Acht

Als sie sich am nächsten Morgen wiedersahen, war es für beide schon wesentlich einfacher. Rawlins hatte ausgezeichnet unter der Schlafanlage geruht. Er war wieder ins Zentrum des Labyrinths gegangen und hatte Muller am Rande des großen Platzes angetroffen. Er lehnte an einer hohen und dunklen Metallsäule mit abgeflachten Seiten.

„Was hältst du davon?“ fragte Muller zwanglos freundlich, als Ned näherkam. „Acht Stück gibt es davon, eine an jeder Ecke. Ich beobachte sie schon seit Jahren. Sie drehen sich. Sieh her.“ Muller zeigte auf einen der Pfeiler. Rawlins trat näher. Als er zehn Meter entfernt war, empfing er Mullers Ausstrahlung. Trotzdem zwang er sich, noch weiter zu gehen. Gestern war er Dick nicht so nahe gewesen, bis auf den einen Moment, als Muller ihn gepackt und an sich gezogen hatte.

„Siehst du das?“ fragte Muller und tippte mit dem Finger auf die Säule.

„Ein Zeichen.“

„Ich habe fast sechs Monate gebraucht, um es einzuritzen. Ich habe dazu ein Stück Silber aus dem kristallinen Erker von der Wand dort drüben verwendet. Jeden Tag habe ich ein bis zwei Stunden gefeilt und gekratzt, bis ein sichtbarer Strich auf dem Metall zu erkennen war. Danach habe ich ihn beobachtet. Im Verlauf eines Planetenjahres dreht der Pfeiler sich einmal um sich selbst. Das beweist, die Säulen bewegen sich. Man kann es zwar nicht mit dem Auge verfolgen, aber sie tun es. Ich halte sie für eine Art Kalender.“

„Haben Sie… kannst du… hast du jemals…?“

„Was du da erzählst, mein Junge, ergibt nicht viel Sinn.“

„Tut mir leid“, antwortete Rawlins. Er bemühte sich angestrengt, sich nichts von der furchtbaren Ausstrahlung Mullers anmerken zu lassen. Ihm wurde heiß, und er fühlte sich völlig durcheinander. Auf fünf Meter war die Wirkung nicht so betäubend. Ned blieb stehen, riß sich zusammen und sagte sich, daß seine Toleranzschwelle allmählich stieg.

„Was wolltest du gerade sagen?“

„Ist das der einzige Pfeiler, den du kontrolliert hast?“

„Ich habe auch an ein paar anderen geritzt und bin zu der Überzeugung gelangt, daß sie sich alle drehen. Aber den Mechanismus dafür konnte ich noch nicht finden. Weißt du, irgendwo unter dieser Stadt gibt es ein phantastisches Gehirn. Es ist bereits Millionen Jahre alt, funktioniert aber immer noch. Vielleicht handelt es sich dabei um eine Art Flüssigmetall, in dem Kognitionselemente treiben. Auf jeden Fall dreht es diese Pfeiler, hält die Wasserversorgung in Gang und läßt regelmäßig die Straßen säubern.“

„Und es bedient die Fallen.“

„Ja, es bedient auch die Fallen“, bestätigte Muller. „Aber bislang ist es mir noch nicht gelungen, auch nur die kleinste Spur von ihm zu finden. Hier und da habe ich ein Loch in die Erde gegraben, aber wie tief ich auch grub, ich stieß auf nichts anderes als Erdreich. Vielleicht werdet ihr verdammten Archäologen das Gehirn der Stadt finden, was? Habt Ihr schon irgendwelche Hinweise?“

„Nicht, daß ich wüßte“, sagte Rawlins.

„Du weißt nicht besonders gut Bescheid, was?“

„Ja, aber ich habe auch noch an keinem Projekt in der Stadt teilgenommen.“ Rawlins lächelte schüchtern. Das kurze Zucken in seinem Gesicht störte ihn und brachte ihm eine Rüge von Boardman ein. Charles erklärte ihm, daß schüchternes Lächeln immer eine anstehende Lüge einleitete und das Muller nicht lange verborgen bleiben konnte. Rawlins sagte dann: „Die meiste Zeit war ich außerhalb der Stadt und habe die Eintrittsoperationen geleitet. Als ich dann endlich selbst das Labyrinth betrat, bin ich gleich bis hierher vorgestoßen. Daher weiß ich nicht, was die anderen inzwischen entdeckt haben.“

„Haben sie vor, die Straßen aufzureißen?“ wollte Muller wissen.

„Das glaube ich kaum. Heutzutage graben und buddeln wir nicht mehr so viel. Wir arbeiten lieber mit Scannern, Sensoren und Echolot.“ Beeindruckt von seiner eigenen Improvisationsgabe fuhr er munter fort: „Früher ging die Archäologie natürlich sehr destruktiv vor. Um herauszufinden, was sich unter einer Pyramide befand, mußte sie zuerst auseinandergenommen werden. Aber heute können wir mit Sonden zu denselben Ergebnissen kommen. Das ist ein ganz neues Forschungsgebiet, weißt du, in den Boden zu gucken, ohne ein Loch gegraben zu haben, und so die Monumente aus der Vergangenheit zu erhalten…“

„Auf einem der Planeten von Epsilon Indi hat vor etwa fünfzehn Jahren ein Archäologenteam einen antiken außerirdischen Grabpavillon vollständig abgetragen“, erklärte Muller. „Und danach war es ihnen unmöglich, die Anlage wieder zusammenzusetzen, weil sie das strukturelle Gefüge einfach nicht verstehen konnten. Als sie es dennoch versuchten, fiel alles auseinander, und die ganze Anlage war für immer verloren. Einige Monate später habe ich die Ruinen zufällig mit eigenen Augen sehen können. Aber dir ist dieser Fall sicher bekannt.“

Rawlins hatte noch nie davon gehört. Errötend sagte er: „Nun, in jeder Disziplin gibt es immer wieder Pfuscher und Scharlatane…“

