15. KAPITEL


»Du wirst hierbleiben! Erhole dich von deinen Frostbeulen. Auf dem Marsch würdest du uns nur aufhalten.«

»Du brauchst mich, damit ich euch den Weg zeigen kann«, protestierte Volker. »Ich glaube nicht, daß ich dich als Führer brauche, um mich in den Bergen zurechtzufinden, in denen ich mein ganzes Leben verbracht habe. Die Höhle, von der du erzählt hast, liegt nicht weit von der alten Römerstraße. Die meisten Flüchtlinge werden wir entlang der Straße finden. Sie ist der kürzeste Weg von den Flußstädten nach Treveris. Ich denke auch, daß Ricchar sie mit Absicht in diese Richtung hat treiben lassen. So müssen sie uns geradezu in die Arme laufen. Womöglich hat er sogar gleich ein paar Spitzel und Meuchelmörder mit ihnen geschickt. Er wird sich denken können, daß du ihnen zu Hilfe kommst. Schließlich handelst du doch im Auftrag eines Erzengels und...«

»Genug!« zischte die Bardin.

Der Eber und Belliesa, die ebenfalls zu der Suchtruppe gehören sollte, tauschten einen langen Blick. »Ich werde mich um Volker kümmern.« Die Bardin musterte den Spielmann abschätzend. Über ihrem schwarzen Kaputzenumhang trug sie einen Überwurf aus geölten Schafsfellen. Auch um die Beine hatte sie Felle gewickelt, und ihre Füße steckten in wollgefütterten Wanderstiefeln. Die zierlichen Finger waren unter dicken Fäustlingen verborgen, und ein rauher Schal verdeckte Lippen und Nase, so daß ihre Stimme gedämpft klang. »Er sollte dabei sein. Er ist der Auserwählte. Die Leute erwarten von ihm, daß er an der Rettung teilnimmt.«

Der Eber zog die Nase hoch und spuckte in den Schnee. »Auserwählter! So ein Unsinn. Jeder Schritt, um den du unseren Marsch verlangsamst, könnte weitere Tote auf der Römerstraße bedeuten.«

»Du wirst nicht so schnell gehen können, daß ich dir nicht zu folgen vermag. Wenn dir die Zeit so kostbar ist, dann laß uns nicht länger reden, sondern aufbrechen.« Am Morgen hatte der Barde von der Heilerin die Verbände gewechselt bekommen. Dabei konnte er seine Hände betrachten. Alle Fingerkuppen waren von Schorf bedeckt gewesen, und wie ein Jagdhund hatte die Alte an jedem seiner Finger geschnuppert. Kein einziger war brandig geworden! Es würde ein oder zwei Wochen dauern, bis die Wunden verheilt waren, doch es würden nicht einmal Narben zurückbleiben.

Die neuen Verbände hatte die Heilerin so straff gewickelt, daß Volker nicht einen Finger zu krümmen vermochte. So sollte vermieden werden, daß der Schorf wieder aufplatzte und die Wunden doch noch zu schwären begannen. Die Gewißheit, daß von den Erfrierungen kein dauerhafter Schaden zurückbleiben würde, hatte ihm neue Kraft gegeben. Er fühlte sich stark genug, wieder der Kälte zu trotzen, und er hatte der Heilerin einen Zaubertrank abgeschwatzt, der jeden den Winter vergessen lassen konnte. Lächelnd tastete er nach dem ledernen Wasserschlauch, der über seine Schulter hing. Er war randvoll mit Branntwein! Ein einziger Schluck davon vermochte selbst Tote wieder ins Leben zurückzurufen. Und er hatte schon mehr als nur einen Schluck genommen. Es gab nichts Besseres gegen die Kälte!

Der Eber übernahm die Führung des Rettungstrupps. Mehr als zwanzig Mann hatten sich eingefunden, um in den Bergen nach Flüchtlingen zu suchen. Mit einem langen Eschenstab ertastete sich der Anführer der Gesetzlosen den Weg. Der Pfad zum Dorf hinauf war völlig unter der Schneedecke verschwunden. Immer wieder gab es Verwehungen, in denen die Männer bis zu den Hüften einsanken.

Eine halbe Stunde nachdem sie das Dorf verlassen hatten, begann es wieder zu schneien. Erst waren es nur einzelne Flocken, doch dann frischte der Wind auf und brachte mächtige Wolkengebirge von Westen heran. Bald fiel der Schnee so dicht, daß man keine fünfzig Schritt weit sehen konnte. Eisige Böen trieben die Schneeflocken vor sich her, so daß sie wie Nadeln in Volkers Gesicht stachen. Auch der Spielmann hatte sich einen Schal über Nase und Mund gezogen. Pochende Schmerzen in den Fingerspitzen machten ihm zu schaffen.

