Er verbrachte drei Wochen mit dem Studium aller Informationen, die über die riesigen Extragalaktiker bekannt waren. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin brauchte er in dieser Zeit weder einen Fuß auf die Erde zu setzen, noch wurde seine Rückkehr von Lemnos öffentlich bekanntgegeben. Man quartierte ihn in einem Bunker auf dem Mond ein, und er lebte ruhig und zurückgezogen unter dem Krater Kopernikus. Wie ein Roboter bewegte er sich durch die stahlgrauen Korridore, die von warm leuchtenden Lampen erhellt wurden. Man zeigte ihm alles verfügbare Würfel- und Filmmaterial. Man führte ihm eine Vielzahl von simulierten Szenarios und rekonstruierten Szenen in allen möglichen Medientechniken vor. Muller sah und hörte zu. Er nahm alles in sich auf. Aber er sprach kaum ein Wort.
Sie kamen ihm nicht zu nahe, wie sie das schon auf der Reise von Lemnos getan hatten. Manchmal bekam er tagelang kein menschliches Wesen zu Gesicht. Und wenn sie doch einmal kamen, dann hielten sie mindestens zehn Meter Abstand von ihm.
Ihm war es recht.
Eine Ausnahme bildete Boardman, der ihn dreimal in der Woche besuchte und es sich offensichtlich zum Prinzip gemacht hatte, ihm sehr nahe zu kommen. Muller empfand das als ziemliche Belästigung. Boardman schien ihn mit seiner nicht aus der Not geborenen, völlig unwichtigen Unterwerfung unter die Pein seiner Ausstrahlung allzu altväterlich zu behandeln. „Ich wünschte“, erklärte Muller ihm beim fünften Besuch, „Sie würden größere Distanz halten. Wir könnten uns auch via Bildschirm unterhalten. Oder Sie könnten an der Tür stehenbleiben.“
„Mir macht die Nähe zu Ihnen nicht viel aus.“
„Mir aber“, sagte Muller. „Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß ich mittlerweile die Menschheit genauso abstoßend finde wie sie mich? Der ekelhafte Gestank Ihres verfetteten Körpers dringt wie ein glühender Pfeil in meine Nase, Charles. Und nicht nur bei Ihnen ist das so, sondern bei allen anderen auch. Eure Ausdünstungen sind unerträglich und gräßlich. Selbst das Aussehen eurer Gesichter. So grobporig. So dämlich, wenn die Münder offenstehen. Und erst die Ohren. Sehen Sie sich bei Gelegenheit mal ein menschliches Ohr aus der Nähe an, Charles. Haben Sie jemals etwas so Abstoßendes wie diese rosafarbenen, verschrumpelten Lauschteller gesehen? Ihr alle widert mich an!“
„Bedauerlich, daß Sie so denken“, sagte Boardman.
Der Unterricht schien kein Ende nehmen zu wollen. Muller fühlte sich schon nach Ablauf der ersten Woche fit genug, die Mission anzutreten. Aber nein, vorher wollte man ihm noch alle entsprechenden Informationen aus den Datenbänken zukommen lassen. Er stopfte alles in sich hinein, auch wenn die Ungeduld in ihm immer stärker wurde. Ein Schatten seines alten Ichs war übriggeblieben, der die ganze Sache faszinierend fand, eine Herausforderung, die es wert war, daß man sie annahm. Er würde die Mission durchführen. Er wollte das. Er würde seine Dienste genauso einsetzen wie früher. Er würde seinen Verpflichtungen in Ehren nachkommen.
Endlich teilte man ihm mit, daß er abreisen könne.
Vom Mond brachten sie ihn in einem ionengetriebenen Schiff zu einem Punkt außerhalb der Umlaufbahn des Mars’, wo sie ihn in einen Raumer mit Warpantrieb brachten, der schon darauf programmiert war, ihn zum Rand der Galaxis zu befördern. Er würde allein fliegen. Auf dieser Reise brauchte er keine Rücksicht auf die Mannschaft und ihre Reaktion auf seine Ausstrahlung zu nehmen. Etliche Gründe hatten dafür eine Rolle gespielt. Der wichtigste davon war sicher der, daß diese Reise einem Himmelfahrtskommando gleichkam. So wurde sie zumindest von offizieller Seite eingeschätzt. Und da das Schiff auf dieser Reise nicht auf eine menschliche Mannschaft angewiesen war, brauchte man nicht mehrere Leben zu riskieren. Abgesehen von Mullers natürlich. Aber er war ja auch als Freiwilliger anzusehen. Außerdem hatte Muller auf einem Alleinflug bestanden.
