23. KAPITEL


In der Stadt herrschte eine gedrückte Stimmung. Golo war am späten Nachmittag in Icorigium eingetroffen. Sein neues Schwert hatte er auf den Rücken geschnallt und unter seinem Umhang verborgen. Die Wachen an den Toren kontrollierten nur sehr nachlässig. Die Krieger waren die einzigen, die guter Dinge waren. Ricchar wollte nach den Hinrichtungen ein großes Fest feiern lassen. Es sollte Fleisch für alle Soldaten und Bürger in der Stadt geben. Hundert Stiere wollte man schlachten. Sie sollten dem Götzen Mithras geopfert werden.

Die Straßen wimmelten vor Menschen. Von überall her waren sie gekommen, um dem Tod des Auserwählten und der Bardin beizuwohnen. Doch im Gegensatz zu anderen Fest- und Markttagen hörte man nirgends ein Lachen oder Lieder. Wenn die Menschen miteinander sprachen, taten sie es leise. Die weitaus meisten jedoch waren stumm und starrten vor sich hin.

Golo betrat durch jenes Tor die Stadt, über das man den Kopf des Ebers auf einen Pfahl aufgespießt hatte. Er verharrte dort und spuckte aus. Zu spät hatte den Schurken sein Schicksal ereilt. Und zu einem Helden hatte man ihn gemacht!

Der Ritter mußte einen weiten Umweg machen, um zum Marktplatz zu gelangen. Man hatte eine der Hauptstraßen abgesperrt und dort die Stiere zusammengetrieben, die in dem Ritual, das auf die Hinrichtung folgen würde, geopfert werden sollten. Woher Ricchar wohl all diese Tiere genommen hatte? Hundert gut genährte Stiere... Und das mitten im Winter. Der Fürst wollte den Unterworfenen seine Macht demonstrieren! Zeigen, daß für ihn, den Günstling des Götzen Mithras, nichts unmöglich war.

Schwarz vor Menschen war der Marktplatz im Herzen der Stadt. Voller schweigender Gesichter, die Augen gefangen von den zwei hohen hölzernen Gerüsten. Jeder sollte sehen können, was jenen widerfuhr, die sich gegen den Grafen erhoben hatten. Auf dem rechten Gerüst stand ein Eichenpfahl mit Ketten inmitten hoher Reisigbündel. Das andere aber war leer bis auf den hölzernen Richtblock, in den das Schwert des Henkers schaurige Narben geschnitten hatte. Soldaten in schimmernden Rüstungen und mit ehernen Masken auf den Gesichtern waren rings um den Richtplatz aufgezogen.

Verloren inmitten der Menschen blickte Golo zum Himmel. Finstere Wolken zogen von Westen heran. Schwarz wie die Nacht, bereit, das blasse Licht des Winterhimmels gänzlich zu verschlingen. Der Schrei eines Stieres zerriß die laute Stille auf dem Platz, klang über Raunen und halb erstickten Flüchen. Man darf einem Unrecht niemals unwidersprochen beiwohnen. Sieg oder Niederlage sind unwesentlich... Das hatte Volker zu ihm gesagt, als sie vor so langer Zeit zum ersten Mal in diese Stadt gekommen waren. Auch damals schon hatte auf diesem Platz ein Scheiterhaufen gestanden. Belliesa war als Zauberin angeklagt... Golo atmete tief ein. Was wohl geschehen wäre, wenn sie nur eine Stunde später gekommen wären. Er war der Ansicht, daß sie zu Recht dort oben gestanden hatte. Sie war ihm nicht geheuer... Und ohne sie müßte Volker heute nicht den Weg zum Richtblock antreten. Damals hatte der Spielmann ihn einen schlechten Ritter gescholten. Einen, der zwar die goldenen Sporen trug, doch der vom Geist des Rittertums unberührt geblieben war.

Golo tastete nach dem Schwert unter seinem Umhang. Volker war zu Unrecht verurteilt. Er war ein Opfer. Verführt von der Bardin! Mit ihren Liedern hatte sie es zuletzt geschafft, daß er den spielen mußte, der er nie sein wollte. Den Auserwählten! Den Anführer des Aufstandes gegen Ricchar. Belliesas Tod kümmerte den jungen Ritter nicht. Doch wenn der Henker das Schwert aufnahm, den Spielmann zu richten, dann würde er auf den Platz treten und Volkers Kläger herausfordern, schwor sich Golo. Gott würde ihm zur Seite stehen. Es war Unrecht, den Barden zu töten. Und wenn Volker schon sterben mußte, dann würden sie diesen letzten Weg gemeinsam gehen.

Der junge Ritter preßte entschlossen die Lippen zusammen. Dann drängte er sich durch die Menschenmenge, bis er ganz vorne war, direkt hinter den Soldaten, die um die Henkersgerüste standen.