„Ich hoffe, von denen habt Ihr keine mitgebracht. Ich möchte nicht, daß das Labyrinth beschädigt wird. Aber dazu werdet ihr sowieso kaum Gelegenheit haben. Es kann sich nämlich recht gut verteidigen.“ Muller marschierte lässig von dem Pfeiler weg. Rawlins atmete heimlich auf, als die Distanz zwischen ihnen größer wurde, aber Boardman drängte ihn zu folgen. Die Taktik zur Eindämmung von Mullers Mißtrauen sah auch vor, ihm freiwillig zu folgen und sich ohne eigene Schonung seiner Strahlung auszusetzen. Muller drehte sich nicht um, als er, mehr zu sich selbst, sagte: „Die Käfige sind wieder geschlossen.“

„Käfige?“

„Sieh dorthin… auf die Straße, die vom Platz ausgeht.“

Rawlins entdeckte einen Alkoven vor einer Gebäudewand. Aus dem Boden ragten ein Dutzend oder mehr nach oben gebogener Streben aus weißem Gestein. In einer Höhe von etwa vier Metern verschwanden sie in der Wand und bildeten so eine Art Käfig. Weiter oben auf der Straße konnte Ned einen zweiten solchen Käfig ausmachen.

„Es gibt etwa zwanzig von ihnen“, sagte Muller. „Sie sind symmetrisch auf den Straßen rund um den Platz angeordnet. Seit ich hier bin, haben sie sich dreimal geöffnet. Dann sind diese Streben in die Straße zurückgeglitten. Das letzte Mal vor zwei Nächten. Ich habe noch nie miterlebt, wie die Käfige sich geöffnet oder geschlossen haben. Und jetzt habe ich es schon wieder verpaßt.“

„Was, glaubst du, war der Zweck dieser Käfige?“ fragte Rawlins.

„Gefährliche Tiere festzuhalten. Oder Gefangene einzusperren. Wofür sollte man einen Käfig sonst benutzen?“

„Aber wenn sie sich immer noch öffnen…“

„Die Stadt ist immer noch darum bemüht, ihren Bewohnern zu dienen. Und in den Außenzonen befinden sich Feinde. Diese Käfige stehen für den Fall bereit, daß einer dieser Feinde gefangen wird, oder mehrere.“

„Du meinst uns?“

„Ja, Feinde.“ Paranoide Wut glitzerte plötzlich in Mullers Augen auf. Es war erschreckend, wie rasch er von einem ganz normalen Gespräch in kalten Haß überwechseln konnte. „Homo sapiens. Das gefährlichste, erbarmungsloseste und verachtungswürdigste Tier im ganzen Universum.“

„Du sagst das so, als würdest du daran glauben.“

„Das tue ich auch.“

„Na, hör mal“, sagte Rawlins. „Früher hast du dein Leben dem Dienst an der Menschheit gewidmet. Da kannst du doch nicht einfach behaupten…“

„Ich“, sagte Muller langsam, „ich habe mein Leben dem Dienst an Richard Muller gewidmet.“ Er drehte sich um und sah Rawlins direkt ins Gesicht. Sie standen nur sechs bis sieben Meter auseinander. Die Ausstrahlung kam Ned so stark vor, als befände er sich direkt vor Mullers Nase. „Es war anders, als du es dir vielleicht vorgestellt hast, mein Junge“, sagte Muller. „Ich habe mir nicht so viel aus der Menschheit gemacht. Ich habe jedoch die Sterne gesehen, und dort wollte ich hin. Ich trachtete danach, ein Gott zu werden. Eine Welt genügte mir nicht. Ich wollte alle. Also habe ich eine Karriere eingeschlagen, die mich zu den Sternen bringen würde. Tausend Mal habe ich mein Leben riskiert. Ich habe unglaubliche Temperaturextreme durchgestanden, mir die Lungen mit höchst seltsamen Gasen versengt und mußte schließlich von innen her wieder ganz neu zusammengebaut werden. Ich habe Nahrung zu mir genommen, deren bloße Erwähnung dich schon würgen lassen würde. Kinder wie du haben mich verehrt, haben Poster von mir an die Wand gehängt und Hausarbeiten über meinen selbstlosen Einsatz für die Menschheit, über meinen unermüdlichen Wissensdurst geschrieben. Aber darüber will ich dir einmal die Augen öffnen: Ich bin wahrscheinlich so selbstlos gewesen wie Kolumbus, Magellan oder Marco Polo. Sie waren große und bedeutende Entdecker, ganz ohne Frage, aber sie suchten auch und vor allem nach hübschen Profiten. Der Profit, nach dem ich strebte, kam aus dem Herzen: Ich wollte ein Riesendenkmal, hundert Kilometer hoch. Ich wollte auf tausend Welten goldene Standbilder von mir. Kennst du dich in der Weltlyrik aus? Ruhm ist der Stachel, ist der Antrieb. Das endgültige Gebrechen eines jeden aufrechten Charakters. Von Milton. Kennst du auch die alten Griechen? Wenn ein Mann sich zu weit nach oben streckt, stoßen ihn die Götter hinab. Das nennt man Hybris. Und bei mir war es ein besonders schwerer Fall von Hybris. Als ich durch die Wolken zu den Hydriern hinabfloß, kam ich mir vor wie ein Gott. Herr im Himmel, ich war ein Gott. Und auch noch, als ich durch die Wolken wieder aufstieg. Für die Hydrier bin ich ganz sicher ein Gott gewesen. Zumindest habe ich das damals gedacht: Ich bin Bestandteil ihrer Mythen, man wird ewig von mir erzählen. Vom Gott, der verstümmelt war. Vom Gott, der Marter und Pein auf sich genommen hat. Das Wesen, das zu ihnen herabstieg und in dessen Nähe sie sich so unbehaglich fühlten, daß sie es ummodeln mußten. Aber…“

