20. KAPITEL


Als Golo erwachte, war er allein. Er hatte nicht bemerkt, wie Mechthild ihn verlassen hatte. Seine Hand tastete nach den Fellen, auf denen sie geschlafen hatte. Sie waren kalt. Es mußte mindestens eine Stunde vergangen sein, seitdem sie gegangen war.

Er drehte sich auf den Rücken und starrte zur Decke. Die Glut in der Feuerstelle war fast verloschen. Es war eisig kalt in der Hütte. Ob es draußen schon dämmerte?

Der junge Ritter dachte an die vergangene Nacht. Was mochte jetzt in Mechthild vorgehen? War es ein Fehler gewesen, sie zurückzuhalten, als sie ein zweites Mal mit ihm schlafen wollte? War sie beleidigt und deshalb gegangen? Dabei war sie so friedlich in seinen Armen eingeschlafen... Er wollte ihr diese Ängste nehmen. Wie es für sie wohl war, jeden Tag den Eber sehen zu müssen. Dieses narbengesichtige Ungeheuer, das seinen Männern den Befehl dazu gegeben hatte...

Sie mußten hier weg. Nicht allein wegen des Ebers. Hier zu bleiben hieße sterben, dessen war Golo sich völlig sicher. Es war nur eine Frage von Zeit, bis die Franken das Bergdorf stürmten. Er würde nicht abwarten, bis es soweit war. Sie mußten fliehen. Am besten noch in dieser Nacht! Rother hatte es geschafft, hier herauszukommen... Es würde auch ihnen gelingen!

Golo dachte an Volker. Ob der Spielmann sie verstehen würde? Sein Freund würde begreifen, warum er so handeln mußte. Es war kein Verrat... Volker hatte ihm ja schon in Treveris die Wahl gelassen, ob er mit in die Berge kommen wolle.

Von den Wällen erklangen Signalhörner. Die Franken griffen an! Fluchend sprang der Ritter vom Lager auf und tastete unbeholfen in der Dunkelheit nach seinen Kleidern. Dieses Mal würde er noch kämpfen! Er war kein Feigling! Aber sobald es dunkel würde...

Der Ritter verschnürte sein Lederwams und griff nach seinem Schwertgurt. Etwas stimmte nicht... Der Gürtel war zu leicht. Sein Dolch fehlte. War er herausgefallen? Er tastete über den Boden, doch konnte er in der Dunkelheit nichts finden. Vielleicht hatte er die Waffe auch auf seinem Schlafplatz in der Hütte neben der Festhalle gelassen. Gestern hatte er dort seine Waffen geputzt. Wieder erklangen die Hörner vom Wall. Es war keine Zeit mehr, danach zu suchen. Er stieß die Tür der Hütte auf und trat hinaus.

Das klare Licht blendete ihn. Es war später, als er gedacht hatte. Fast schon Mittag. Müde streckte er seine Glieder. Die Luft war eisig. Er schlug den Umhang über seine Schulter und blickte den Weg hinunter zum Wall. Die meisten Männer hatten sich schon dort eingefunden. Seine Hand glitt zum Schwert. Er betete leise, daß ihn nicht heute sein Schicksal ereilte.

»Golo«, eine Gestalt taumelte durch den Schnee. Die Sonne stand genau hinter dem Mann. Der Ritter kniff blinzelnd die Augen zusammen. Es war der Eber. Er war fast nackt. Die Rechte hielt er auf seine Brust gepreßt. Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch.

»Verfluchte kleine Hure«, er stützte sich gegen die Wand der Hütte. »Hol das Kräuterweib, schnell! Ich blute wie ein abgestochenes Schwein.«

Verfluchte kleine Hure. Laut wie Donnerschlag hallten die Worte durch Golos Kopf. Wieder starrte er auf den Gesetzlosen. Die Wunde war dicht über seinem Herzen. Golo erinnerte sich an das Gespräch, das er mit Mechthild geführt hatte, bevor er sie im Schwertkampf unterwies.

»Nein!« Mit einem gellenden Schrei rannte er zum Turm. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er die Treppe an der Außenwand hinauf. Das niedrige Tor am Ende der Treppe stand weit offen. Der große Raum dahinter lag im Zwielicht. Stickige Luft schlug ihm entgegen.

