Elf

1

Muller hatte die Hydrier beinahe gemocht. Am deutlichsten und angenehmsten waren seine Erinnerungen an die Grazie ihrer Bewegungen. Sie schienen wirklich zu schweben. Die Fremdartigkeit ihrer Physiognomie hatte ihn nie sonderlich gestört. Einer seiner Lieblingssätze lautete, daß man auch auf der Erde nicht sehr weit zu gehen hatte, um auf etwas Groteskes zu stoßen: Giraffen. Hummer. Seeanemonen. Tintenfische. Kamele. Man brauchte sich ein Kamel nur einmal objektiv anzusehen und sich dabei zu fragen, ob seine Gestalt weniger fremdartig war als die eines Hydriers.

Er war in einer feuchten Gegend nördlich vom Äquator des Planeten gelandet, auf einem amöbenförmigen Kontinent, der ein Dutzend riesiger Quasi-Städte aufwies, von denen sich jede einzelne über etliche tausend Quadratkilometer erstreckte. Sein Schutzanzug, den man speziell für diese Mission entworfen hatte, war kaum mehr als eine dünne Filtrierschicht, die ihn wie eine zweite Haut umgab. Durch tausend Dialyseplättchen führte er ihm Atemluft zu. Der Anzug war nicht sehr bequem, aber er konnte sich in ihm unbehindert bewegen.

Etwa eine Stunde wanderte er durch einen Wald aus riesigen, pilzförmigen Bäumen, bevor er die ersten Einheimischen antraf. Die Bäume erreichten Höhen von mehreren hundert Metern. Vielleicht lag das an der hiesigen Schwerkraft, die nur fünf Achtel der irdischen Gravitation betrug. Die gewundenen Stämme machten keinen sehr harten Eindruck. Er vermutete, daß unter einer äußeren, gerade fingerdicken Holzschicht ein Kern aus schwammweichem Mark lag. Die hutartigen Baumwipfel fügten sich zu einem fast lückenlosen Baldachin zusammen und ließen so gut wie kein Licht auf den Waldboden gelangen. Da die Wolkenschicht über der Welt ohnehin nur mattes Sonnenlicht durchließ und dieses von den Baumkronen noch zusätzlich abgeschwächt wurde, herrschte hier im Wald fast Dunkelheit.

Als Muller auf die Fremden stieß, stellte er überrascht fest, daß sie etwa drei Meter groß waren. Seit seiner Kindheit war er sich nicht mehr so winzig vorgekommen. Er blieb stehen, und sie umringten ihn. Muller reckte und streckte sich bei dem Versuch, ihnen in die Augen zu sehen. Nun war der Moment gekommen, wo er sich in angewandter Hermeneutik üben konnte. Mit gefaßter Stimme sagte er: „Ich heiße Richard Muller. Ich komme in Freundschaft als Gesandter der terranischen Kultursphäre.“

Natürlich verstanden sie das nicht. Aber sie machten auch keine Anstalten, etwas gegen ihn zu unternehmen. Er bildete sich ein, ihre Gesichter drückten nicht einmal Unfreundlichkeit aus.

Muller kniete sich nieder und ritzte den Satz des Pythagoras in den weichen, feuchten Boden.

Dann sah er auf. Und lächelte. „Ein Grundkonzept der Geometrie. Und ein universelles Denkmuster.“

Ihre vertikal angebrachten, schlitzartigen Nasenflügel zuckten leicht. Die Köpfe wiegten hin und her. Muller stellte sich vor, daß sie jetzt nachdenkliche Blicke austauschten. Da sie mehrere, kreisförmig um den Kopf angebrachte Augen besaßen, brauchten sie ihre Körperstellung dazu nicht zu verändern.

„Jetzt möchte ich euch einige weitere Beweise für unsere geistige Verwandtschaft vorführen“, erklärte Muller.

Er zog auf dem Boden einen Strich. Ein kurzes Stück daneben zwei weitere. Und noch ein Stück weiter ritzte er drei Striche. Dann füllte er die Zwischenräume mit Zeichen aus: I + II = III.

„Seht ihr?“ sagte er. „Wir nennen das Addition.“

Die Armbündel bewegten sich. Zwei seiner Zuhörer berührten sich. Muller dachte daran, wie sie die Spionsonde zerstört hatten, kurz nachdem sie entdeckt worden war, ohne sich mit einer gründlicheren Erforschung aufzuhalten. Er hatte sich seelisch auf ein ähnliches Schicksal vorbereitet. Aber statt dessen hörten sie ihm zu. Ein vielversprechender Anfang. Er stand auf und deutete auf seine Zeichnung am Boden.

„Jetzt seid ihr dran“, erklärte er. Er sprach laut und lächelte breit. „Zeigt mir, daß ihr mich verstanden habt. Sprecht mit mir in der universellen Sprache der Mathematik.“

Zunächst erhielt er keine Antwort.

Muller zeigte wieder auf die Zeichen. Er deutete auf jedes einzelne Symbol und streckte dann dem nächsten Hydrier die offene Handfläche entgegen.

Nach einer längeren Pause schwebte einer der anderen Hydrier mühelos gleitend vor und wischte mit einem halbkugelförmigen Fuß über die Zeichen auf dem Boden. Sein Bein bewegte sich nur leicht, doch die Linien verschwanden sofort. Der Fremde glättete die Erde auf dem Boden.

