14. KAPITEL


Als Volker erwachte, war er in einer Kammer, die einzig vom matten Schein einiger glühender Scheite im Kamin erleuchtet wurde. Er ruhte auf einem Lager aus Fellen. Neben seinem Bett kauerte eine alte Frau, die eingeschlafen war. Ihr Gesicht war von Falten durchzogen. Wangen und Lippen waren eingefallen, so als habe sie keine Zähne mehr. Sie mochte vielleicht vierzig Jahre sein, vielleicht war sie auch jünger. Das Leben in den Bergen und unter den Räubern hatte sie ausgezehrt. Die wenigen grauen Strähnen in ihren langen, dunklen Haaren verrieten, daß sie noch nicht allzu alt sein konnte. Noch konnte man ahnen, daß ihr Gesicht einmal fein geschnitten und hübsch gewesen war.

Volker erinnerte sich nicht, wie er hierhergekommen war. Auf dem Weg zum Dorf des Ebers war ein Schneesturm aufgezogen. Er wußte noch, daß er das Tor erreicht hatte und mit dem Knauf seines Dolches dagegengehämmert hatte. Doch es war niemand auf Wachtposten gewesen, und seine Rufe waren im Heulen des Sturmes untergegangen. Schließlich mußte er völlig entkräftet vor dem Tor zusammengebrochen sein. Wie lange er dort wohl gelegen hatte? Oder war er am Ende gar nicht in dem Dorf?

Und was hatte die Kälte ihm angetan? Vorsichtig streckte er die Glieder. Er fühlte keine Schmerzen. Nur unendlich müde war er. Und doch... Er dachte an Geschichten von Männern, denen die eisige Winterkälte Finger oder Zehen fortgefressen hatte. Angeblich fühlte man nicht einmal etwas dabei, und man konnte die Glieder abbrechen, als seien sie aus Glas.

Unbehaglich blickte Volker auf den Fellmantel, der über ihn gebreitet war. Er konnte seine Hände nicht sehen. Ob er einen seiner Finger verloren hatte. Oder vielleicht sogar mehrere. Er versuchte, sich auf seine Hände zu konzentrieren und die Finger einzeln zu bewegen, doch es mochte ihm nicht gelingen. Ein eisiger Schauer kroch ihm den Rücken hinab. Seine Hände waren bandagiert! Selbst wenn er nur die Kuppe eines Fingers verloren hätte, würde er nie wieder die Laute schlagen können. Womöglich könnte er auch kein Schwert mehr führen. Vorsichtig schob er den Fellmantel mit den Füßen zurück. Sie waren nicht verbunden. Seinen Zehen schien also nichts geschehen zu sein.

Als er die Decke so weit zurückgestreift hatte, daß sie nur noch wenige Zoll oberhalb der Handgelenke lag, hielt er inne. Wollte er es wirklich wissen? Er dachte an die wunderbaren Abende am Hof zu Worms, an denen er den König und sein Gefolge mit Lautenspiel unterhalten hatte. Die Edeldamen, Dirnen oder Mägde, die an seinen Lippen gehangen hatten, wenn er zum Klang der Laute von der Liebe sang. War all dies nun für immer vorbei? Wie würde seine Zukunft aussehen? Er war ein Ritter, doch bei Hofe nannte ihn jeder nur den Spielmann. Würde man ihn bald schon hinter vorgehaltener Hand den Krüppel nennen? Würden die Frauen, deren Herzen er einst entflammt hatte, voller Mitleid auf seine verstümmelten Finger starren?

Mit einem Ruck zog er die Hände unter dem Pelz hervor. Sie waren dick mit Leinenstreifen umwickelt. Dunkle Flecken malten sich im hellen Stoff ab. Volker hielt seine Rechte ganz dicht vor sein Gesicht, um in dem schwachen Licht besser sehen zu können. Der Verband roch nach ranzigem Fett und nach Kräutern.

Der Ritter versuchte die Finger zu krümmen, doch das Leinen war so stramm gewickelt, daß es ihm kaum gelingen wollte. Er fluchte leise. Diese Stoffetzen mußten weg! Er wollte seine Finger sehen. Er mußte sicher sein, daß mit ihnen alles in Ordnung war!

Mit den bandagierten Händen konnte er den Verband nicht lösen. Also führte er die Rechte an seine Lippen und zerrte mit den Zähnen an den Leinenstreifen.

