Ich habe keine Lust, die eintönigen Ereignisse der folgenden schweren Tage zu schildern, die Wula und ich damit zubrachten, durch das Glaslabyrinth, durch dunkle, verzweigte Korridore unter dem Tal Dor und den Goldenen Klippen zu wandern, um schließlich auf einer Flanke der Berge von Otz über dem Tal der Verlorenen Seelen wieder herauszukommen. Dieses erbarmenswürdige Tal der Verlorenen Seelen ist das schreckliche Fegefeuer jener armen Unglücklichen, die es nicht wagen, ihre Pilgerfahrt in das Tal Dor fortzusetzen, noch weniger aber in ihre Heimat in der Außenwelt zurückzukehren, aus der sie kamen.
Die Spur von Dejah Thoris’ Entführern folgte im wesentlichen dem Fuß der Berge, führte über steile, zerklüftete Rinnen und abweisende Hänge, manchmal auch in das Tal hinaus, wo die Mitglieder der verschiedenen Stämme, welche dieses Tal der Hoffnungslosigkeit bevölkern, in dauerndem Streit liegen.
Schließlich kamen wir zu einer Stelle, wo der Weg in eine enge Schlucht führte, die mit jedem Schritt steiler und ungangbarer wurde, und dann drohte plötzlich vor uns eine mächtige Festung, die unter einer überhängenden Felswand eingebaut war.
Hier befand sich das geheime Versteck von Matai Shang, dem Vater der Therns. Hier war er von einer Handvoll treuer Anhänger des alten Glaubens umgeben, die Millionen von Vasallen und abhängigen Gläubigen eines halben Dutzends von Nationen auf Barsoom gehabt hatten und heute noch da und dort kleine Häuflein von Anhängern mit geistlichem Rat und dem Wort jener Religion versorgten, die sich inzwischen ja als falsch und trügerisch herausgestellt hatte. Die Dämmerung begann eben, als wir vor den eindrucksvollen, undurchdringlich erscheinenden Mauern dieser Bergfestung standen, und damit wir nicht gesehen werden konnten, zog ich mich mit Wula hinter einen granitenen Felsvorsprung zurück in ein Gebüsch aus purpurfarbenen harten Dornensträuchern, die auf den unfruchtbarsten Plätzen der Berge von Otz wachsen.
Hier blieben wir liegen, bis die kurze Dämmerung endgültig zur Dunkelheit geworden war; dann kroch ich heraus, um mich der Festung auf der Suche nach einem Eingang zu nähern.
Das dreifach gesicherte Tor stand weit offen, sei es nun infolge einer Nachlässigkeit oder eines allzu großen Vertrauens in die Unzugänglichkeit des Verstecks. Hinter dem Tor befand sich eine Handvoll Wachen, aber die Männer lachten und unterhielten sich über eines ihrer mir unverständlichen barsoomischen Spiele.
Ich sah, daß keiner der Wächter zu der Gruppe gehört hatte, die mit Thurid und Matai Shang gereist waren. Ich verließ mich also auf meine Verkleidung und ging frech und unerschrocken durch das Tor und zum nächsten Thernwächter.
Die Männer unterbrachen ihr Spiel und sahen mich an, aber keiner schien Verdacht zu schöpfen. Und dann musterten sie Wula, der zu meinen Füßen knurrte.
»Kaor!« sagte ich den Marsgruß, und die Krieger erhoben sich und salutierten. »Ich habe eben meinen Weg von den Goldenen Klippen hierher gefunden und suche eine Audienz beim Hekator Matai Shang, Vater der Therns. Wo kann ich ihn finden?«
»Folge mir«, sagte einer der Wächter, wandte sich um und führte mich quer über den äußeren Hof zu einer zweiten mit Streben gestützten Felsmauer.
Ich weiß nicht, weshalb mir die Leichtigkeit, mit der ich die Leute zu täuschen verstand, kein Mißtrauen einflößte und kann mir nur denken, daß der flüchtige Anblick meiner geliebten Prinzessin meine Gedanken so sehr beschäftigte, daß in mir für nichts anderes mehr Raum blieb.
