Prolog


... und ein eisiger Winter lag über dem Land. Drei Jahre und drei Tage war der junge Prinz durch die Berge geritten, um nach seiner Liebsten zu suchen. Er hatte in jener Zeit weder sein Haar noch seinen Bart geschoren. Ein großer grauer Wolfshund, der ihm zugelaufen war, als er die Burg seines Vaters verlassen hatte, war sein einziger Begleiter auf der Suche gewesen.

Der junge Prinz spürte, daß er nun an das Ende seines Weges gelangt war. Das Feuer vor ihm brannte nieder, und die Kälte kroch ihm die Glieder hinauf und hatte fast schon sein Herz erreicht. Der große Hund hob seinen Kopf und blickte zum Prinzen, so als könne er spüren, wie der Tod sich dem Eingang der Höhle näherte.

»Wo bist du, Feuervogel? Ich weiß nicht mehr, wo ich dich suchen soll«, flüsterte der Königssohn leise. »Du allein weißt, wo meine Liebste verborgen ist, doch nicht einmal dich konnte ich finden.«

»Du hättest mich rufen sollen, mein Prinz. Ich war bei dir, seit du die Burg deines Vaters verlassen hast«, erklang eine warme Stimme, und als der Königssohn sein müdes Haupt hob, war die Höhle von goldenem Licht erfüllt, und dort, wo eben noch der Wolfshund gelegen hatte, saß ein Vogel, so schön, daß Worte ihn nicht zu beschreiben vermochten. Sein Gefieder war aus lodernden Flammen, und seine Augen funkelten wie Rubine.

»Sag mir, Feuervogel, wie werde ich meine Liebste wiederfinden?«

»Es ist die Kälte in dir, die auf das Land gefallen ist. Die Prinzessin findest du in einem Turm aus weißem Marmor, der auf dem Gipfel des höchsten aller Berge steht, doch kein Sterblicher kann seine eisigen Abhänge erklimmen. Dort liegt sie, in einem Sarg aus Diamant, und nur eine Träne, in glühender Sehnsucht vergossen, vermag sie zu befreien.«

Das Feuer zu Füßen des Prinzen war verloschen, und der Königssohn spürte, wie die Kälte nun mit eisigen Fingern nach seinem Herzen griff. So breitete er die Arme aus und hauchte mit ersterbender Stimme: »Trag mich zum weißen Turm, Feuervogel.« Und die Flügel aus Flammen schlossen sich um den Prinzen, und er ritt hoch über den dunklen Schneewolken bis fast in den Himmel hinein. Die Wächter des Turms aber konnten ihn im strahlenden Licht der Vogelschwingen nicht sehen, und so gelangte er vor den Sarg aus Diamant.

Lange Zeit stand er still und sah die Sommerkönigin einfach nur an. Ihre Haut war so weiß wie Kirschblüten im Frühling, ihr Haar rotgolden wie der große Fluß bei Sonnenuntergang. Er erinnerte sich an jenen Tag, an dem seine unbedachten Worte ihr Glück zerstört hatten. Und er hatte gewußt, was geschehen würde, noch bevor er es aussprach, und dennoch konnte er damals seine Zunge nicht im Zaume halten. Eine Träne perlte von seiner Wange und zerstob auf dem diamantenen Sargdeckel. Es war die erste Träne seit drei Jahren und drei Tagen. In den Bergen ringsherum erklang es wie Donner. Der Diamant, den kein Schwert der Welt hätte zerbrechen können, zerbarst in tausend Stücke. Unsichtbare Hände hoben die Sommerkönigin auf, und sie wurde davongetragen auf die Insel, die sie vor so langer Zeit verlassen hatte.

Mit ihr kehrte der Frühling ins Land zurück, und bald trugen die Kirschbäume an den Ufern des großen Flusses wieder schneeweiße Blüten. Die Hirten trieben ihre Herden in die Berge, und das Lachen und die Liebe kehrten in das Land zurück, in dem es so lange Winter gewesen war. Der Königssohn jedoch ward nicht mehr gesehen.