An den letzten fünf Tagen vor seinem Abflug sah er Boardman nicht mehr. Ned Rawlins hatte er seit der Rückkehr von Lemnos überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen. Muller vermißte Boardman nicht, aber manchmal wünschte er sich, eine weitere Stunde mit Rawlins Zusammensein zu können. Rawlins war so ein vielversprechender junger Mann. Hinter seiner Verwirrtheit und unsicheren Unschuld verbargen sich Reife und Charakterstärke.
Von der Kabine seines kleinen, schlanken Raumers aus beobachtete er die im Raum treibenden Techniker, die die letzten Vorbereitungen trafen, um die Verbindungsleine zu kappen. Danach würden sie auf ihr eigenes Schiff zurückkehren. In diesem Moment hörte er noch einmal die Stimme von Charles Boardman, der ihm einen letzten Gruß übermittelte. Eine typische Boardman-Ansprache, ein Boardman-Special sozusagen, zur Anfeuerung und Inspiration. Ein,Geh hin und tue deine Pflicht für die Menschheit’-Sermon und so weiter und so fort. Muller bedankte sich artig für die schönen Worte.
Dann wurde die Kommunikationsverbindung unterbrochen.
Sekunden später trat Mullers Schiff in den Warpraum ein.
Die Aliens hatten an den Randausläufern der Galaxis drei Sonnensysteme in Besitz genommen. Jeder dieser Sterne besaß zwei von Menschen besiedelte Planeten. Mullers Schiff steuerte auf eine grüngoldene Sonne zu, deren Welten erst vor vierzig Jahren von den Menschen entdeckt worden waren. Der fünfte Planet, eine knochentrockene Wüstenwelt, wurde von einer zentralasiatischen Kolonisierungsgesellschaft bewohnt, die unter religiöser Obhut versuchte, Kulturkreise zu errichten, in denen das reine Nomadenleben verwirklicht werden konnte. Die sechste Welt besaß ein irdisches Gemisch aus Klimazonen und Landschaften und wurde von den Mitgliedern eines halben Dutzend verschiedener Siedlervereinigungen bewohnt, die jede für sich einen eigenen Kontinent beansprucht hatten. Die Beziehungen zwischen diesen Gruppen, die sich in der Vergangenheit oft als schwierig erwiesen hatten und von kleinlichem Gezänk bestimmt gewesen waren, waren in den letzten zwölf Monaten völlig erloschen. Denn beide Planeten standen nun unter der Kontrolle der extragalaktischen Aufseher.
Zwanzig Lichtsekunden vom sechsten Planeten entfernt verließ Muller den Warpraum. Sein Schiff ging automatisch in einen Beobachtungsorbit, und auf den Bildschirmen trafen die ersten Daten ein. Auf ihnen erschienen auch Bilder von den Planetenoberflächen. Mittels einer Schablone konnte Muller die Ausmaße und Grundrisse der unter ihm liegenden Siedlungen mit den Aufnahmen vergleichen, die von ihnen vor der Eroberung der Fremden gemacht worden waren. Das Ergebnis war recht interessant. Die ursprünglichen Siedlungen erschienen auf seinem Bildschirm in violetter Farbe, während die neueren Veränderungen und Erweiterungen in Rot dargestellt wurden. Muller bemerkte, daß jeder Ort, ganz gleich wie sein ursprünglicher Grundriß ausgesehen hatte, nun von einem Netzwerk verwinkelter Straßen und im Zickzack verlaufender Zugangswege umgeben war. Instinktiv erkannte er, daß diese Neuerungen außerirdischen Ursprungs sein mußten, die Geometrie wirkte einfach zu fremd. Sie brachten ihm sofort das Labyrinth auf Lemnos in Erinnerung. Obwohl die Grundmuster hier keine Ähnlichkeit zu denen im Irrgarten aufwiesen, hatten sie mit ihnen die asymmetrische Struktur gemein. Er verwarf die Idee, daß das Labyrinth auf Lemnos vor langer Zeit auf Geheiß der Radiowesen erbaut worden sein könnte. Was ihn hier an den Irrgarten erinnerte, war nur die völlige Andersartigkeit. Sie glichen sich nur in ihrer Unvertrautheit. Aber schließlich besaßen Fremdwesen eine fremdartige Architektur.