»Was tut Ihr, Herr?« Die Frau neben der Bettstatt hatte sich erhoben. »Ihr müßt den Verband in Ruhe lassen.«

»Was ist mit meinen Fingern!« herrschte Volker das Weib an. »Sag es mir auf der Stelle, und versuche nicht, mich zu belügen.«

»Sie sind... Der Biß des Winters hat Euch Wunden geschlagen. An den Händen war es am schlimmsten. Kudrun hat sich darum gekümmert. Sie ist bewandert im Umgang mit Salben, Herr. Aber sie hat gesagt, daß der Verband erst nach drei Tagen abgenommen werden darf.«

»Warum? Wie haben meine Hände ausgesehen? Muß ich um meine Finger fürchten?«

»An den Spitzen einiger Finger hatte sich die Haut dunkel verfärbt, Auserwählter. Aber Kudrun hat gesagt, daß die Engel Euch beschützen. Sie war erst vor einer Stunde hier, um an den Verbänden zu riechen. Sie meinte, daß alles gut sei.«

Volker hob die Rechte unter die Nase. Er fand nicht, daß der Verband gut roch. Hatte das Kräuterweib etwa Angst, daß seine Finger brandig wurden und abfaulten. Er schluckte.

»Wo ist diese Kudrun? Ich will sie sehen!«

»Fühlt Ihr Euch denn stark genug, um Euch zu erheben, Auserwählter?«

»Wenn du meinst, daß sie nicht zu mir kommen kann, sondern ich mich zu ihr begeben muß, dann ja. Ja, ich glaube ich kann laufen. Wie lange bin ich eigentlich schon hier?«

»Zwei Tage, Herr. Ihr habt die ganze Zeit geschlafen. Jetzt solltet Ihr erst einmal essen, und dann werde ich Euch zum Eber bringen. Er hat befohlen, daß Ihr sofort zu ihm kommen sollt, sobald Ihr wieder bei Kräften seid.«

»Ich will zuerst zu Kudrun, Weib. Sie soll mir sagen, wie es um mich steht.«

»Aber der Eber hat befohlen...« Die Stimme der Frau zitterte. Obwohl er nicht sehr laut sprach, hatte der Tonfall seiner Worte sie zusammenzucken lassen. »Kudrun wird auch in der Festhalle sein. Wenn ich Euch dorthin bringe, werdet Ihr auch sie sprechen können, Herr. Alle sind dort, um der Bardin zu lauschen.«

»Der Bardin!« Mit einem Ruck richtete sich Volker auf dem Lager auf. »Sie ist hier? Wann ist sie gekommen?«

Die Alte wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Seine heftige Reaktion schien sie vollends eingeschüchtert zu haben. »Sie kam vor drei Tagen, Auserwählter. Sie war es auch, die Euch vor dem Tor gefunden hat. Gestern hat sie die ganze Nacht an Eurem Lager gewacht. Erst als sie sah, daß es Euch wieder besser ging, hat sie eingewilligt, in der Festhalle zu singen.«

Woher wußte Belliesa, daß er hierher unterwegs war? War es ein Zufall, daß sich ihre Wege wieder gekreuzt hatten? Volker dachte an die Tote draußen im Schnee, die der Sängerin so ähnlich gesehen hatte. Sie hatte mit der Stimme der Bardin gesprochen. Und die roten Federn. Hatte der Feuervogel die zu Tode erschöpfte Frau den Hügel hinaufgeführt? Volker wußte, daß er das Dorf des Ebers nicht mehr rechtzeitig vor dem Sturm gefunden hätte, wenn er nicht der Spur im Schnee gefolgt wäre. Dann läge auch er jetzt irgendwo dort draußen unter einer kalten Decke begraben.

Sein Magen knurrte. Er hatte das Gefühl, er könnte einen halben Ochsen verspeisen. Neben der Glut stand ein eherner Topf in der Feuerstelle. Ob es wohl etwas zu essen gab? Er sollte freundlicher zu dem Weib sein.



Auf die Alte gestützt, trat Volker in die große Halle. Erst hatte er alleine gehen wollen, denn schließlich waren ja nur seine Hände verletzt, doch nach kaum zwanzig Schritt war er froh, daß die Frau an seiner Seite ging. Ihm wurde schwindelig, die Häuser ringsherum begannen einen wilden Tanz, und hätte ihm die Alte nicht stützend unter die Arme gegriffen, dann wäre er gestürzt.

Hinter der kleinen Tür, die ins Festhaus führte, waren schwere Felle aufgehängt, um die Kälte des Winters draußen zu halten. Den gestampften Lehmboden hatte man mit einer dicken Schicht aus Stroh bedeckt, dem noch immer der Duft der Erntezeit anhaftete. Es roch aber auch nach Bier und altem Schweiß. Wie Nebel stieg Rauch von der langen Feuergrube in der Mitte der Halle auf und zog unter den geschwärzten Dachbalken bis hin zu der kleinen Öffnung, die als Abzug im Giebel ausgespart geblieben war.