Noch immer ging der Eber an der Spitze der Männer. Wie ein mächtiger Platzhirsch pflügte er eine Bahn in den kniehohen Schnee. Alle anderen folgten in seiner Spur. Volker ging fast am Ende der Kolonne. Hinter ihm war nur noch Belliesa. Niemand sprach. Der verbissene Kampf mit dem Schnee forderte all ihre Kräfte.

Der Spielmann war sich sicher, daß Belliesa nur deshalb hinter ihm ging, weil sie Angst hatte, er könne zurückfallen. Was er für sie wohl bedeutete? Brauchte sie ihn nur, um ihren Krieg gegen Ricchar führen zu können, oder war da noch mehr? Er drehte sich um. Das Gesicht der Bardin war rot vor Kälte. In ihren Augenbrauen und einer Haarsträhne, die unter ihrer Kapuze hervorlugte, hatte sich Eis gebildet.

»Warum wolltest du unbedingt mitkommen?« Ihre Stimme war durch das Heulen des Windes kaum zu hören.

»Ich hatte mich in den Bergen verirrt und wäre sicherlich gestorben, wenn mir nicht eine Erscheinung den Weg gewiesen hätte. Es war eine Frau. Sie sah fast aus wie du, und sie sagte mir, sie würde mir meine Toten zeigen. Kurz darauf fand ich die Leichen von Flüchtlingen im Schnee. Ich wußte, daß sie hatten sterben müssen, weil ich Ricchar herausgefordert habe. Nur deshalb waren sie aus ihren Häusern vertrieben worden... Ich mußte zurückkommen, um so viele zu retten, wie wir finden können. Außerdem mußte ich auch deshalb mitkommen, weil ich dem Eber nicht traue.«

»Zu Recht! Er hat sich verändert, seitdem ich in der Halle gesungen habe, aber er erscheint mir noch immer wie ein Wolf im Schafsfell. Dir ist klar, daß die Flüchtlinge all ihre Wertsachen mit sich genommen haben werden, um sie zu Geld zu machen, sobald sie in Treveris oder anderswo ein neues Leben anfangen. Leichte Beute für den Eber und seine Männer! Bisher haben sie davon gelebt, solche Reisenden auszunehmen, ohne dabei groß Federlesens zu machen. Was glaubst du, was sie jetzt tun werden?«

Volker zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

Der Sturm nahm noch an Heftigkeit zu, so daß jede Unterhaltung unmöglich wurde. Stumm, die Augen auf den Rücken des Mannes vor ihm fixiert, marschierte der Spielmann weiter und versuchte, den Schmerz in seinen Händen zu ignorieren.

Der Hinweis auf die Flüchtlinge, den sie fanden, war ein Karren, der in einer Schneewehe feststeckte. Die Männer des Ebers holten die Kisten und Säcke von der Ladefläche und teilten alles untereinander, was ihnen von Wert erschien. Volker stand dabei und sah ihnen wortlos zu.

»Stell dich nicht so an, Ritter!« Der Eber schlug ihm mit der Rechten so heftig auf die Schulter, daß der Spielmann einen Schritt nach vorne taumelte. »Das nehmen wir nur mit, um die Vorräte bezahlen zu können, die wir den Überlebenden geben werden. So konnten die Toten den Lebenden einen Dienst erweisen.« Der Gesetzlose blickte grinsend zu Belliesa. »Ist das nicht ein hübscher Ausspruch für ein Heldenlied?«

»Ich fürchte, Worte allein genügen nicht, um ein Held zu, sein«, entgegnete die Bardin kühl.

Das Gesicht des Ebers wurde hart. »Ihr verurteilt mich also? Wer hält mich eigentlich davon ab, euch beiden den Hals durchzuschneiden und den prächtigsten Raubzug meines Lebens durchzuführen. Wenn alle Flüchtlinge so viel Gold und Geschmeide im Gepäck haben wie die, denen dieser Karren gehört hat, dann werde ich im nächsten Frühjahr der reichste Mann in den Bergen sein.«

»Eine Nacht wie gestern in der Festhalle wirst du dir für all dies Gold nicht kaufen können.«

»Nein? Es gibt noch mehr Barden. Ihr seid nicht die einzigen in diesem Gewerbe, und ich habe mir sagen lassen, daß die meisten von ihnen käuflich sind, und dann...«

Aus dem nahen Wald erklangen Rufe. Die Männer des Ebers hatten die Eigentümer des Wagens gefunden. Es waren drei Männer und zwei Frauen. Halb vom Schnee bedeckt lagen sie neben einer verloschenen Feuerstelle.

