Zwölf

1

Boardman fand die ganze Sache höchst ärgerlich. Aber sie ließ sich nicht vermeiden, und irgendwie überraschte es ihn nicht, daß die Ereignisse einen solchen Verlauf genommen hatten. In seiner ursprünglichen Analyse hatte er zwei Entwicklungen von gleichwertiger Wahrscheinlichkeit vorausgesehen:

1) Rawlins würde es gelingen, Muller aus dem Labyrinth zu locken.

2) Rawlins würde plötzlich nicht mehr mitspielen und Muller die Wahrheit sagen.

Boardman hatte sich auf beide Fälle vorbereitet.

Nun hatte Boardman sich aus Zone F auf den Weg gemacht und war ins Zentrum des Labyrinths vorgestoßen, bevor Rawlins einen nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichtete. Er rechnete mit einer der wahrscheinlichen Reaktionen Mullers: Selbstmord. Muller würde sich nie aus reiner Verzweiflung das Leben nehmen, aber aus Rache wäre es ihm zuzutrauen. Boardman erschien in Begleitung von Ottavio, Davis, Reynolds und Greenfield. Hosteen und die anderen sahen auf den Bildschirmen in den Außenzonen zu. Alle waren bewaffnet.

Muller fuhr herum. Der Ausdruck in seinem Gesicht war nicht leicht zu ertragen.

„Tut mir leid, Dick“, sagte Boardman, „aber wir konnten nicht anders handeln.“

„Sie besitzen überhaupt kein Schamgefühl, was“, sagte Muller.

„Nicht, wenn es um die Erde geht.“

„Das ist mir schon vor langer Zeit klargeworden. Aber ich dachte eigentlich, Sie würden zur menschlichen Rasse gehören, Charles. Ich habe bis jetzt nicht gewußt, wie tief die Abgründe in Ihnen sind.“

„Ich wünschte auch, wir brauchten das alles nicht zu tun, Dick. Aber leider bleibt uns keine andere Wahl. Kommen Sie mit uns.“

„Nein.“

„Sie können sich nicht weigern. Der Junge hat Ihnen erzählt, was auf dem Spiel steht. Wir schulden Ihnen bereits mehr, als wir jemals zurückzahlen können, Dick. Aber treiben Sie unsere Schuld doch noch etwas höher. Bitte.“

„Ich werde Lemnos nicht verlassen. Ich fühle mich der Menschheit in keinster Weise verpflichtet. Und Ihre Arbeit will ich erst recht nicht tun.“

„Dick…“

„Fünfzig Meter nordwestlich von der Stelle, an der ich stehe, befindet sich eine Flammengrube. Ich werde hingehen und mich hineinstürzen. Innerhalb von zehn Sekunden gibt es dann keinen Richard Muller mehr. Ein Unglück wird damit ein anderes austilgen, und die Erde wird nicht schlechter dran sein als vor dem Zeitpunkt, an dem ich meine Spezialfähigkeit erworben habe. Da ihr diese Fähigkeit vorher nicht zu würdigen gewußt habt, sehe ich keinen Grund, warum ich sie euch jetzt nutzbar machen sollte.“

„Wenn Sie sich unbedingt umbringen wollen“, sagte Boardman, „warum warten Sie dann nicht damit noch ein paar Monate?“

„Weil mir nichts daran liegt, jemandem einen Dienst zu erweisen.“

„Das ist kindisch. Eine Schwäche, die ich Ihnen nie zugetraut hätte.“

„Es war kindisch von mir, von den Sternen zu träumen“, sagte Muller. „Ich handele jetzt also nur konsequent. Die Extragalaktiker können Sie als Zwischenmahlzeit einnehmen, Charles, das würde mir nicht das geringste ausmachen. Würde es Ihnen nicht Spaß machen, einmal Sklave zu sein? Irgendwo, im hintersten Winkel Ihres Gehirns wären Sie immer noch Charles Boardman, würden nach Freiheit schreien, während gleichzeitig Radiowellen Ihnen sagen würden, welchen Arm Sie bewegen und welches Bein Sie heben sollen. Ich wünschte, ich könnte lange genug leben, um das mit eigenen Augen zu sehen. Aber ich werde mich nun in die Flammengrube stürzen. Möchten Sie mir Lebewohl sagen? Dann kommen Sie doch näher und umfassen Sie zum Gruß mein Handgelenk. Nehmen Sie noch eine ordentliche Dosis von mir mit. Es wird die letzte sein. Ich befreie Sie danach vom Ekel meiner Person.“ Muller zitterte. Auf seinem Gesicht rann der Schweiß in Strömen. Seine Oberlippe zuckte.