»Mechthild?« flüsterte er. Er würde sein Leben geben, wenn nicht sie es gewesen war, die versucht hatte, den Eber zu töten. Unsicher trat er in den hohen Raum. Es dauerte einige Augenblicke, bis er im grauen Zwielicht etwas sehen konnte. Der Eber hatte die Schießscharten für den Winter mit Holzläden verschlossen, so daß nur noch durch einige schmale Ritzen Licht ins Innere fiel.

Jetzt erkannte Golo das Lager nahe dem verloschenen Kamin. Eine zusammengekauerte Gestalt lag dort.

»Mechthild!« Er rannte quer durch den Raum, stolperte fast über einen schweren Kerzenständer und kniete neben dem Lager nieder. Das Mädchen war über und über mit Blut bedeckt. Neben ihr lag sein Dolch.

»Nein!« Er konnte es nicht glauben. Das mußte ein Alptraum sein. Sie war doch in seinen Armen eingeschlafen! Was hatte sie hierhergetrieben? Mit zitternder Hand strich er ihr das blutverklebte Haar aus dem Gesicht. Ihre Lippen bebten. Ihre Haut war noch warm, doch so weiß wie Kalk.

»Ge... liebter...«

Die Stimme des Mädchens war kaum mehr als ein Hauch. Er beugte sich zu ihr hinab. »Ja, meine Prinzessin. Ich bin hier. Es... es wird alles wieder gut. Ich hole die Heilerin... und Belliesa. Sie wird eines ihrer Zauberlieder für dich singen und...«

»Ver... zeih mir...«

Er wollte etwas sagen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Sie durfte nicht sterben! Warum war er nicht erwacht, als sie aufgestanden war, um zu gehen?

»Gestern... ich habe immer... nur sein Gesicht... ge... sehen... Ich mußte... mich von ihm... befreien...«

Golo legte sich neben sie. Er nahm sie sanft in die Arme. »Es ist gut. Wir werden aus dem Dorf fliehen und ihn vergessen... Ich werde dich pflegen, und noch bevor der Frühling kommt, wirst du wieder ganz gesund sein. Ich werde dich mit an den großen Fluß nehmen. In mein Dorf... Wir werden heiraten, wenn die Apfelbäume blühen. Es ist schön, dort Hochzeit zu feiern. Wir werden den Apfelwein vom Vorjahr trinken und...«

»Danke...« Ihre Augen weiteten sich. »Ge... liebter...« Ein Zittern lief durch ihren Körper.

»Nein!« Golos Schrei hallte dutzendfach von den kalten Mauern wieder. Er starrte auf ihren zerschundenen Leib. Der Eber mußte blindlings mit dem Dolch auf sie eingestochen haben, bevor er hinausgelaufen war. Golo schluckte hart und starrte auf die blutverschmierte Waffe. Es war sein Dolch, der ihr den Tod gebracht hatte.

Golo wußte nicht, wie lange er einfach nur vor ihr gekniet und sie angestarrt hatte. So wenig Zeit war ihnen geblieben... Er konnte sich noch an jeden der Sätze erinnern, die sie miteinander gesprochen hatten. Hunderte Bilder standen ihm vor Augen... Ihr scheues Lächeln, als sie im Wald zusammen gekocht hatten... Ihr verbissenes Gesicht bei den Schwertkampfübungen... Die Freude, mit der sie ihn in die Arme geschlossen hatte, als er mit Volker nach Treveris gekommen war, und ihre Tränen, als er sie an dem verregneten Abend auf dem Heuboden über den Pferdeställen zurückgewiesen hatte... Ihr warmer und leidenschaftlicher Kuß, als sie gekommen war, um ihn aus der eisigen Grube zu retten. Er verdankte ihr sein Leben. Warum war es ihm nicht vergönnt gewesen, auch ihr Leben zu retten?

Plötzlich wußte er, was zu tun war. Es galt noch eine Schuld bei ihr abzutragen. Der Eber! Jeder im Dorf sollte wissen, was für ein niederträchtiger Mörder er war! Der Gesetzlose hatte sich gewünscht, ein Held zu sein... Doch Schmutz konnte nicht zu Gold werden...

Golo hob den nackten, geschundenen Körper des Mädchens auf seine Arme. Tränen rannen von seinen Wangen. Er würde sie durch die Straßen tragen, bis er vor dem Eber stand. Und dann würde er Mechthilds Werk vollenden...