Siebentausend Kilometer über dem sechsten Planeten flog eine glitzernde Kapsel in einer festen Umlaufbahn. Sie besaß die Masse eines großen interstellaren Transportschiffes und hatte elliptische Form. Im Orbit über der fünften Welt entdeckte Muller ein ähnliches Gebilde — die Aufseher.
Es war ihm nicht möglich, Kontakt aufzunehmen, weder mit den Kapseln, noch mit den unter ihm liegenden Planeten. Alle Frequenzen und Funkkanäle waren blockiert. Verärgert drehte er über eine Stunde am Frequenzsucher herum und ignorierte dabei die negativen Antworten des Schiffscomputers und dessen ständige Mahnung, seine Versuche aufzugeben.
Er steuerte das Schiff nahe an die nächste Aufseherkapsel heran. Zu seiner großen Überraschung blieb der Raumer unter seiner Kontrolle. Kampfraketen, die den Fremden bisher so nahe gekommen waren, hatten die Aufseher umdirigiert. Aber er konnte immer noch ungehindert navigieren. Ein Zeichen, das zur Hoffnung Anlaß gab? Wurde er beobachtet, und konnte der Fremde ihn von einer feindlichen Waffe unterscheiden? Oder wurde er schlichtweg übersehen?
Bei einer Entfernung von einer Million Kilometern paßte er seine Geschwindigkeit der des fremden Satelliten an und brachte sein Schiff in einen Parkorbit. Dann bestieg er seine Landekapsel. Er startete sie und glitt hinaus in die Schwärze des Alls.
Nun streckte der Fremde seine Fühler nach ihm aus. Daran konnte kein Zweifel mehr bestehen. Die Landekapsel war auf eine energiesparende Bahn programmiert, die sie zu gegebener Zeit in die Nachbarschaft des Fremden bringen sollte. Aber rasch stellte Muller fest, daß sein Schiff von dieser Bahn abkam. Solche Abweichungen entsprangen nie einem Zufall. Entgegen der Programmierung wurde seine Kapsel immer schneller, was nur bedeuten konnte, daß sie von einer fremden Kraft gesteuert und angezogen wurde. Muller unternahm nichts dagegen. Er war von eiskalter Ruhe erfüllt, erwartete nichts und war auf alles vorbereitet. Die Landekapsel flog nun eine Abwärtskurve. Er konnte den glitzernden Block des fremden Satelliten nun deutlich erkennen.
Metallhaut traf auf Metallhaut. Die beiden Schiffe berührten sich. Vereinigten sich.
Eine Luke glitt auf. Muller trieb hinein.
Seine Kapsel kam auf einer breiten Plattform in einer gewaltigen Halle, die mit ihrer Ausdehnung von hundert Metern in Höhe, Breite und Tiefe die Ausmaße einer Höhle besaß, zur Ruhe. Im geschlossenen Schutzanzug verließ Muller seine Kapsel. Er aktivierte seine Gravitationsschuhe. Denn wie er erwartet hatte, war die Schwerkraft hier so minimal, daß er sie kaum spürte. Im vorherrschenden Dunkel entdeckte er ein schwaches, purpurrotes Glühen. Vor dem Hintergrund völliger Stille hörte er ein dröhnendes, widerhallendes Geräusch, das wie ein bis ins Unermeßliche gesteigertes Seufzen klang und sich zaudernd durch die Gitter und Streben im Satelliten fortsetzte. Trotz der Gravitationsschuhe fühlte Muller sich schwindelig. Unter ihm wogte der Boden. Vor seinem geistigen Auge entstand plötzlich die Empfindung einer wogenden See. Riesige Brecher schlugen gegen eine felsige Küste. Die Wassermassen quirlten und raunten in dieser kugelartigen Höhle. Die kleine Welt erzitterte unter dieser Last. Muller spürte eine Kälte, vor der ihn auch der Anzug nicht schützen konnte. Und eine unwiderstehliche Kraft zog an ihm. Zögernd gab er ihr nach und stellte dabei überrascht und erleichtert fest, daß seine Gliedmaßen ihm immer noch gehorchten. Allerdings war er nicht mehr ihr alleiniger Herr. Das Gefühl, sich in der Nähe von etwas unfaßbar Großem zu befinden, etwas Wogendem, Pulsierendem und Seufzendem, setzte sich in seinem Kopf fest.
