4. KAPITEL


Es war ein Spätsommertag, an dem man den Atem des Winters schon in der Luft spüren konnte. Obwohl es nicht wirklich kalt war, war doch deutlich, daß die Hitze, die noch den vorherigen Tag bestimmt hatte, in diesem Jahr nicht mehr zurückkehren würde. Auf der gepflasterten Straße, die in die Berge führte, standen große Pfützen, und die Steine waren mit dem Laub bedeckt, das der Sturm der letzten Nacht von den Bäumen gerissen hatte.

Golo blickte zum Himmel, der halb von den Kronen der hohen Eichen verdeckt wurde, welche die breite Straße säumten. Der Wind trieb weißgraue Wolkengebirge über den Himmel. Fast alle Blätter an den Bäumen hatten schon braune Kränze an ihren Rändern. Bald würde der Herbst den Wald in Rot und Gold tauchen. Den jungen Ritter fröstelte es. Man hatte ihm in der Stadt erzählt, daß der Herbst in den Bergen nur kurz sei und daß schon lange vor dem Christfest Schnee fallen würde, der die Straßen unpassierbar machte und die Dörfer und kleinen Städte voneinander abschnitt. Doch trotz dieser Aussichten war er froh, Castra Bonna hinter sich zu lassen. Jetzt, wo Volker dem intriganten Frankenfürsten entkommen war, würde alles wieder so werden, wie es einmal gewesen war.

Ein wenig mißmutig blickte er zu dem Mädchen, das der Spielmann vor sich auf den Sattel genommen hatte. Sie hielt die Zügel, und Volker spielte für sie ein ausgelassenes Lied auf seiner Laute. Was sollte nur mit ihr werden, wenn der Winter kam? Sie würde die Kälte und die Entbehrungen nicht überleben! Volker hatte sich sehr verändert. Golo dachte an das Mädchen, das sie im letzten Jahr an einem einsamen Wegkreuz in Aquitanien zurückgelassen hatten. Sie war nur zwei oder drei Jahre älter gewesen als Mechthild... Der Barde hatte ihr das Herz gebrochen. Eine einzige Liebesnacht nur hatte er mit ihr verbracht und sie dann, als sie aus ihrem Dorf ausgeschlossen wurde, in Stich gelassen. Was war in ihm vorgegangen, daß er sich nun so sehr um Mechthild sorgte. War es am Ende vielleicht Reue über das Leben, das er einmal geführt hatte?

Aber was zählte das schon! Das wichtigste war, daß sie diese verfluchte Stadt hinter sich gelassen hatten! Ricchar hatte Volker in der Nacht und noch ein zweites Mal am Morgen besucht. Golo wußte nicht, worüber die beiden gesprochen hatten, doch Volker war offenbar durch nichts von seinem Entschluß abzubringen gewesen, an diesem Morgen aufzubrechen. Was in der vergangen Nacht wohl in der Kammer des Spielmanns geschehen war? Jeder erzählte eine andere Geschichte darüber. Die Wachen und Krieger im Palast waren davon überzeugt, daß ihr Gott Mithras dem Barden ein Zeichen geschickt hatte. In ihren Augen war der Spielmann auserkoren, und es war ihm bestimmt, irgend etwas Ungewöhnliches zu tun. Ganz anders hörte sich die Geschichte an, die Mechthild zu erzählen hatte. Und sie mußte schließlich wissen, was geschehen war. Immerhin war sie dabeigewesen! Sie hatte nur ein kaltes blauweißes Licht gesehen. Eine Kugel, so groß wie ein Menschenkopf, die in das Zimmer geschwebt war. Sie hatte Angst vor dieser ungewöhnlichen Erscheinung gehabt.

Und Volker... Golo schmunzelte. Der Spielmann glaubte, ihm sei der Feuervogel erschienen. Er hatte keine Kugel, sondern einen Vogel mit glühenden Schwingen gesehen. Doch ganz gleich, was auch immer es gewesen sein mochte, es hatte sie aus dem Bann des Ketzerfürsten Ricchar gelöst. Vielleicht war es ja ein Engel, den einer der Heiligen geschickt hatte, um Volker auf den rechten Weg der Tugend zurückzuführen und gegen die Versuchung Satans zu schützen.