„Also gut“, sagte Muller, „dann zeichnet ihr etwas für mich.“

Der Hydrier kehrte zu seinem Platz im Kreis zurück.

„Auch gut“, sagte Muller, „es gibt noch eine weitere universelle Sprache. Ich hoffe, sie beleidigt eure Ohren nicht.“

Er zog eine Sopranflöte aus der Tasche und setzte sie an die Lippen. Durch den Schutzanzug gehindert, konnte er keine musikalische Meisterleistung bieten.

Er atmete tief ein und blies eine atonale Tonleiter. Die Arme der Hydrier flatterten ein wenig. Sie konnten ihn also hören oder zumindest Vibrationen wahrnehmen. Er wechselte auf Moll über und spielte eine weitere Tonleiter. Danach versuchte er es mit einer chromatischen Tonleiter. Sie zeigten sich etwas beeindruckter. Aha, ihr seid also nicht ganz ohne, dachte er, ihr seid Genießer. Vielleicht paßt die Volltonleiter besser zu der Atmosphäre dieses wolkenbedeckten Planeten, sagte er sich. Er führte ihnen mehrere Oktaven vor und bedachte sie auch mit Debussy, um sie zu erfreuen.

„Ist das nach eurem Geschmack?“ fragte er.

Sie machten den Eindruck, als diskutierten sie miteinander.

Dann verließen sie ihn.

Er versuchte, ihnen zu folgen. Aber er konnte mit ihnen nicht Schritt halten und verlor sie bald im diffusen Licht des Waldes aus den Augen. Aber Muller gab nicht auf. Und ein Stück weiter fand er sie wieder. Sie standen dicht beisammen, als ob sie auf ihn warteten. Als Muller auf sie zuging, setzten sie sich wieder in Bewegung. Auf diese Weise, mit ständig wiederkehrendem Anhalten und Losgehen, führten sie ihn zu ihrer Stadt.

Muller ernährte sich von Konzentraten und synthetischen Lebensmitteln. Eine Chemoanalyse hatte ihm klargemacht, daß es nicht ratsam sei, von den einheimischen Speisen zu kosten.

Ungezählte Male zeichnete er für sie den Satz des Pythagoras. Er skizzierte für sie die verschiedenartigsten arithmetischen Grundrechenarten. Er spielte Schönberg und Bach. Er konstruierte gleichseitige Dreiecke. Er führte kompliziertere geometrische Formen vor. Er sprach zu ihnen in Französisch, Russisch, Mandarin und auch Englisch, um ihnen die Mannigfaltigkeit der menschlichen Zunge aufzuzeigen. Er zeigte ihnen Ausschnitte aus dem Periodensystem der Elemente.

Nach sechs Monaten hatte er noch immer nichts über ihre Denkweise in Erfahrung gebracht.

Sie tolerierten seine Anwesenheit, sprachen aber niemals ein Wort zu ihm. Wenn sie miteinander kommunizierten, vollzog sich das vornehmlich in raschen, flüchtigen Gesten, kurzen Handbewegungen und leichtem Zucken der Nasenflügel. Offensichtlich besaßen sie eine gesprochene Sprache, aber sie war so leise und gehaucht, daß er keine Silben, geschweige denn Worte heraushören oder unterscheiden konnte. Allerdings nahm er alles, was er hörte, auf seinem Rekorder auf.

Irgendwann schienen sie seiner überdrüssig zu werden und kamen zu ihm.

Er schlief.

Erst lange Zeit später entdeckte er, was sie ihm während seines Schlafs angetan hatten.

2

Er war achtzehn Jahre alt und lag nackt unter den kalifornischen Sternen. Der ganze Himmel flimmerte. Er glaubte, er brauche nur die Hand auszustrecken, um sie einzeln herabzupflücken.

Ein Gott sein. Das Universum besitzen.

Er drehte sich zu ihr. Ihr Körper war kühl, schlank und zitterte ein wenig vor innerer Anspannung. Er streichelte ihre Brüste mit den Händen. Er ließ eine Hand über ihren flachen Bauch gleiten. Sie zitterte leise. „Du“, stöhnte sie. „Oh!“ Ein Gott sein, dachte er. Er küßte sie sanft und dann noch einmal, nicht mehr so sanft. „Warte“, sagte sie. „Ich bin noch nicht so weit.“ Er wartete. Half ihr. Oder tat zumindest die Dinge, von denen er glaubte, sie würden ihr weiterhelfen. Kurz darauf begann sie zu keuchen. Sie sagte wieder seinen Namen. Wieviele Sterne kann ein Mensch in seinem Leben besuchen? Wenn jeder Stern im Durchschnitt zwölf Planeten hat und man bei einer galaktischen Linse mit einem Durchmesser von X Lichtjahren mit etwa einhundert Millionen Sonnen rechnen muß… Ihre Oberschenkel öffneten sich. Seine Augen schlossen sich. Er spürte weiche, alte Piniennadeln an seinen Knien und Ellenbogen pieksen. Sie war nicht seine erste, aber die erste, die zählte. Als der Blitz in seinem Kopf explodierte, nahm er ihre Reaktion wie durch einen Schleier wahr: verkrampft zunächst und gehemmt, doch dann plötzlich um so kraftvoller. Ihre Intensität erschreckte ihn, aber nur einen Augenblick lang, dann ritt er mit ihr bis zu Ende.