In der Tür erschien ein Schatten. Belliesa. »Was willst du tun, Golo?« fragte sie leise.

»Geh mir aus dem Weg!«

Die Bardin blieb ungerührt stehen. »Du wirst nicht dort hinausgehen. Volker hat mich geschickt. Sobald die Franken zurückgeschlagen sind, wird auch er kommen.«

»Ich will, daß alle sehen, was er getan hat! Und dann bring ich ihn um...«

»Glaubst du, daß ist es, was sie gewollt hätte? Alle werden sie nackt sehen, wenn du sie so hinausträgst... Voller Blut... Und es gibt noch etwas, das du bedenken solltest. Viele wissen, daß Volker in der letzten Nacht seine Hütte für euch beide geräumt hat. Was glaubst du, wie sie über Mechthild reden werden, wenn sie erfahren, daß das Mädchen im Morgengrauen zum Eber gegangen ist? Willst du ihr das antun?«

Golo knirschte wütend mit den Zähnen. »Ich werde den Eber umbringen, diesen dreckigen Mörder. Er soll mir büßen...«

»Mechthild hat ihn nicht richtig getroffen. Als sie versuchte, den Gesetzlosen zu ermorden, ist die Spitze des Dolches von einer Rippe abgeglitten. Der Eber ist nur leicht verletzt. Er kann noch kämpfen... Es ist also nicht gewiß, wer diesen Kampf überleben wird. Wir brauchen euch aber beide! Es würde den Kampfeswillen unserer Männer brechen, wenn sie mit ansehen müßten, wie sich ihre Anführer auf Leben und Tod duellieren. Glaubst du, die Männer des Ebers werden noch an unserer Seite kämpfen, wenn du ihn tötest? Und was ist mit den Kämpfern, die du ausgebildet hast und die in allen Schlachten an deiner Seite gefochten haben? Was, glaubst du, werden sie tun, wenn der Eber dich tötet? Sie werden auf Rache sinnen. Ich weiß, was du jetzt fühlst, aber es darf keinen Streit in unseren Reihen geben.«

Golo schnaubte verächtlich. »Die anderen interessieren mich nicht. Es hätte sich längst jemand finden sollen, der diese Bestie in Menschengestalt in die Hölle schickt. Du wirst mich nicht daran hindern können.«

Belliesa schwieg. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Wenn dies dein Weg ist, dann laß uns wenigstens die Tote waschen und in ein Leichenhemd kleiden, bevor du sie herausträgst.«

Der junge Ritter blickte auf den nackten Körper in seinen Armen. Plötzlich erschien ihm das zarte Mädchen so schwer wie ein Berg. Seine Knie zitterten.

Vorsichtig legte er sie auf den großen Tisch in der Mitte des Turmzimmers. Belliesa trat an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie hat dich sehr geliebt. Sie hat nie viel gesprochen, als wir zusammen reisten. Aber ich konnte spüren, daß ihre Gedanken bei dir waren.«

Golo starrte auf die Tote. Die Bardin hielt ihm eine kleine Lederflasche hin, die sie von ihrem Gürtel geschnallt hatte. »Trink das! Es wird dir guttun.«

Der Ritter blickte sie fragend an.

»Ein leichter Gewürzwein. Er müßte sogar noch etwas warm sein.« Sie lächelte. »Hab keine Sorge, er wird dich nicht betrunken machen. Dazu ist er nicht stark genug.«

Golo öffnete die Flasche und nahm einen Schluck. Noch immer konnte er seinen Blick nicht von Mechthild wenden. Er würde den Eber töten! Warm rann der Wein seine Kehle hinab. Erst jetzt merkte er, wie trocken sein Mund war.

Ein wohliges Gefühl breitete sich in Wellen von seinem Magen aus. Der Wein vertrieb die Kälte aus seinen Gliedern.

»Das Zeug ist gut«, murmelte Golo halblaut.

»Ich weiß.« Die Bardin lächelte. »Erlaubst du, daß ich die Tote wasche?«

Der Ritter nickte. Er fühlte sich ein wenig benommen und müde. Als Belliesa mit einem zerrissenen Leinhemd und einem Eimer voller Wasser wiederkehrte, mußte er sich auf den Tisch aufstützen.