Drei Jahre und drei Tage vergingen, bis ein Hirte vor die Prinzessin trat und ihr von einer Höhle hoch in den Bergen berichtete, wo er einen Mann mit einem Bart aus Eis gefunden hatte, der mit toten Augen, doch einem Lächeln auf den Lippen, in eine verloschene Feuerstelle starrte. Und inmitten der kalten Asche hatte eine Feder gelegen, so rot wie der Sonnenuntergang.


Geron, der Märchenerzähler, verneigte sich vor dem König. Noch war es ganz still im großen Saal der Burg. Schließlich hob Gunther die Hände und begann zu klatschen. So als sei ein Bann gebrochen, taten die anderen Adligen und Höflinge es ihm gleich. Nur einer blieb unfähig sich zu rühren und starrte den Märchenerzähler an. Es war Volker von Alzey, der Spielmann des Königs. Ein junger Ritter mit schulterlangem, blondem Haar und verträumten Augen. Er hatte ein feiner geschnittenes Gesicht als die anderen Krieger bei Hofe, und auch sein Körper schien nicht so massig und gedrungen. Der erste Eindruck mochte täuschen, denn mit seinen schlanken Fingern verstand er ebenso geschickt, das Schwert zu führen wie die Laute zu schlagen.

Nachdenklich blickte der Barde in die Flammen der Feuergrube in der Mitte des Festsaals. Er wußte nicht zu sagen, woher es kam, daß dieses Märchen ihn so aufwühlte. War es vielleicht der Feuervogel? Wenn er ihm begegnete, wüßte er jedenfalls, was er ihn fragen würde.

»Ich danke dir für das schöne Märchen, mit dem du mich und meinen Hof unterhalten hast, auch wenn ich dir gestehen muß, daß ich Geschichten, die ein glückliches Ende nehmen, bevorzuge. Doch ihr Barden scheint da einen anderen Geschmack zu haben...« König Gunther warf einen Seitenblick zu Volker und lächelte. »Auf jeden Fall heiße ich dich willkommen in meiner Burg. Nimm Platz an meiner Tafel und verweile, solange du dem Ruf der Ferne zu widerstehen vermagst.«

Einen Augenblick lang hatte Volker den Eindruck, als wolle der Fremde dem König etwas erwidern, doch dann schien der Märchenerzähler es sich anders überlegt zu haben und verneigte sich. »Ich danke für Eure Gastfreundschaft und erkenne in Euren Worten den Poeten.«

Mit gesenktem Haupt ging der Mann rückwärts auf das hohe Tor zum Festsaal zu und ließ sich an einem der Tische am Ende der Festhalle nieder, die dem niederen Gefolge vorbehalten waren.

Gunther hatte sich zu Hagen gewandt. Der düstere Krieger zeigte nicht die geringste Emotion. Viele der Ritter bei Hof waren der Meinung, daß das Gemüt des Recken mindestens genauso düster wie seine Gewandung war. Mit seinem schwarzen mit Rabenfedern verzierten Umhang, dem schwarzen Bart und Haupthaar und der schwarzen Binde, die sein zerstörtes Auge verdeckte, sah der Tronjer fast aus wie einer der Helden aus den Geschichten über die heidnischen Götter, zu denen ihre Ahnen einst gebetet hatten.

»Nun, mein Freund«, fragte der junge König in aufgeräumten Tonfall, »wie hat dir die Geschichte gefallen?«

Der düstere Recke lächelte dünn. »Wenn man den Feuervogel und diesen diamantenen Sarg vergißt, könnte es ein wahre Geschichte sein. Ein Mann liebt eine Frau und verliert sie. Er ist verzweifelt und reitet in die Berge... Zur Jagd vielleicht... Dort wird er vom Winter überrascht. Er ist auf die Kälte nicht vorbereitet und erfriert. Der Rest...« Hagen machte eine wegwerfende Bewegung. »Das ist halt, was Dichter aus solchen Geschichten machen...«