Gott sein mußte ein ganz ähnliches Gefühl sein.

Er rollte von ihr weg, zeigte auf die Sterne und nannte ihr der Reihe nach die Namen, wobei nur die Hälfte stimmte. Doch das brauchte sie nicht zu wissen. Er teilte seine Träume mit ihr. Später liebten sie sich ein zweites Mal, und es war noch besser.

Er hoffte, es würde um Mitternacht regnen, damit sie im Regen tanzen konnten. Aber der Himmel blieb klar. Statt dessen gingen sie schwimmen und verließen dann zitternd aber lachend wieder das Wasser. Als er sie nach Hause gebracht hatte, nahm sie ihre Pille mit einem Glas Chartreuse ein. Er sagte ihr, daß er sie liebte.

Jahrelang schickten sie sich noch Weihnachtskarten.

3

Die achte Welt von Alpha Centauri B war ein Gasriese mit einem Kern von geringer Dichte und einer Schwerkraft, die kaum über dem Wert der Erde lag. Muller hatte bei seiner zweiten Ehe dort Flitterwochen gemacht. Teilweise hatte diese Reise auch mit Arbeit zu tun, denn es gab Ärger mit den irdischen Kolonisten auf dem sechsten Planeten. Sie planten, einen künstlichen Wirbel zu erzeugen, der den größten Teil der rohstoffreichen Atmosphäre vom achten Planeten absaugen sollte, um sie der eigenen Industrie zuzuführen.

Mullers Konferenzen mit den örtlichen Regierungsstellen verliefen recht zufriedenstellend. Er konnte sie überreden, nur einen geringen Teil der Atmosphäre abzusaugen, und erntete für seine kleine Nachhilfestunde in interplanetarer Ökologie sogar noch Lob.

Danach machten Nola und er auf Staatskosten Urlaub auf der achten Welt. Im Gegensatz zu Lorayn reiste Nola gern. Sie begleitete Muller auf vielen seiner Reisen.

In Schutzanzügen durchschwammen sie eiskalte Methanseen. Lachend rannten sie über Ammoniakstrände. Nola war so groß wie er und hatte muskulöse, sportliche Beine, dunkelrotes Haar und grüne Augen. Sie umarmten sich in einem warmen Zimmmer hinter Spiegelglasfenstern, die einen Ausblick über das einsame Meer gewährten, das sich über hunderttausende von Kilometern erstreckte.

„Für immer“, sagte sie.

„Ja. Für immer.“

Bevor die Woche abgelaufen war, lagen sie sich schon in den Haaren. Aber es war nur ein Spiel. Denn je wütender sie miteinander stritten, desto leidenschaftlicher versöhnten sie sich wieder. Einige Male wenigstens. Später machten die Streiteren keinen Spaß mehr. Als der Ehevertrag auslief, wollte keiner erneuern. Später, als er ein bekannter Mann geworden war, erhielt er manchmal noch nette Briefe von ihr. Nachdem er von Beta Hydri IV zurückgekehrt war, hätte er sie gerne einmal gesehen. Er glaubte, daß Nola ihm über seine Schwierigkeiten hinweghelfen könnte. Im Gegensatz zu allen anderen würde sie sich nicht von ihm abwenden. Und sei es nur der alten Zeiten wegen.

Aber sie befand sich damals gerade mit ihrem siebten Ehemann auf Vesta. Muller erfuhr das von ihrem fünften Gatten. Er selbst war der dritte gewesen. Aber er rief sie nicht an.

4

„Tut mir leid, Mr. Muller, aber wir können nichts für Sie tun“, sagte der Chirurg. „Ich möchte gar nicht erst versuchen, falsche Hoffnungen in Ihnen zu wecken. Wir haben Ihre Neuralfunktionen gemessen und verglichen, aber wir können nirgendwo eine Abweichung entdecken. Es tut mir wirklich ausgesprochen leid.“

5

Ihm hatten neun Jahre zur Verfügung gestanden, um seine Erinnerungen zu ordnen und Lücken zu schließen. Einige Würfel hatte er mit ihnen gefüllt. Aber das war nur in den ersten Jahren seines Exils geschehen, als er sich noch darum gesorgt hatte, seine Vergangenheit könne sich im Nebel des Vergessens verlieren. Er entdeckte, daß die Erinnerungen im Alter deutlicher wurden. Vielleicht lag das aber auch an seinem Training. Aus dem Gedächtnis konnte er jederzeit Formen und Farben, Geräusche, Geschmäcke und Gerüche abrufen. Er konnte ganze Gespräche nahezu lückenlos rekonstruieren. Er konnte den vollen Text von etlichen Verträgen zitieren, die er abgeschlossen hatte. Er konnte alle englischen Könige in der richtigen Reihenfolge vom ersten bis zum letzten aufzählen, von Wilhelm dem Eroberer bis zu William VII. Und er erinnerte sich an die Körper aller Mädchen, mit denen er geschlafen hatte.