Vorsichtig, fast liebkosend, tupfte die Bardin das geronnene Blut von Mechthilds Brüsten. Golo sah, wie rote Schlieren im Wasser des Eimers tanzten, als Belliesa das Leinen auswrang. Ihm wurde schwindelig. Etwas stimmte nicht. Sein Kopf war schwer. Feuer schien in seinen Eingeweiden zu brennen. Kaum konnte er die Augen aufbehalten. Der Wein! Er wollte etwas sagen, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Ihm wurde übel.

Belliesa sah zu ihm herüber. Sie schien traurig zu sein. »Es tut mir leid, daß ich diesen Schritt tun mußte. Aber der Eber ist wichtiger als du. Es durfte kein Duell geben. Du hättest alles zerstört... Jetzt, wo sich der Kreis fast schon geschlossen hat.«

Das Gesicht der Bardin schien in Flammen aufzugehen. Golos Knie gaben nach. Er stürzte zu Boden. Ein lähmender Schmerz breitete sich in seinem Körper aus. Keuchend rang er nach Atem. Er hatte es immer gewußt. Belliesa war eine Zauberin!

Mechthilds Gesicht tauchte aus der Finsternis auf. Es schien ihm entgegenzufliegen...

Über ihm hallte dunkel die Stimme der Bardin. »Es tut mir leid um dich, Ritter...«



Erschöpft ließ sich der Spielmann auf das Faß neben dem Tisch sinken. Belliesa und der Eber, das waren die letzten aus seinem Kriegsrat, die noch lebten. Sein Blick wanderte von den müden Gesichtern zu den beiden leblosen Gestalten, die auf der Bettstatt des Gesetzlosen lagen.

»Wir werden den nächsten Angriff nicht mehr zurückschlagen können.« Der Eber schrie fast. »Habt ihr gesehen, wie viele neue Soldaten in der Abenddämmerung in sein Lager eingerückt sind? Es ist vorbei! Und alle hier im Dorf wissen es! Alle haben auf den Wällen gestanden und es gesehen! Warum habe ich nur auf dich gehört, Spielmann?«

»Weil du unsterblich werden wolltest? Erinnerst du dich noch, als du an mein Bett gekommen bist und mir erzählt hast, wie es ist, plötzlich ein Held zu sein?« Der Spielmann lächelte zynisch. Fast schien es, als habe der Eber erst jetzt begriffen, worauf er sich eingelassen hatte. War er wirklich so ein Narr gewesen? Hatte er geglaubt, sie würden durch ein Wunder gerettet werden? »Das Fest ist zu Ende, mein Freund. Morgen werden wir alle die Zeche zahlen.«

Die Augen des Gesetzlosen funkelten wütend. »Und? Erinnerst du dich noch daran, was ich dir damals gesagt habe? Ich habe dir versprochen, daß ich dir den Hals umdrehen werde, wenn dein Plan schiefgeht, Spielmann. Für dich ist noch in dieser Nacht Zahltag!« Die Hand des Räubers glitt zu seinem Schwert.

»Genug!« Belliesa nickte in Richtung des Lagers aus Fellen. »Ich habe das nicht getan, nur damit ihr euch jetzt als nächste an die Kehle geht. Es gibt noch einen Weg... Die Höhlen in der Steilklippe.«

Mit einem Satz fuhr der Eber herum und packte sie bei ihrem Wams. »Hast du hier hinter meinem Rücken herumgeschnüffelt, du falsche Schlange!«

Noch bevor Volker sein Schwert gezogen hatte, blitzte ein Dolch in der Hand der Bardin. Die Spitze drückte gegen die Lederweste des Gesetzlosen.

»Ich bin kein unerfahrenes Mädchen, das dein Herz verfehlen würde.« Belliesas Stimme klang völlig ruhig, doch in ihrem Gesicht spiegelte sich kalte Entschlossenheit. »Was verbirgst du hier in deinem Turm?«

»Nichts, das uns etwas nutzen würde!«

Volker schäumte vor Zorn. »Du hattest doch geschworen, keine Geheimnisse mehr zu haben.«

»Nur ein Narr verrät all seine Geheimnisse!«

»Was gibt es hier im Turm?«

Belliesa schob den Dolch in ihren Gürtel zurück. »Wahrscheinlich einen Zugang zu den Höhlen im Fels. Wir sollten uns das ansehen.«