„Der Käfig…“

„Laß mich ausreden!“ platzte es aus Muller heraus. „Weißt du, ich bin gar kein Gott gewesen, sondern nur ein elendes, sterbliches menschliches Wesen, das sich der Verblendung hingab, gottgleich zu sein. Das ist die bittere Wahrheit. Und die echten Götter haben dafür gesorgt, daß ich meine Lektionen erhielt. Sie beschlossen, mich an den behaarten Affen zu erinnern, der unter dem Plastikanzug steckte. Um meinen Verstand bei seinen luftigen Höhenflügen an das tierische Gehirn zu erinnern, dem er entsprang. Also haben die Götter es so eingerichtet, daß die Hydrier etwas Seltsames mit meinem Kopf angestellt haben, eine ihrer Spezialitäten wahrscheinlich. Ich kann nicht einmal sagen, ob sie bloß aus einer Laune heraus bösartig waren oder ob sie ehrlich darum bemüht waren, mich von meinem Defekt zu befreien… von meiner Unfähigkeit, ihnen meine Gefühle offen zu zeigen. Aliens. Wer will schon wissen, was sie sich wirklich dabei gedacht haben. Fest steht nur, sie haben mich behandelt. Und dann kam ich zur Erde zurück. Held und Aussätziger in einem. Stell dich zu mir, und dir wird speiübel. Und warum? Weil mein Leiden dich daran erinnert, daß auch du nicht mehr als ein Tier bist. Von dieser Erinnerung bekommst du bei mir eine volle Dosis ab. Und so bewegen wir uns in diesem endlosen Feedback wie in einem Teufelskreis. Du haßt mich, weil du unangenehme Dinge aus deiner Seele über dich erfährst, sobald du mir zu nahe kommst. Und ich hasse dich, weil du ständig darum bemüht bist, von mir Abstand zu halten. In Wahrheit bin ich nämlich Träger einer Pest geworden, und diese Pest heißt Wahrheit. Meine Botschaft heißt: Die Menschheit kann sich glücklich preisen, daß alle ihre Gefühle im Schädel eingeschlossen sind. Denn wenn wir nur die Spur einer telepathischen Begabung besäßen, sei es auch nur so etwas Verwischtes, Sprachloses, wie ich es mit mir herumtrage, könnten wir einander nicht mehr ertragen. Eine menschliche Gesellschaft wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Die Hydrier können untereinander in ihren Köpfen lesen. Ihnen scheint es nichts auszumachen, im Gegenteil. Aber wir können das nicht. Aus diesem Grund behaupte ich auch, der Mensch ist das verachtungswürdigste Tier im ganzen Universum. Er kann nicht einmal den Geruch seiner eigenen Art ertragen, wenn zwei Seelen zusammenkommen!“

„Der Käfig scheint sich zu öffnen“, sagte Rawlins.

„Was? Wo?“ Muller lief an ihm vorbei. Da Rawlins nicht rasch genug beiseite treten konnte, traf ihn der Anprall der Ausstrahlung wie ein Keulenschlag. Dieses Mal war es nicht mehr ganz so schmerzhaft. Ned empfing Bilder vom Herbst: verwelkte Blätter, sterbende Blumen, staubige Winde, frühe Abenddämmerung. Mehr ein Bedauern als Seelenangst über die Kürze des Lebens, die Notwendigkeit der Einsicht. Mittlerweile starrte Muller ganz in Gedanken versunken auf die alabasterfarbenen Streben des Käfigs.

„Sie haben sich bereits einige Zentimeter zurückgezogen. Warum hast du nicht sofort Bescheid gesagt?“

„Ich habe es versucht, aber du hast nicht zugehört.“

„Ja, ja, mein verdammter Hang zu Monologen.“ Muller kicherte. „Ned, ich warte seit Jahren darauf, das zu sehen. Der Käfig in Aktion! Sieh nur, wie elegant sie sich bewegen und in den Boden gleiten. Merkwürdig, Ned, nie zuvor haben sie sich zweimal im gleichen Jahr geöffnet. Und jetzt zum zweiten Mal innerhalb einer Woche.“

„Vielleicht hast du die anderen Male ganz einfach verpaßt“, meinte Rawlins. „Möglicherweise hast du gerade geschlafen, als…“

„Das bezweifle ich. Sieh dir das an!“

„Warum, meinst du, werden sie gerade jetzt zurückgezogen?“

„Feinde sind in der Nähe“, sagte Muller. „Die Stadt hat mich mittlerweile als Bewohner anerkannt. Ich wohne auch schon lange genug hier. Sie versucht sicher, dich in den Käfig zu bekommen. Dich, den Feind, den Menschen.“

Inzwischen waren die Streben völlig in der Erde versunken. Nichts wies mehr auf ihre Existenz hin, bis auf eine Reihe von kleinen Öffnungen im Straßenbelag.

„Hast du jemals versucht, etwas in den Käfig zu legen?“ fragte Ned. „Tiere zum Beispiel?“

„Ja, ich habe einmal ein besonders großes Raubtier hineinbefördert. Aber es geschah überhaupt nichts. Dann habe ich einige kleinere Tiere lebend hineingesetzt. Wieder nichts.“ Er runzelte die Stirn. „Ich habe sogar einmal daran gedacht, selbst in den Käfig zu gehen, um festzustellen, ob er sich etwa automatisch schließt, wenn ein lebendiger Mensch sich in ihm befindet. Aber ich habe es doch nicht getan. Wenn man ganz allein auf sich gestellt ist, hütet man sich vor solchen Experimenten.“ Er hielt einen kurzen Augenblick inne. „Was würdest du davon halten, mir jetzt gleich bei einem kleinen Test auszuhelfen, was, Ned?“

Rawlins hielt den Atem an. Die dünne Luft schien plötzlich wie Feuer in seinen Lungen zu brennen.

Ruhig sagte Muller: „Tritt einfach hinein und warte so ungefähr eine Minute. Dann werden wir sehen, ob der Käfig sich bei dir schließt. Das wäre doch wichtig zu wissen.“

„Und wenn er es tut“, bemerkte Rawlins, der Mullers Worte nicht allzu ernst nahm, „hast du dann einen Schlüssel, um mich wieder herauszulassen?“

„Ich besitze einige Waffen. Ich kann dich immer herausholen, selbst wenn ich dabei die Streben zerstrahlen muß.“

„Das wäre destruktiv. Du hast mich doch davor gewarnt, hier irgend etwas zu zerstören.“

„Manchmal muß man etwas zerstören, um was daraus zu lernen. Laß dich nicht aufhalten, Ned. Tritt in den Käfig.“

Mullers Stimme klang hart und merkwürdig. Halb gebückt stand er in einer merkwürdigen Erwartungshaltung da: die Arme leicht gebeugt an die Hüften gestemmt, die Finger nach innen an die Oberschenkel gepreßt. Er sieht aus, als wollte er mich gleich höchstpersönlich in den Käfig werfen, dachte Rawlins.