Der Gesetzlose spuckte neben den Toten in den Schnee. »Dumm!« murmelte er leise und gab seinen Kriegern ein Zeichen, die Leichen zu durchsuchen. »Ein Stück weiter in den Wald hinein ist eine tiefe Bodensenke. Hätten sie ihr Feuer dort gemacht, wären sie jetzt noch lebendig. Wie konnten sie nur glauben, daß die Flammen sie in so offenem Gelände wärmen würden.«

Bald ließen sie die Toten hinter sich und folgten weiter der alten Römerstraße. Es wurde schnell dunkel. Der Sturm war abgeflaut. Einige der Männer des Ebers hatten Fackeln entzündet.

Sie durchquerten ein Waldstück. Es war bedrückend still. Nur der Schnee knirschte leise unter ihren Stiefeln. Plötzlich geriet die Kolonne ins Stocken. Die vordersten Männer waren wieder auf Leichen gestoßen. Die meisten Toten waren ganz unter dem Schnee begraben. Diese Flüchtlinge hatten keine Karren und Pferde gehabt. Oder aber sie hatten sie schon früher auf ihrem Weg aufgeben müssen. Wo der Wind die Leichen teilweise freigeweht hatte, konnte man sehen, wie sich die Sterbenden zueinandergelegt hatten, um sich gegenseitig Wärme zu spenden.

Die Männer des Ebers redeten kaum. Nur wenige wagten es, die Toten zu plündern. Selbst die hartgesottenen Gesetzlosen waren von dem Anblick erschüttert.

Auch Volker vermied es, den Toten ins Gesicht zu sehen. Sie schienen zu lächeln. Ihre Lippen waren bis weit über die Zähne zurückgezogen, die Gesichter zu grotesken Grimassen erstarrt. Bisher hatte er geglaubt, die Hölle sei ein Meer aus Flammen, doch das war falsch. Sie war kalt. Das hier war die Hölle! Sie sollten zurück! Im Bergdorf waren sie sicher vor dem Tod. Hier draußen lauerte nur das Verderben. Von den Flüchtlingen lebte keiner mehr! Und wenn sie zu tief in die Berge vordrangen, dann würden vielleicht auch sie sterben. Ängstlich blickte der Spielmann zum dunklen Himmel. Bald würde der Sturm wieder beginnen. Sie mußten zurück... Das Pochen in seinen Fingern wurde immer schlimmer. Er hatte Fieber. Seine Kleider waren von Schweiß durchnäßt. Bald würde die Kälte durch sie hindurchkriechen. Er dachte an das Märchen vom Feuervogel... an den warmen Sommertag, an dem der Märchenerzähler vor der Tafel des Königs gestanden hatte. Eine Ewigkeit schien seitdem vergangen und... Volker blickte auf. An der Spitze der Kolonne geschah etwas. Einige der Gesetzlosen hatte sich um einen etwas größeren Hügel im Schnee geschart.

Der Spielmann trat neben den Eber. Ihm war schwindelig. Er stützte sich mit einer Hand auf die Schulter des Ebers. Glühende Punkte tanzten vor seinen Augen. Volker mußte die Lider zusammenkneifen, bevor er wieder klar sehen konnte. Ein Mann und ein Frau lagen dicht neben dem Kadaver eines verendeten Pferdes.

»Was ist hier los?«

Der Eber hob einen Finger an die Lippen. »Leise. Hörst du nichts?«

Irgendwo im Wald brach ein Ast unter der Last des Schnees. Dann war es wieder still. Volker wollte schon einen Scherz über abergläubische Hinterwäldler machen, als auch er hörte, worauf die Gesetzlosen lauschen. Ein ersticktes Murmeln. Es war kein Tierlaut, doch klang es auch nicht menschlich.

»Was zum Teufel ist das?« keuchte der Eber.

»Du solltest den Namen des Versuchers an einem solchen Ort nicht so leichtfertig in den Mund nehmen.« Volker spürte einen eisigen Schauer seinen Rücken hinaufkriechen. Einige Männer des Ebers bekreuzigten sich hastig.

»Hurenkrätze! Ich laß mir doch von einem Geräusch keine Angst machen!« Er trat gegen den Kadaver des Pferdes und zuckte erschrocken zurück. Dort, wo er hingetreten hatte, schimmerte es rot unter dem Schnee. Alles war voller gefrorenem Blut.

