EPILOG


Der Winter war fast vorüber, und Schnee und Schlamm vermengten sich zu einem knöchelhohen Brei in den Straßen von Worms, als eines Abends eine dunkle Gestalt die Königsburg verließ. Es war Hagen. Tief in Gedanken schritt er durch die engen Gassen des Gerberviertels seinem Ziel entgegen. Ohne Volker war es still geworden auf der Königsburg. Natürlich gab es auch andere Spielleute, doch jedesmal, wenn einer von ihnen bei Hofe spielte, schien die düstere Stimmung sich noch zu vertiefen, denn bisher hatte sich niemand gefunden, der Volker ersetzen könnte. Der finstere Recke lächelte melancholisch. Sogar den Ärger, den Volker gemacht hatte, vermißte er. Hagen mußte an die vielen Liebeshändel seines Freundes denken. Duelle im Morgengrauen, hinter der Burgkapelle... Nie hatte der Ritter einen der gehörnten Ehemänner getötet. Es war stets amüsant gewesen, seinen Fechtkünsten zuzusehen. Und die Geschichte mit der sächsischen Edlen, die der Spielmann verführte, während ihr Mann, der Gesandte des Sachsenkönigs, bei Gunther an der Festtafel saß... Jetzt war es viel ruhiger auf der Burg geworden und ernster. Es wurde weniger gescherzt und gelacht.

Hagen hatte sein Ziel erreicht. Mit seinem roten Fachwerkbalken und dem bunten Schild über der Tür hob sich das Badehaus deutlich von allen anderen Gebäuden in der Gasse ab. In Gedanken war er jetzt ganz bei dem Zuber voller heißem Wasser, der ihn in einer durch ein dickes Wolltuch vom großen Saal abgetrennten Nische erwartete. Es gab nicht Besseres, um die winterliche Kälte aus den Knochen zu vertreiben!

»Gott zum Gruße, Herr Ritter«, erklang eine heisere Stimme neben der Tür. »Habt ihr eine milde Gabe für einen, dem das Schicksal alles genommen hat.«

Verärgert blickte der Tronjer zu dem Bettler. Erst vor ein paar Wochen hatte er das Gesindel aus der Stadt vertreiben lassen. »Scher dich zum Teufel, Taugenichts! Ich habe nichts für dich!«

»Auch nicht für einen Freund desjenigen, der auszog, den Feuervogel zu suchen?«

Der Tronjer stutzte. Dann packte er den Bettler bei seinem schmutzigen Kittel und zog ihn mit einem Ruck auf die Beine. »Was weißt du über Volker? Heraus damit oder...« Mitten im Satz versagte Hagen die Stimme. Diese Augen! Der Kerl stank wie ein Ziegenstall. Seine Kleider waren Lumpen. Sein blondes Haar hing in schmutzigen Strähnen vom Kopf. Das Gesicht war hinter einem ungepflegten Bart verborgen. Doch diese Augen... Sie gehörten unzweifelhaft zu Volker!

»Du!« Hagen starrte ihn ungläubig an. »Jeder glaubt, du seiest tot!«

»Und dabei soll es auch bleiben. Volker, der Spielmann, so wie du ihn kanntest, ist am Christfest in Icorigium gestorben.«

»Unsinn! Du kommst jetzt mit mir und wirst dich waschen und etwas essen. Danach sehen wir weiter!« Ohne Widerspruch zu dulden, zerrte der Tronjer den Spielmann durch die Tür ins Badehaus.

Die Baderin kannte Hagen gut genug, um keine Fragen zu stellen, als er mit einem Bettler in ihr Haus kam. Und ein Blick von ihm genügte, sie wissen zu lassen, daß sie mit niemandem über diese Begebenheit reden sollte.