Leise ertönte Boardmans Stimme in Neds Ohr: „Tun Sie, was er sagt, Ned. Gehen Sie in den Käfig und beweisen ihm damit, daß Sie ihm vertrauen.“

Ihm vertraue ich ja, sagte sich Rawlins, nur bei dem Käfig habe ich so meine Bedenken.

Beängstigende Bilder drängten sich in sein Bewußtsein: wie der Boden des Gefängnisses sich öffnete, sobald die Streben hochgeschwebt waren; wie er in einen unterirdischen Säurebottich oder Feuersee stürzte. Die Hinrichtungsgrube für gefangene Feinde. Welche Sicherheit besitze ich eigentlich, daß es nicht so ablaufen wird?

„Tun Sie’s, Ned“, flüsterte Boardman.

Es war eine einmalige, verrückte Angelegenheit. Rawlins überquerte die Reihe der kleinen Öffnungen im Straßenbelag und stellte sich dann mit dem Rücken an die Wand. Unverzüglich stiegen die Streben aus dem Boden, bis sie nahtlos oben über seinem Kopf anschlossen. Der Boden schien fest zu sein. Keine Todesstrahlen Schossen auf ihn zu. Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Aber er war jetzt gefangen.

„Faszinierend“, entfuhr es Muller. „Es muß auf Intelligenz abgestimmt sein. Als ich es mit Tieren versuchte, ist nichts geschehen, egal ob sie tot waren oder noch lebten. Was hältst du denn davon, Ned?“

„Ich bin glücklich darüber, daß ich dir bei deinen Forschungen so behilflich sein konnte. Aber ich wäre noch glücklicher, wenn du mich nun wieder hinauslassen würdest.“

„Ich kann den Mechanismus der Streben nicht kontrollieren.“

„Aber du hast doch gesagt, du wolltest sie zerstrahlen.“

„Warum denn gleich mit dem Schlimmsten beginnen? Laß uns lieber noch etwas abwarten, ja? Vielleicht öffnen sich die Streben wieder von ganz allein. Da drinnen bist du doch wirklich sicher. Wenn du Hunger hast, bringe ich dir etwas zu essen. Werden deine Leute dich vermissen, wenn du bei Einbruch der Dunkelheit nicht wieder zurück bist?“

„Ich sende ihnen eine Nachricht“, sagte Ned mißmutig. „Obwohl ich hoffe, bis dahin wieder frei zu sein.“

„Bleib ruhig, mein Junge“, riet ihm Boardman. „Wenn es sich als notwendig erweisen sollte, können auch wir Sie dort befreien. Es ist sehr wichtig, Muller bei Laune zu halten und auf ihn einzugehen, bis Sie ein echtes Vertrauensverhältnis zu ihm haben. Wenn Sie mich verstehen können, dann streichen Sie sich mit der rechten Hand über das Kinn.“

Rawlins strich sich mit der Rechten über das Kinn.

„Das war sehr mutig von dir, Ned“, sagte Muller. „Oder aber sehr dumm. Ich weiß manchmal nicht, ob es dazwischen überhaupt einen Unterschied gibt. Aber ich bin dir auf jeden Fall dankbar. Ich mußte einfach über diese Käfige Bescheid wissen.“

„Freut mich, daß ich von Nutzen sein konnte. Du siehst also, nicht alle Menschen sind Monster.“

„Sicher, nicht bewußte Monster. Es ist nur die Seelenpest in ihrem Innern, die sie so häßlich macht. Hier, damit du dich erinnerst.“ Muller trat an den Käfig und legte die Hände an die glatten Streben, die so weiß wie Knochen waren. Rawlins spürte, wie die Intensität der Ausstrahlung anstieg. „Das ist es, was die Menschen unter ihrer Schädeldecke haben. Ich persönlich bemerke davon gar nichts. Ich schließe nur vom Verhalten der anderen darauf. Es muß sehr übel sein.“

„Ich könnte mich daran gewöhnen“, sagte Rawlins. Er ließ sich im Lotussitz auf den Boden nieder. „Hast du denn nie Anstrengungen unternommen, dich davon befreien zu lassen, nachdem du von Beta Hydri IV zur Erde zurückgekehrt bist?“

„Ich habe mit den Knochenflickern gesprochen. Aber sie konnten noch nicht einmal feststellen, welche Veränderungen in meinen Gehirnströmen eingetreten waren. Daher wußten sie natürlich auch keinen Weg, wie das wieder behoben werden sollte. Hübsch, nicht wahr?“

„Wie lange bist du auf der Erde geblieben?“

„Nur ein paar Monate. Lange genug jedenfalls, um festzustellen, daß es in meinem Bekanntenkreis nicht einen Menschen gab, der nicht schon nach wenigen Minuten, die er meiner Anwesenheit ausgesetzt war, grün angelaufen wäre. Ich begann, mich in Selbstmitleid zu ergehen… und in Ekel vor mir selbst, was so ungefähr dasselbe ist. Ich habe sogar an Selbstmord gedacht, um die Welt von diesem Stein des Anstoßes zu befreien.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Rawlins. „Manche Menschen sind einfach nicht zum Selbstmord fähig. Und du gehörst zu denen.“

