haben sich in den letzten neun Jahren zwischen uns und den Hydriern entwickelt? Ist es zu weiteren Kontakten gekommen? Hat es Krieg gegeben?“

„Nichts davon“, sagte Rawlins. „Nichts. Wir haben Beta Hydri nicht wieder betreten.“

„Sagst du mir auch die Wahrheit? Oder haben wir die Hundesöhne ausgelöscht? Gott im Himmel weiß, daß mir das nichts ausmachen würde, obwohl es nicht ihre Schuld war, daß sie mir das hier angetan haben. Sie haben sich nur gemäß der Norm der überall verbreiteten Fremdenfeindlichkeit verhalten. Ned, sag mir bitte ganz ehrlich, hat es einen Krieg mit ihnen gegeben?“

„Nein, das schwöre ich.“

Die Spannung trat aus Mullers Zügen. Nach einem Moment des Schweigens sagte er: „Also gut. Ich will dich nicht danach fragen, was sich in der Zwischenzeit alles ergeben und entwickelt hat. Denn das interessiert mich wirklich einen Scheißdreck. Wie lange wollt Ihr denn auf Lemnos bleiben?“

„Darüber haben wir noch nicht genau entschieden. Wahrscheinlich ein paar Wochen. Wir haben ja noch gar nicht richtig damit begonnen, das Labyrinth zu vermessen. Und dann gibt es ja auch noch die umliegenden Gebiete. Wir wollen die Arbeit früherer Expeditionen überprüfen und davon ausgehen…“

„Also wollt Ihr eine Weile hierbleiben. Wollen die anderen auch zu mir ins Zentrum kommen?“

Rawlins befeuchtete seine Lippen. „Sie haben mich vorausgeschickt, um mit Ihnen die nötigen Kontakte aufzunehmen. Aber diesbezügliche Pläne haben wir noch nicht. Das hängt alles von Ihnen ab. Wir wollen uns Ihnen nicht aufdrängen. Wenn Sie also nicht wollen, daß wir hier vor Ihrer Nase arbeiten…“

„Ganz genau, das will ich nicht“, erklärte Muller barsch. „Sag das deinen Freunden. In fünfzig oder sechzig Jahren bin ich tot, dann können sie hier so viel herumschnüffeln wie sie wollen. Aber solange ich lebe, möchte ich nicht, daß sie mich belästigen. Sollen sie ruhig in den vier oder fünf äußeren Zonen arbeiten. Aber wenn einer von ihnen seinen Fuß in A, B oder C setzt, bringe ich ihn um. Ich habe die Möglichkeiten dazu, Ned.“

„Was ist mit mir? Bin ich willkommen?“

„Gelegentlich. Ich kann meine Stimmungen nicht vorhersagen. Wenn du mit mir reden möchtest, dann komm her und warte ab. Und wenn ich dir erkläre, du sollst dich zur Hölle scheren, dann tust du das auch. Verstanden, Ned?“

Rawlins grinste freundlich. „Klar, verstanden.“ Er stand auf. Muller, dem es nicht behagte, zu dem Jungen aufzusehen, erhob sich ebenfalls. Rawlins trat ein paar Schritte auf ihn zu.

„Was hast du vor?“ fragte Muller.

„Mir paßt es nicht, über so eine Entfernung mit Ihnen zu reden, wo ich brüllen muß. Ich kann Ihnen doch ruhig noch etwas näher kommen, nicht wahr?“

Mit neu erwachtem Mißtrauen erwiderte Muller: „Du bist doch nicht etwa so eine Art Masochist?“

„Da muß ich leider passen. Nein.“

„Nun, ich bin andererseits auch kein Sadist. Ich möchte nicht, daß du allzu nah an mich herantrittst.“

„So schlimm ist es wirklich nicht, Dick.“

„Du lügst. Dir behagt es genauso wenig wie allen anderen auch. Ich bin für die anderen wie ein Pestkranker, mein Junge. Und wenn du eine perverse Neigung zur Pest hast, dann tut es mir für dich leid. Komm mir nicht näher. Es behagt mir gar nicht, wenn ich sehe, wie andere durch meine Schuld leiden müssen.“

Rawlins blieb stehen. „Wie Sie wollen. Also, um das einmal klarzustellen, Dick, ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich versuche nur, höflich, freundlich und zuvorkommend zu sein. Wenn ich Ihnen damit auf die eine oder andere Weise Unbehagen bereite… nun, dann brauchen Sie mir das nur zu sagen, und ich höre damit auf. Es freut mich weder, noch nützt es mir etwas, wenn ich Ihnen auf die Nerven gehe.“