Gunther lachte und wandte sich zu Volker. »Und du mein Dichter... Denkst du genauso wie mein Waffenmeister?«

»Es ist müßig, über die Wahrheit einer Geschichte zu debattieren, die ein Mann erzählt hat, den niemand kennt. Was ich zu beurteilen vermag, ist die Form, die er gewählt hat. Er versteht es, seine Worte wohl zu setzen, obwohl ihm der letzte Schliff zu fehlen scheint. Er wird den Gesetzen des Märchens gerecht. Es gibt ein Tier mit wunderbaren Fähigkeiten, eine magische Reise, einen Helden auf der Suche... Und für Märchen, die von Dichtern ersonnen werden, ist es auch üblich, daß sie tragisch enden.«

»Jetzt ist es aber genug!« Königin Ute erhob ihre Stimme. Sie saß an Gunthers Seite und hatte bislang schweigend mit dem Messer in dem Fisch herumgestochert, den man ihr aufgetragen hatte. »Ich mag nichts mehr von düsteren Geschichten hören. Ich hasse Erzählungen, die ein trauriges Ende haben. Sie trüben nur das Gemüt des Zuhörers... Da sind mir ja die frechen und unmoralischen Minnelieder der fahrenden Sänger noch lieber. Ich für meinen Teil möchte niemals in eine solch tragische Geschichte verwickelt sein. Ich kann solchen Märchen nichts abgewinnen.«



Geron, der Märchenerzähler, hatte sich auf einer Bank im kleinen Kräutergarten der Königin niedergelassen. Er streckte seine Glieder und lehnte sich gegen die Burgmauer, die von der Mittagssonne erwärmt wurde.

Volker beobachtete den Fremden eine Weile. Geron hatte nicht das Format, um ihm bei Hof seinen Ruf als Dichter und Epiker abspenstig machen zu können. Er schien ein schlichter Bursche zu sein. Doch gerade diese Schlichtheit gab seinem Märchen Kraft.

Der Spielmann war sich nicht sicher, wie alt Geron wohl sein mochte. Das Haar des Märchenerzählers war bereits von grauen Strähnen durchsetzt, und graue Stoppeln standen gleich Dornen auf seinen hohlen Wangen. Der Mann war hager, fast ausgezehrt, so als habe er lange Zeit nur schlechten Lohn für seine Kunst erhalten. Seine Bundschuhe waren löchrig, die schlichte Hose von Staub bedeckt... Er war sicher lange gewandert. Was hatte ihn wohl hierher an den Burgundenhof geführt? War es ein Zufall, daß er hierher kam? Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden... Volker schlenderte in Richtung der Bank.

Geron hatte seine Augen geschlossen. Wie eine Eidechse, die sich auf einem Stein sonnte, schien er die spätsommerliche Hitze zu genießen. Selbst als der Spielmann schon dicht neben ihm stand und sich leise räusperte, öffnete der Märchenerzähler seine Augen nicht.

»Ihr müßt Volker der Spielmann sein...« Der Fremde lächelte einen Augenblick, so als sei ihm ein besonderer Streich geglückt. »Ich habe bemerkt, wie Ihr mich vorhin im Rittersaal angesehen habt. Hat Euch an meinem Vortrag etwas nicht gefallen?«

Volker ließ sich auf der Bank nieder. Er wartete einige Augenblicke mit seiner Antwort. Der Spielmann konnte sich nicht vorstellen, daß Geron wirklich so ruhig war, wie er tat. Offenbar wollte er irgendein Spiel mit ihm treiben. Nur zu! Der Burgunde grinste. Was das anging, war er einem Fahrenden wie Geron gewiß überlegen. »Ich würde nicht direkt sagen, daß mir etwas nicht gefallen hätte. Obwohl... du hast das Wunderbare vielleicht ein wenig überbetont. Dieser weiße Turm, der natürlich auf dem höchsten Berg der Welt stand, der Sarg aus Diamant...«

»Na und! Es war ein Märchen! So etwas gehört dazu!« wetterte Geron aufgebracht. Der Märchenerzähler hatte sich vorgebeugt und musterte nun seinerseits Volker.