Mag es sein, wie es will, es ist jedenfalls Tatsache, daß ich offenen Auges hinter meinem Führer drein in den Rachen des Todes marschierte.
Später erfuhr ich dann, daß Thern-Spione meine Ankunft schon Stunden vorher gemeldet hatten, ehe ich die Mauern der Festung auch nur sah.
Das Tor hatte man absichtlich offen gelassen, um mich hineinzulocken, und die Wächter hatten ganz genaue Anweisung erhalten; und ich rannte nicht wie ein erfahrener Kämpfer, sondern eher wie ein kleiner Schuljunge prompt in die vorbereitete Falle.
Vom äußeren Hof führte eine schmale Tür durch die Felsmauer; hier zog mein Führer einen Schlüssel und öffnete sie. Dann trat er zurück und bedeutete mir, ich solle weitergehen.
»Matai Shang befindet sich im dahinterliegenden Tempelhof«, sagte er, und dann schloß er, als ich mit Wula durchgegangen war, schnell die Tür hinter uns.
Das häßliche Gelächter, das ich durch die Türplanken hörte, nachdem das Schloß eingeklickt war, überzeugte mich natürlich sofort davon, daß lange nicht alles so war, wie es hätte sein sollen. Ich befand mich in einer kleinen runden Kammer innerhalb der zweiten Mauer. Vor mir öffnete sich eine Tür, die vermutlich in den inneren Tempelhof führte. Ich zögerte erst, denn nun war mein Mißtrauen erwacht, aber dann zuckte ich die Achseln, öffnete die Tür und trat in den gleißenden Schein von Fackeln hinaus, die den inneren Hof erhellten.
Direkt mir gegenüber erhob sich ein massiver Turm zu einer Höhe von mindestens dreihundert Fuß. Er war von der merkwürdig schönen modernen Architektur auf Barsoom, und die gesamte Oberfläche war mit handgearbeiteten Reliefs in sehr fantasievollen und komplizierten Mustern geschmückt. Dreißig Fuß über dem Hof befand sich ein breiter Balkon, und dort entdeckte ich doch wahrhaftig Matai Shang. Bei ihm waren Thurid, Phaidor, Thuvia und Dejah Thoris, und die beiden letzteren waren mit schweren Ketten gefesselt Hinter der kleinen Gruppe entdeckte ich eine Handvoll Thernkrieger.
Als ich den Hof betrat, lagen die Augen derer auf dem Balkon voll auf mir.
Ein häßliches Lächeln verzerrte den grausamen Mund von Matai Shang, und Thurid machte eine höhnische Geste und legte eine Hand auf die Schulter meiner Prinzessin. Dejah Thoris wirbelte jedoch wie eine Tigerin herum und versetzte dem widerlichen Burschen einen schweren Schlag mit den Fesseln an ihren Handgelenken. Er hätte sicher zurückgeschlagen, wäre Matai Shang nicht dazwischengetreten, und dann entdeckte ich auch sofort, daß diese beiden Männer nicht übermäßig freundlich zueinander waren. Der Thern benahm sich arrogant und herrschsüchtig, als wolle er damit klarmachen, daß die Prinzessin von Helium das persönliche Eigentum des Vaters der Therns war; Thurid hingegen ließ in seinem Benehmen gegenüber dem alten Hekator jeden Respekt und jede freundschaftliche Regung vermissen.
Als sich der Aufruhr auf dem Balkon gelegt hatte, wandte sich Matai Shang wieder zu mir.
»Erdenmann«, schrie er, »du hast einen viel unwürdigeren Tod verdient als den, den nun über dich zu verhängen in meiner geschwächten Macht liegt. Aber der Tod, den du heute noch sterben wirst, ist doppelt bitter, wenn du weißt, daß nach deinem Tod deine Witwe die Gattin von Matai Shang, Hekator der Heiligen Therns werden wird – für die Dauer eines Marsjahres.