Er gestand sich ein, daß er bei der erstbesten Chance zurückkehren würde. Alles andere war nur Selbstbetrug und Heuchelei. Er wußte, er konnte weder sich selbst noch Ned Rawlins täuschen. Die Zweifel, die er an der Menschheit hegte, waren echt, nicht aber sein Wunsch nach Isolation. Ungeduldig wartete er auf Ned Rawlins’ Rückkehr. Während der Wartezeit trank er einige Gläser des Schnapses, den die Stadt sprudeln ließ. Aus Spaß oder Langeweile ging er auf die Jagd und tötete in seinem nervösen Eifer mehr Tiere, als er in einem Jahr verbrauchen konnte. Er führte unverständliche Gespräche mit sich selbst. Er träumte von der Erde.

6

Rawlins rannte. Muller, der hundert Meter tief in Zone C stand, sah, wie er atemlos und mit gerötetem Kopf durch den Eingang kam.

„Du solltest hier nicht so rennen“, sagte Muller. „Nicht einmal in den sicheren Zonen. Man weiß wirklich nie, ob…“

Rawlins ließ sich neben einer vorstehenden Kalksteinwand fallen. Krampfhaft hielt er sich dort fest und rang keuchend nach Atem. „Hol mir etwas zu trinken, ja?“ schnaufte er. „Diesen Schnaps…“

„Bist du in Ordnung?“

„Nein.“

Muller ging zu dem nicht weit entfernt stehenden Brunnen und füllte dort eine kleine Flasche mit dem hochprozentigen Getränk. Rawlins fuhr überhaupt nicht zusammen, als Muller sich ihm wieder näherte, um ihm die Flasche zu geben. Er schien seine Ausstrahlung gar nicht zu bemerken. Gierig leerte Ned die Flasche, verschüttete dabei ein gutes Teil und ließ Tropfen der glitzernden Flüssigkeit über Kinn und Kleider rinnen. Danach schloß er einen Moment die Augen.

„Du siehst ja furchtbar aus“, sagte Muller. „Als wärst du gerade vergewaltigt worden, würde ich sagen.“

„So ähnlich.“

„Was ist denn los?“

„Warte. Laß mich erst wieder zu Atem kommen. Ich bin den ganzen Weg von Zone F bis hierher gerannt.“

„Dann kannst du aber von Glück sagen, daß du noch am Leben bist.“

„Vielleicht.“

„Noch etwas zu trinken?“

„Nein“, sagte Rawlins, „im Augenblick nicht.“

Muller studierte ihn verwirrt. Die Veränderung an ihm war nicht zu übersehen und bestürzend. Bloße Erschöpfung konnte es nicht sein. Die Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht stark gerötet und aufgedunsen. Die Gesichtsmuskeln waren außerordentlich verkrampft. Seine Augen rollten wild, so als suchten sie etwas, das sie nicht finden konnten. War er betrunken? Krank? Stand er unter Drogen?

Rawlins sagte nichts.

Nach längerem Schweigen machte Muller notgedrungen den Anfang und sagte: „Ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich mich wie ein verdammter Narr aufgeführt habe. Vor allem bei dem dummen, menschenfeindlichen Geschwätz, das ich andauernd aufgetischt habe.“ Muller bückte sich und versuchte, dem jungen Mann in die unruhigen Augen zu sehen. „Hör zu, Ned, ich will das alles zurücknehmen. Ich bin gern bereit, auf die Erde zurückzufliegen und mich dort behandeln zu lassen. Selbst, wenn das Heilverfahren noch nicht ganz ausgereift sein sollte, so will ich es doch versuchen. Im schlimmsten Fall kann man mir eben nicht helfen, und…“

„Es gibt keine Behandlungsmethode“, sagte Rawlins dumpf.

„Keine… Behandlungs…“

„Nein, keine Heilung. Nichts. Es war alles Lüge.“

„Ja. Sicher.“

„Du hast es selbst gesagt“, erinnerte Rawlins. „Du wolltest mir kein Wort glauben, nicht wahr?“

„Eine Lüge.“

„Du hast nicht begriffen, warum ich dir das erzählt habe, aber du hast dennoch gesagt, es sei alles Unsinn. Du hast mir ins Gesicht gesagt, ich würde lügen. Du hast dich gefragt, was mir eine Lüge nützen könne. Aber ich habe wirklich gelogen, Dick.“

„Gelogen.“

„Ja.“

„Aber ich hatte meine Meinung doch geändert“, sagte Muller leise. „Ich war bereit und willens, auf die Erde zurückzukehren.“

„Du brauchst dir keine Hoffnung auf eine Heilung zu machen“, erklärte ihm Rawlins.

Er stand langsam auf und strich sich mit der Hand durch das lange, goldfarbene Haar. Er zog seine verrutschte Kleidung zurecht. Dann hob er die Flasche vom Boden, ging damit zum Springbrunnen und füllte sie erneut. Nachdem er zurückgekehrt war, reichte er sie Muller, der aus ihr trank. Rawlins nahm den Rest zu sich. Ein kleines und gefräßig aussehendes Etwas rannte hinter ihnen vorbei und verschwand durch das Tor zur Zone D.