„Sag mal, mein Junge, was willst du eigentlich wirklich von mir?“

„Nichts.“

„Warum läßt du mich dann nicht allein?“

„Sie sind ein menschliches Wesen und waren hier so lange ganz allein. Da ist es doch nur selbstverständlich, wenn ich Ihnen meine Gesellschaft anbiete. Oder hört sich das für Sie so eigentümlich an?“

Muller zuckte die Achseln. „Ich fürchte, ich bin kein guter Gesellschafter. Vielleicht solltest du deine ganze christlich reine Barmherzigkeit wieder einpacken und verschwinden. Es gibt keine Möglichkeit, wie du mir helfen kannst, Ned. Du bist höchstens fähig, mir Schmerz zuzufügen,… indem du mich an all das erinnerst, was ich nicht mehr haben kann oder weiß.“ Muller wandte sich ab und sah an dem jungen Mann vorbei auf die Schattenfiguren, die an den Wänden entlanghüpften. Er verspürte Hunger. Dies war die Stunde, in der er sich immer sein Abendessen jagte. Hart sagte er: „Mein Sohn, ich glaube, meine Geduld ist allmählich erschöpft. Es wird Zeit für dich zu gehen.“

„In Ordnung. Darf ich denn morgen wiederkommen?“

„Vielleicht. Wir werden sehen.“

Der Junge lächelte freundlich. „Vielen Dank, daß ich mit Ihnen reden durfte, Dick. Ich komme wieder.“

4

Im schwachen und veränderlichen Licht des Mondes suchte sich Rawlins einen Weg aus Zone A. Die Stimme des Schiffscomputers in seinem Ohr führte ihn den Weg zurück, den er gekommen war. Hin und wieder, an Stellen, wo keine Gefahr drohte, schaltete Boardman sich ein. „Sie hatten einen ausgezeichneten Start“, erklärte er. „Wir können es als Pluspunkt buchen, daß er Sie überhaupt akzeptiert hat. Wie fühlen Sie sich?“

„Beschissen, Charles.“

„Weil Sie so nahe an ihn herantreten mußten?“

„Weil ich etwas so Schmutziges tun mußte.“

„Jetzt aber Schluß damit, Ned. Wenn ich Sie jedes Mal moralisch wieder aufrichten muß, sobald Sie von einem Trip ins Zentrum zurückkehren…“

„Ich tue das, was von mir verlangt wird“, sagte Rawlins. „Aber deshalb muß ich meine Arbeit noch nicht mögen.“ Er bewegte sich vorsichtig an einem Katapultsteinblock vorbei, der ihn in einen Abgrund schleudern konnte, falls er die Kontaktstelle zu sehr mit seinem Gewicht belastete. Ein kleines, gefährlich aussehendes Tier fletschte die Zähne, als er an ihm vorbeikam. Nachdem er das Katapult hinter sich hatte, stieß er an passender Stelle gegen eine Wand und gewann so Zutritt zu Zone B. Er sah zum Sims hinauf und entdeckte dort in einer Nische den Schlitz der visuellen Überwachungsanlage des Labyrinths. Er lächelte, für den Fall, daß Muller seinen Rückzug am Monitor verfolgte.

Er begriff jetzt, warum Muller sich dafür entschieden hatte, sich wie ein moderner Robinson hier einzurichten. Unter ähnlichen Umständen hätte er wahrscheinlich das gleiche getan. Oder etwas noch Verrückteres. Muller schleppte, dank der Hydrier, eine seelische Verformung in einer Zeit mit sich herum, wo Deformationen als unfein galten. Es war fast ein ästhetisches Verbrechen, sich mit einem fehlenden Glied, nur einem Auge oder ohne Nase in der Öffentlichkeit zu zeigen. Diese Verstümmelungen konnten leicht behoben werden. Und jeder schuldete es einfach seinen Mitmenschen, körperliche Gebrechen tilgen zu lassen. Die Gesellschaft mit seinen Gebrechen zu konfrontieren, galt eindeutig als asozialer Akt.

Aber kein noch so begabter Chirurg konnte Mullers Leiden durch eine Operation beheben. Das einzige Mittel dagegen war ein Rückzug aus der Gesellschaft. Eine schwächere Persönlichkeit hätte sich für den Freitod entschieden. Muller hatte das Exil gewählt.