Ob sie Ricchar wohl entkommen waren? Das weite Bergland vor ihnen gehörte bis kurz vor die Tore von Treveris dem Gaugrafen. Auch Ricchar wollte in den nächsten Tagen in die Berge reiten, um der Spur des Ebers zu folgen. Hoffentlich entkam ihm der Räuber. Wer immer sich gegen den Ketzer stellte, konnte im Grunde kein schlechter Mensch sein. Golo glaubte noch immer nicht daran, daß der verschwundene Palastdiener von Strauchdieben getötet worden war. Der Mord war auf Befehl Ricchars geschehen!

Wieder blickte Golo zum Himmel. Manchmal fiel es ihm schwer, die Geschichten der Priester zu glauben. Irgendwo dort oben lag das Reich Gottes. Das himmlische Paradies, ein Ort ewiger Glückseligkeit... Doch was tat man dort eine Ewigkeit lang? Die Priester erzählten nie viel darüber, was da oben geschah. Die Geschichten der Heiden waren im Vergleich dazu wesentlich anschaulicher. Den Helden war es bestimmt, mit den Göttern zusammen an einer Tafel zu sitzen und auch weiterhin das Leben von ehrenhaften Kriegern zu führen... Golo schüttelte energisch den Kopf. Was dachte er da nur! Mit solch stummen Zwiegesprächen gefährdete er sein Seelenheil! Bei nächster Gelegenheit sollte er einen Priester zur Beichte aufsuchen. Es war nicht gut, seine Seele mit solchem Schmutz zu besudeln... Doch wie lange mochte es wohl dauern, bis sie einen Christenpriester trafen? In Castra Bonna waren alle Kirchen vernagelt gewesen. Ob Ricchar die Christenpriester wohl auch schon aus den Bergen vertrieben hatte? Wie konnte ein Mann nur ungestraft solches Unrecht tun? Warum wurde dieser ruchlose Versucher nicht einfach von einem Blitz aus heiterem Himmel erschlagen? Oft schon war es Golo so erschienen, daß Gott gegenüber seinen treuesten Anhängern strenger war als gegenüber den Ketzern oder den Kleingeistigen, deren Christentum kaum mehr als ein Lippenbekenntnis war.

Mit jähem Schrecken wurde Golo bewußt, daß seine Gedanken blanke Ketzerei waren. Das mußte das schleichende Gift des Frankenfürsten sein. Seine süßen Worte und seine Lockungen... Sie waren dazu angetan, jedem, der ihm begegnete, die Seele zu vergiften. Warum sah Ricchar nicht aus wie einer der Teufel, von denen die Priester erzählten? Warum stand ihm seine Verruchtheit nicht ins Gesicht geschrieben? Sicher hatte der Versucher selbst den Leib des Grafen aus dem blutbesudelten Lehm der Hölle geschaffen und ihm mit seinem fauligen Atem Leben eingehaucht. Das mußte auch der Grund sein, warum der Eber Ricchar nicht getötete hatte. Die Diener der Finsternis brachten einander nicht um!

Leise begann Golo ein Vaterunser zu beten. Er mußte vorsichtig sein! Die letzten Tage hatten ihn über einen schmalen Grad geführt, und wenn er nicht fest im Glauben war, dann mochte ihm auf dieser Reise Schlimmeres widerfahren, als nur sein Leben zu verlieren.



Blinzelnd erhob sich Volker und sog den Geruch des Feuers ein. Die Pferdedecke lag schwer und klamm auf seinen Schultern. Keinen halben Schritt entfernt schwelte ein kleines Feuer. Jemand hatte ein wenig Reisig in die Glut vom Vorabend geschüttet und darüber kunstvoll dünne Äste aufgeschichtet. Zu seiner Linken lag sein zusammengeknüllter Umhang. Mechthild hatte die kleine Schutzhütte verlassen. Vermutlich suchte sie nach Holz für das Feuer oder ein paar Waldbeeren zum Frühstück.