Schließlich sagte Muller: „Möchtest du mir das nicht erklären?“

„Wir sind keine Archäologen.“

„Weiter.“

„Wir sind hierher gekommen, weil wir nach dir gesucht haben. Es war kein Zufall. Wir wußten die ganze Zeit schon, wo du dich aufhältst. Man ist dir auf der Fährte geblieben, als du vor neun Jahren die Erde verlassen hast.“

„Aber ich habe doch alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen.“

„Sie haben dir nichts genutzt. Boardman wußte, wohin du wolltest, und ließ dich die ganze Zeit überwachen. Er hat dich bis heute in Frieden gelassen, weil er für dich keine Verwendung hatte. Aber als ein besonderer Notfall eintrat, ist er dir gefolgt. Er hat dich sozusagen in Reserve gehalten.“

„Charles Boardman hat dich geschickt, um mich aufzuspüren?“ fragte Muller.

„Ja, genau aus diesem Grunde sind wir hier. Das ist der einzige Zweck unserer Expedition“, antwortete Rawlins tonlos.

„Ich wurde dazu bestimmt, mit dir Kontakt aufzunehmen, weil du meinen Vater gut gekannt hast und mir am ehesten vertrauen würdest. Und weil ich so ein unschuldiges Gesicht habe. Die ganze Zeit über hat Boardman mir Anweisungen und Verhaltensmaßregeln gegeben. Er hat mir eingeflüstert, was ich dir sagen soll, hat mich gelenkt, hat mir sogar gesagt, welche Fehler und Dummheiten ich machen soll, um dich noch erfolgreicher hinters Licht zu führen. Er hat mir zum Beispiel gesagt, ich solle den Käfig betreten. Er glaubte, damit könnte ich leichter deine Sympathie gewinnen.“

„Boardman ist hier? Auf Lemnos?“

„Ja, in Zone F. Dort steht sein Lager.“

„Charles Boardman?“

„Ja, genau der. Er ist hier.“

Mullers Gesicht war steinern. In seinem Innern herrschte Aufruhr. „Warum hat er das getan? Was will er denn von mir?“

„Du weißt“, sagte Rawlins, „daß es im Universum außer uns und den Hydriern eine dritte Spezies gibt?“

„Ja, sie waren gerade entdeckt worden, als ich verschwand. Deshalb sollte ich ja auch zu den Hydriern reisen. Ich flog mit dem Auftrag, eine Verteidigungsallianz mit ihnen zu schließen, bevor diese anderen Wesen, die Extragalaktiker, mit uns Kontakt aufnehmen konnten. Meine Mission scheiterte. Aber was hat das…“

„Was und wieviel weißt du über die Extragalaktiker?“

„Sehr wenig“, gestand Muller. „Im Grunde genommen nicht mehr, als ich dir gerade erzählt habe. An dem Tag, an dem ich einwilligte, nach Beta Hydri zu fliegen, habe ich zum ersten Mal von ihnen gehört. Boardman hat sie nur kurz erwähnt. Aber mehr wollte er mir nicht sagen. Er sprach nur von ihrer unglaublichen Intelligenz- sie seien uns diesbezüglich weit überlegen — und davon, daß sie in einer Nachbargalaxis lebten. Sie besäßen einen Antrieb, der den intergalaktischen Flug gestatte, und würden uns wahrscheinlich eines Tages besuchen.“

„Mittlerweile wissen wir etwas mehr über sie“, erklärte Rawlins.

„Sag mir zuerst, was Boardman von mir will.“

„Laß mich bitte der Reihe nach erzählen, dann wird es einfacher und übersichtlicher.“ Ned grinste. Er machte einen leicht angetrunkenen Eindruck. Rawlins lehnte sich an die Steinwanne und streckte die Beine weit vor sich aus. Dann sagte er: „Im Grunde genommen haben wir alles andere als umfassende Erkenntnisse über die Extragalaktiker. Wir haben ein Spezialschiff losgeschickt, es durch den Warpraum fliegen und einige tausend Lichtjahre weiter wieder in den Normalraum eintreten lassen. Vielleicht waren es auch ein paar Millionen Lichtjahre, ich bin mit den Details nicht so vertraut. Auf jeden Fall war es ein unbemanntes Forschungsschiff mit allen Arten von Sonden, Drohnen und so weiter an Bord. Es kam in einer der Röntgenstrahl-Galaxien heraus. Die Daten der Reise sind noch nicht freigegeben, aber ich hörte, es soll entweder Cygnus A oder Scorpius II gewesen sein. Wir erfuhren auf jeden Fall, daß ein Planet in dieser Galaxis von einer sehr fortgeschrittenen Rasse sehr, sehr fremdartiger Fremdwesen bewohnt ist.“

„Wie fremdartig?“

„Sie können offenbar im ganzen Spektrum sehen“, erklärte Rawlins. „Ihr hauptsächlicher Wahrnehmungsbereich liegt in den hohen Frequenzen. Sie sehen durch das Licht von Röntgenstrahlen. Sie scheinen auch in der Lage zu sein, Radiofrequenzen visuell wahrzunehmen oder sie sonstwie sensorisch aufnehmen zu können. Sie nehmen fast alle Wellenlängen dazwischen auf. Nur um den Bereich zwischen Infrarot und Ultraviolett scheinen sie sich nicht besonders zu kümmern. Der Bereich eben, den wir das sichtbare Spektrum nennen.“

„Einen Moment mal. Radiowellen? Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie lang Radiowellen sind? Wenn sie wirklich Informationen sensorischer Art aus einer einzigen Radio welle beziehen wollen, dann müssen sie Augen oder Rezeptoren oder was auch immer von gigantischen Ausmaßen haben. Wie groß sollen diese Fremdlinge denn sein?“

„Sie könnten Elefanten zum Frühstück verdrücken“, antwortete Rawlins.