Er selbst kleidete den zitternden Bettler aus und befahl einer Magd, die Lumpen zu verbrennen, die der Mann am Leibe getragen hatte. Zwei frische rote Narben, an Bein und Arm, waren Zeugnis von Volkers letztem Kampf mit Ricchar. Auch die Hände des Spielmanns waren voller Schorf und Narben.

»Bei den Göttern«, murmelte Hagen ungläubig. »Du siehst wahrlich aus, als hättest du Ragnarök erlebt.«

Zögernd stieg der Spielmann in den großen Badezuber. Doch als er sich erst einmal an die Hitze des Wassers gewöhnt hatte, ließ er sich mit einem erleichterten Seufzer zurücksinken.

Zweimal mußte die Baderin heißes Wasser nachgießen, und ein Abendessen aus Fleisch und Brot hatte sie ihnen aufgetragen, bevor Volker an das Ende seiner Geschichte kam.

»...Als ich von dem Gerüst stürzte, wurde ich unter einem der Balken eingeklemmt. Dort war ich sicher vor den Hufen der Stiere, doch wäre ich wohl bei lebendigem Leibe verbrannt, hätte mich nicht ein junger Schmied, der bei meinen Freischärlern gekämpft hatte, erkannt und befreit. Im Keller seines Hauses hat er mich versteckt, als die Stadt brannte und die Sachsen mordend durch die Straßen zogen. Danach ist er mit seinem Weibe zu seinem Schwager, einem Köhler, der hoch in den Bergen wohnte, gezogen, denn niemand wollte in den Ruinen der Stadt bleiben, über die das Strafgericht Gottes hereingebrochen war. Den ganzen Weg in die Berge hat er mich auf seinem Rücken getragen. Er glaubte, in meiner Schuld zu stehen, weil er zu jenen gehört hatte, die kampflos die Waffen streckten, als die Armee Ricchars nach der Schlacht am Totenmaar vor den Toren Icorigiums erschienen war. In den Bergen pflegten sie mich, bis ich mich kräftig genug fühlte, meinen neuen Weg zu beschreiten.«

Hagen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Und was soll das für ein neuer Weg sein, den du gehen willst?«

»Ich werde kein Ritter mehr sein. Für meinen König bin ich fast gestorben, und ich habe in vielen Schlachten für Gunther gekämpft. Sage ihm nicht, daß ich noch lebe, denn nur wenn er glaubt, daß ich tot sei, bin ich von meinem Lehnseid befreit. Ich will kein Ritter mehr sein... Statt dessen werde ich als Jakobspilger nach Aquitanien ziehen, um meine verlorene Liebe zu suchen.«

»Du bist verrückt! Bleib ein paar Wochen in der Stadt verborgen. Ich werde eine Unterkunft finden, wo dich niemand kennt. Wenn du erst ganz gesund und bei Kräften bist, dann werden deine aberwitzigen Hirngespinste von ganz allein verfliegen.«

Der Spielmann sah ihn traurig an. »Das wird mit Sicherheit nicht geschehen. Ich habe stets dein Wort geachtet, Hagen, doch diesmal bist du im Unrecht. Erinnerst du dich noch an die Geschichte vom Feuervogel, mit der der fahrende Märchenerzähler Geron letzten Sommer den Königshof unterhalten hat?«

Hagen schnaubte verächtlich. »Märchen... Nein, ich erinnere mich nicht mehr. Das ist zu unbedeutend und...«

»Für mich war die Geschichte sehr bedeutend, denn sie wurde zum Spiegel meines Schicksals. Wie der Ritter bin ich aufgebrochen, meine Geliebte zu suchen, und merkte nicht, daß der Feuervogel auf meinem Weg an meiner Seite war. Erst besiegt und dem Tode nahe, erkannte ich ihn. Doch der Ritter, der ich einst war, überlebte dies nicht. Er starb in Icorigium, wo auch mein Schwert irgendwo in den Trümmern der Stadt liegt. Meine Herzenskälte und meine Blindheit habe ich verloren. Weißt du, daß es auf der Flucht in den Stollen einen Moment gegeben hat, in dem ich fast einen wehrlosen Säugling und seine Amme getötet hätte? Zu weit bin ich auf meinem Weg gegangen. Der Ritter mußte sterben! Jetzt erst kann ich hoffen, daß ich die erste, glücklichere Hälfte des Märchens erleben darf und mit jener Frau vereint sein werde, nach der mein Herz sich sehnt.«