„Kommen Sie wenigstens mit mir in Zone F“, sagte Boardman. „Wir wollen uns dort in Ruhe zusammensetzen und bei einem Glas Brandy die ganze Sache besprechen.“

„Nebeneinander an einem Tisch?“ Muller lachte auf. „Sie würden sich sofort übergeben. Sie könnten es nicht ertragen.“

„Ich will mit Ihnen reden.“

„Ich nicht“, sagte Muller. Er trat schleppend einen Schritt nach Nordwesten vor. Seine große, kräftige Gestalt schien zusammengesunken und verbraucht zu sein. Nichts als straff gespannte Sehnen über einem nachgebenden Gerüst. Er machte noch einen Schritt. Boardman ließ ihn nicht aus den Augen. Ottavio und Davis standen zu seiner Linken. Reynolds und Greenfield auf der anderen Seite, zwischen Muller und der Flammengrube. Ned Rawlins stand allein abseits von den anderen, wirkte wie der letzte Fahrgast an einem vergessenen Bahnhof.

Boardman spürte ein Pochen im Kehlkopf, ein Prickeln und Spannen in den Lenden. Großer Überdruß machte sich in ihm breit und gleichzeitig eine brennende, bohrende Erregung, wie er sie seit seiner Jugend nicht mehr erlebt hatte. Er ließ zu, daß Muller einen dritten Schritt auf den Ort seiner Selbstvernichtung zu machte. Dann schnipste Boardman nur einmal kurz und lässig mit zwei Fingern.

Greenfield und Reynolds sprangen los.

Wie Raubkatzen jagten sie, die die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet hatten, los und packten Muller an den Unterarmen. Boardman sah, wie ihre Gesichter grau anliefen, als Mullers Ausstrahlung sie traf. Muller wand sich, kämpfte, versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Mittlerweile waren Davis und Ottavio zu Hilfe gekommen. In der hereinbrechenden Nacht wirkten sie wie eine Laokoongruppe: Muller wurde halb von den kleineren Männern verdeckt, die sich um ihn wanden und ihn umschlossen, um seinen gespannten, kämpfenden Körper zu bändigen. Mit einem Betäubungsgewehr wäre es leichter gegangen, überlegte Boardman. Aber solche Waffen waren nicht frei von Tücken, besonders, wenn man sie gegen Menschen einsetzte. Herzversagen konnte die Folge sein. Leider hatten sie keinen Defibrillator dabei.

Einen Moment später war Muller auf die Knie gezwungen.

„Entwaffnet ihn“, sagte Boardman.

Während Ottavio und Davis ihn festhielten, wurde er von Reynolds und Greenfield untersucht. Aus einer Tasche zog Greenfield die tödliche kleine Kugel mit dem Fenster. „Das scheint alles zu sein, was er bei sich hat“, erklärte Greenfield.

„Sucht lieber genauer.“

Sie klopften ihn von oben bis unten ab. Muller rührte sich nicht einen Millimeter. Sein Gesicht schien festgefroren, die Augen waren starr geradeaus gerichtet. Seine Haltung und sein Gesichtsausdruck erinnerten an den eines Mannes, der vor dem Schafott kniet. Nach einer Weile sah Greenfield wieder auf. „Nichts“, sagte er.

„In einem meiner linken, oberen Backenzähne ist eine mit Gift angefüllte Hohlkammer angebracht. Ich zähle bis zehn und beiße dann darauf. Danach könnt Ihr zusehen, wie ich vor euren Augen krepiere.“

Greenfield fuhr herum und wollte Mullers Unterkiefer festhalten. „Laßt ihn los“, sagte Boardman. „Er macht nur Spaß.“

„Aber woher sollen wir wissen…“, entfuhr es Greenfield.