Gähnend streckte Volker seine steifen Glieder und rutschte ein Stück näher zum Feuer. Die Narbe von dem Pfeil, der ihn letztes Jahr in den Sümpfen Aquitaniens erwischt hatte, schmerzte. Wenn der Rauch und das Feuer erst einmal die Feuchtigkeit aus seinen Kleidern vertrieben hatten, würde es besser werden. Er rieb seine schwieligen Hände über den Flammen und blickte zu Golo. Sein Gefährte hatte im Schlaf seinen Umhang zur Seite gestreift. Der Mund des jungen Ritters stand halb offen, und er atmete schwer. Was er jetzt wohl träumte? Ob es gut war, ihn auf diese Reise mitgenommen zu haben? Am Hof zu Worms fühlte er sich nicht wohl. Die Adligen und Ritter dort duldeten ihn mehr, als daß sie ihn als ihresgleichen akzeptierten. Als ehemaliger Bauernsohn würde er dort immer ein Außenseiter bleiben. Ihm war es allemal lieber, an der Seite Volkers in irgendwelche verrückten Abenteuer zu reiten. Der Spielmann lächelte melancholisch. Dennoch würde er Golo vielleicht bald zurücklassen müssen... und auch das Mädchen. Gestern nacht, als die Kleine schon geschlafen hatte, waren sie auf die Lichtung hinausgegangen und hatten darüber gesprochen, wie es weitergehen sollte, und Golo hatte recht. Es wäre verantwortungslos, Mechthild einem Winter hier in den Bergen auszusetzen.

Wieder blickte Volker zu seinem schlafenden Gefährten. Vielleicht sollte er sich eines Nachts einfach davonschleichen. Er konnte sich auf Golo verlassen. Der junge Ritter würde sich um das Mädchen kümmern. Gewiß würde er nicht eher ruhen, bis er ein gutes Heim für die Kleine gefunden hatte. Auch wenn er gestern noch darüber geflucht hatte, daß sie Mechthild überhaupt mitgenommen hatten, war sich der Spielmann sicher, daß Golo sie nicht in Stich lassen würde. Das Grollen und sein brummiges Wesen waren halt seine Art, seinen Sorgen Ausdruck zu geben.

Volker seufzte. Heute mußte er noch keine Entscheidung treffen. Er würde noch ein paar Tage warten. Langsam wurde ihm wärmer. Sie hatten Glück gehabt, daß sie gestern abend noch kurz vor Einbruch der Dämmerung die verlassene Köhlerhütte entdeckt hatten. Sie lag keine zehn Schritt von der Straße unter ein paar hohe Kiefern geduckt am Rand eines weiten Kahlschlags. Es war nur eine schlichte Unterkunft mit Wänden aus ineinandergeflochtenen Zweigen und einem Dach aus dicken Grassoden, doch es war allemal besser, hier zu schlafen, als völlig ungeschützt unter einem Baum zu liegen. Die Hütte hatte nur drei Wände. Die ganze Vorderseite war offen. Man sah auf die Lichtung, die die Köhler in den Wald geschlagen hatten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch war der Wald schon in jenes graublaue Zwielicht getaucht, das den kommenden Tag ankündigt. Zerrissene Nebelschleier lagen über der Lichtung und wogten zwischen den schwarzen Wurzelstümpfen. Überall aus den Bäumen und Büschen ringsherum erklang das Zirpen und Zwitschern von Vögeln. Der Spielmann grinste. Jetzt fehlten nur noch eine schöne Jungfer und ein munter plätscherndes Bächlein, dann hätte man alle Bestandteile des locus amoenus aus der Theorie der Minnedichtung beisammen. Er hatte nie sehr viel von den ehernen Regeln der Dichtkunst gehalten. Ließ Schönheit sich in Gesetzmäßigkeiten fassen? Nein! Solche Regeln waren etwas für jene Dichter, denen wahre Kunst auf immer verschlossen blieb...