Am Ende dieser Zeit wird sie, wie du ja weißt, unseren Gesetzen ent-, sprechend weggeschickt, aber nicht, wie es üblich ist, um ein ruhiges, würdiges und geehrtes Leben als Hohepriesterin eines verehrungswürdigen Schreins zu führen. Dejah Thoris, Prinzessin von Helium, soll ein Spielzeug meiner Leutnants werden, vielleicht deines bestgehaßten Feindes, des schwarzen Prinzen Thurid.«
Er hörte zu sprechen auf und schien auf einen Wutausbruch von mir zu warten, jedenfalls auf etwas, das seiner Rache noch eine gewisse Würze verliehen hätte. Diese Befriedigung, nach der er hungerte, gewährte ich ihm jedoch nicht.
Statt dessen tat ich etwas ganz anderes, das seinen Zorn erregen und seinen Haß auf mich noch vergrößern mußte, denn wenn ich starb, fand auch Dejah Thoris einen Weg, ihrem Leben ein Ende zu setzen, ehe man sie weiteren Qualen und Entwürdigungen aussetzen konnte; dessen war ich gewiß.
Von all den für heilig gehaltenen Dingen, die ein Thern verehrt und geradezu anbetet, ist das allerheiligste die gelbe Perücke, die den Kahlkopf bedeckt; als nächstes in der Reihe folgt das große Diadem, dessen schillernde Strahlen die Ehre des Zehnten Kreises verkünden. Da ich das wußte, nahm ich Perücke und Diadem von meinem Kopf und warf beides achtlos auf die Pflastersteine des Hofes. Dann wischte ich mir die Füße an den goldenen Locken ab, und als ein Stöhnen der Wut vom Balkon zu hören war, spuckte ich sie auch noch tüchtig an.
Matai Shang raste vor Zorn, aber Thurid lächelte amüsiert, denn für ihn waren diese Dinge ja nicht heilig. Und damit er sich noch mehr amüsieren konnte, schrie ich hinauf: »Und so habe ich es mit der heiligen Issus, der Göttin des Ewigen Lebens gemacht, denn ich warf Issus persönlich dem Mob vor, der sie einmal angebetet hatte, um sie in ihrem eigenen Tempel in Stücke reißen zu lassen.«
Jetzt grinste Thurid aber nicht mehr, denn er war ja einer der größten Verehrer der Issus und einmal einer ihrer Günstlinge gewesen. »Dieser Blasphemie muß ein Ende gemacht werden!« schrie er und wandte sich zum Vater der Therns um.
Matai Shang erhob sich und lehnte sich über den Balkonrand; dann tat er jenen seltsamen Schrei, den ich von den Lippen des Priesters auf dem winzigen Balkon in den Goldenen Klippen über dem Tal Dor gehört hatte, mit dem dieser die fürchterlichen weißen Affen und die grausamen Baummänner rief, damit sie mit den Opfern, die den geheimnisvollen Iss herabtrieben zu den kadaververseuchten Wassern der Verlorenen See von Korus, ihr Fest feiern konnten. »Laßt den Tod frei!« schrie er, und sofort sprangen unten im Turm ein Dutzend Türen auf, durch die furchtbare Banths in die Arena sprangen.
Es war nicht das erste Mal, daß ich die wilden Löwen von Barsoom sah, aber niemals hatte ich ihnen noch als einzelner Mann gegen ein volles Dutzend gegenübergestanden. Selbst Wulas tatkräftige Hilfe ließ am Ausgang dieses Kampfes keinen Zweifel aufkommen. Nur einen Augenblick lang zögerten die Bestien und blinzelten in den grellen Lichtschein der Fackeln, aber als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, fielen sie auf Wula und mich, und sofort stellten sich ihnen die Mähnenhaare auf. Sie knurrten tief in der Kehle, peitschten ihre gelben Flanken mit ihren mächtigen Schwänzen und kamen langsam auf uns zu.
In dieser letzten Minute meines Lebens warf ich einen allerletzten abschiednehmenden Blick zu meiner Dejah Thoris hinauf. Ihr schönes Gesicht drückte unendliches Entsetzen aus. Als mein Blick sich mit dem ihren traf, streckte sie beide Arme nach mir aus und versuchte sich vom Balkon hinunterzustürzen, um den Tod mit mir zu teilen, aber die Wächter hielten sie fest. Als die Banths dann schon ganz nahe waren, wandte sie sich um und begrub ihr Gesicht in den Armen. Plötzlich erregte Thuvia von Ptarth meine Aufmerksamkeit. Das schöne Mädchen lehnte sich weit über das Balkongitter hinaus, und ihre Augen glänzten vor Erregung.