Er wanderte über eine nachtschwarze Straße und gelangte an eine niedrige Brüstung — eine rote Linie, die sich matt von der tiefdunklen Schwärze abhob — und preßte ein Bein dagegen. Auf seinem weiteren Weg achtete er darauf, sie immer an seinem Bein zu spüren. An einer Stelle rutschte er aus, und als sein Ellenbogen auf der Stange aufschlug, hörte er, wie sich ein metallisches Echo durch die ganze Anlage fortpflanzte. Ein verzerrter Widerhall kehrte auf dem gleichen Weg an sein Ohr zurück. Während er sich weiter durch diesen Irrgarten bewegte, kam er an Gängen und Lukendeckeln vorbei, marschierte über Laufstege, die dunkle Abgründe überspannten, lief über rampenartige Einmündungen und geriet von ihnen in hochthronende Räume, deren Decke kaum sichtbar war. Er bewegte sich blind vertrauend; er hatte keine Angst. Er konnte kaum die Hand vor Augen ausmachen, geschweige denn die ganze Struktur dieses Satelliten erkennen. Sinn, Zweck und Funktion dieser Einrichtung blieben ihm verborgen, er konnte sie sich kaum vorstellen.
Von dem versteckten Riesenwesen kamen lautlos Wellen, die ständig an Intensität und Druck gewannen. Er strauchelte fast unter ihrem Zugriff. Aber immer noch setzte er seinen Marsch fort, bis er sich auf einer Art Zentralgalerie befand. Ein hellblaues, nicht allzu starkes Glühen herrschte hier, durch das er Ebenen wahrnehmen konnte, die sich tief unter ihm in der Dunkelheit verloren. Und weit unterhalb seiner Brücke sah er einen riesigen Tank. In ihm befand sich etwas Titanisches, etwas Glitzerndes.
„Also, hier bin ich“, sagte er, „Richard Muller, Erdenmensch.“
Er hielt sich mit beiden Händen an einer Querstange fest und sah angestrengt nach unten. Er wartete. Irgend etwas mußte doch geschehen. Bewegte sich da nicht das Riesenwesen? Stöhnte es nicht? Rief es ihn in einer Sprache, die er verstand? Aber er hörte nichts. Dafür fühlte er um so mehr: Langsam, eher unterschwellig wurde er sich eines Kontaktes bewußt, einer Vermengung, eines Verschlingens.
Er spürte, wie seine Seele ihn aus allen Poren strömend verließ.
Der Ausfluß ließ sich nicht aufhalten. Und Muller wollte sich auch gar nicht dagegen wehren. Er öffnete sich, begrüßte das Ziehen, gab gern und aus freien Stücken nach. Von dort unten im Tank zapfte das Monstrum seinen Geist an, drehte alle Ventile seiner Neuralenergie auf, saugte alles auf, verlangte immer noch nach mehr und bemächtigte sich auch noch der verborgensten Reste.
„Nur zu“, rief Muller. Das Echo seiner Stimme umtanzte ihn, schlug an seinem Körper an, hallte von überall wieder. „Trink mich! Wie schmeckt es dir? Ein bitteres Gebräu, was? Trink nur! Trink!“ Seine Knie gaben nach, er sank nach vorn und preßte die Stirn an die kühle Brüstung, während seine letzten Reserven ausgepumpt wurden.
Er ergab sich leichten Herzens, schenkte Tropfen um Tropfen her. Er verschenkte seine erste Liebe und seine erste Enttäuschung. Offenbarte alles: Regenschauer im April; Fieber; Schmerz; Stolz und Hoffnung; Wärme und Kälte; süß und sauer; den Geruch von Schweiß und die Berührung warmer Haut; den Donner der Musik und die Musik des Donners; seidiges Haar, mit dem seine Finger spielten; Linien, die man in weicher Erde zog; glitzernde Schulen winziger Fische; die Turmanlagen von Newer Chikago; die Bordelle von Under New Orleans; Schnee; Milch; Wein; Hunger; Feuer; Schmerz; Schlaf; Sorge; Apfel; Dämmerung; Tränen; Johann Sebastian Bach; brutzelndes Fett in der Pfanne; das Lachen alter Männer; Sonnenuntergang am Horizont; das Widerspiegeln des Mondes auf dem Meer; das Licht der Sterne am Himmel; den Feuerstrahl startender Raketen; Sommerblumen unter Gletschergipfeln. Vater; Mutter; Jesus; das ewig wiederkehrende Wunder des Morgens; Traurigkeit; Freude. Er gab alles hin und noch viel mehr. Und er wartete auf Antwort. Aber die erhielt er nie. Und als er ganz und gar leer war, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Metallboden. Ausgesaugt, hohl und erschöpft starrte er mit blinden Augen in den Abgrund.