Rawlins war noch immer völlig durcheinander. Die volle Wucht von Mullers Ausstrahlung hatte ihn verwirrt. Einige Sekunden lang hatte er eine formlose, inkohärente Ausstrahlung von ungefilterten Emotionen empfangen. Mullers Innerstes hatte sich unfreiwillig und stumm ergossen. Der Empfang solch unkontrollierter Intimität löste Schmerz und Niedergeschlagenheit aus.

Die Hydrier hatten Muller nicht im eigentlichen Sinn zu einem Telepathen umgewandelt. Muller konnte nicht in den Gedanken anderer lesen oder seine Gedanken anderen übermitteln. Er sandte nur einen Strom seines innersten Ichs aus: einen Strudel unverdünnter Verzweiflung, einen Fluß aus Bedauern und Leid, einen Strom aus fauligem Seelenschlamm. Er konnte solche Ergüsse einfach nicht zurückhalten. In diesem scheinbar ewig währenden Augenblick war Rawlins in jenem Meer gebadet worden. In den anderen Momenten hatte er nur vage und unspezifizierte Traurigkeit empfangen.

Er konnte seine eigenen ursprünglichen Empfindungen in diesem ungehemmten Ausfluß erkennen. Mullers Schmerzen waren nicht einzigartig oder individuell. Er verströmte lediglich die Erkenntnis von den Nöten, die das Universum für seine Bewohner bereithielt. In jenem Augenblick hatte Rawlins gespürt, daß ihm jeder Mißklang der Schöpfung vertraut war: verpaßte Gelegenheiten, enttäuschte Liebe, häßliche Worte, Leiden in unverschuldeter Not, Mangel, Gier, Lüste, den bohrenden Neid, die Bitterkeit der Frustration, den schmerzenden Zahn der Zeit, den Tod aller kleinen Insekten im Winter, die Tränen aller Lebewesen. Er hatte Alter, Verlust, Impotenz, Wut, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Öde, Selbstverachtung und Wahnsinn erfahren. Ein stummer Aufschrei kosmischen Zorns.

Sind wir alle so? fragte er sich. Kommt aus mir der gleiche Strom, von Boardman, von meiner Mutter und von dem Mädchen, das ich einmal geliebt habe? Geht jeder von uns umher wie ein taubstummer Blinder, eingeschlossen in die eigene Qual und unfähig, das Leid des Nächsten wahrzunehmen?

Ist er allein sehend geworden?

„Wachen Sie auf“, sagte Boardman. „Hören Sie auf zu grübeln, und achten Sie lieber auf die Fallen. Sie befinden sich kurz vor Zone C.“

„Charles, was haben Sie empfunden, als Sie zum ersten Mal in die Nähe von Muller gekommen sind?“

„Darüber reden wir später noch.“

„Kam es Ihnen auch so vor, als hätten Sie zum ersten Mal erfahren, wie es um die Menschen bestellt ist?“

„Ich sagte doch bereits, darüber reden wir…“

„Lassen Sie mich aussprechen, was ich erklären will, Charles. Im Augenblick befinde ich mich hier in keiner Gefahr. Ich habe eben einen Blick in die Seele eines Menschen tun können, und ich bin noch ganz verwirrt davon. Aber, Charles, das müssen Sie mir glauben, er ist nicht so. Er ist ein guter Mensch. Seine Ausstrahlung ist bloß Schall, ist Abfall. Es ist eine Art Dreck oder Schlamm, aus dem man nichts Wirkliches über Dick Muller erfährt. Es sind Geräusche, die eigentlich gar nicht für unsere Ohren bestimmt sind. Und die einzelnen Töne wollen überhaupt nicht zueinander passen — genauso, als wenn man über einen voll aufgedrehten Empfänger die Geräusche des Kosmos einfangen will, da hört man auch nur das Knistern des Spektrums, nicht wahr, und einige der wunderschönsten Sterne geben die entsetzlichsten Geräusche von sich. Doch diese Töne sind nur das, was der Empfänger aus ihnen macht. Sie haben nichts mit den wahren Werten des Sterns zu tun, sondern, sondern…“

„Ned!“

„Tut mir leid, Charles.“

„Kommen Sie unverzüglich ins Camp. Wir stimmen Ihnen da alle zu, daß Richard Muller ein feiner Kerl ist. Deshalb wollen wir ihn ja auch, mehr noch, wir brauchen ihn. Und Sie brauchen wir auch. Halten Sie also die Klappe und passen Sie auf, wo Sie hintreten. Vorsichtig jetzt. Sachte. Ruhig. Ruhig. Was ist das für ein Tier dort, zu ihrer Linken? Jetzt schnell, Ned. Nur die Ruhe bewahren. Das ist der richtige Weg, mein Sohn. Sachte. Ja.“

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