„Intelligentes Leben wird nicht so groß.“

„Und wo soll die Grenze liegen? Sie bewohnen einen gigantischen Gasplaneten, der nur von Gasozeanen bedeckt ist und keine Gravitation besitzt, die der Rede wert wäre. Sie treiben durch und über ihre Welt. Bei ihnen herrscht keine Wohnungsnot.“

„Und ein solcher Haufen Superwale soll eine technologische Kultur entwickelt haben?“ staunte Muller. „Hör mal, du willst mir doch nicht etwa erzählen…“

„Doch, das haben sie“, sagte Rawlins. „Ich sagte doch schon, es sind äußerst fremdartige Lebewesen. Sie selbst können keine Maschinen bauen. Aber sie haben Sklaven.“

„Oh“, sagte Muller leise.

„Wir fangen ja gerade erst an, diese Lebensform zu verstehen, und natürlich verfüge ich selbst nur über sehr wenig Insiderinformationen. Aber anscheinend bedienen sich diese Fremdwesen niedrigerer Lebensformen, indem sie sie zu radiogesteuerten Robotern umfunktionieren. Sie arbeiten mit allem, was Glieder hat und sich bewegen kann. Sie haben mit bestimmten Tierarten von ihrer Heimatwelt begonnen, kleinere, delphinartige Wesen, die möglicherweise gerade an der Schwelle zur Intelligenz stehen, und durch deren Hilfe einen Raumantrieb entwickelt. Danach gelangten sie auf ihre Nachbarwelten — Planeten mit festem Land. Dort haben sie Pseudoprimaten, Protoschimpansen oder was auch immer unter ihre Kontrolle gezwungen. Sie suchen nach Wesen mit Fingern. Handwerkliche Geschicklichkeit und Fingerfertigkeit scheinen ihnen viel zu bedeuten. Im Moment erstreckt sich ihre Einflußsphäre über einen Raum von achtzig Lichtjahren und scheint sich unglaublich rasch auszudehnen.“

Muller schüttelte den Kopf. „Das ist ja noch schlimmerer Blödsinn als das Zeugs, das du mir über meine angebliche Heilung erzählt hast. Also, Punkt eins: Radiowellen können sich nur mit einer bestimmten Geschwindigkeit fortbewegen, nicht wahr? Punkt zwei: Wenn sie dann also irgendwelche Zombies aus einer Entfernung von achtzig Lichtjahren dirigieren wollen, dauert es etwa achtzig Jahre, bis der Befehl seinen Empfänger erreicht hat. Und daraus folgt drittens: Jede Muskelbewegung, jede kleinste Tätigkeit…“

„Sie können ihren Heimatplaneten verlassen“, erklärte Rawlins.

„Aber wenn sie doch so riesig sind…“

„Sie haben ihre Sklaven dazu gebracht, für sie Schwerkraftneutralisationstanks zu bauen. Und sie besitzen einen Raumantrieb. Alle ihre Kolonien werden von Aufsehern in Orbitalstationen einige tausend Kilometer über dem jeweiligen Planeten geleitet. In diesen treiben sie dann in einer simulierten Heimatwelt-Umgebung. Für jede Welt brauchen sie nur einen Aufseher, der dort wahrscheinlich im Schichtdienst eingesetzt ist.“

Muller schloß einen Moment die Augen. In Gedanken stellte er sich diese kolossalen, unvorstellbaren Wesen vor, die durch ihre so weit entfernte Galaxis schwebten und Tiere aller Art in ihre Dienste preßten. Wie sie eine Sklavenhaltergesellschaft mit Stellvertretertechnologie entwickelt hatten. Wie sie wie im Raum lebende Superwale im Orbit kreisten und ihre grandiosen, unvergleichlichen Unternehmungen dirigierten und kontrollierten, während sie selbst gleichzeitig unfähig waren, auch nur den kleinsten Handgriff selbst zu tun. Er sah vor seinem geistigen Auge monströse Massen aus glitzerndem, rosafarbenen Protoplasma, frisch glitzernd aus dem Gasozean, wie ein Seeigel mit Empfangsorganen besetzt, die das ganze Spektrum aufnehmen konnten. Wie sie sich mit Röntgenstrahlen unterhielten. Mit Radiowellen Befehle übermittelten. Nein, dachte Muller, nein und nochmals nein.