Als er wieder aufstehen konnte, verließ er den Satelliten. Die Luke öffnete sich, um ihn zu seiner Landekapsel zu lassen. Sie stieg zu seinem Schiff auf. Kurze Zeit später befand er sich im Warpflug. Er schlief die meiste Zeit. Unweit des Antares-Systems kehrte er in den Normalraum zurück, übernahm selbst die Steuerung des Raumers und änderte den Kurs. Er sah keinen Grund, zur Erde zurückzukehren. Die Überwachungsstation nahm seine Anfrage auf, verarbeitete sie, stellte fest, ob die Flugbahn frei war und gestattete ihm den sofortigen Weiterflug nach Lemnos. Muller schaltete wenig später auf Warpflug um. Als er kurz vor Lemnos den Warpraum verließ, entdeckte er, daß sich bereits ein Schiff im Orbit befand und auf ihn wartete. Er kümmerte sich nicht darum und ging den Routinearbeiten für die bevorstehende Landung nach. Aber das andere Schiff bestand auf einem Kontakt. Muller schaltete schließlich sein Funkgerät ein.
„Hier spricht Ned Rawlins“, sagte eine seltsam ruhige Stimme. „Warum hast du deinen Kurs geändert?“
„Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Ich habe meinen Auftrag erledigt.“
„Du hast noch keinen Bericht abgegeben.“
„Also gut, dann hole ich das jetzt nach. Ich habe den Fremden aufgesucht. Wir haben uns nett und angeregt unterhalten. Er hat mir Gebäck und Tee angeboten, und danach durfte ich wieder nach Hause fliegen. Jetzt bin ich fast zuhause. Ich weiß nicht, welche Auswirkungen mein Besuch auf die Zukunft der menschlichen Geschichte haben wird. Ende des Berichts.“
„Und was willst du jetzt tun?“
„Nach Hause gehen, das habe ich doch schon gesagt. Das hier ist mein Zuhause.“
„Lemnos?“
„Lemnos.“
„Dick, laß mich zu dir an Bord kommen. Schenk mir zehn Minuten… persönlich. Bitte, sag nicht nein.“
„Ich sage nicht nein“, antwortete Muller.
Bald darauf löste sich eine Flugkapsel vom anderen Schiff und paßte sich der Geschwindigkeit und der Flugbahn von Mullers Raumer an. Geduldig ließ Muller das Andockmanöver zu. Rawlins betrat sein Schiff und legte den Helm ab. Er wirkte älter, erschöpft und sah blaß aus. In seinen Augen stand ein anderer Ausdruck. Die beiden sahen sich einen langen, schweigenden Moment an. Dann trat Rawlins vor und ergriff Mullers Handgelenk zum Gruß.
„Ich hätte nicht geglaubt, dich jemals wiederzusehen, Dick“, sagte er. „Und ich wollte dir sagen…“
Er hielt abrupt inne.
„Ja, was wolltest du erzählen?“ fragte Muller.
„Ich spüre es nicht“, sagte Rawlins. „Ich spüre es nicht mehr!“
„Was?“
„Dich. Deine Ausstrahlung. Sieh doch, ich stehe direkt vor dir und fühle oder spüre nichts. All der Unrat, das Leid, die Verzweiflung… nichts kommt mehr von dir!“
„Der Extragalaktiker hat alles aufgesogen“, sagte Muller leise. „Deine Reaktion überrascht mich nicht. Die Seele hat meinen Körper verlassen. Und nicht alles würde mir zurückgegeben.“
„Wovon redest du eigentlich?“
„Ich habe gefühlt, wie der Fremde alles aus mir herausgesaugt hat. Ich wußte, daß er mich veränderte. Aber nicht aus Vorsatz. Es war eine eher zufällige Veränderung. Ein Nebenprodukt sozusagen.“
„Dann wußtest du es also“, sagte Rawlins langsam. „Noch bevor ich überhaupt an Bord gekommen bin.“
„Ja, aber jetzt habe ich den Beweis.“
„Und trotzdem willst du zurück ins Labyrinth. Warum?“
„Es ist mein Zuhause.“
„Die Erde ist dein Zuhause, Dick. Es gibt keinen Grund, warum du nicht dorthin zurückkehren solltest, Dick. Du bist geheilt.“
„Ja“, sagte Muller. „Ein Happy-End für meine traurige Geschichte. Ich bin fähig, mich wieder unter Menschen zu mischen. Der Lohn für meinen selbstlosen Einsatz, in dem ich ein zweites Mal mein Leben durch einen Besuch bei Außerirdischen riskiert habe. Wie hübsch! Aber ist die Menschheit auch bereit, wieder mit mir zu verkehren?“
„Mach keine Dummheiten, Dick. Geh nicht hinunter. Charles hat mich zu dir geschickt. Er ist furchtbar stolz auf dich. Das sind wir alle. Es wäre ein großer Fehler, wenn du dich jetzt wieder dort unten abkapseln würdest.“
„Kehr zu deinem Schiff zurück, Ned“, sagte Muller.