Ein Schrei riß Volker aus seinen Gedanken. Mechthild! Mit einem Satz war er auf den Beinen und griff nach seinem Schwert, das gegen die Wand der Hütte lehnte. Mit einem Schlag waren alle Vogelstimmen ringsherum verstummt. Der Wald wirkte jetzt dunkel und unheimlich. Immer wieder den Namen des Mädchens rufend, hastete Volker durch das dichte Unterholz. Wie die Hände von Kobolden griffen Dornenranken und verschlungene Wurzeln nach seinen Beinen und Füßen. Rechts von ihm war plötzlich das Geräusch brechender Äste zu hören. Er riß das Schwert aus der Scheide und warf sich herum. Er hatte ein Rudel Rehe aufgescheucht, das mit weiten Sprüngen in Richtung der Rodung davoneilte. Dann wechselten sie abrupt die Richtung, als Golo mit dem Schwert in der Hand aus dem Morgendunst trat.

»Was ist passiert?«

»Mechthild. Sie hat geschrien. Sie muß hier irgendwo ganz in der Nähe sein.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte Volker sich ab. Warum antwortete das Mädchen nicht? Was mochte ihr nur geschehen sein? Wenn sie ein wildes Tier angefallen hätte, würde man Schreie oder das Knurren der Bestie hören. Diese Stille... Volker schluckte und beschleunigte seine Schritte. Das Unterholz wurde lichter. Der Wald bestand hier fast ausschließlich aus Buchen. Ihre schlanken Stämme wirkten fast wie die Säulen eines Tempels. Die Dunstschwaden waren hier dichter. Einen Moment lang glaubte Volker, ein leises Wimmern zu hören. Dann war es wieder still.

Der Barde gab Golo ein Handzeichen, sich etwas links von ihm zu halten. Das Schwert bereit zur Verteidigung gehoben, trat Volker weiter in den Buchenforst. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Ein Schauer lief ihm über Rücken und Arme. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Vorsichtig drehte er sich einmal um die eigene Achse. Das graue Licht und der Nebel erlaubten kaum weiter als zwanzig Schritt zu sehen.

Jetzt konnte er ein Stück voraus eine Gruppe seltsam verwachsener junger Bäume erkennen. Wieder ertönte das leise Wimmern.

»Mechthild?«

Das Jammern wurde lauter. Volker hastete vorwärts. Ein gestürzter Baumriese versperrte den Weg. Die dichten erdverkrusteten Wurzeln der Buche hatten ein klaffendes Loch im Waldboden zurückgelassen. Dort kauerte Mechthild. Sie hatte sich zusammengerollt und verbarg den Kopf zwischen den Knien.

»Was ist gesch...« Dem Spielmann blieb das Wort im Halse stecken. Jetzt erkannte er, was das Mädchen erschreckt hatte. Die seltsam verwachsenen Bäume... Ein Stück voraus hatte jemand die Kronen von einigen jungen Buchen gekappt und auf den dünnen Stämmen die Leichen von sieben Kriegern gepfählt.

Volker stieg in die Grube hinab und nahm das Mädchen in die Arme. »Ist gut, meine Kleine. Ich bin jetzt bei dir und werde dich beschützen...«

Mechthild war verstummt. Sie krallte ihre Hände in seine Arme, so, als hinge ihr Leben davon ab, ihn nie wieder loszulassen. Eine ganze Weile verging, bis ein leises Räuspern Volker aufblicken ließ. Golo stand neben dem entwurzelten Baum und blickte zum ihm herab. »Da ist etwas, das du dir ansehen solltest.«

»Was denn...«

»Mir scheint, es sind Sachsen und... Es ist besser, wenn du das Mädchen nicht mitnimmst, weil...« Golo schluckte. »Ich glaube, einer von den Kerlen lebt noch.«

Der Spielmann löste sich sanft aus dem Griff des Mädchen. Noch immer gab Mechthild keinen Laut von sich. Ihre Zöpfe hatten sich gelöst, und ihr langes, braunes Haar hing ihr in breiten Strähnen ins Gesicht. Mit angstweiten grünen Augen blickte sie Volker an. Der Spielmann schluckte. Er fühlte sich elend. Wie hatte er darüber nachdenken können, sie und Golo im Stich zu lassen.