Der Festsaal war gedrängt voller Leute. Es mochten fast hundert sein. Dennoch herrschte Totenstille. Alle lauschten gebannt der Stimme der zierlichen Sängerin, die auf einem der Tische stand und von Helden aus alter Zeit erzählte. Geschickt begleitete sie die Verse mit Lautenspiel.

Die Alte an Volkers Seite sorgte dafür, daß ein paar Frauen auf einer der Bänke zusammenrückten, die an der Wand nahe der Tür standen. Dankbar ließ der Spielmann sich nieder. Seine schmerzenden Hände hatte er vergessen und auch, daß er gekommen war, um nach der Heilerin zu suchen. Wie alle anderen, so hatte die Bardin auch ihn in ihren Bann geschlagen.

Fast unmerklich veränderte sich der Klang ihrer Melodie. Sie redete jetzt von Blut und Tod und den Schrecken der Verdammnis. Trotz der stickigen Hitze begannen die Menschen zu zittern. Belliesa sprach vom Bösen und dem Wirken des Bösen. »Es ist wie eine Flut. Zunächst bemerkt man es kaum, wenn das Wasser in dem kleinen Bach, an dem man lebt, zu steigen beginnt. Dann plötzlich, über Nacht, wird der Bach zu einem reißenden Strom. Eure Häuser, die ihr für sicher gehalten habt, sind überflutet. Die Schwachen, die sich gegen den Fluß stemmen, werden einfach von ihm fortgerissen. Nur die Starken vermögen ihm zu widerstehen, doch wenn das Wasser geht, erwartet sie noch eine zweite Prüfung. Das Land, das sie einst kannten, scheint plötzlich trostlos. Wiesen, Straßen und Äcker sind unter einer dicken Schicht aus schwarzem Schlamm begraben. Selbst große Bäume sind entwurzelt, die Ernte verdorben. Die Landschaft ist zum Spiegel jener Seelen geworden, die sich dem Bösen ergeben haben. Nur die Allertapfersten vermögen der Hoffnungslosigkeit, die der Flut folgt, zu begegnen. Nur jene Männer und Frauen, die eine Vision haben, werden bleiben. Jene, die sich inmitten der schlammigen Einöde wieder ein blühendes Land vorstellen können.«

Belliesa machte eine kurze Pause und blickte prüfend in die Runde. Dann wiederholte sie leise und mit eindringlicher Stimme. »Nur die Allertapfersten werden bleiben.«

»Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als würde euch der Winter in diesem Jahr das Fleisch von den Knochen fressen. Die Männer waren nicht so erfolgreich wie in früheren Jahren, als sie zur Jagd hinauszogen, und auch die Acker in den Hügeln ringsherum hatten nur eine magere Ernte erbracht. Die Vorratshäuser des Dorfes waren nicht einmal zur Hälfte gefüllt, und jeder wußte, daß noch lange vor den ersten warmen Frühlingstagen der Tod zu Gast sein würde in diesem Dorf. Kalte Verzweiflung kroch in eure Herzen, noch bevor der erste Wintersturm an den hölzernen Läden eurer Hütten rüttelte.

Doch dann brachte der Eber einen Fremden mit goldenem Haar hierher. Es gefiel dem Krieger bei euch. Er legte seine Rüstung ab und trug schon bald die Kleider der Männer aus den Bergen. Als er eure Verzweiflung erkannte, faßte er einen Plan, vor dem selbst die mutigsten Ritter zurückgeschreckt wären. Mit nur dreißig Mann wollte er die reiche Stadt hinter den Bergen erobern, um dort aus den übervollen Lagerhäusern der fränkischen Tyrannen genug Korn zu holen, um das Dorf über den Winter zu bringen.«

Fasziniert verfolgte Volker, wie die Bardin die Geschichte vom Überfall auf Castra Corona zu einem wahren Heldenepos verdrehte. Es war das erste Mal, daß er Zeuge wurde, wie sie ihn als den Auserwählten beschrieb, und er begann zu begreifen, was jene in ihm sahen, die nur Belliesas Lieder kannten.