„Wenn du ins Labyrinth gehst, dann komme ich mit.“
„Ich bringe dich um, wenn du es nur versuchen solltest. Ich möchte allein sein und in Ruhe gelassen werden, Ned. Verstehst du das denn nicht? Ich habe meinen Auftrag ausgeführt. Meinen letzten Auftrag. Jetzt kündige ich, ich ziehe mich zurück, rein und befreit von meinen Alpträumen.“ Muller zwang sich zu einem matten Lächeln. „Komm mir nicht hinterher, Ned. Ich habe dir vertraut, obwohl du mich betrügen wolltest. Alles andere spielt dabei keine Rolle mehr. Verlasse nun mein Schiff. Wir haben uns alles gesagt, was es zwischen uns zu sagen gibt, denke ich, bis auf den Abschiedsgruß.“
„Dick…“
„Mach’s gut, Ned. Berichte Boardman meine Worte. Und den andern auch.“
„Tu es nicht!“
„Dort unten gibt es etwas, das ich nicht missen möchte“, sagte Muller. „Und jetzt werde ich es mir nehmen. Halte dich von mir fern. Ich habe die Wahrheit über die Menschen erfahren müssen. Wirst du jetzt bitte gehen?“
Schweigend setzte Rawlins sich den Helm wieder auf und trat an die Schleuse. Als er hinausging, sagte Muller: „Richte allen von mir einen Gruß aus, Ned. Ich bin froh, daß du der letzte warst, den ich gesehen habe. Irgendwie macht das alles etwas einfacher für mich.“
Rawlins entschwand durch die Schleuse.
Wenig später programmierte Muller sein Schiff auf eine hyperbolische Umlaufbahn und schaltete eine zwanzigminütige Verzögerung vor. Dann trat er in die Landekapsel und bereitete den Abstieg nach Lemnos vor. Die Landung vollzog sich rasch und problemlos. Er kam exakt dort auf, wo er gewollt hatte: zwei Kilometer vor dem Haupteingang zum Labyrinth. Die Sonne stand hoch am Himmel und strahlte hell. Muller wanderte mit kräftig ausholenden Schritten auf sein Zuhause zu.
Er hatte das getan, was sie von ihm gewollt hatten.
Jetzt konnte er nach Hause gehen.