Der Burgunde blinzelte vorsichtig und lächelte. Es war, wie er gedacht hatte. Geron war leicht aus der Fassung zu bringen!

»Gibt es sonst noch etwas, was Euch an meiner Geschichte gestört hat, großer Spielmann

Volker hatte den Eindruck, als warte Geron auf einen ganz bestimmten Einwand. Der Barde zuckte mit den Schultern. »Das war eigentlich alles. Im Grunde fand ich die Geschichte sogar recht hübsch. Wo hast du sie her? Ich habe noch niemals von einem Feuervogel erzählen hören. Ich weiß nur vom Phönix der Araber, doch dies ist eine gänzlich andere Gestalt.«

»Der Feuervogel ist nicht nur eine Gestalt! Es gibt ihn wirklich!«

Volker schlug nun vollends die Augen auf und starrte Geron unverhohlen an. Offenbar war der gute Mann verwirrt. »So... Es gibt diesen Vogel mit den Flammenschwingen also wirklich. Womöglich bist du ihm sogar höchstselbst begegnet.« Kaum daß ihm die Worte über die Lippen gekommen waren, bedauerte Volker den ironischen Tonfall, in dem er gesprochen hatte, doch Geron schien dies gar nicht bemerkt zu haben. Er nickte aufgeregt.

»Ja, ich habe ihn wirklich gesehen! Von Ferne freilich nur, und ich glaube nicht, daß er mich bemerkt hat, doch weiß ich seit jenem Tag, daß ich dazu auserkoren bin, die Geschichte vom Feuervogel in die Welt zu tragen. So habe ich meine heimatlichen Berge verlassen und bin zum fahrenden Märchenerzähler geworden.«

»Und was warst du, bevor das Schicksal dich erwählte?« fragte der Spielmann ein wenig herablassend.

»Seit ich laufen kann, war ich ein Hirte in den Bergen. Mir wuchs kaum der erste Flaum auf den Wangen, als ich meine erste Begegnung mit dem Feuervogel hatte. Obwohl ich damals noch nicht zu erkennen vermochte, daß ich auf ihn oder, besser gesagt, auf sein Wirken gestoßen war. Es war drei Jahre nach dem schrecklichen Winter, und ich war mit den Ziegen aus meinem Dorf so hoch wie noch nie zuvor in die Berge gestiegen. Damals habe ich die Grotte mit dem erfrorenen Ritter gefunden und...«

»Du willst mir wohl einen Bären aufbinden!« Volker schüttelte verärgert den Kopf. Offenbar wußte der Kerl nicht mehr zwischen Dichtung und Wirklichkeit zu unterscheiden. »Am Ende willst du gar noch behaupten, dein Märchen sei wahr!«

»Ja, Ihr habt recht, Herr Volker! Ich bin der Hirte aus dem Märchen. Freilich ist das meiste aus meiner Geschichte erfunden, doch gibt es den Feuervogel wirklich, und es ist auch nicht gelogen, daß ich vor der Sommerkönigin gestanden habe, um ihr von dem erfrorenen Ritter zu berichten. Sie hat ihn an den Waffen, die ich zu beschreiben wußte, als ihren verschollenen Liebsten erkannt. Es hat mir später leid getan, ihr mit meinem Bericht jede Hoffnung genommen zu haben. Ich konnte ja nicht ahnen, daß sie es so aufnehmen würde. Nur wenige Wochen darauf ist sie spurlos verschwunden, und ich fürchte, es war meine Nachricht, die sie vertrieben hat.«

»Erzähl mir kein neues Märchen, um die Glaubhaftigkeit einer unglaublichen Geschichte zu unterstreichen.«