Volker gab ihr ein Zeichen, stehenzubleiben. »Erst will ich wissen, was hier heute morgen vorgefallen ist. Warum mußtest du dieses Mädchen umbringen? Ich dachte, du...« Der Spielmann schüttelte den Kopf. »Ich hatte wirklich daran geglaubt, daß du dich ändern könntest.«

Der Eber schnitt eine Grimasse. »Schicksal, nicht? Dreck bleibt Dreck, denkt sich der Herr Ritter jetzt wohl! Es ist ja auch so einfach...«

Der Burgunde hatte Mühe, sich im Zaum zu halten. »Du hast uns ja eindrucksvoll bewiesen, daß es so ist. Hast dir wohl gedacht, jetzt ist ohnehin alles egal.«

»Dich interessiert die Wahrheit ja gar nicht!« grollte der Eber.

»Und was ist die Wahrheit?« mischte sich Belliesa ein.

»In der Morgendämmerung bin ich raus, um die Wälle zu inspizieren. Da lungerte dieses kleine Miststück schon an der Treppe vor dem Turm herum. Sie war mir noch nie aufgefallen hier im Dorf. Ich fand sie hübsch und grüßte sie... Ich wollte immer noch runter zu den Wällen. Ihr hättet den Blick sehen sollen, den die Kleine mir zugeworfen hat. Sie starrte geradewegs auf mein Gemächt. Dann sah sie mir ins Gesicht. Fast unheimlich war das schon... Sie sagte, ich wolle wohl Ritter werden, und fragte dann, was für ein Schwert ich bei mir trüge. Dabei starrte sie immer noch auf meine Hose. Selten habe ich eine Hure erlebt, die so zur Sache ging wie dieses Mädchen. Ich antwortete ihr, wenn sie Mut hätte, könne sie ja mitkommen, und ich würde ihr mein Schwert schon zeigen. Sie lachte und fragte mich, was das denn mit Mut zu tun habe. Ich ging wieder hinauf und sie folgte mir. Ich ließ mich vor dem Kamin nieder. Sie kam und schnürte meine Hose auf. Sie war ein wenig ungeschickt. Man merkte, daß sie noch nicht viel Umgang mit Männern gehabt haben konnte. Aber sie reizte mich immer weiter... Sie wollte es, und ich... ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich habe sie zu nichts gezwungen.« Der Eber starrte zu Boden. »Sie hat sich mir völlig freiwillig hingegeben. Es war... Danach habe ich mich auf die Seite gerollt und etwas gedöst. Plötzlich hatte sie den Dolch in der Hand. Sie stach zu und holte wieder aus. Ich habe sie zur Seite gestoßen, ihr die Waffe aus der Hand gedreht und...« Er blickte zu den beiden Gestalten, die auf seinem Bett lagen. »Den Rest wißt ihr. Ich habe mich nur gewehrt. Ihr habt die Wunde in meiner Brust gesehen. Sie wollte mich umbringen! Woher sollte ich wissen, daß sie das Flittchen von deinem Freund Golo war. Hörst du, Ritter? Ich habe nichts getan! Sie ist zu mir gekommen!«

Die Beteuerungen des Ebers ließen Volker kalt. Er glaubte dem Gesetzlosen kein Wort. »Ich kenne das Mädchen... Ich bin etliche Tage mit ihr durch die Berge geritten. Sie war nicht so, wie du sie beschrieben hast. Lügner! Weißt du, daß deine Männer sie vergewaltigt haben? Und du hast den Befehl dazu gegeben und zugesehen... Sie war keine Hure!«

»Das stimmt nicht... Ich erinnere mich an nichts.« Der Eber wirkte plötzlich hilflos. Er trat ein Stück zurück. Seine Stimme klang gehetzt. »Ich habe nicht gelogen.«

Volker ließ ihn nicht aus den Augen. Er rechnete jeden Moment damit, daß der Gesetzlose sein Schwert ziehen würde, um auf sie loszugehen. Wenn Belliesa ihn nicht davon überzeugt hätte, daß sie den Eber noch brauchten, dann hätte er bei diesem Possenspiel niemals mitgemacht. Bis heute morgen war er davon überzeugt gewesen, daß der Eber einen neuen Weg gehen wollte... Doch er hatte sich in dem Gesetzlosen getäuscht!