„Vielen Dank, aber das habe ich selbst auch herausgefunden. Ich habe mich nicht umgebracht, wie du sicher bemerkt hast. Ich habe es mit allerlei Modedrogen probiert, dann habe ich zu trinken angefangen und schließlich so gefährlich wie möglich gelebt. In einem einzigen Monat habe ich es mit vier verschiedenen Psychiatern versucht und wieder aufgegeben. Dann habe ich mir einen bleiverstärkten Lederhelm aufgesetzt, um die Ausstrahlung abzuhalten. Aber das war so, als wollte man mit einem Eimer Neutrinos einfangen. In einem Bordell auf der Venus löste ich eine Panik aus: Nachdem die ersten hysterisch geworden waren, rannten alle Mädchen splitternackt auf die Straße hinaus.“ Muller spuckte aus. „Nun, ich war immer gern in Gesellschaft, konnte aber genausogut auf sie verzichten. Wenn ich unter Leuten war, war ich glücklich und überall gern gesehen. Ich war allerdings nicht so ein geschniegelter Sonnenschein wie du, aus dem sich permanent Freundlichkeit und Charakter ergießen, sondern bin auf die Leute und ihre Eigenarten eingegangen. Ich nahm mal hier und mal dort eine Beziehung auf und kam ganz gut damit zurecht. Dann wieder konnte ich anderthalb Jahre lang wegfahren, ohne dabei einen Menschen zu sehen oder mit ihm zu sprechen. Und auch das ist mir nicht schlecht bekommen. Aber als ich unwiderruflich von der Gesellschaft ausgeschlossen war, entdeckte ich, daß ich nur schlecht ohne Menschen auskommen konnte. Doch das ist nun vorbei. Ich bin diesem Bedürfnis entwachsen, mein Junge. Ich kann hundert Jahre in völliger Einsamkeit verbringen und werde doch niemanden vermissen. Ich habe mich dazu gebracht, die Menschheit so zu sehen, wie sie mich sieht: als etwas Krankmachendes, als einen elenden, verkrüppelten Klotz, dem man am besten aus dem Weg geht. Zur Hölle mit euch allen. Ich schulde niemandem etwas, nicht einmal Liebe. Ich habe keine Verpflichtungen mehr. Ich könnte dich hier im Käfig verfaulen lassen, Ned, und mir in keiner Sekunde Sorgen darüber machen. Ich könnte zweimal täglich an dem Käfig vorbeikommen und dein Skelett anlächeln. Ich hasse dich nicht, Ned, weder dich noch die Galaxis, die voll ist von Wesen wie dir. Ich verachte dich vielmehr. Du bist für mich ein Nichts. Nein, weniger als Nichts, du bist nicht mehr als ein Schmutzfleck. So, jetzt weißt du über mich Bescheid und ich über dich.“

„Du sprichst, als gehörtest du einer fremden Rasse an“, meinte Rawlins erstaunt.

„Nein, ich gehöre ganz sicher zur menschlichen Rasse. Ich bin sogar von allen das menschlichste Wesen, weil ich als einziger meine Menschlichkeit nicht verbergen kann. Du spürst sie doch, nicht wahr? Du kannst der Häßlichkeit nicht entgehen, was? Was aus mir strömt, befindet sich auch in dir. Flieg zu den Hydriern, und sie helfen dir, ebenso menschlich zu werden. Dann laufen die Leute auch dir davon, wie sie das bei mir tun. Ich spreche für die Menschheit. Ich spreche die Wahrheit. Ich bin der wahre Mensch hinter der Maske des Gesichts, mein Junge. Ich bin die verborgenen Eingeweide der Seele. Ich bin all das Kranke und Widerwärtige, von dem wir uns immer vorlügen, es sei nicht da. Ich bin die Perversitäten, die schrecklichen Lüste, all die kleinen Bosheiten, die abartigen Geschmacklosigkeiten, der Neid. Und ich bin auch der, der einst gottgleich sein wollte. Hybris. Ich wurde in aller Deutlichkeit daran erinnert, wer ich wirklich bin.“

Ruhig fragte Rawlins: „Warum entschiedst du dich für Lemnos?“

„Ein Mann namens Charles Boardman hat mir diese Idee gegeben.“

Ned fuhr bei der Erwähnung dieses Namens überrascht zusammen.

„Kennst du ihn?“ fragte Muller.

„Aber natürlich. Er… er ist einer der bedeutendsten Männer in der Regierung.“

„Ha, das kann man wohl sagen. Weißt du, daß es Boardman war, der mich nach Beta Hydri IV geschickt hat? Oh, er brauchte mir nichts vorzumachen, mußte keine Tricks einsetzen, hatte es nicht nötig, mich in seiner aalglatten Art zu übertölpeln. Er kannte mich viel zu gut. Er hat mich einfach an meinen Ambitionen gepackt. Er sagte, da gäbe es eine Welt voller Aliens, und die Erde wolle einen Menschen zur Kontaktaufnahme hinschicken. Wahrscheinlich ein Himmelfahrtskommando, aber gleichzeitig der erste Kontakt der Menschheit mit einer anderen intelligenten Spezies. Ob ich nicht interessiert sei? Natürlich war ich das. Er wußte genau, ich konnte einer solchen Chance nicht widerstehen. Und danach, als ich in diesem Zustand zurückkehrte, ließ er sich eine Zeitlang nicht blicken. Vielleicht konnte er es nicht ertragen, in meiner Nähe zu sein, vielleicht waren seine Schuldgefühle zu groß. Schließlich habe ich ihn abgefangen und gesagt: Sieh mich an, Charles, das ist aus mir geworden. Wo kann ich hingehen? Was soll ich tun? Ich bin ganz an ihn herangetreten. So nah, wie wir uns jetzt sind. Er lief grün an. Mußte Pillen einnehmen. Ich konnte das Übelkeitsgefühl in seinen Augen erkennen. Und da hat er mir das Labyrinth auf Lemnos nahegelegt.“

„Wieso?“

„Er meinte, es sei das beste Versteck. Ich weiß nicht, ob er wirklich Mitleid hatte oder nur grausam war. Er dachte wohl, ich würde auf meinem Weg durch den Irrgarten den Tod finden… ein würdiges Ende für jemanden von meiner Sorte. Immer noch besser, als an Drogen zu krepieren oder irgendwo in der Gosse zu enden. Natürlich erklärte ich Boardman, daß ich nicht im Traum daran dächte. Ich wollte meine Spur verwischen. Ich wurde sehr ärgerlich und beharrte darauf, daß eine Flucht nach Lemnos für mich nicht in Frage käme. Danach bin ich einen Monat in der Halbwelt Under New Orleans’ untergetaucht. Als ich mich wieder nach draußen wagte, habe ich mir ein Schiff gemietet und bin hierher gekommen. Ich habe jeden Trick angewandt, um meine Spur zu verwischen. Boardman hat recht gehabt. Lemnos ist der richtige Ort für mich.“

„Wie bist du denn überhaupt durch das Labyrinth gekommen?“ fragte Rawlins.