„Ja und?“ sagte er nach einer langen Pause. „Warum erzählst du mir das? Sie leben in einer anderen Galaxie.“

„Nein, leider nicht mehr. Sie sind auf einige unserer Außenkolonien gestoßen. Weißt du, was sie machen, wenn sie eine Menschenwelt entdecken? Sie setzen eine Orbitalstation mit einem Aufseher darüber und bringen die Kolonisten unter ihre Kontrolle. Sie sind der Ansicht, daß sich aus Menschen hervorragende Sklaven machen lassen, was ja eigentlich nicht überraschen dürfte. Bis zu diesem Augenblick haben sie sechs unserer Welten ihrem Herrschaftsbereich einverleibt. Zeitweise besaßen sie auch eine siebte, aber wir haben den Aufseher vom Himmel geschossen. Seither haben sie einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die uns Gegenschläge erschweren. Sie bringen nämlich einfach unsere Raketen unter ihre Kontrolle — noch während sie auf sie zufliegen — und schicken sie dorthin zurück, wo sie hergekommen sind.“

„Wenn das wieder ein Lügenmärchen ist“, sagte Muller, „dann bringe ich dich um.“

„Ich sage die Wahrheit, das schwöre ich.“

„Wie lange geht das denn schon so?“

„Es begann im letzten Jahr.“

„Und was soll jetzt werden? Marschieren sie einfach durch unsere Milchstraße und machen uns alle zu ihren Sklaven?“

„Boardman glaubt, es gibt eine Chance, uns vor diesem Schicksal zu bewahren.“

„Und die wäre?“

„Die Fremden scheinen nicht wahrzunehmen, daß wir intelligente Lebewesen sind“, sagte Rawlins. „Wir können uns nämlich nicht mit ihnen verständigen. Sie kommunizieren auf einer nonverbalen Ebene, vielleicht mit einem telepathischen System. Wir haben alles eingesetzt, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, haben sie auf jeder Wellenlänge mit Botschaften bombardiert. Aber sie zeigten nicht die kleinste Reaktion. Boardman glaubt nun, wenn wir sie davon überzeugen könnten, daß wir… nun… äh… Seelen haben, sie uns vielleicht in Ruhe lassen würden. Nur Gott allein weiß wohl, was ihn zu diesem Glauben berechtigt. Es handelt sich dabei um eine Art Computervoraussage. Boardman ist der Ansicht, daß diese Aliens über ein kompliziertes Moralschema verfügen. Zwar machen sie ohne zu zögern jedes Tier, das ihnen nützlich erscheint, zum Zombie, aber auf der anderen Seite würden sie keiner wirklich vernunftbegabten Spezies zu nahe treten. Und wenn wir ihnen irgendwie beweisen könnten…“

„Ihnen sind doch sicherlich unsere Städte und unsere Raumfahrt aufgefallen. Beweist das denn nicht unsere Intelligenz?“

„Biber bauen Dämme“, antwortete Rawlins. „Und trotzdem schließen wir mit Bibern keine Verträge. Wir zahlen ihnen auch keine Entschädigungen, wenn wir ihre Sümpfe trockenlegen. Wir sind der Ansicht, daß die Gefühle eines Bibers nicht so viel zählen.“

„Tun wir das? Sind wir so? Oder haben wir nicht einfach nur willkürlich festgelegt, daß auf Biber keine Rücksicht genommen zu werden braucht? Und was soll das Gerede, wir seien vernunftbegabt? Es gibt ein durchlaufendes Intelligenzspektrum, von den Protozoen bis hinauf zu den Primaten. Wir mögen ein wenig cleverer sein als Schimpansen, aber ist das schon ein qualitativer Unterschied? Wird unsere Andersartigkeit schon durch die simple Tatsache, daß wir unser Wissen aufzeichnen, speichern und wieder abrufen können, bewiesen?“

„Ich möchte mich hier nicht auf philosophische Spitzfindigkeiten einlassen“, sagte Rawlins rauh. „Ich versuche nur, die Situation darzulegen… und inwieweit sie dich betrifft.“

„Ja, erzähl mir, was ich damit zu tun habe?“

„Boardman glaubt, diese Radiowesen wirklich dazu bewegen zu können, unsere Galaxis zu verlassen, wenn wir ihnen nur klarmachen können, daß wir ihnen intelligenzmäßig näher stehen als ihren Sklaven. Wenn wir ihnen unsere Gefühle, Bedürfnisse, Ambitionen und Träume nachweisen können.“

„Haben die Juden keine Augen?“ Muller spuckte aus. „Haben die Juden keine Hände, Organe, Träume, Sinne, Leidenschaften, Neigungen? Wenn man uns verletzt, bluten wir dann nicht?“

„Genauso, ja.“

„Wie sollen wir ihnen etwas klarmachen, wenn wir es ihnen nicht mit Worten sagen können?“

„Weißt du das denn immer noch nicht?“ fragte Rawlins.

„Nein. Ich — doch. Ja, großer Gott, ich weiß es.“

„Unter den Milliarden Menschen gibt es einen, der keine Worte braucht, um sich mitzuteilen. Er kann seine innersten Gefühle ausstrahlen. Und auch seine Seele. Wir wissen nicht, auf welcher Frequenz er das tut, aber vielleicht wissen sie es.“

„Ja, klar.“

„Und deshalb wollte Boardman dich dazu bringen, der Menschheit einen weiteren Dienst zu erweisen. Nämlich zu den Aliens zu gehen. Und ihnen zu erlauben, deine Ausstrahlung zu empfangen. Um ihnen zu zeigen, was wir sind, daß wir höher stehen als Tiere.“

„Warum dann das Gerede, mich zur Erde bringen und heilen zu wollen?“

„Ein Trick. Eine Falle. Irgendwie mußten wir dich doch aus dem Labyrinth locken. Sobald du draußen wärst, könnten wir dir die Wahrheit sagen und dich um Hilfe bitten.“

„Und dabei zugeben, daß es keine Aussicht auf Heilung gibt?“

„Ja.“

„Und wie kommt ihr darauf, daß ich auch nur einen Finger rühren würde, um die Menschenwelt vor der Unterjochung zu bewahren?“

„Deine Hilfe müßte nicht unbedingt auf freiwilliger Basis kommen“, sagte Rawlins.