„Muller hatte schon immer eine Vorliebe für dramatische Abgänge“, sagte Boardman. „Aber er wird doch auch wieder hinauskommen.“
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Rawlins. „Es war sein Ernst.“
„Sie haben also direkt vor ihm gestanden und nichts gespürt?“
„Absolut nichts. Er hat dieses Leiden nicht mehr.“
„Weiß er das?“
„Ja.“
„Dann wird er auch wieder herauskommen“, erklärte Boardman. „Wir halten ihn unter Beobachtung. Und wenn er darum bittet, Lemnos verlassen zu können, dann holen wir ihn ab. Über kurz oder lang wird er sich wieder nach menschlicher Gesellschaft sehnen. Er hat so viel durchmachen müssen, daß er erst einmal Ruhe braucht, um davon Abstand zu gewinnen. Ich glaube, er sieht das Labyrinth als besten Zufluchtsort an, um wieder zu sich selbst zu finden. Er ist noch nicht dazu bereit, wieder ein normales Leben zu führen. Schenken wir ihm zwei oder drei Jahre, dann kommt er von ganz alleine. Die beiden außerirdischen Kulturen haben gegenseitig ihr Werk an ihm aufgehoben, und deshalb kann er wieder in die menschliche Gesellschaft eintreten.“
„Ich habe da meine Zweifel“, meinte Rawlins mit leiser Stimme. „Ich glaube nicht, daß er hundertprozentig wiederhergestellt ist. Charles, ich befürchte vielmehr, daß er kein Mensch ist… nicht mehr.“
Boardman lachte auf. „Wollen wir wetten? Ich setze fünf zu eins, daß Muller innerhalb der nächsten fünf Jahre freiwillig herauskommt.“
„Nun…“
„Dann gilt die Wette hiermit.“
Rawlins verließ das Büro des alten Mannes. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen. Er überquerte draußen vor dem Gebäude eine Brücke. In einer Stunde würde er mit einem entzückend warmen, weichen und anschmiegsamen Wesen zu Abend essen. Es begeisterte sie ungemein, mit dem berühmten Ned Rawlins zu gehen. Sie war eine gute Zuhörerin, die ihn immer wieder mit kleinen weiblichen Listen dazu brachte, Geschichten von seinen wagemutigen Taten zu erzählen. Sie nickte jedesmal ergriffen, wenn er von den Gefahren sprach, die noch anstanden. Im Bett besaß sie übrigens auch einige Vorzüge.
Er blieb auf der Brücke stehen und sah zu den Sternen hinauf.
Eine Million glitzernder Lichtpunkte schimmerte am Himmel. Dort draußen standen irgendwo Lemnos, Beta Hydri IV und die Welten, die die Radiowesen erobert hatten, und alle von den Menschen besiedelten Planeten und selbst die Heimatgalaxis der Aliens, unsichtbar zwar, aber unzweifelhaft vorhanden. Irgendwo dort draußen lag auf einer weiten Ebene das Labyrinth, breitete sich ein Wald aus schwamm weichen Bäumen aus, die mehrere hundert Meter hoch waren, hatte man auf tausend Planeten die jungen Städte der Menschen gepflanzt, trieb ein höchst merkwürdiger Tank in einer Umlaufbahn um eine eroberte Welt. In dem Tank hauste etwas unsagbar Fremdes. Auf den tausend Planeten lebten Menschen, die sich große Sorgen um die Zukunft machten. Unter den weichen Bäumen gingen graziöse, schweigende Gestalten mit einer Unmenge Armen. Und in dem Labyrinth wohnte… ein Mensch.
Vielleicht, sagte sich Rawlins, gehe ich Muller in ein oder zwei Jahren besuchen.
Es war noch zu früh, um zu wissen, wie die weitere Entwicklung verlaufen würde. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt sagen, wie die Radiowesen, wenn überhaupt, auf all das reagieren würden, was sie von Richard Muller in Erfahrung gebracht hatten. Die Rolle und das Verhalten der Hydrier, die Anstrengungen der Menschen zu ihrer eigenen Verteidigung, Mullers Wiedereintritt in die menschliche Gesellschaft… das waren noch Geheimnisse, die variabel waren, sich in mehrere Richtungen entwickeln konnten. Es war aufregend und auch ein wenig furchteinflößend, wenn er daran dachte, daß er in einer Zeit solcher anstehender Prüfungen leben würde.
Ned überquerte die Brücke. Er beobachtete, wie hoch über ihm Raumschiffe kreuz und quer über den Himmel flogen. Reglos blieb er stehen, als er den Drang zu den Sternen in sich spürte. Das ganze Universum schien an ihm zu zerren, jeder Stern all seine Kraft auszuspielen. Das Glühen des Himmels verwirrte ihn. Offenstehende Wege zu den Sternen winkten ihm zu. Ned dachte an den Mann im Labyrinth. Er dachte auch an das Mädchen, an ihre Geschmeidigkeit und Leidenschaft, ihre dunklen Augen, die silbernen Spiegel ihrer Augen, an ihren Körper, der ihn erwartete.
Plötzlich war er Richard Muller; Muller im Alter von vierundzwanzig Jahren, den auch die Galaxis gerufen hatte. War es bei dir anders? fragte er sich. Was hast du empfunden, als du zu den Sternen aufgesehen hast? Wo hat es dich erwischt? Hier? Oder dort? Oder auch da, wo es mich getroffen hat? Und du bist hinaufgegangen. Und hast gefunden, was du gesucht hast. Und es wieder verloren. Und dafür etwas anderes gefunden. Erinnerst du dich noch daran, Dick, was du einst gespürt hast? Heute Nacht, in deinem winddurchwehten Labyrinth, woran denkst du da? Erinnerst du dich, wie es einmal war?