Noch ein Moment, und die Banths mußten über mir sein, aber ich konnte meinen Blick noch immer nicht von dem Roten Mädchen abwenden; ich wußte, daß ihre Miene alles andere ausdrückte als Freude an der grimmigen Tragödie, die sich bald unter ihr abspielen mußte. Ich vermochte jedoch nicht zu enträtseln, was hinter der schönen Stirn vorging.
Ganz kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich auf meine irdischen Muskeln zu verlassen, mit einem gewaltigen Satz den Banths zu entkommen und den Balkon zu erreichen, und das hätte ich auch leicht tun können, nur hätte ich damit meinen treuen Wula verlassen, damit er von den grausamen Fängen der Tiere einsam starb; das tut man auf Barsoom nicht, und ein John Carter hätte das sowieso niemals über sein Herz gebracht. •
Doch dann wurde mir mit einemmal klar, weshalb Thuvia so erregt war. Sie gab ein leises Schnurren von sich, das ich schon früher einmal gehört hatte; es war damals, als sie in den Gefängnissen der Goldenen Klippen die schrecklichen Banths zu sich rief und sie wie eine Herde zahmer, williger Schäflein führte.
Beim ersten beruhigenden Schnurren blieben die Banths mitten im Schritt stehen, und alle wilden Häupter hoben sich, um die Quelle des vertrauten Lautes zu finden. Dann entdeckten sie das Rote Mädchen oben auf dem Balkon und röhrten ihr Erkennen und ihren Gruß hinauf.
Wächter sprangen auf, um Thuvia wegzuschleifen, aber ehe es ihnen gelang, hatte sie schon den lauschenden wilden Tieren eine ganze Reihe von Gedankenbefehlen zugeschickt, und ein Banth nach dem anderen drehte sich um und marschierte friedlich in die Zwinger zurück.
»Du brauchst sie jetzt nicht mehr zu fürchten, John Carter!« rief Thuvia zu mir herunter, ehe die Wächter sie zum Schweigen bringen konnten. »Diese Banths werden weder dir noch Wula mehr etwas antun!«
Das genügte mir im Augenblick, und jetzt konnte mich nichts mehr von dem Sprung zum Balkon hinauf abhalten. Ich nahm einen kurzen Anlauf und tat einen Satz, der mich so hoch in die Luft schnellte, daß ich den untersten Sims erreichen konnte.
Im nächsten Moment war alles eine wilde Konfusion. Matai Shang zog sich erschreckt zurück. Thurid sprang mir mit gezücktem Schwert entgegen, um mich hinunterzustoßen. Wieder schwang Dejah Thoris ihre schweren Fesseln und schlug ihn zurück. Dann griff Matai Shang um ihre Taille und zerrte sie durch eine Tür zurück in den Turm.
Thurid zögerte einen Augenblick, doch da er zu fürchten schien, daß der Vater der Therns ihm mit der Prinzessin von Helium entwischen könnte, folgte er ihm mit einem Sprung durch die Tür in den Turm hinein.
Nur Phaidor behielt klaren Kopf. Sie befahl zweien der Wächter, Thuvia von Ptarth wegzuführen; die anderen mußten bleiben und mich daran hindern, in den Turm einzudringen. Dann wandte sie sich an mich.
»John Carter«, schrie sie, »ich biete dir zum letztenmal die Liebe von Phaidor, der Tochter des Heiligen Hekator an. Nimm mein Angebot an, und deine Prinzessin wird an den Hof ihres Großvaters zurückkehren, während du in Frieden und Glück leben wirst. Weigerst du dich, dann wird sich das Schicksal, das mein Vater deiner Dejah Thoris angedroht hat, erfüllen.