Von Ferne ertönte dumpfer Trommelklang. Bald würde der Wagen mit den Verurteilten auf den Platz kommen.



Volker war so schwach, daß man für ihn einen Lehnstuhl auf die Pritsche des Leiterwagens gestellt hatte. So wie Belliesa trug auch er nur ein dünnes Büßerhemd, doch spürte er die Kälte des Winternachmittages kaum. Der Trank des Heilkundigen mußte ein Gift enthalten haben, das ihn halb im Traum gefangen hielt. Wie ein Meer weißer Flecken zogen die Gesichter an ihm vorbei. Etwas war an seinem Hals. Er griff danach. Ein Amulett aus Gold, daß ihm die Henkersknechte nicht abgenommen hatten. Es zeigte eine kniende Frau, die Arme mit mächtigen Vogelschwingen daran ausbreitete. Belliesa hatte dieses Amulett getragen.

Er blickte zu ihr. Sie stand vor ihm, stolz, hoch aufgerichtet. Man hatte sie im Gegensatz zu ihm in Ketten gelegt, so, als fürchte Ricchar, sie könne ihm immer noch entfliehen. Die Bardin blickte zum Himmel, als erwarte sie ein Zeichen. Schwarze Wolken zogen der Stadt entgegen. Es war der kürzeste Tag des Jahres, und wie es schien, würde er sogar noch vor seiner Zeit zu Ende gehen.

Der Spielmann war völlig ruhig, als der Wagen den Richtplatz erreichte. Dies alles mußte ein böser Traum sein. Er war Volker von Alzey, Ritter König Gunthers. Man würde ihn nicht einfach wie einen Strauchdieb hinrichten. Es war sein Schicksal, nach Aquitanien zurückzukehren und dort erneut nach der Morrigan zu suchen. Was hatte Belliesa auch gesagt? Wenn der Ritter stirbt, wird der unscheinbare Wanderer sie wiedergewinnen!

Zwei Männer stiegen auf den Wagen. Sie mußten ihm aufhelfen. Seine Beine waren schwer wie Blei. Der Ritter mußte sterben... Die beiden Henkersknechte brachten ihn auf eines der hölzernen Gerüste. Er bekam eine Krücke, auf die er sich aufstützen konnte. Belliesa hatte man auf dem anderen Gerüst mit ihren Ketten an einen Pfahl gebunden. Sie sah wunderschön aus. Ihr flammend rotes Haar schien in dem grauen Licht von innen heraus zu glänzen. Volker war völlig gefangen von diesem Bild.

Zwei Reiter kamen auf den Platz. Sie trugen prächtige Rüstungen und Maskenhelme. Einer von ihnen hielt Ricchars Drachenstandarte. Der andere schien der Fürst selbst zu sein. Ein Mann mit einer Fackel in der Hand trat auf Ricchar zu und reichte sie ihm.

Rings um Belliesa hatten die Henkersknechte inzwischen Reisigbündel angehäuft und sie mit Lampenöl übergossen. Ein einziger Funken würde genügen, um das dürre Holz in hellen Flammen auflodern zu lassen. Auf dem Platz war es völlig still. Nur das Heulen des auffrischenden Windes, der um die spitzen Giebel der Fachwerkhäuser strich, störte die Ruhe. Dann erhob Ricchar seine Stimme. »Bardin, du bist angeklagt der Zauberei! Hunderte von Männern hast du mit deinem Bann belegt und sie in den Kampf gegen mich getrieben, so daß ich deinem Unwesen mit Feuer und Schwert ein Ende bereiten mußte. Für das Leid, daß du über mich und meine Untertanen gebracht hast, verurteile ich dich zum Tode auf dem Scheiterhaufen.« Der Fürst machte eine kurze Pause. »So es hier auf dem Platz jemanden gibt, der etwas zugunsten der Verfemten vorzutragen hat, möge er nun sprechen!«

Wieder war es still. Volker wollte etwas sagen, doch seine Zunge war geschwollen, und nur ein Röcheln kam über seine Lippen. Verzweifelt sah er sich um. Unter all den Menschen mußte es doch auch paar Männer geben, die an ihrer Seite gekämpft hatten! Brachte denn keiner den Mut auf, für die Bardin einzutreten?

Ricchar warf seine Fackel in die Reisigbündel des Scheiterhaufens, und fauchend loderten die Flammen empor, als Belliesa ihre Stimme erhob, ein letztes Lied zu singen:


»O heißgelbes Feuer, das schwertweiß und

golden aus den Scheiten strömt:

Sei Flamme für die Soldaten in

ihren Kasernen in Icorigium!

Sei Höllenpein in den Adern Ricchars,

des ungerechten Richters!

Sei Fackel meiner Schwester, der Windsbraut,

auf daß sie diese Stadt finde!