Warum hast du dich von uns abgewandt, Dick?
Und was ist aus dir geworden?
Er eilte zu dem Mädchen, das ihn erwartete. Sie tranken jungen Wein, der sauer und elektrisierend schmeckte. Sie lächelten sich durch das Flackern der Kerze an. Später öffnete sie für ihn die ganze Weichheit und Zartheit ihres Körpers. Und noch eine Weile später standen sie beide eng aneinander gepreßt auf dem Balkon und sahen hinaus auf die größte und großartigste aller Städte, die je von Menschen erbaut worden war. Die Lichter erstreckten sich bis in die Unendlichkeit, stiegen immer höher, bis sie mit den Lichtern am Himmel verschmolzen. Er legte ihr den Arm um die Taille, zog sie zu sich heran und drückte sie fest an sich.
„Wie lange bleibst du dieses Mal?“ fragte sie.
„Noch vier Tage.“
„Und wann wirst du zurückkehren?“
„Sobald meine Mission beendet ist.“
„Ned, wirst du nie zur Ruhe kommen? Wirst du jemals sagen, daß du genug davon hast, daß du nicht länger hinaus willst, daß du den richtigen Planeten gefunden hast, auf dem du bleiben willst?“
„Doch“, sagte er mit entrückter Stimme. „Ich denke schon. Nach einiger Zeit sicher.“
„Das meinst du nicht wirklich. Du sagst es nur so. Keiner von euch kommt jemals zur Ruhe.“
„Wir können es einfach nicht“, murmelte er. „Wir ziehen immer weiter. Immer stehen neue Welten vor einem… neue Sonnen…“
„Du willst zuviel. Du willst das ganze Universum. Aber das ist Anmaßung, Ned, Sünde. Du mußt akzeptieren, daß es Grenzen gibt.“
„Ja“, sagte er. „Du hast recht. Ich weiß, du hast recht.“ Seine Finger wanderten über ihre samtweiche Haut. Sie erschauderte. „Wir tun das, was wir tun müssen“, sagte er. „Wir versuchen, von den Fehlern der anderen zu lernen. Wir dienen unserer Sache. Wir versuchen, uns selbst gegenüber ehrlich zu sein. Wie sollte es anders gehen?“
„Der Mann, der ins Labyrinth zurückkehrte…“
„… ist glücklich“, ergänzte Rawlins. „Er folgt seinem selbstgewählten Kurs.“
„Wie das?“
„Das kann ich nicht erklären.“
„Er muß uns alle furchtbar hassen, wenn er auf diese Weise dem ganzen Universum den Rücken kehrt.“
„Er steht jenseits von Haß und solchen Gefühlen. Irgendwie hat er es geschafft“, bemerkte Rawlins. „Er hat seinen Frieden gefunden. Was immer auch aus ihm geworden ist.“
„Geworden ist?“
„Ja“, sagte er sanft. Er spürte das Frösteln mitternächtlicher Kühle und führte sie hinein. Sie standen am Bett. Die Kerze war beinahe abgebrannt. Er küßte sie innig und dachte dabei an Richard Muller. Er fragte sich, was für ein Labyrinth ihn am Ende seines Weges erwarten würde. Er zog sie ganz nahe an sich heran und spürte den Druck von angespanntem Fleisch an seiner kühlen Haut. Sie sanken auf das Bett hinab. Seine Hände suchten, kneteten, streichelten. Ihr Atem kam stoßweise, kam unregelmäßig.
Wenn ich dich wiedersehe, Dick, dann habe ich dir so viel zu erzählen, dachte er.
„Warum hat er sich eigentlich selbst in den Irrgarten eingesperrt, Ned?“ fragte sie.
„Aus dem gleichen Grund, aus dem er zum erstenmal zu den Außerirdischen gegangen ist. Aus diesem Grund ist er auch zum zweiten Mal gegangen.“
„Und was war das für ein Grund?“
„Er liebte die Menschheit“, sagte Rawlins. Er hielt diese Art Grabinschrift für genausogut wie jede andere auch. Dann umarmte er das Mädchen. Aber bevor der Morgen graute, hatte er sie bereits verlassen.