Du kannst sie jetzt nicht mehr retten, denn jetzt werden sie schon einen Ort erreicht haben, an den nicht einmal du ihnen folgen kannst. Weigere dich nur – dann kann nichts dich mehr retten. Man hat dir den Weg zur letzten Festung der Heiligen Therns leicht gemacht, jenen Weg, der sonst unmöglich gewesen wäre. Was sagst du nun?«
»Du kennst meine Antwort!« erwiderte ich. »Und du kanntest sie, Phaidor, ehe du selbst zu sprechen begannst. Geht mir aus dem Weg!« schrie ich die Wachen an. »Weg frei für John Carter, Prinz von Helium! Ich will vorbei!«
Damit sprang ich über das niedere Balkongeländer und stand mit gezogenem Schwert meinen Widersachern gegenüber. Es waren drei. Aber Phaidor muß gewußt haben, wie dieser Kampf ausgehen würde, denn sie wandte sich um und floh vom Balkon noch in dem Augenblick, da sie sah, daß ich ihre Vorschläge und Anträge niemals annehmen würde.
Die drei Wächter warteten nicht auf meinen Angriff, sondern drangen alle zusammen und gleichzeitig auf mich ein. Gerade das wurde für mich zum Vorteil, denn auf dem schmalen Balkon liefen sie einander ständig im Weg herum, so daß schließlich der vorderste beim ersten Streich direkt in meine Klinge rannte.
Der erste rote Fleck auf meiner Schwertspitze erweckte in mir wieder die alte Blutlust, die in meiner Kämpferbrust immer nur für kurze Zeit schlummerte. Meine Klinge durchschnitt die Luft mit solcher Schnelligkeit und tödlicher Genauigkeit, daß die zwei restlichen Therns ganz wild vor Verzweiflung wurden.
Als meine Schwertspitze das Herz des einen fand und es durchbohrte, floh der andere. Ich vermutete, daß er den anderen, die ich suchte, folgen würde und ließ ihm soviel Vorsprung, daß er wenigstens hoffen konnte, meinem Schwert glücklich entronnen zu sein.
Er raste durch etliche innere Kammern, bis er zu einem Spiralweg kam. Den rannte er hinauf, und ich folgte ihm. Am oberen Ende standen wir schließlich in einer kleinen Kammer, in deren Wänden sich nur ein einziges Fenster befand, von dem aus man die Hänge von Otz und dahinter das Tal der Verlorenen Seelen überblicken konnte.
Hier zerrte der Bursche heftig an etwas, das wie eine blanke Wand gegenüber dem Fenster aussah, aber ich vermutete natürlich sofort, daß dies ein geheimer Ausgang dieses Raumes sein mußte. Deshalb blieb ich stehen, um dem anderen zu ermöglichen, die Tür in der Wand zu öffnen, denn mir lag nichts daran, den armen Teufel ums Leben zu bringen. Ich wollte nur meiner geliebten Dejah Thoris, meiner lange verlorenen Prinzessin auf der Spur bleiben, um sie endlich finden zu können.
Leider bewegte sich die Wand nicht, so sehr er auch dagegen schlug und daran zu rütteln versuchte. Er gab seine Versuche also auf und drehte sich zu mir um.
»Geh deiner Wege, Thern«, sagte ich zu ihm und deutete auf den Zugang zu jenem Spiralweg, den wir eben gekommen waren. »Mit dir habe ich keinen Streit, und dein Leben interessiert mich nicht. Also geh!«
Zur Antwort sprang er mich mit seinem Schwert so unvermittelt an, daß ich um ein Haar zu Boden gegangen wäre. Ich mußte ihm also das verpassen, worauf er es offensichtlich angelegt hatte, und das so schnell wie möglich, damit ich bei der Verfolgung von Matai Shang und Thurid nicht zu lange aufgehalten wurde, die sowieso mit Dejah Thoris und Thuvia von Ptarth schon ein gutes Stück vor mir sein mußten.
Dieser Mann war ein ausgezeichneter Schwertkämpfer und kannte jeden fairen und faulen Trick. Von einem Ehrenkodex schien er noch nie etwas gehört zu haben, denn wiederholt verstieß er gegen eine ganze Anzahl von Kampfregeln, gegen die man auf Barsoom ganz einfach nicht verstoßen darf, und ein ehrenhafter Mann würde lieber untergehen, als sich gegen solche Regeln versündigen.