Einen Augenblick dachte Hagen an sein eigenes tragisches Schicksal, und Bitternis stieg in ihm auf. »Märchen werden nicht wahr... Nicht im richtigen Leben!«

Volker blickte ihn mitleidig an, so, als ahne er etwas. »Erlaube, daß ich dir noch einmal das Märchen vom Feuervogel erzähle, dann wirst du meine Worte besser verstehen.«


Es begab sich zu einer Zeit, als Wunder auch einfachen Leuten noch begegneten und die Drachen in den Bergen nicht schon so tief schlummerten, daß nichts sie mehr aus ihrem Schlaf zu erwecken vermochte. In eben jenen Tagen zog ein junger Gesell aus, der in seinem Leben nichts mehr zu verlieren hatte, und hoffte, daß er es sein möge, der die Sommerkönigin finden würde, die vor langen Jahren von ihrer Burg vertrieben worden war. Und wie er so des Weges ging, da fiel ihm aus einem Nest ein kleines Vöglein vor die Füße. Aus dem Gebüsch aber eilte ein Fuchs herbei, der das Vöglein fressen wollte. Mit einem Streich mit seinem Wanderstabe vertrieb er den roten Räuber und setzte das Vöglein in sein Nest zurück. Da sprach es: »Ich will dir deine Tat vergelten, wenn du einst in größter Verzweiflung bist. Nun aber suche nach dem Muschelpfad, denn dort wirst du jene finden, nach der dein Herz sich sehnt.«

So wanderte der Geselle in jenes Königreich, wo Wasser und Land eins sind, und er fand den Muschelpfad. Doch so oft verzweigte sich der Weg, daß er auch nach Jahr und Tag die Sommerkönigin nicht gefunden hatte. Und als er schon aufgeben wollte, da ließ sich eines Abends das Vöglein auf seiner Schulter nieder und flüsterte ihm. »Verzage nicht, mein Freund! Geh in die Stadt des Herrschers unter dem Hirtenstab, denn dort wirst du jene finden, nach der dein Herz sich sehnt.«

Und so folgte der Geselle den Worten des Vögleins. Bald fand er jene Stadt, von dem es gesprochen hatte, und auch die Sommerkönigin, die unerkannt an jenem Ort lebte. Doch als er sie entdeckte, wurde auch der Herrscher unter dem Hirtenstab gewahr, wen er in den Mauern seiner Stadt beherbergt hatte. Und weil er einen alten Groll gegen die Sommerkönigin hegte, ließ er sie in den tiefsten Kerker seiner Burg bringen. Den Jüngling aber trieb er zur Stadt hinaus.

Verzagt saß der Geselle auf einem Stein am großen Fluß, als sich wieder das Vöglein auf seiner Schulter niederließ. Und es raunte ihm ins Ohr. »Suche den Ritter, der das Schwert des Adlerkönigs trägt. Er muß eine alte Fehde mit dem Herrscher unter dem Hirtenstab zu Ende bringen, und er wird dir helfen, jene zu befreien, nach der dein Herz sich sehnt.«