Aus dem kalten Grau des Himmels

höre ich ihre Stimme.

Es ist das Wispern,

das nachts in den Bäumen klingt.

Ich weiß, es ist auch die Stimme des Schattens,

der über euren Gräbern liegen wird!

Spürt ihr das Beben?

Es ist das Zornbeben meiner Schwester Erde!

Was ihrem Leib entsproß,

habt ihr mir zum Tode bestimmt.

Spürt ihr den vielhundertfachen Schritt

des Verderbens, das ihr selbst in eure Stadt gerufen habt?

Ahnt ihr den gehörnten Schatten,

der über euren Gräbern liegen wird?

Und was ist...«


Der erstickende Rauch der Reisigbündel brach die Stimme der Bardin. Eine Flammenwand umschloß die weiße Gestalt auf dem Scheiterhaufen. Böse knisterte das Feuer, vom Sturmwind angefacht, der in eisigen Böen über den Platz fegte und wie mit kalten knöchernen Fingern nach den Kleidern griff. Dumpf klang der Husten hinter den Flammen, der Belliesa die Macht ihrer kristallenen Stimme geraubt hatte. Volker rannen Tränen über die Wangen.

Ein gellender Schrei klang über dem Schweigen. Fauchend fuhr der Sturmwind in den Scheiterhaufen, und eine lange Flammenzunge griff nach den beiden Reitern in der Mitte des Platzes. Wiehernd stiegen ihre Hengste. Ricchar stürzte. Funken hatten die breiten Stoffstreifen der Drachenstandarte in Brand gesetzt. In Panik peitschten die Pferde die Luft mit ihren Schweifen, in denen heiße Aschenflocken schwelten.

Volker hielt den Atem an. Die Flamme hatte die Gestalt eines Vogels gehabt. Der Scheiterhaufen war sein loderndes Nest. Doch der nächste Windstoß trieb ihn wieder zum Himmel. Glühende Funken regneten auf den Platz. Der Wind fegte den Schnee von den Dächern, zerrte an den Strohgiebeln und hölzernen Schindeln. Ricchars schwarzer Hengst stieg, und seine Hufe trommelten auf den gestürzten Reiter, der wehrlos am Boden lag.

Schreiend und kreischend stoben die Menschen auseinander, so wie Blätter, die der Herbstwind vor sich her treibt. Aus einem der Häuserdächer schlugen Flammen, als ein unheimliches Donnern den Boden erbeben ließ.

Von irgendwoher ertönte ein schriller Schrei. »Die Stiere!« Wie eine Flut aus Fleisch ergossen sie sich auf den Marktplatz. Volker sah, wie Ricchar versuchte, sich auf sein Schwert gestützt aufzurichten. Eines seiner Beine war blutverschmiert und widernatürlich verdreht. Als die Mauer gesenkter Hörner ihm entgegenbrandete, streckte er den rechten Arm aus, als wolle er den Stieren befehlen stehenzubleiben. Das war das letzte, was Volker von Ricchar sah.

Der Feuervogel aber erhob sich vom Scheiterhaufen und sprang von Dach zu Dach, jeweils ein Nest aus Glut zurücklassend, das der Sturmwind zu neuen Bränden entfachte. Plötzlich vernahm der Spielmann inmitten des Chaos die helle Stimme der Bardin.

»Vergiß mich nicht, mein Ritter. Was in den Flammen verging, wird in das Fleisch wiedergeboren werden. Auch für dich ist die Zeit nun gekommen...«

Verzweifelt sah sich Volker nach einem Ausweg um. Das Gerüst, auf dem er stand, erbebte unter den Stößen der Stierhörner. Glut fiel aus dem schwarzem Himmel, und die Luft war so heiß geworden, daß jeder Atemzug zur Qual wurde. Humpelnd versuchte er, die schmale Leiter zu erreichen, die vom Gerüst hinabführte. Doch wie sollte er so geschwächt, wie er war, den Stieren entkommen. Überall gellten die Schreie Sterbender, und die Flammen fauchten, als schlügen sie direkt aus den Abgründen der Hölle empor. Der Tag der Apokalypse, von dem die heilige Schrift kündete, konnte nicht schlimmer sein.

Ein schwerer Stoß ließ das Gerüst erzittern. Dann neigte es sich zur Seite. Verzweifelt versuchte Volker, sein Gleichgewicht zu halten, doch seine Krücke rutschte weg. Er schlug hin und schlitterte den stampfenden Hufen der Stiere entgegen. Seine letzten Gedanken galten dem Märchen vom Feuervogel. Der Ritter, der den weißen Turm bezwungen hatte, mußte dafür mit seinem Leben bezahlen. Und was hatte Belliesa ihm zum Abschied zugeraunt? Auch für dich ist die Zeit nun gekommen...


Загрузка...