„Durch blankes Pech.“

„Pech?“

„Ich suchte einen glorreichen Untergang“, erklärte Muller. „Mir war es scheißegal, ob ich lebend durchs Labyrinth kam oder nicht. Ich bin einfach hineingegangen und auf das Zentrum zugelaufen.“

„Das ist ja kaum zu glauben!“

„Nun, genau so hat es sich aber zugetragen. Mein Unglück war, daß ich ein Mensch mit starkem Überlebensdrang bin, Ned. Diese Gabe ist mir angeboren, vielleicht ist es sogar mehr als eine Gabe, eine parasensorische Fähigkeit. Ich besitze ungewöhnliche Reflexe. Eine Art sechsten Sinn, wie man so sagt. Außerdem ist mein Drang zu überleben besonders stark entwickelt. Davon abgesehen führte ich Massedetektoren und andere nützliche Ausrüstung mit. So betrat ich also das Labyrinth. Jedesmal, wenn ich irgendwo eine Leiche liegen sah, habe ich mich noch etwas genauer umgesehen. Wenn mein Bild von der Umgebung zu verschwimmen schien, blieb ich stehen und wartete. Ich habe fest damit gerechnet, in Zone H zu sterben. Ich wollte es sogar. Aber dank meiner besonderen Fähigkeiten kam ich überall durch, wo andere gescheitert waren. Wahrscheinlich deshalb, weil mir mein eigenes Schicksal völlig gleich war. Die innere Anspannung war von mir gewichen. Ich bewegte mich mit der Geschmeidigkeit einer Katze, war aber nicht sehr vor- und umsichtig. Irgendwie bin ich dann an den Gefahren des Irrgartens vorbeigekommen, sehr zu meiner Enttäuschung. Und jetzt bin ich hier.“

„Bist du jemals wieder nach draußen gegangen?“

„Nein. Hin und wieder bin ich bis in Zone E gekommen, wo deine Freunde ein Lager aufgeschlagen haben. Zweimal habe ich mich bis nach F vorgewagt. Aber meist bleibe ich in den drei inneren Zonen. Ich habe mich hier nett und ausreichend eingerichtet. Ich besitze einen strahlensicheren Schrank für meine Fleischvorräte und ein ganzes Gebäude für meine Bibliothek. Und auch einen Ort für meine Mädchenwürfel. In einem anderen Gebäude habe ich mir eine Werkstatt eingerichtet, wo ich Tiere ausstopfe. Ich jage viel. Und ich studiere das Labyrinth und versuche, hinter seinen Mechanismus zu kommen. Ich habe meine Memoiren und die Berichte über meine Entdeckungen auf etliche Würfel diktiert. Ihr Archäologen würdet sicher etwas dafür geben, diese Kassetten in die Finger zu bekommen.“

„Ich glaube schon, daß wir eine ganze Menge daraus lernen könnten“, stimmte Rawlins zu.

„Das wollt ihr wohl gerne, was? Aber bevor ich sie euch überließe, würde ich sie lieber zerstören. Hast du noch keinen Hunger, mein Junge?“

„Doch, eigentlich schon.“

„Bleib hier. Ich hole dir etwas.“

Muller lief auf die nächsten Gebäude zu und war bald nicht mehr zu sehen. Leise sagte Rawlins: „Es ist wirklich entsetzlich, Charles. Er hat eindeutig den Verstand verloren.“

„Verlassen Sie sich lieber nicht darauf“, entgegnete Boardman. „Zweifellos haben neun Jahre der Isolation ihre Auswirkungen auf die psychische Stabilität eines Menschen, und Muller war keine sonderlich gefestigte Persönlichkeit mehr, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Aber es ist genausogut möglich, daß er sich mit Ihnen ein Spielchen erlaubt… nur vorgibt, verrückt zu sein, um Ihr Vertrauen auf die Probe zu stellen.“

„Und wenn es um seine geistige Gesundheit dennoch nicht mehr zum Besten steht?“

„Unter den für eine Zusammenarbeit notwendigen Bedingungen fiele das nicht sehr ins Gewicht. Es ist nicht so wichtig, ob er noch bei Verstand ist oder nicht. Vielleicht wäre letzteres sogar von Vorteil.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Das brauchen Sie auch nicht“, sagte Boardman gelassen. „Entspannen Sie sich. Bis jetzt haben Sie Ihre Rolle sehr gut gespielt.“

Muller kehrte zurück und brachte einen Teller mit Fleisch sowie einen kunstvollen Kristallbecher voll Wasser mit sich. „Das Beste, was ich habe“, sagte er und schob ein Stück Fleisch durch die Gitterstäbe. „Von einem hiesigen Tier. Du ißt doch feste Nahrung, nicht wahr?“

„Ja.“

„Das dachte ich mir… in deinem Alter. Wie alt hast du gesagt, bist du? Fünfundzwanzig?“

„Dreiundzwanzig.“

„Noch schlimmer.“ Muller reichte ihm das Wasser. Es hatte einen angenehmen Geschmack, besser gesagt, ein gewohnter Beigeschmack fehlte. Muller saß schweigend vor dem Käfig und aß. Rawlins fiel auf, daß seine Ausstrahlung ihm jetzt nicht mehr so viel ausmachte, selbst bei einem Abstand von weniger als fünf Metern. Offensichtlich gewöhnte man sich daran, zumindest, wenn man es versuchte.

Nach einer Weile sagte Rawlins: „Würdest du mitkommen und dich mit meinen Kameraden unterhalten wollen… so in ein paar Tagen?“

„Völlig ausgeschlossen.“

„Sie würden sicher gern einmal mit dir reden.“

„Ich habe aber kein Interesse daran. Da würde ich mich schon lieber mit den wilden Tieren hier unterhalten.“

„Du sprichst doch auch mit mir“, merkte Ned an.