„Laßt ihn los. Tretet einen Schritt zurück.“ Boardman gab ihnen ein entsprechendes Zeichen. „Geht auf fünf Meter Distanz. Kommt ihm nicht näher, solange er sich nicht bewegt.“

Sie kamen seiner Anordnung nach; offensichtlich dankbar, der vollen Wirkung seiner Ausstrahlung zu entkommen. Boardman, der fünfzehn Meter von ihm entfernt stand, spürte die Ausläufer des Leids. Er hütete sich, näher heranzutreten.

„Sie können jetzt aufstehen“, sagte Boardman. „Aber versuchen Sie bitte keine Tricks. Ich bedaure das hier sehr, Dick.“

Muller erhob sich. Sein Gesicht war dunkel vor Haß. Aber er sagte kein Wort und rührte sich danach auch nicht.

„Wenn uns keine andere Wahl bleibt“, sagte Boardman, „sprühen wir eine Schaummasse über Sie und tragen Sie aus dem Labyrinth hinaus zum Schiff. Wir werden Sie in keinem Moment von dem Schaum befreien und Sie in diesem Zustand auch den Extragalaktikern präsentieren. Sie sind dann absolut hilflos. Ich würde es verabscheuen, Ihnen so etwas antun zu müssen, Dick. Auf der anderen Seite haben Sie die Möglichkeit, freiwillig mit uns zusammenzuarbeiten. Kommen Sie aus eigenem, freiem Entschluß mit uns zum Schiff. Tun Sie, worum wir Sie bitten. Helfen Sie uns dieses letzte Mal noch.“

„Mögen Ihre Eingeweide verfaulen“, sagte Muller mit unbewegter Stimme. „Mögen Sie tausend Jahre leben, während Würmer Ihren Leib zerfressen. Mögen Sie an Ihrer eigenen Cleverneß ersticken und niemals die Erlösung des Todes finden.“

„Helfen Sie uns — freiwillig!“

„Sprühen Sie mich ein, Charles. Andernfalls bringe ich mich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit um.“

„Mein Gott, muß ich ein Bösewicht sein, was?“ sagte Boardman. „Aber ich will es nicht so schaffen. Kommen Sie freiwillig mit, Dick.“

Muller knurrte nur unwillig.

Boardman seufzte. Er haßte diesen Augenblick. Dann warf er Ottavio einen Blick zu.

„Die Schaummasse“, sagte er.

Rawlins, der bis jetzt wie in Trance dagestanden hatte, erwachte plötzlich zur Aktivität. Er rannte los, riß Reynolds die Waffe aus dem Holster, lief damit zu Muller und drückte sie ihm in die Hand. „Hier“, sagte er rasch. „Jetzt kannst du hier die Befehle geben!“

2

Muller starrte auf die Pistole, als hätte er eine solche Waffe zum ersten Mal gesehen. Aber seine Überraschung dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Er umschloß mit den Fingern den gut in der Hand liegenden Griff und befühlte den Auslöser. Er kannte das Modell. Es hatte sich nur unwesentlich seit der Zeit verändert, als er zum letzten Mal eine solche Pistole in der Hand gehabt hatte. Mit einem raschen Energiestoß konnte er sie alle töten. Oder sich selbst. Er trat zurück, damit sie ihn nicht von hinten überrumpeln konnten. Mit dem Stoßsporn prüfte er die Festigkeit der Wand an seinem Rücken. Das Ergebnis war positiv, und er lehnte sich mit den Schulterblättern an sie. Dann bewegte er die Waffe in einem weiten Halbkreis und bewies damit, daß er jeden einzelnen von ihnen erledigen konnte.

„Stellt euch enger zusammen“, sagte er. „Alle sechs. Einen Meter Abstand zum Nachbarn. Stellt euch in einer Reihe auf und haltet die Hände so, daß ich sie jederzeit sehen kann.“

Er genoß den finsteren, bösen Blick, den Boardman Ned Rawlins zuwarf. Der Junge machte einen verwirrten, unsicheren und zweifelnden Eindruck. Muller wartete geduldig, bis die sechs Männer sich gemäß seinen Anordnungen aufgestellt hatten. Seine eigene Ruhe und Gelassenheit überraschten ihn.