Er ging sogar so weit, daß er seine heilige Perücke von seinem Glatzkopf riß und sie mir ins Gesicht warf, so daß ich für einen Augenblick geblendet war und er gegen meine ungeschützte Brust einen Stoß führen konnte.
Allerdings war ich dann nicht mehr da, wohin er stieß, denn ich hatte schon vorher mit Therns gekämpft. Daher wußte ich auch, daß sie die unfairsten und am wenigsten ehrenhaften Kämpfer von ganz Barsoom waren, und das war auch der Grund dafür, daß ich mich, wenn ich mit einem von ihnen kämpfte, aller ehrlichen Finten bediente und ungeheuer wachsam war.
Und natürlich war ich auch jetzt wieder auf alle möglichen Teufeleien gefaßt.
Schließlich übertrieb er allzu sehr, denn er zog sein Kurzschwert, warf es mir wie einen Speer entgegen und drang gleichzeitig mit seinem Langschwert auf mich ein. Doch mein kreisendes Schwert fing die fliegende Waffe ab und schmetterte sie klirrend an die Wand. Dann wich ich dem neuen Ansturm meines Gegners seitlich aus, so daß er an mir mit vollem Schwung vorbeisauste, und diese Gelegenheit kam mir gerade recht, um ihm meine Schwertspitze in den Magen zu bohren. Bis zum Griff steckte mein Schwert in seinem Körper. Er tat noch einen entsetzlichen Schrei und sank dann tot zu Boden.
Ich nahm mir nur die Zeit, mein Schwert aus dem toten Gegner zu ziehen, und dann war ich auch schon an der blanken Wand, wo mein verblichener Feind immer durchzugehen versucht hatte. Hier suchte ich nach einem geheimen Schloß, leider vergeblich.
Ich probierte es auch mit Gewalt, doch das war ebenso umsonst, weil der massive Stein nicht nachgab. Mir war, als lache er mich aus wegen meiner vergeblichen Bemühungen, und ich hätte sogar schwören mögen, daß ich ein leises, spöttisches Lachen von jenseits dieser Mauern vernahm.
Verärgert ließ ich von der Wand ab und trat an das Fenster. Die Hänge der Berge von Otz und das dahinterliegende Tal der Verlorenen Seelen war nicht interessant für mich, aber die mit Reliefen geschmückte Turmmauer erweckte meine Aufmerksamkeit.
Irgendwo in diesen massiven Steinen wurde Dejah Thoris gefangen gehalten. Über mir sah ich Fenster. Vielleicht konnte ich auf diesem Weg zu ihr gelangen. Das Risiko war natürlich groß, aber wenn es um das Schicksal der wundervollsten Frau einer ganzen Welt geht, wird jedes Risiko klein.
Ich schaute hinunter. Ungefähr dreißig Meter unter mir lagen zerklüftete Granitfelsen am Rand einer ungeheuer tiefen, schrecklichen Schlucht, aus welcher der Turm aufstieg. Und wenn ich nicht auf den Granitfelsen zu Tode kam, dann bestimmt in dieser dunklen Schlucht, wenn mein Fuß auch nur einmal rutschte oder meine Finger ihren Halt nur für den Bruchteil einer Sekunde verloren.
Da es keinen anderen Weg gab, zuckte ich die Achseln und stieg auf das äußere Fensterbrett hinaus – zugegeben, mit einem ziemlichen Schaudern –, um meinen gefährlichen Aufstieg zu beginnen. Zu meiner Enttäuschung stellte ich fest, daß diese Reliefs im Unterschied zu denen von Helium recht abgerundete Kanten hatten, so daß praktisch ein jeder Griff bestenfalls ziemlich fragwürdig war. Zwanzig Meter über mir begann eine Reihe von vorstehenden zylindrischen Steinen, die einen Durchmesser von etwa Handbreite hatten. Sie umgaben den Turm in einem Abstand von etwa einem Meter in Bändern, die wiederum einen Meter voneinander entfernt waren. Da jeder Steinzylinder fast eine Handbreite über die übrigen Ornamente hinausragte, hatte ich eine recht praktische Außentreppe, sobald ich die unterste Reihe erreicht hatte.