„Weil es für mich eine Abwechslung darstellt. Und weil dein Vater ein guter Freund von mir war. Und weil du, wie es manchmal bei den Menschen vorkommt, recht angenehm bist. Aber ich will mich nicht einem zusammengewürfelten Haufen nichtsnutziger, stieläugiger Archäologen aussetzen.“

„Und wenn du es erst einmal mit zweien oder dreien versuchst?“ schlug Rawlins vor. „Dich wieder daran gewöhnst, wie es ist, unter Menschen zu sein.“

„Nein.“

„Das verstehe ich nicht…“

Muller schnitt ihm das Wort ab. „Einen Moment mal. Warum sollte ich mich wieder daran gewöhnen, unter Menschen zu sein?“

Unbehaglich antwortete Rawlins: „Nun, einfach aus dem Grund, weil Menschen hier sind. Weil es sicher nicht richtig ist, sich völlig zu isolieren…“

„Willst du mich hereinlegen? Willst du mich zu packen bekommen und dann aus dem Labyrinth entführen? Nun aber mal im Ernst, mein Junge, heraus mit der Sprache: Welcher Gedanke steckt bei dir im Hinterkopf? Welches Motiv steht dahinter, mich auf das Zusammensein mit Menschen vorzubereiten?“

Rawlins zögerte. In dieses unangenehme Schweigen hinein meldete sich Boardman. Er sprach rasch, gab ihm die Gerissenheit ein, die der Junge vermissen ließ, soufflierte ihm. Rawlins hörte zu und bemühte sich.

„Du hältst mich wohl für einen durchtriebenen Ränkeschmied, was?“ sagte er. „Aber ich schwöre dir, ich führe nichts Unlauteres im Schilde. Ich gebe zu, ich wollte dich ein wenig weichklopfen, wollte dich aufheitern, wollte Freundschaft mit dir schließen. Aber ich schätze, jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich dir die Wahrheit sagen muß.“

„Das glaube ich auch!“

„Ich habe das für den Erfolg unserer Expedition getan. Wir können nur wenige Wochen hierbleiben. Aber du bist schon so viele Jahre hier… wieviele waren es noch, neun? Du weißt so viel über diesen Ort, Dick, und ich halte es einfach für unfair, dieses Wissen für sich zu behalten. Also kam ich in der Hoffnung hierher, dich auf unsere Seite zu ziehen. Zuerst solltest du mit mir Freundschaft schließen und danach vielleicht mit mir nach Zone E gehen, um dort mit den anderen zu reden, ihnen Antworten auf ihre Fragen zu geben und ihnen alles zu erzählen, was du über das Labyrinth weißt…“

„Es soll unfair sein, sein Wissen für sich zu behalten?“

„Auf jeden Fall. Es ist eine Sünde, mit dem Wissen hinter dem Berge zu halten.“

„Ist es denn fair von den Menschen, mich ekelerregend zu nennen und vor mir die Flucht zu ergreifen?“

„Das ist doch ein ganz anderes Problem“, sagte Rawlins. „Eins, das jenseits aller Fairneß liegt. Es handelt sich dabei um den Zustand, in dem du dich befindest. Ein bedauerlicher Zustand, zugegeben, den du nicht verdient hast. Jedermann bedauert es natürlich, daß dir so etwas zugestoßen ist. Aber auf der anderen Seite mußt du dir auch einmal klarmachen, daß es vom Standpunkt anderer Personen nicht eben leicht ist, unvoreingenommen deinem… deinem…“

„Seelischen Gestank gegenüberzutreten“, führte Muller den Satz zu Ende. „Richtig. Es ist nicht leicht, meine Gegenwart zu ertragen. Daher bin ich gewillt, deine Freunde nicht diesem Übel auszusetzen. Schlag dir das aus dem Kopf: Ich werde weder mit ihnen reden noch nett bei einer Tasse Tee mit ihnen plaudern. Ich will einfach nichts mit ihnen zu tun haben. Ich habe mich von der menschlichen Rasse abgenabelt und will es dabei auch belassen. Und dabei ist es ganz irrelevant, ob ich dir das Privileg gewähre, mich zu belästigen oder nicht. Wo wir gerade schon dabei sind, möchte ich dir ins Gedächtnis zurückrufen, daß dieser unglückliche Zustand mich nicht unverdient getroffen hat. Er kam zu Recht über mich, als ich meine Nase in Dinge gesteckt habe, die mich nichts angingen. Indem ich mich für einen Übermenschen hielt, dem so etwas doch gestattet sei. Hybris eben, aber das sagte ich ja schon.“

Boardman hatte Ned die ganze Zeit über weiter instruiert. Rawlins, dem die Lügen einen ekligen Geschmack auf der Zunge bereiteten, antwortete: „Ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen, wenn du so verbittert bist, Dick. Aber ich halte es immer noch für falsch, wenn du uns dein Wissen vorenthältst. Denk doch einfach an die Tage zurück, als du selbst von Welt zu Welt geeilt bist. Wenn du damals auf einem Planeten gelandet wärst und jemand hätte über lebenswichtige Informationen verfügt, deretwillen du diese Welt überhaupt erst angeflogen hättest, würdest du da nicht auch jede Anstrengung in Kauf genommen haben, sie von ihm zu bekommen? Selbst wenn dieser Jemand mit bestimmten persönlichen Problemen zu kämpfen gehabt hätte?“

„Tut mir leid“, sagte Muller frostig. „Aber das ist mir vollkommen egal.“ Er lief davon und ließ Rawlins allein mit zwei Stücken Fleisch und einem fast leeren Becher Wasser im Käfig zurück.