»Bei allen Heiligen, was ist hier geschehen?« fragte einer der Räuber. »Haben sie sich gegenseitig umgebracht?«

»Drustan! Sieh du dir das mal an!« Der Eber winkte seinen erfahrensten Fährtensucher heran, der etwas abseits der Gruppe über einem Toten kauerte, dem er den Mantel geöffnete hatte, um nach Wertsachen zu suchen.

Drustan war ein schweigsamer, hagerer Kerl, der Volker kaum bis zur Schulter reichte. Er trug einen Umhang, der ein Flickwerk aus allerlei Pelz war. Der Fährtensucher kniete sich neben das Pferd und wischte den Schnee zur Seite. Er tastete über den Kadaver. Dann zeigte er auf einen schmalen Schnitt am Hals des Pferdes. »Man hat es getötet. Es...« Mitten im Satz erstarrte der Fährtensucher. Wieder war das seltsame Geräusch zu hören. Diesmal klang es wie ersticktes Schreien.

Hektisch begann der Fährtensucher an dem Leichnam des Mannes zu zerren, der an das tote Pferd geschmiegt lag. »Los, helft mir, verflucht noch mal!«

Der Eber war der einzige, der auf seine Worte reagierte. Die anderen standen wie versteinert und starrten. Halb unter dem Mann begraben lag eine Frau mit langem, blondem Haar. Ihren Kleidern nach zu urteilen, mußte sie aus einer wohlhabenden Familie stammen. Sie trug einen pelzgesäumten und mit Stickereien verzierten Umhang aus schwerer Wolle.

Der Eber fluchte leise. »Verdammt, der wäre ich gerne lebendig begegnet. Die sieht aus, als hätte man mit ihr eine Menge Spaß haben können, um sie dann anschließend für ein dickes Lösegeld an ihren Vater zurückzugeben.«

Drustan blickte auf. Eine tiefe Falte teilte seine Stirn. Er hatte der Toten eine Hand unter den Umhang geschoben. »Wie es scheint, hast du sie nur knapp verpaßt. Sie ist noch warm. Aber ihr Herz hat aufgehört zu schlagen und...« Erschrocken blickte er zu der Toten hinab.

Volker machte einen Schritt zurück. Der Fährtensucher machte ein Gesicht, als habe er dem Leibhaftigen ins Antlitz gesehen. »Da bewegt sich etwas...« Der Hagere beugte sich tiefer über den Leichnam. Keuchend schob er die Frau zur Seite. Immer deutlicher war das erstickte Wimmern zu hören. Dann hielt der Mann ein Knäuel aus Fellen und zerrissenen Decken hoch. »Es lebt!«

Zwischen den Lumpen lugte ein faltiger Kinderkopf hervor. Jetzt schlug auch Volker ein Kreuz. Das Gesicht des Kindes war so rot, als habe man seinen Kopf in kochendes Wasser getaucht. Es öffnete den Mund, doch statt des Geschrei eines Kleinkindes kam nur ein leises Wimmern über seine Lippen.

Der Fährtensucher legte es auf den Leib der toten Frau und schlug die Felle zurück. Der ganze Leib des Kindes war krebsrot. Es hatte kurze schwarze Haare und dunkler Flaum wuchs auf seiner Brust und an seinen Armen. Volker konnte sich nicht erinnern je zuvor in seinem Leben ein so haariges Kind gesehen zu haben. Etwas stimmte hier nicht! Warum war das schwächste Geschöpf von allen nicht in der Kälte zugrunde gegangen? Nach seiner Größe zu urteilen konnte das Kind höchstens drei Monate alt sein.

Der Fährtensucher griff der blonden Frau unter die Kleider und nickte dann. »Sie trägt Milch in den Brüsten. Sie muß die Mutter gewesen sein. Der Kerl an ihrer Seite ist wohl ihr Beschäler. Die beiden haben das Pferd getötet, als der Sturm begann, und es als Windschutz genutzt. Sie müssen da schon sehr entkräftet gewesen sein. Dann haben sie das Kind zwischen sich genommen, um es mit ihren Körpern zu schützen. Die zwei sind weniger als eine Stunde tot.«

Der Spielmann musterte angeekelt die rote Haut des Säuglings. Was war das? Er dachte wieder an die Hölle. Wenn diese Winterlandschaft voller Leichen das Reich Satans war, dann konnte das einzige, was hier überlebte, nur ein Geschöpf der Hölle sein!

»Legt das Kind zurück!« stieß Volker keuchend hervor. »Es wird uns alle ins Unglück reißen. Seht nur seine Haut! Es kommt direkt aus dem Tartarus!«

Alle drehten sich zu ihm um. Einigen der Männer konnte der Spielmann ansehen, daß sie seiner Meinung waren. In ihren Blicken lag das blanke Entsetzen.