Über einige Fenster kletterte ich mühselig hinauf, denn ich hoffte immer noch, daß eines offen sein könnte, damit ich leichteren Zugang zum Turminnern fände, denn damit hätte ich mindestens viel Zeit gespart.
Manchmal war mein Halt an den runden Reliefs so fragwürdig, daß ein Niesen oder Husten genügt hätte, mich in die Tiefe zu wirbeln. Aber endlich erreichte ich doch einen Punkt, von dem aus meine Finger nach einem Fensterbrett greifen konnten, und ich tat schon einen Seufzer der Erleichterung, als ich von über mir durch ein offenes Fenster Stimmen hörte.
»Das Geheimnis dieses Schlosses kann er niemals lösen.« Das war Matai Shangs Stimme. »Wir wollen zum Hangar nach oben weitergehen, so daß wir schon längst weit im Süden sind, bis er eine andere Möglichkeit findet, falls das überhaupt zu erwarten ist.«
»Für diesen üblen Kalot scheint alles möglich zu sein«, erwiderte eine andere Stimme, die ich als die Thurids erkannte.
»Dann wollen wir uns beeilen«, drängte Matai Shang. »Um doppelt sicher zu gehen, lassen wir aber zwei Wachen hier, die den Spiralweg beobachten. Später können sie uns dann mit einem anderen Flieger folgen und uns in Kaol einholen.«
Meine Finger erreichten diesen Fenstersims niemals. Als ich diese Stimmen hörte, zog ich meine Hand zurück, drückte mich ganz flach an die Turmmauer und wagte kaum zu atmen.
Welch eine entsetzliche Lage! Und wenn mich Thurid hier entdeckte... Er brauchte sich nur aus dem Fenster zu beugen und mich mit der Schwertspitze anzutippen, dann flog ich auch schon in die Tiefe. Dann waren aber die Stimmen nur noch schwächer zu vernehmen, und ich setzte meinen gefahrvollen Aufstieg fort; er war jetzt noch schwieriger und riskanter als vorher, denn ich mußte ja die Fenster umgehen.
Matai Shangs Erwähnung des Hangars und des Fliegers hatte also zu bedeuten, daß mein Ziel das Dach des Turmes war, und dort hinauf schaute ich nun.
Endlich hatte ich dann doch den gefährlichsten und zeitraubendsten Teil der Reise hinter mir, und mit einiger Erleichterung legte ich die Hand auf einen Steinzapfen der untersten Reihe.
Sie standen natürlich sehr weit auseinander, und auch das letzte Stück meiner Kletterei war nicht gerade eine sichere Sache, wenn ich auch immer wieder einigermaßen Halt fand für meine Füße, aber im Fall einer Gefahr konnte ich mich immerhin an diesen Steinzylindern festhalten.
Ungefähr drei Meter unter dem Dach begann sich die Mauer nach innen zu neigen, und die Neigung betrug auf den letzten Metern etwa einen halben Meter. Die Kletterei war hier wesentlich leichter, und bald konnte ich mich an den Dachbalken festhalten.
Als ich nach oben schaute, sah ich einen startklaren Flieger. Auf dem Deck befanden sich Matai Shang, Phaidor, Dejah Thoris, Thuvia von Ptarth und einige Thern-Krieger, und Thurid kletterte eben an Bord. Er war keine zehn Schritte von mir entfernt und schaute in die entgegengesetzte Richtung. Ich weiß nicht, welch verrückte Laune des Schicksals ihn veranlaßte, sich umzudrehen, aber das tat er jedenfalls. In seinem boshaften Gesicht blitzte ein teuflisches Lächeln auf, als er mich sah; er tat einen gewaltigen Satz mir entgegen, und ich versuchte gerade, mich über die Dachkante hinaufzuschwingen. Auch Dejah Thoris mußte mich im gleichen Moment gesehen haben, denn sie schrie mir eine – leider nutzlose – Warnung zu, als Thurids kraftvoll geschwungener Fuß direkt in meinem Gesicht landete. Wie ein gefällter Ochse fiel ich um und über die Dachkante des Turms hinaus.