»... ganz allein trat der Eber unter das Portal des Hauses, in dem er den Tyrannen besiegt hatte, und forderte dessen Knechte, die sich in schimmernder Wehr auf dem Hof versammelt hatten, zum Kampfe. Er sah, daß der Auserwählte in tödlicher Gefahr war, daß sie das Tor besetzen und ihn töten würden. Doch der Eber lachte der Gefahr nur ins Gesicht. Und er stürzte sich ins Gefecht, um sein Leben zu schenken, damit der Auserwählte entkommen konnte. Doch als das Tor endlich offen war und der Fluchtweg frei, kehrte der Ritter um, um an der Seite seines Freundes zu streiten.«

Volker starrte auf das schmutzige Stroh zu seinen Füßen. Zu gut erinnerte er sich an sein Zögern. Daran, wie er ernsthaft erwogen hatte, den Eber im Stich zu lassen. Der Räuberfürst hatte den Statthalter schließlich nicht im Zweikampf besiegt, so wie die Bardin es in ihrem Lied schilderte, sondern ihn einfach ermordet. Und der junge Wachsoldat, den er am Boden liegend gemeuchelt hatte, wurde auch mit keinem Wort erwähnt.

»So fochten sie Rücken an Rücken und trotz all ihres Mutes wären sie verloren gewesen, wäret nicht ihr gekommen, um sie zu retten. Die Männer des Waldes!« Belliesa drehte sich um und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Volker.

»Und dort ist er, der Auserwählte... Er hat das Krankenlager verlassen, um wieder an eurer Seite zu sein und mit seinem Freund, dem Eber, aus einem Methorn zu trinken und mit ihm zusammen zu neuen Taten aufzubrechen, um den Tyrannen Ricchar auf immer aus den Bergen zu vertreiben, damit kein freier Mann sich mehr unter der Knute der Franken beugen muß und ihr nicht mehr kämpfen müßt, um das Korn, das auf euren Feldern gewachsen ist, aus den Vorratshäusern der Besatzer zu holen! In dieser Nacht soll gefeiert werden, doch vergeßt nicht jene, die der Graf aus den Städten am großen Fluß vertrieben hat, weil sie an eure Sache glaubten.«

Volker horchte auf. Wovon sprach Belliesa? War das wieder eine ihrer Lügen? Lauter Jubel brandete durch die Halle, als die Bardin vom Tisch steigen wollte. Der Spielmann spürte, wie der Lehmboden unter seinen Füßen vibrierte, als die Männer und Frauen johlend mit den Füßen stampften. Die Krieger hatten die Bardin auf ihre Schultern gehoben.

Auch Volker packten sie nun und trugen ihn durch die Halle bis hin zum Eber, der ihm die Hand reichte. Der Räuber wirkte verändert. Die Grausamkeit und Härte schien aus seinen Zügen gewichen. Er lächelte.



Als Volker erwachte, schmerzte sein Kopf vom vielen Met, den er am Abend zuvor getrunken hatte. Er setzte sich auf und sah sich blinzelnd um. Irgend jemand hatte ihn in die Hütte der alten Frau zurückgebracht. Er konnte sich an nichts mehr erinnern.

»Gut, daß du endlich wach wirst. Ich hatte schon überlegt, ob ich eine Handvoll Schnee holen sollte, um dich aus deinen Träumen zu reißen, Ritter!«

Volker war jetzt hellwach. Deutlich erkannte er im Zwielicht die Gestalt des Ebers. Der Gesetzlose stand über sein Lager gebeugt und blickte zu ihm herab.

»Was willst du von mir? Bist du gekommen, um mich an Stelle der Alten mit Suppe zu füttern? Stimmt etwas nicht?«

»Ja...«

»Und?«

»Es ist wegen der letzten Nacht.« Der Räuber schien mit jedem Wort zu ringen, das er über die Lippen brachte. »Wir beide wissen, daß sie gelogen hat... Daß es anders war...«

Volker seufzte. »Worauf willst du hinaus?« Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß der Eber wegen einer Lüge ein schlechtes Gewissen hatte.

»Erinnerst du dich an Belliesas Worte über das Land, das unter dem Schlamm des Flusses begraben liegt. Es ist schwarz und verdorben, doch weil sich die, die zurückgeblieben sind, vorstellen können, daß es einst wieder blühende Wiesen und Felder geben wird, wird es eines Tages auch wieder anders sein...«

Volker nickte. Er hielt das Bild, das die Bardin geprägt hatte, nicht für so eindrucksvoll wie der Räuber. Aber vielleicht war das nur so, weil er an den Ufern des großen Flusses aufgewachsen war und genau wußte, daß man nach dem Hochwasser im Frühjahr nicht viel tun mußte. Im Gegenteil. Es brachte fruchtbaren Boden, und die Felder begannen ganz von alleine wieder zu blühen...