Drustan beugte sich zu dem Kind und strich über dessen Brust. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist nicht verflucht. Sie haben es mir einer Salbe eingestrichen, bevor sie starben. Die Zaubersalbe zieht das Blut in die Haut und läßt einem warm werden. Ich habe selber einmal eine solche Salbe von einer Kräuterfrau bekommen.«

»Genug geschwätzt! Manu!« Der Eber winkte einem seiner Männer. »Du hattest doch etwas Milch mitgenommen. Mach ein Feuer und erwärme sie. Der kleine Kerl braucht was zu essen. Sonst stirbt er uns, noch während wir hier um ihn stehen und reden. Drustan, wickele ihn wieder in die Lumpen ein.«

Der Gesetzlose hob den kleinen Jungen hoch und musterte ihn. »Du bist der härteste von allen. Nichts kann dich umbringen.« Der Eber grinste. »Du bist wie ich. Ich werde dich beschützen.«

»Du holst das Verderben in dein Dorf, wenn du ihn mitnimmst!« ereiferte sich Volker. »Laß ihn zurück!«

Der Anführer der Gesetzlosen setzte sich auf den Kadaver des toten Pferdes und wiegte das Kind im Arm. Seine Männer schwiegen. Keiner wagte es, sich gegen ihn zu stellen, und doch konnte Volker den Räubern ansehen, daß auch ihnen das Kind unheimlich war.

Manu brachte dem Eber ein wenig Milch in einer flachen Schüssel. Er tauchte einen Finger hinein und schob ihn dann dem schwachen Kind in den Mund. »Trink! Du mußt wieder zu Kräften kommen, wenn du dem Tod trotzen willst!«

Erst wimmerte der Junge leise, doch nachdem der Eber ihm den Kopf hob, konnte er in kleinen Schlucken aus der Schale trinken.

»Ich habe sie gefunden!« erklang Belliesas Stimme von weiter vorne in der Waldschneise. Die Bardin winkte ihnen aufgeregt zu. Während sich fast alle Männer des Ebers um ihren Anführer geschart hatten, war sie einfach weitergegangen. »Überlebende!«

Der Gesetzlose warf Volker einen spöttischen Blick zu. »Er kommt also direkt aus dem Tartarus, weil er die Kälte überlebt hat. Dann haben wir jetzt wohl ein ganzes Nest voller Teufel und Dämonen aufgetan.«

Dem Spielmann war übel. Sogar das Kind schien ihn auszulachen. Sein Gesicht war zu einer häßlichen roten Maske verzerrt. Volker begann am ganzen Körper zu zittern. Jetzt konnte er das Pochen in seinen Fingern so deutlich wie seinen Herzschlag spüren. Er blickte auf seine bandagierten Hände. Schlangen wanden sich dort, wo seine Finger hätten sein sollen.

Das konnte nicht sein! Er biß sich auf die Lippen. War er denn verflucht? Auch der Schmerz in der Lippe ließ die Schlangen nicht verschwinden. Waren sie vielleicht doch kein Trugbild? Ängstlich steckte er seine Hände unter den Mantel und sah sich nach den anderen um. Das Gesicht des Ebers erschien ihm jetzt so rot wie das des Kindes, das der Gesetzlose auf dem Arm hielt. Und was war das? Unter dem Umhang des Räubers lugte ein schuppiger Schwanz hervor.

»Vade retro, satanas.«

»Was sagst du?«

»Vade retro, satanas! Weiche von mir, Teufel!« Volker machte einen Schritt zurück. Auch die Gefährten des Ebers waren Teufel. Er konnte es jetzt deutlich sehen. Er hätte niemals hierherkommen sollen. Sein Weg hatte ihn nicht in die Berge, sondern geradewegs in die Hölle geführt.

»Was ist mit dir?«

Volker drehte sich um und begann zu laufen. Fast bis zu Knien versank er im Schnee. Mühsam kämpfte er sich voran. Nur nicht zurückschauen! Wenn er sie noch einmal sehen würde, dann kostete ihn das den Verstand. Dessen war er sicher.

»Haltet ihn! Er ist von Sinnen!« erklang hinter ihm die Stimme des Gesetzlosen.

Der Spielmann strauchelte. Etwas Festes war im Schnee verborgen gewesen. Er stürzte auf eine schwarze, grinsende Todesgrimasse zu. Der Leichnam streckte ihm die steifgefrorenen Arme entgegen, um ihn in der Hölle willkommen zu heißen.


Загрузка...