»Mein Freund wird bei dir bleiben... Ich komme gleich wieder.«

Mechthilds Blick war ein stummes Flehen, zu bleiben.

»Es dauert nicht lange.« Volkers Stimme klang heiser. Er kletterte aus der flachen Grube und trat zu den Toten. Mitten zwischen ihnen lag auf einem Baumstumpf ein abgetrennter Wildschweinkopf. Der Eber! Diese Morde waren sein Werk.

Die meisten der Männer mußten schon tot gewesen sein, als man sie auf die jungen Baumstämme gespießt hatte. Sie trugen Wunden von Pfeilen. Man hatte die Geschosse wieder aus ihren Körpern gezogen, um die kostbaren eisernen Pfeilspitzen zurückzugewinnen. Nur einem der Krieger steckte noch ein abgebrochener Schaft in der Brust. Die Kleider der Toten waren zerrissen. Man hatte ihnen alles geraubt, was von Wert gewesen sein mochte. Waffen, Gürtel, Gewandfibeln und Ringe. Mit Ausnahme eines Rothaarigen waren sie alle blond. Sie trugen nach sächsischer Manier die langen Haare zu Zöpfen geflochten. Die Wickelgamaschen aus ungegerbtem Leder, die kurzen Umhänge aus grauem Wolfspelz, all dies verriet, daß sie keine Franken sein konnten.

Volker dachte an das Gespräch, das Golo belauscht hatte. Der Bote hatte Ricchar gesagt, er habe ein Rudel Wölfe auf die Spur des Ebers gesetzt. Er mußte diese sächsischen Söldner damit gemeint haben.

Der Spielmann spürte, wie ein Blick auf ihm lastete. Der Krieger links neben dem Eberkopf... Der Sachse war noch jung. Er mochte kaum mehr als zwanzig Sommer gesehen haben. Seine Augen glänzten wie im Fieber. Die Lippen des Mannes bewegten sich stumm. Volker faßte ihn sanft am Arm. Für einen Augenblick kniff der Sachse die Augen zusammen. Er stöhnte. Selbst diese leichte Berührung schien ihm Schmerzen bereitet zu haben.

»Wir holen dich da runter...« Der Barde blickte an dem Baumstamm hinab. Bis zu den Wurzeln war der graue Stamm mit Blut und Fäkalien besudelt. Schillernde Fliegen tanzten um die Füße des Sachsen, krochen über seine schmutzigen Hosen und die Schürfwunden an seinen Armen. Fast einen halben Schritt hingen die Füße des Sachsen über dem Boden. Volker fragte sich, wie tief sich der angespitzte Baumstamm schon in den Leib des Mannes gebohrt haben mochte. Ob er noch zu retten war? Oder würde jeder Versuch, ihn herabzunehmen, ihm nur zusätzliche Qualen bereiten.

»Sing Odin... daß... ich...« Der junge Krieger stöhnte. »... ich ein tapferer... Mann war.«

»So schnell wirst du deinen Gott noch nicht sehen. Wir werden dich dort herunter hole und dann...«

»Aelfre...«

Volker blickte den Mann verwundert an. Aelfre? Was hatte das zu bedeuten?

Der Krieger versuchte seinen Arm zu bewegen. Er schien auf seine Brust weisen zu wollen. Im selben Augenblick ging ein Ruck durch seinen Körper. Der Sachse stöhnte auf. Blut tropfte von seinen Lippen. Noch immer starrte er Volker mit weit offenen braunen Augen an. Der Pfahl hatte sich ein wenig tiefer in den Leib des Mannes gebohrt.