Als Muller nicht mehr zu sehen war, meldete sich Boardman: „Das ist vielleicht eine Mimose, was? Doch ich habe von ihm auch nicht erwartet, daß er vor Freundlichkeit zerfließen würde. Aber Sie haben ihn schon ziemlich gut angepackt, Ned. Sie besitzen wirklich die ideale Mischung aus Verschlagenheit und Naivität.“

„Und ich befinde mich in einem Käfig.“

„Das stellt kein Problem dar. Wir können immer noch eine Drohne schicken, die Sie befreit, falls der Käfig sich in der nächsten Zeit nicht öffnet.“

„Es klappt nicht mit Muller“, murmelte Rawlins. „Er steckt voller Haß. Der sickert ihm aus jeder Pore. Wir schaffen es nie, ihn zur Zusammenarbeit zu bewegen. Ich habe noch nie einen solchen Haß bei einem Menschen erlebt.“

„Sie haben ja auch noch nicht viel von der Welt gesehen“, sagte Boardman. „Und weder Sie noch er wissen, was wirklicher Haß ist. Ich versichere Ihnen, alles läuft bestens. Wir haben von vornherein einige Rückschläge einkalkuliert. Doch allein schon der Umstand, daß er überhaupt mit Ihnen redet, wiegt im Moment alles andere auf. Er will doch gar nicht so voller Haß sein. Geben Sie ihm einfach die Chance, seine Verbitterung abzulegen, und schon wird er es tun.“

„Wann schicken Sie die Drohne, um mich hier herauszuholen?“

„Später“, sagte Boardman. „Falls es sich überhaupt als notwendig erweisen sollte.“

Muller kehrte nicht zurück. Der Nachmittag ging langsam in den Abend über. Ein kühler Wind kam auf. Rawlins kauerte sich in eine Ecke, aber gemütlicher wurde es dadurch nicht. Er versuchte, sich die Stadt vorzustellen, als sie noch von Leben erfüllt gewesen war. Als dieser Käfig dazu gedient hatte, Wesen festzuhalten, die man im Labyrinth gefangengenommen hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er den Strom der Stadterbauer: kurzgewachsen und stämmig, mit dichtem, kupferfarbenem Fell und einer grünlichen Haut. Sie schwangen ihre langen Arme und zeigten damit auf den Käfig. Dort drin befand sich ein Wesen, das wie ein Riesenskorpion aussah. Mit Klauen, die wie Wachs glänzten und über die Steinplatten auf dem Boden kratzten. Mit wilden Augen und einem wütend peitschenden Schwanz, der jedem gefährlich wurde, der dem Käfig zu nahe kam. Eine eigenartige, grelle Musik tönte durch die Stadt. Fremdes Gelächter von fremden Wesen. Der warme, moschusartige Geruch der Stadterbauer. Kinder, die das Ding im Käfig anspuckten. Speichel wie Feuer. Helles Mondlicht, tanzende Schatten. Ein gefangenes Wesen, furchtbar anzusehen und bösartig. Es war allein, das einzige seiner Art auf dieser Welt. Sein heimatlicher Stock stand auf einem Planeten des Sterns Alphecca oder Markab, wo weitere Wesen mit Schwanz und wachsartig glänzenden Klauen durch glitzernde Tunnel krabbelten. Tagelang kamen die Stadterbauer vor dem Käfig zusammen, verhöhnten das Wesen und schmähten es. Ihre plumpen Körper, ihre ineinander verschlungenen, spinnenartigen Finger, ihre flachen Gesichter und ihre häßlichen Hauer widerten die Kreatur im Käfig an. Und dann kam der Tag, an dem sich der Boden des Käfigs öffnete, denn die Stadterbauer langweilte ihr Gefangener von einer anderen Welt. Und das Wesen stürzte hinab. Während es noch wütend mit dem Schwanz um sich schlug, landete es in einer Messergrube.

Die Nacht war hereingebrochen. Rawlins hatte lange nichts mehr von Boardman gehört. Muller hatte er seit dem Nachmittag nicht mehr gesehen. Tiere schlichen über den Platz: vornehmlich kleine, die hauptsächlich aus Klauen und Zähnen bestanden. Rawlins hatte unbewaffnet das Camp verlassen. Er bereitete sich darauf vor, jedes Tier zu Tode zu treten, das durch das Gitter in sein Gefängnis schlüpfte.

Hunger und Kälte bedrängten ihn. Er suchte die Dunkelheit nach Muller ab. Mittlerweile fand er diesen Scherz nicht mehr lustig.

„Können Sie mich hören?“ fragte er bei Boardman an.

„Wir holen Sie bald heraus.“

„Ja, aber wann!“

„Wir haben eine Drohne losgeschickt, Ned.“

„Eine Drohne dürfte kaum mehr als eine Viertelstunde benötigen, um zu mir vorzustoßen. In diesen Zonen gibt es kaum Fallen.“

Boardman hielt einen Moment inne. „Muller hat die Drohne abgefangen und zerstört. Das war vor einer Stunde.“

„Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?“

„Wir schicken jetzt mehrere Drohnen gleichzeitig los“, erklärte ihm Boardman. „Muller kann nicht alle im Auge behalten. Er wird mindestens eine übersehen. Alles ist bestens in Ordnung, Ned. Sie befinden sich nicht in Gefahr.“

„Bis etwas passiert“, antwortete Ned düster.

Aber er zog es vor, sich nicht weiter über diesen Punkt zu unterhalten. Frierend und hungrig drängte er sich an die Wand und wartete weiter. Er beobachtete, wie sich hundert Meter vor ihm auf dem Platz ein kleines, wendiges Tier an ein viel größeres heranschlich und es tötete. Er sah, wie sich andere Raubtiere näherten und Stücke aus dem blutigen Kadaver rissen. Ned hörte die knackenden und reißenden Geräusche. Sein Blickfeld war teilweise eingeschränkt. Er renkte sich fast den Hals aus, als er sich nach der Drohne umsah, die ihn befreien sollte. Aber kein Roboter erschien.

Er kam sich vor wie ein Menschenopfer auf einem Steinaltar, das jeden Moment getötet werden konnte.

Die Raubtiere hatten ihr Werk vollbracht. Jetzt trotteten sie über den Platz auf ihn zu… kleine, wieselartige Geschöpfe mit großen, sich verjüngenden Köpfen und paddelförmigen Pfoten, aus denen gelbe, gebogene Krallen hervortraten. Rote Augen auf gelben Netzhäuten. Sie studierten ihn interessiert, ruhig und neugierig. Dickes, purpurrotes Blut klebte an ihren Schnauzen.

Sie kamen näher. Eine lange, schmale Schnauze schob sich zwischen zwei Streben seines Käfigs. Rawlins trat danach. Die Schnauze verschwand wieder. Zu seiner Linken tauchte eine neue auf. Wenig später waren es schon drei.

Und dann schlüpften die Raubtiere von allen Seiten herein.

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