»Ich weiß, daß ich nicht der Held bin, von dem sie gestern gesungen hat. Ich bin auch kein Narr. Ich weiß genau, daß sie mich letzte Nacht auch als einen Mörder und ein Ungeheuer hätte darstellen können... Wenn sie es gewollt hätte, wären meine Männer gekommen, um mir meine Eingeweide herauszureißen, statt mich auf ihren Schultern zu tragen, so wie sie es getan haben.« Der Eber rieb sich sein vernarbtes Kinn. Einige Herzschläge lang herrschte Schweigen zwischen den beiden.

»Ich weiß, daß ich an deiner Seite ein Held sein könnte... Auserwählter. Gestern abend von meinen Männern gefeiert zu werden, das war besser als eine Nacht bei einer Hure, die sich wirklich auf ihr Geschäft versteht und mich vergessen läßt, wie ich aussehe und was ich bin.«

Der Eber ließ sich auf den grob gezimmerten Stuhl neben dem Lager aus Fellen nieder. Doch es war mehr als nur ein Sichsetzen, er schien regelrecht in sich zusammenzusinken. »Der Mord an dem Statthalter... Ich habe es wegen der Dinge getan, die er mir gesagt hatte. Ich kenne diesen Blick, von dem er gesprochen hat, sehr gut. Die Angst und den Ekel. Gestern, das war so anders... Es hat mir gut getan. Doch jetzt ist das Gefühl wieder fort. Statt dessen bin ich traurig und... Nein, es ist auch keine richtige Trauer. Es ist... Weißt du, was ich meine?«

Der Spielmann nickte. Er war sich zwar nicht ganz sicher, ob er den Räuber verstand, doch schien es ihm klüger, den Eber jetzt nicht zu unterbrechen.

»Belliesas Geschichte war eine Lüge. Du weißt genau, daß ich nur deshalb nach Castra Corona gegangen bin, weil ich Angst hatte, daß meine Männer gegen mich rebelliert hätten, wenn am Ende des Winters die Vorratsspeicher leer gewesen wären. Und trotzdem hat mich ihre Geschichte berührt... weil es die Wahrheit hätte sein sollen. Ich habe mich nie darum geschert, ob ich geliebt wurde. Aber heute abend haben sie mich gefeiert, sie haben mich hochgehoben. Und das, Ritter, war der schönste Augenblick in meinem Leben.«

»Wie war das, als du die Krieger angegriffen hast, um mich zu retten. Hattest du Angst?«

»Ja.« Der Eber nickte.

»Und dennoch hast du es getan, ohne darüber nachzudenken, ob du getötet werden könntest.«

»Weißt du, ich habe nur noch die Franken gesehen. Dich konnte ich im Dunklen nicht erkennen. Ich habe auch nicht mehr an dich gedacht. Mein Weg war versperrt, und ich wollte nur noch so viele Feinde wie möglich mit ins Grab nehmen. Das war alles. Das ist meine Heldengeschichte...«

Wieder herrschte Schweigen zwischen den beiden, bis schließlich Volker fragte: »Und wenn du am Tor gestanden hättest und ich in der Falle gewesen wäre, hättest du mir geholfen?«

»Hältst du mich für verrückt?« Der Eber grinste, dann wurde er plötzlich ernst. »Du wirst Gelegenheit haben zu sehen, ob ich mich ändern kann oder ob mich diese dummen Geschichten der Bardin nur in seltsame Stimmungen gestürzt haben. Ricchar hat all diejenigen aus den Städten, die noch unter seiner Herrschaft stehen, vertreiben lassen, die nicht öffentlich dem Christentum abschwören wollten oder denen seine Männer unterstellten, daß sie insgeheim auf Seiten der Rebellen stehen. Der Fürst hat Angst vor dir, Ritter. Ich möchte, daß er auch Angst vor mir hat. Als erstes werden wir in die Berge gehen und sehen, wer von den Flüchtlingen noch lebt... Wir bringen sie nach hier oder in die Städte. Natürlich will Ricchar unsere Vorräte erschöpfen, indem er all diese unnützen Esser zu uns schickt...«

Volker wollte protestieren. Er fühlte sich noch zu schwach, um wieder in die Berge zu gehen, aber der Räuber ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Und was uns beide angeht... Du bist wohl kaum gekommen, weil du Sehnsucht nach meiner reizenden Gesellschaft hattest. Du brauchst Krieger, nicht wahr? Du wirst mich und meine Männer bekommen. Ich werde immer an deiner Seite stehen. In jedem Heldenlied, das man über dich singt, Ritter, wird von nun an auch der Eber vorkommen... Aber ich warne dich. Wenn das alles schiefgeht, werde ich dir eigenhändig den Schädel einschlagen. Ich habe nicht vor zu verrecken... Ist das klar?«


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