Bis auf das Summen der Fliegen war es totenstill im Buchenhain. Schmale Streifen roten Lichts fielen durch das Blätterdach. Der Morgendunst hatte sich fast aufgelöst. Nur dünne graue Schleier trieben noch dicht über dem Boden. Jetzt erst bemerkte Volker den Gestank. Es roch nach Kot, Blut und dem herben Duft verfaulender Blätter. Warum hatte der Eber die Sachsen nicht einfach alle umgebracht? Warum diese Folter? Es mußte mindestens eine Stunde gedauert haben, die Krieger zu pfählen. Wahrscheinlich sogar länger. Der Räuber mußte doch wissen, daß Ricchar ihm bald folgen würde. Jede Stunde, die er Vorsprung hatte, mochte bald schon kostbar für den Eber sein...

Der Spielmann griff nach dem Hals des Sachsen. Er konnte spüren, wie das Blut noch immer schwach durch die Adern des Mannes pulsierte. Der Sachse war nur ohnmächtig. Volker wünschte, niemals in den Buchenhain gekommen zu sein. Was sollte er tun? Jeder Versuch, den Mann vom Pfahl zu nehmen, würde nur unendliche Qual für ihn bedeuten. Und wenn er jetzt ging und den anderen sagte, der Sachse sei tot... Volker schluckte. Er hatte einmal von einem Mörder gehört, der gepfählt worden war. Drei Tage hatte es gedauert, bis der Kerl endlich tot war. Wie lange der junge Sachse wohl noch zu leiden hätte?

Er schlang seine Arme um die Hüfte des Kriegers. Mit aller Kraft spannte er die Muskeln an. Dann schob er den Gepeinigten nach oben. Die Schmerzen brachten den Sachsen wieder zu Bewußtsein. Er stieß einen leisen Schrei aus. Es gab ein gräßliches, schmatzendes Geräusch, als sich das geschundene Fleisch vom Pfahl löste. Volker biß sich auf die Lippen. Endlich war der junge Krieger befreit und sank ihm in die Arme.

Vorsichtig bettete der Spielmann den tödlich Verletzten auf den weichen Waldboden. Das Gesicht des Sachsen war eine Grimasse des Schmerzes. Seine Lippen zitterten, als wolle er etwas sagen. Volker beugte sich vor, um ihn verstehen zu können.

»Aelfre...«

»Das ist dein Name, nicht wahr? Ich werde ein Lied von dir singen, Aelfre, damit die alten Götter von deiner Tapferkeit hören, und beten werde ich für dich, damit deine Seele nicht in das Reich Satans eingeht. Hörst du mich... Und deinen Mörder will ich finden. Er soll diesen Winter nicht überleben, der Eber! Wenn Ricchar ihn nicht stellt, dann werde ich ihn finden. Er soll nicht noch länger seine blutige Spur durch die Wälder ziehen...«

Der Blick des Sachsen war auf das dunkle Blätterdach gerichtet, das mit den ersten Strahlen der Morgensonne zu einem düster schönen Mosaik aus Licht und Schatten geworden war. Einen Herzschlag lang hatte Volker das Gefühl, als forme sich in dem Blätterdach das riesige Gesicht eines bärtigen Mannes. Dann fuhr ein Windstoß durch die Äste der Buchen, und das Trugbild war verschwunden.

Plötzlich war dem Barden kalt. Ein Trugbild! Die alten Götter gab es nicht wirklich... Allein der Christengott regierte in dieser Welt.

Der Ausdruck des Schmerzes war vom Gesicht des Sachsen gewichen. Seine Züge hatten sich entspannt, und um seine Lippen spielte sogar der Hauch eines Lächelns. Hatte auch Aelfre das bärtige Gesicht gesehen?

Volker legte dem jungen Krieger vorsichtig die Hand auf die Brust. Das Herz des Sachsen schlug nicht mehr. Er war als Heide gestorben, und seine Seele würde nun den langen Weg der Verdammnis antreten. Ob es wohl jemals jemanden gegeben hatte, der versuchte, Aelfres Seelenheil zu retten? Jemanden, der von der Güte des Christengottes zu ihm gesprochen hatte. Volker neigte sein Haupt und faltete die Hände zum Gebet.


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