Und so brach der Geselle auf, den Ritter mit dem Schwert des Adlerkönigs zu finden, und als er ihm endlich begegnete, reisten die beiden zur Stadt des Herrschers unter dem Hirtenstab. Und der Ritter erschlug den bösen Herrscher, und sie stiegen hinab in den tiefsten Kerker und befreiten die Sommerkönigin. Doch die Knechte des toten Herrschers setzten ihnen arg zu. Und schließlich standen die drei auf dem höchsten Turm der Stadt und waren umringt von Feinden. Da erzitterte die Luft vom Rauschen mächtiger Schwingen, und ein Vogel, dessen Gefieder glühende Flammen waren, stieg hinter dem Turm empor. Da ergriffen die Knechte des toten Herrschers die Flucht, und der Vogel sprach: »Erinnerst du dich an mich, mein Freund. Einst hast du mir das Leben gerettet und mich vor dem Fuchs bewahrt, jetzt will ich meine Schuld einlösen und dich retten. Steigt nun auf meinen Rücken, und fürchtet euch nicht, denn wer reinen Herzens ist, den wird mein Gefieder nicht verbrennen.« Und so brachte der Feuervogel die drei auf jene Insel, auf der die Sommerkönigin einst geherrscht hatte, und sie machte den Wandersgesellen zu ihrem Manne und schlug ihn zum Ritter. Auch der Ritter mit dem Schwert des Adlerkönigs blieb an ihrem Hofe und diente den beiden treu.

In der Hochzeitsnacht aber nahm die Sommerkönigin ihren Gatten zur Seite und sprach zu ihm. »Erzähle mir niemals, was einst war. Ich habe vergessen, wer ich einst gewesen bin, und mir wurde geweissagt, daß, wenn ich aus deinem Munde erfahre, was ich vergaß, unser Glück auf immer zerstört sein wird.« Und so gelobte der Wandergeselle, der ein Ritter und König geworden war, auf immer zu schweigen.

Lange Jahre lebten die drei gemeinsam, und nichts vermochte ihr Glück zu trüben. Alle Feinde, die zur Insel der Sommerkönigin kommen wollten, wurden von den beiden Rittern besiegt. Doch mit den Jahren wurde das Herz des Wandergesellen so kalt wie die eherne Rüstung, die er am Leibe trug.

Da kehrte der Feuervogel noch einmal zurück, und er erzählte dem Wandergesellen, sein Vater sei ein König und ihn habe man noch als Kind aus der Burg fortgebracht und in der Fremde ohne Kenntnis um seine Geburt erzogen. So sollte verhindert werden, daß sich an ihm das schreckliche Schicksal vollzieht, daß man dem König bei der Geburt seines Sohnes geweissagt hatte. Doch nun war der alte König krank und lag im Sterben, und er wünschte sich noch einmal jenen Wandergesellen, seinen Sohn, zu sehen.

Die Sommerkönigin aber bat ihren Liebsten, nicht von ihrer Seite zu weichen. Da sagte ihr der Königssohn im Zorn, was für eine mächtige Herrscherin sie einst gewesen sei, und daß sie sich nicht vor einer kurzen Zeit der Einsamkeit fürchten solle. So verließ er die Insel und ritt zum Hof seines Vaters. Dieser jedoch genas von seiner Krankheit, so sehr freute er sich, seinen Sohn wiedergesehen zu haben. Als der Prinz aber in das Königreich, wo Wasser und Land eins sind, zurückkehrte, vermochte er die Insel der Sommerkönigin nicht mehr zu finden. An einem Wegkreuz aber erwartete ihn sein Freund, der Ritter mit dem Schwert des Adlerkönigs. Und dieser erzählte ihm, die Königin habe die Geister der Vergangenheit gerufen und sie seien gekommen, seine Liebste weit fort in die Berge zu tragen.

Als der Prinz den Ritter bat, ihm bei der Suche zu helfen, schüttelte jener nur den Kopf und erklärte. »Dieses Mal mußt du deinen Weg ganz alleine gehen, bist du erkennst, welcher Freund dich nicht verlassen hat. Finde den Feuervogel, und er wird dir noch einmal helfen.«

So trennten sich die beiden, und die Felder verdorrten, und ein eisiger Winter lag über dem Land. Drei Jahre und drei Tage war der junge Prinz durch die Berge geritten...

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