„Sie sehen nicht sehr glücklich aus, Charles“, sagte er. „Wie alt sind Sie jetzt eigentlich, achtzig? Sie möchten sicher gern auch noch die anstehenden siebzig oder achtzig oder gar neunzig Jahre leben, denke ich mir. Sie haben Ihre Karriere von Anfang an geplant und strukturiert. Allerdings ist dort nicht das Ableben auf Lemnos vorgesehen. Bleiben Sie still stehen, Charles. Und stehen Sie gerade. Sie können bei mir nicht auf Mitleid bauen, wenn Sie sich bemühen, alt und klapprig auszusehen. Diesen Trick kenne ich bereits. Sie sind unter dieser Chirurgenmaskerade ebenso gesund wie ich. Wahrscheinlich noch gesünder. Brust raus, Bauch rein, Charles!“

Mit rauher Stimme sagte Boardman: „Wenn Sie sich danach besser fühlen, Dick, dann erschießen Sie mich. Aber danach begeben Sie sich bitte auf das Schiff und tun, was wir von Ihnen verlangen. Ich bin hier nicht mehr so wichtig.“

„Ist das Ihr voller Ernst?“

„Ja.“

„Ich bin fast geneigt, Ihnen zu glauben“, sagte Muller überrascht. „Sie gerissener alter Bastard, Sie wollen mir schon wieder einen Handel aufschwatzen! Bieten Ihr Leben für meine Mitarbeit! Aber wo bleibt das quid pro quo? Mir liegt nicht viel daran, jemanden umzubringen. Es würde mich in keiner Weise befriedigen, Sie niederzuschießen. Den Fluch, unter dem ich stehe, werde ich damit noch lange nicht los.“

„Das Angebot gilt.“

„Abgelehnt“, sagte Muller. „Wenn ich Sie töte, dann nicht als Teil einer Abmachung. Ich hätte viel eher Lust, mich selbst umzubringen. Wissen Sie, ich bin ein Mann von Anstand und Grundsätzen. Vielleicht mit einem etwas labilen Charakter, aber wer wollte mir daraus einen Vorwurf machen? Viel entscheidender sind meine Grundsätze. Und die sehen so aus, daß ich lieber die Waffe gegen mich als auf Sie richten würde. Ich bin derjenige, der leiden muß. Und mit dieser Waffe kann ich dem ein Ende machen.“

„Sie hätten jederzeit in den vergangenen neun Jahren Schluß machen können“, bemerkte Boardman. „Aber Sie sind am Leben geblieben. Sie haben Ihren Grips und Ihre Fähigkeiten konzentriert eingesetzt, um in diesem mörderischen Irrgarten zu überleben.“

„Ja, sicher. Aber das war etwas ganz anderes! Eine eher abstrakte Herausforderung — Mensch gegen Labyrinth. Eine Erprobung meiner Geschicklichkeit. Meines Einfallsreichtums. Aber wenn ich mich jetzt umbringe, mache ich Ihnen einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Ich mache Ihnen eine lange Nase, während die gesamte Menschheit zuschaut. Ich bin unersetzlich, sagen Sie? Welche bessere Möglichkeit sollte es noch geben, der Menschheit mein Leid heimzuzahlen?“

„Wir haben Ihr Leiden zutiefst bedauert“, sagte Boardman.

„Ich kann mir lebhaft vorstellen, welche bitteren Tränen Sie um meinetwillen vergossen haben. Aber nicht mehr. Danach haben Sie mich vor die Hunde gehen lassen. Mich krank und zerstört wie einen Aussätzigen zurückgelassen. Nun aber kommt der Ausgleich dafür. Es ist nicht einfach Selbstmord, was ich begehen werde, sondern ich nehme Rache.“ Muller lächelte. Er stellte seine Waffe auf Feinbündelung und drückte die Mündung an seine Brust. Nur ein kleiner Fingerdruck jetzt. Sein Blick suchte ihre Gesichter ab. Die vier Bewaffneten schienen sich nicht viel aus der Sache zu machen. Rawlins wirkte vom Schock gelähmt. Nur Boardmans Gesicht zeigte Besorgnis und Angst. „Wahrscheinlich sollte ich zuerst Sie töten, Charles. Als kleine Lektion für unseren jungen Freund — der Lohn der Falschheit ist der Tod. Aber nein. Das würde alles verderben. Sie müssen am Leben bleiben, Charles. Damit Sie auf die Erde zurückkehren und dort erzählen können, daß Ihnen die unersetzliche Person durch die Finger geschlüpft ist. Was für ein häßlicher Fleck auf der Weste Ihrer Karriere! Bei der Ausführung des wichtigsten Auftrags versagt zu haben! Ja, haha! Das wäre mir ein außerordentliches Vergnügen. Ich sterbe hier und lasse Ihnen die Scherben zum Aufkehren zurück.“