Geron seufzte. »Ich hätte nicht erwartet, daß auch Ihr an meinen Worten zweifelt.« Er öffnete den faustgroßen Lederbeutel, den er an seinem Gürtel trug, zog ein schlankes, kleines Holzkästchen daraus hervor und hielt es Volker hin. »Öffnet dies! Danach werdet Ihr mir Glauben schenken, Herr Spielmann!«

Der Burgunde strich vorsichtig über den polierten Deckel aus altersdunklem Rosenholz. Das Schmuckkästchen war schön gearbeitet, und die Seiten waren mit Schnitzereien verziert, die Efeuranken zeigten. Mit dem Daumennagel klappte Volker den Verschluß zurück. Das Kästchen war mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen, auf dem eine feuerrote Feder lag. Kein Vogel, den er je gesehen oder von dem er auch nur gehört hatte, trug ein solches Federkleid!

»Nun, Herr Spielmann, zweifelt Ihr noch immer an meinen Worten?«

»Woher hast du das?« flüsterte der Barde ehrfürchtig.

»Erinnert ihr Euch nicht mehr an das Märchen? Ich habe die Feder in der verloschenen Feuerstelle vor dem erfrorenen Ritter gefunden.«

Vorsichtig berührte Volker die Feder, halb darauf gefaßt, daß er sich die Finger verbrennen würde. Doch das Kleinod fühlte sich an wie jede andere Vogelfeder auch. »Woher weißt du, daß sie vom Feuervogel ist? Ich meine... Du hast ihn doch nicht gesehen! Und warum verbrenne ich mich nicht an ihr? Du sagtest doch, sein Gefieder sei wie Flammen.«

Geron nickte. »Gewiß, doch sind es Flammen, die Eure Seele verbrennen werden, wenn Ihr dem Feuervogel in seiner wahren Gestalt zu nahe kommt. Nur eine Feder bei sich zu tragen ist ungefährlich... Zumindest glaube ich das.«

Volker musterte den Fahrenden einige Augenblicke schweigend. Geron schien sich nicht darüber im klaren zu sein, wie sehr er sich irrte. Es lag ein Zauber in der Feder, und ihr Fund hatte sein Leben verändert. Er war vom Hirten zum wandernden Märchenerzähler geworden und hatte sich ganz dem Feuervogel verschrieben.

»Woher hast du all dein Wissen über diesen seltsamen Vogel, von dem du erzählst.«

Der Märchenerzähler grinste schief. »Ich weiß, wo ich ihn suchen muß. Und selbst wenn ich den Feuervogel nur einmal von Ferne selbst gesehen habe, so bin ich doch vielen begegnet, die ihm näher waren und von ihm erzählen konnten. Den Feuervogel findet man stets dort, wo Dunkelheit und Unrecht regieren. Die Gebete der Verzweiflung scheinen ihn herbeizurufen. Er bringt das Licht und die Hoffnung. Man sagt, er kann vielerlei Gestalt annehmen, und daß jene, die ihm begegnen, es meist erst begreifen, wenn er sie wieder verläßt, ganz so wie der Königssohn in meinem Märchen. Es heißt, daß der Feuervogel auf jede Frage eine Antwort kennt. Er spricht alle Sprachen dieser Welt, und kein Geheimnis kann vor ihm verborgen bleiben.«

»Und wo bist du ihm begegnet?«

»Ich habe ihn über einem Tal in den Bergen westlich von Castra Bonna fliegen sehen. Dies ist Frankenland, und der grausame Graf Ricchar herrscht dort. Er steht mit finsteren Mächten im Bunde, die ihm in jeder Schlacht zum Siege verhelfen. Für ihn haben sich die Pforten der Hölle geöffnet, und der Gottseibeiuns hat ihm hundert Ritter geschickt, deren Leiber aus Eisen sind, so daß keine Waffe sie zu verwunden vermag. In den Adern dieser Krieger aber fließt flüssiges Feuer, und wer immer ihnen zu nahe kommt, muß in Flammen aufgehen. Wo sonst als in einem solchen Land sollte man den Feuervogel fliegen sehen?«