7

Jetzt brach es hervor: der Haß, der Ärger, die Furcht, das Mißtrauen, die Qual, die Folter, der Hohn, der Abscheu, der Zweifel, die Verzweiflung, die böswillige Leidenschaft, der innere Aufruhr, das Leid, die Gewissensbisse, die Seelenqual, der innere Tumult, das innere Feuer. Rawlins fuhr zurück, als würde er versengt. Muller mußte alle Tiefen der Trostlosigkeit durchschwimmen. Ein Trick, ein schmutziger Vorwand, nichts als Lug und Trug! Wieder war er hereingelegt worden. Wieder Boardmans Werkzeug. Muller kochte. Er sprach nur wenige Worte. Der Rest kam aus ihm selbst, verströmte sich aus weit offenstehenden Toren. Nichts wurde zurückgehalten. Ein einziger Strudel der Wut.

Als der wilde Ansturm verebbte, stand Muller nur da, eingekeilt zwischen zwei hervorstehenden Mauern. „Boardman würde mich den Fremden vorwerfen, egal ob ich nun mitmachen wollte oder nicht?“ fragte er.

„Ja. Er sagte, diese Angelegenheit sei zu wichtig, um dir die freie Wahl zu lassen. Deine Wünsche spielen hier keine Rolle mehr. Es sind nur die Wünsche eines einzelnen, die gegen das Schicksal der ganzen Menschheit so gut wie gar kein Gewicht haben.“

Mit eisiger Ruhe sagte Muller: „Du hast also eine Rolle in dieser Verschwörung gespielt. Warum hast du das jetzt alles eigentlich erzählt?“

„Ich habe Boardman gekündigt.“

„Ach ja?“

„Wirklich. Es ist wahr. Sicher, ich habe mitgemacht. Und natürlich habe ich Boardman unterstützt. Jedes Wort, das ich dir erzählte, war gelogen. Aber eines mußt du mir glauben: Ich wußte nichts von diesem letzten Teil der Verschwörung… daß man dir überhaupt keine Wahl lassen wollte. An diesem Punkt konnte ich nicht mehr weiter. Ich konnte es nicht zulassen, daß dir so etwas angetan wird. Deshalb mußte ich dir die Augen öffnen.“

„Sehr rücksichtsvoll. Jetzt habe ich die freie Auswahl, was, Ned? Ich kann mich hier hinausschleppen lassen und für Boardman wieder das willenlose Werkzeug spielen. Oder ich kann mir gleich das Leben nehmen und die Menschheit zur Hölle fahren lassen. Ist es nicht so?“

„Bitte sprich nicht so“, sagte Rawlins gereizt.

„Warum nicht? Welche Wahl bleibt mir denn sonst? Du warst so freundlich, mir die Wahrheit zu erzählen. Deshalb muß ich mich jetzt entscheiden. Du hast mir das Todesurteil überreicht, Ned.“

„Nein.“

„Was bleibt mir denn sonst? Soll ich mich wieder von Boardman benutzen lassen?“

„Du könntest doch… mit Boardman zusammenarbeiten“, sagte Rawlins. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich weiß, es klingt verrückt. Aber du könntest ihm zeigen, aus welchem Holz du geschnitzt bist. Vergiß die Bitterkeit. Zeig dich von deiner guten, von deiner noblen Seite. Denk daran, daß Boardman nicht die ganze Menschheit repräsentiert. Daß es Milliarden unschuldiger Leute gibt…“

„Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

„Ja, und nochmals ja!“

„Jeder einzelne von diesen unschuldigen Milliarden würde schreiend vor mir davonlaufen, wenn ich ihm zu nahe käme.“

„Na und? Dafür könnte er doch nichts! Aber sie sind dein Volk!“

„Und ich gehöre zu ihnen. Aber das schienen sie vergessen zu haben, als sie mich davonjagten.“

„Du führst dich auf wie ein ungezogenes Kind.“

„Nein, das tue ich nicht. Andererseits habe ich auch gar nicht vor, artig zu sein. Angenommen, ich könnte das Schicksal der Menschheit auch nur geringfügig ändern, wenn ich als Botschafter zu diesen Radiowesen ginge — und ich bin ganz und gar nicht überzeugt davon-, dann würde es mir höchste Genugtuung bereiten, meine Aufgabe zu vermasseln. Ich bin dir sehr dankbar für deine Warnung. Jetzt, da ich genau weiß, was hier gespielt wird, habe ich die Entschuldigung, nach der ich so lange gesucht habe. Ich entziehe mich meiner Pflicht. Ich kenne hier weit über tausend Stellen, wo einem ein rascher und wahrscheinlich auch weitgehend schmerzfreier Tod beschert wird. Danach kann Charles Boardman sich höchstpersönlich zu den Fremden bemühen und ihnen was vormachen. Ich jedenfalls…“

„Bitte bleib stehen, Dick“, rief Charles Boardman etwa dreißig Meter hinter ihm.

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