Sein Finger krümmte sich um den Abzug.

„Jetzt“, sagte er, „alles geht ganz rasch.“

„Nein!“ schrie Boardman. „Um die Liebe zur…“

„Menschheit“, sagte Muller und lachte. Und drückte nicht ab. Sein Arm sank wieder nach unten. Er warf die Waffe Boardman verächtlich zu. Sie landete knapp vor seinen Füßen.

„Schaummasse!“ rief Boardman. „Schnell!“

„Nicht nötig“, sagte Muller. „Ich mache mit.“

3

Rawlins brauchte sehr lange, um alles zu begreifen. Zunächst stand aber ohnehin das Problem an, aus dem Labyrinth hinauszufinden. Selbst mit Muller als Führer war es keine einfache Aufgabe. Wie sie bereits erwartet hatten, war es nicht das gleiche, wenn man von innen kommend an den Fallen vorbei mußte. Vorsichtig führte Muller sie durch Zone E. Mit F kamen sie mittlerweile selbst ganz gut zurecht.

Und nachdem sie ihr Camp abgebaut hatten, drangen sie nach G ein. Rawlins erwartete ständig, daß Muller plötzlich ausbrechen und sich in eine der gefährlichen Fallen stürzen würde. Aber er schien genauso wild darauf zu sein, das Labyrinth lebendig zu verlassen, wie die anderen auch. Boardman schien das seltsamerweise auch zu bemerken, denn obwohl er Muller keinen Moment aus den Augen ließ, ordnete er nicht an, ihn zu fesseln.

Rawlins, der sich bewußt war, in Ungnade gefallen zu sein, hielt sich auf dem weitgehend schweigend durchgeführten Marsch nach draußen von den anderen zurück. Er machte sich nichts mehr vor, seine Karriere war beendet. Er hatte das Leben seiner Gefährten und den Erfolg der ganzen Mission in Gefahr gebracht. Andererseits spürte er, daß er richtig gehandelt hatte. Für jeden Mann kommt einmal der Moment, wo er aufstehen muß gegen das, was er als Unrecht empfindet.

Seine reine moralische Genugtuung über sein Tun wurde jedoch von dem Wissen getrübt, daß er wieder einmal naiv, romantisch und töricht gehandelt hatte. Er konnte es in diesen Stunden nicht ertragen, Boardman ins Gesicht zu sehen. Er dachte mehr als einmal daran, sich einfach in eine Todesfalle der Außenzonen zu stürzen. Aber auch das würde naiv, romantisch und töricht sein.

Er beobachtete Muller, der kräftig voranschritt. Ein großer, stolzer Mann, von dem alle Anspannung gewichen war, der alle Zweifel über Bord geworfen hatte. Und Ned fragte sich tausendmal, warum Muller die Waffe zurückgegeben hatte.

Boardman erklärte es ihm schließlich, als sie auf einem nicht ungefährlichen Platz am Ende von Zone G ihr Nachtlager aufschlugen.