Der Spielmann nickte bedächtig. »Krieger aus Eisen, in deren Adern flüssiges Feuer fließt... Du verstehst es, deine Zuhörer immer wieder zu überraschen.«

»Ihr wollt mir nicht glauben, Herr Volker. Beendet Euer Spiel mit mir. Ich werde Worms noch in dieser Nacht verlassen und mir einen Ort suchen, an dem man einem Fahrenden, der so viel gesehen hat wie ich, mehr Respekt entgegenbringt. Nun gebt mir meine Feder zurück. Ihr müßt blind sein, wenn Ihr mir mit dem Beweis für die Wahrheit meiner Worte vor Augen noch immer nicht zu glauben vermögt.« Fordernd streckte der Märchenerzähler die Rechte vor.

Volker klappte das kleine Schmuckkästchen zu und reichte es Geron.

»Ich hoffe, daß Euch Euere Zweifel niemals zum Verhängnis werden, Spielmann. Ich habe die Gabe des zweiten Gesichtes. Wisset, daß Ihr eines Tages mit Euerem König in einem brennenden Festsaal stehen werdet, und alle Tore sind Euch verschlossen. Das Feuer bestimmt Euren Weg...« Der Märchenerzähler steckte das Kästchen in den Lederbeutel an seinem Gürtel zurück, griff nach seinem Wanderstab, der an der Mauer des Turms lehnte, und schritt eilig über die staubigen Wege des sonnendurchfluteten Kräutergartens davon.

Lange blickte Volker ihm nach. Er wußte nicht, ob Geron nur ein harmloser Verrückter war oder ob er tatsächlich dem Wunderbaren begegnet war. Schließlich fragte sich der Spielmann auch, ob ihn nicht viele bei Hof für mindestens ebenso verrückt hielten. Er hätte Geron nicht verspotten sollen! Wenn es den Feuervogel tatsächlich gab, würde dieser ihm verraten können, wo er die Morrigan finden konnte, jene Heidenpriesterin, an die er im vergangenen Jahr sein Herz verloren hatte.

Volker fluchte leise. Dann machte er sich auf den Weg, den Märchenerzähler zu suchen. Doch im Garten war er nicht mehr zu finden. Als der Spielmann schließlich an das Tor der Königsburg gelangte, erklärten ihm die Wachen, daß der Fremde erst vor wenigen Augenblicken gegangen sei. Auf der Straße vor der Burg jedoch war niemand mehr zu sehen.

Der Barde eilte zu den Ställen und ließ sein Pferd satteln. Er ritt zur Stadt hinab und fragte in jeder Schenke und in jedem Gasthaus nach dem Märchenerzähler, aber keiner hatte Geron gesehen. Auch auf den Straßen, die von Worms fort führten, war der merkwürdige Wanderer nicht zu finden, und fast schien es, als habe es den Fahrenden niemals gegeben.

Lange nach Einbruch der Finsternis kehrte Volker zur Königsburg zurück. Er war sich jetzt sicher, daß Geron ihn nicht belogen hatte. Ein Mann, der es schaffte zu verschwinden, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen, war mehr als nur ein Hirtenjunge, der eines Tages beschlossen hatte, als Fahrender durch die Lande zu ziehen!

Wenigstens hatte Geron ihm eine Spur gewiesen. Er mußte nach Norden ziehen, überlegte Volker. Der Feuervogel würde wissen, wo die Morrigan zu finden sei. Es verging kaum eine Stunde, in der er nicht an die Herrscherin des Nachtvolks dachte. Mit Hilfe des Feuervogels würde er sie wiederfinden! Oder würde er nur einer Märchengestalt nachlaufen und sich lächerlich machen?

Volker lächelte müde. Er war wohl der einzige Ritter im Gefolge König Gunthers, der auf die Idee kommen würde, nach dem Funken Wahrheit zu suchen, der sich hinter einem Märchen verbergen mochte.


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