„Sehen Sie mich an“, sagte Boardman. „Was ist denn los mit Ihnen? Warum weichen Sie ständig meinem Blick aus?“

„Spielen Sie nicht mit mir, Charles. Machen Sie es kurz.“

„Was kurz machen?“

„Die Standpauke. Die Bestrafung.“

„Das ist schon in Ordnung, Ned. Sie haben uns geholfen, das zu bekommen, was wir wollten. Warum sollte ich Ihnen da Vorwürfe machen?“

„Aber die Waffe… ich habe ihm die Pistole gegeben…“

„Sie scheinen es immer noch nicht begriffen zu haben, der Zweck heiligt die Mittel. Er kommt mit uns. Muller tut das, was wir von ihm erwarten. Das allein zählt, mehr nicht.“

Stockend fragte Rawlins: „Und wenn er sich erschossen hätte… oder uns?“

„Er hätte weder noch getan.“

„Das können Sie jetzt leicht sagen. Aber in dem Moment, als er die Waffe in der Hand hielt…“

„Nein“, sagte Boardman. „Ich habe Ihnen doch früher schon erklärt, daß wir den Hebel an seinem Ehrgefühl ansetzen wollten. Wir mußten es einfach wecken. Und das haben Sie bewerkstelligt. Es war doch so, hier stand ich, der skrupellose Agent einer brutalen und amoralischen Gesellschaft, nicht wahr? Und ich war und bin die lebende Bestätigung für alle Negativgefühle, die Muller der Menschheit gegenüber hegt. Warum sollte er einem Rudel Wölfe helfen? Und dort stehen Sie, ein junger und unschuldiger Mann, voller Hoffnungen und Träume. Sie erinnerten und erinnern ihn an die Menschheit, für die er einmal gearbeitet hat, bevor der Zynismus ihn befiel. Auf Ihre ungeschickte Art versuchen Sie, in einer Welt moralisch zu sein, in der Moral und Wohlwollen ihren Wert verloren haben. Sie demonstrieren Sympathie, Liebe für den Nächsten und den Willen, um der Gerechtigkeit willen sich selbst hintanzustellen. Sie beweisen Muller, daß er immer noch Hoffnung in die Menschheit haben kann. Verstehen Sie? Sie leisten mir Widerstand, indem Sie ihm eine Waffe geben und damit den Spieß umdrehen. Er konnte in jenem Moment das tun, was wir als naheliegend angesehen hätten und uns niederschießen. Er konnte etwas nicht ganz so Naheliegendes tun und sich selbst umbringen. Oder er konnte Ihrer Geste auf gleicher Ebene begegnen und selbst etwas Ehrenvolles tun, nämlich sich aus freien Stücken mit uns zusammentun und so seinen wiedererwachten Sinn für die Überlegenheit des moralisch Handelnden demonstrieren. Und er hat sich für letzteres entschieden. Er warf die Pistole fort. Und Sie waren der Auslöser dazu. Sie waren der Hebel, über den wir ihn gewonnen haben.“

„Aus Ihrem Mund klingt es so häßlich, Charles. Als wenn Sie das selbst vorausgeplant hätten. Als ob Sie mich vorsätzlich so weit gebracht hätten, ihm eine Waffe zu geben, weil Sie genau wußten…“

Boardman lächelte nur.

„Haben Sie das wirklich?“ fragte Rawlins plötzlich. „Nein, selbst Sie hätten solche Wendungen und Überraschungen nicht vorausberechnen können. Jetzt, wo alles so gekommen ist, versuchen Sie einfach, sich als denjenigen hinzustellen, der im Hintergrund die Fäden gezogen hat. Aber ich habe Sie in dem Augenblick beobachtet, als ich Muller die Waffe gab. Angst stand unübersehbar in Ihrem Gesicht geschrieben, und Wut. Sie waren sich überhaupt nicht sicher, was Muller danach tun würde. Erst nachdem sich alles zum Guten gewendet hatte, konnten Sie sich hinstellen und behaupten, es sei alles gemäß Ihrem Plan verlaufen. Ich durchschaue Sie, Charles!“

„Wie amüsant, so durchschaubar zu sein“, sagte Boardman lächelnd.

4

Das Labyrinth schien kein Interesse mehr daran zu haben, sie zu vernichten. Behutsam schlugen sie sich nach draußen durch, gerieten dabei aber nur selten in Gefahr. Bald konnten sie das Schiff besteigen.

Muller wurde eine Kabine im vorderen Teil des Schiffes gegeben, ein gutes Stück von den Mannschaftsquartieren entfernt. Er schien einzusehen, daß diese Maßnahme unumgänglich war, und zeigte sich in keiner Weise verletzt oder beleidigt. Muller zog sich zurück und zeigte sich wortkarg und in sich gekehrt. Oft stand ein ironisches Lächeln auf seinen Lippen, und ein Funke des Zweifels ließ sich in seinen Augen ausmachen. Aber er zeigte sich bei allen Anordnungen willig und machte nie Schwierigkeiten. Er hatte seine Zeit bekommen, in der er seine Überlegenheit hatte ausspielen können. Jetzt, danach, ordnete er sich den Menschen unter.

Hosteen und seine Männer kümmerten sich geschäftig um die Startvorbereitungen. Muller blieb währenddessen in seiner Kabine. Boardman besuchte ihn, allein und unbewaffnet. Er konnte nun auch großzügig und hochherzig sein.

Sie saßen sich an einem niedrigen Tisch gegenüber. Muller wartete schweigend. Keine Gefühlsregung ließ sich auf seinem Gesicht erkennen. Nach einer langen Weile sagte Boardman: „Ich bin Ihnen dankbar, Dick.“

„Sparen Sie sich das.“

„Ich kann es nicht ändern, wenn Sie mich verachten. Ich habe nur das getan, was ich tun mußte. Ebenso wie der Junge. Und ebenso wie nun auch Sie. Denn selbst Sie konnten die Tatsache nicht verdrängen, ein Erdmensch zu sein.“

„Ich wünschte, ich hätte es gekonnt.“

„Sagen Sie so etwas nicht. Das ist nichts als billiger Zynismus, Dick, mit dem Sie es sich zu einfach machen. Es ist nicht so einfach, sich im Universum zurechtzufinden. Wir können uns nur so weit wie möglich anstrengen. Alles andere wird darüber unwichtig.“

Er saß Muller recht nahe. Die Ausstrahlung traf ihn wie eine Breitseite, aber er hatte sich fest vorgenommen, nicht vor ihr zu weichen. Die Woge der Hoffnungslosigkeit, die auf ihn einströmte, gab ihm das Gefühl, tausend Jahre alt zu sein. Der Zerfall des Körpers, das Verwesen der Seele, der Wärmetod des Universums… das Kommen des Winters… Leere… Asche…

„Sobald wir die Erde erreicht haben“, erklärte Boardman entschieden, „bekommen Sie von mir alle wichtigen Einzelheiten. Danach werden Sie über die Radiowesen genauso viel wissen wie wir auch, was nicht allzuviel ist. Danach sind Sie ganz auf sich gestellt. Aber ich glaube, Sie werden sich ständig bewußt sein, die Herzen und Seelen von Milliarden Erdmenschen für den Erfolg Ihrer Mission und Ihr persönliches Wohlbefinden hinter sich zu haben.“

„Wer wird jetzt billig?“ bemerkte Muller.

„Gibt es jemanden, den ich für Sie zum Landeplatz bestellen soll?“

„Nein.“

„Ich kann alles veranlassen. Es gibt immer noch Personen, die nie aufgehört haben, Sie zu lieben, Dick. Sie werden sofort kommen, wenn ich sie darum bitte.“

„Mir entgehen die Anzeichen der Belastung in Ihren Augen nicht, Charles. Sie spüren meine Ausstrahlung überdeutlich. Sie droht, Sie zu zerreißen. Und Sie spüren sie überall: in den Eingeweiden, im Kopf, direkt hinter der Stirn und tief in der Brust. Ihr Gesicht ist grau angelaufen. Ihre Wangen sind eingefallen. Aber Sie bleiben hier sitzen, bis Sie tot umfallen, nicht wahr, denn das ist Ihr Stil. Obwohl Sie die Hölle durchmachen müssen. Falls es wirklich auf der Erde jemand geben sollte, der nie aufgehört hat, mich zu lieben, dann wäre es von meiner Seite das beste, ihm das Leid meiner Anwesenheit zu ersparen. Ich will niemanden sehen. Ich will mit niemandem reden.“

„Wie Sie wünschen“, sagte Boardman. Dicke Schweißperlen hingen an seinen buschigen Augenbrauen und tropften langsam auf die Wangen hinab. „Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung, wenn wir uns in der Nähe der Erde befinden.“

„Ich will nie mehr in die Nähe der Erde kommen“, sagte Muller.

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