»Ich glaube ihm!« Belliesa stellte sich Volker in den Weg. »Wie gut kanntest du Mechthild denn schon! Sie war wochenlang als Waffenknecht verkleidet unter uns, und du hast es nicht bemerkt. Ich weiß, daß sie sich jede Nacht, bevor sie einschlief, geschworen hat, am Eber Rache zu nehmen. Sie wollte ihn tot sehen... Deinen Freund hat sie als Werkzeug für diese Rache benutzt. Was denkst du, warum sie schwertkämpfen wollte? Weil sie davon träumte, den Mörder ihres Vaters zu töten! Deshalb war sie mit Golo so vertraut! Sie brauchte ihn. Meinst du, daß es Zufall war, daß sie sofort nach ihrer ersten Liebesnacht zum Turm des Ebers gelaufen ist? Es scheint, als sei dein Freund auch in diesen Dingen ihr Lehrer gewesen.«

»Das glaube ich nicht!« Volker starrte fassungslos zu Golo hinüber.

»Ich denke, er hat es nicht gewußt. Er war davon überzeugt, daß sie ihn liebt. Vielleicht hat sie das auch getan... Auf ihre Art.«

Der Spielmann war überrascht vom Zynismus der Bardin, doch ihre Rede verfehlte die beabsichtigte Wirkung nicht.

»Ja!« ereiferte sich der Gesetzlose. »Ja, genau so war es! Die Kleine war verrückt! Friede ihrer Asche.«

Belliesa bedachte den Eber mit einem kühlen Blick. »Außer uns weiß noch niemand, was mit Mechthild geschehen ist. Ihr Tod wird deinen Namen nicht beschmutzen. Aber was nutzt das, wenn wir schon morgen alle hier auf diesem Berg sterben werden. Den nächsten Angriff Ricchars können wir nicht mehr abschlagen. Unsere Kämpfer waren tapfer, doch der Anblick der erdrückenden Übermacht hat ihre Moral gebrochen.« Die Stimme der Bardin wurde immer eindringlicher. »Wenn es einen Weg gibt, unbemerkt dieses Dorf zu verlassen, dann sage es uns! Was ist mit den Minen?«

Der Eber schüttelte den Kopf. »Ich war nur einmal dort. Es gibt viele Gänge, und ich bin nicht allen gefolgt, doch sie scheinen ausnahmslos bei der Steilwand zu enden.«

»Und der Zugang?«

»Den habe ich gut getarnt, weil...« Der Gesetzlose zögerte einen Atemzug lang. »... weil dort mein Schatz verborgen liegt. Das Gold, das ich in all den Jahren angehäuft habe. Aber was wird es mir jetzt noch nutzen?«

»Was glaubst du, was geschehen wird?« fragte die Bardin. Volker erschien sie wie eine Wölfin auf der Jagd, die ihre arglose Beute auf einen Abgrund zutrieb. Einen Ort, von dem der Tod der einzige Ausweg war. Der Eber runzelte die Brauen. Ob er ihr Spiel wohl durchschaute?

»Wenn wir es schaffen sollten zu entkommen, wird Ricchar uns weiter folgen. Er wird nicht ruhen, bis er jeden von uns gestellt hat. Es sei denn, wir fliehen weit, weit fort.«

»Richtig!« Belliesa lächelte. »Was mich betrifft, ich werde nicht gehen. Ich werde erneut versuchen, den Aufstand gegen den Ketzerfürsten zu entfachen. Volker kann zurück an den Hof seines Königs. Er ist ein Adeliger und Ritter. Ihm stehen viele Wege frei. Doch was ist mit dir? Entweder du bleibst an meiner Seite, dann wird Ricchar uns wohl eines Tages stellen, oder aber du fliehst in die Fremde. Dann fängst du noch einmal von vorne an. Du wirst allein sein, und wie du schon richtig erkannt hast, wirst du dein Gold nicht auf der Flucht mitnehmen können. Doch du bist kein junger Mann mehr...«

Der Eber schüttelte resignierend den Kopf. »Es wird keinen Aufstand mehr geben. Der Ketzerfürst hat gesiegt! Diejenigen, die sein Strafgericht überleben, werden sich unter seine Herrschaft beugen. Es macht keinen Sinn, noch einmal gegen ihn aufbegehren zu wollen. Unsere Zeit ist vorbei, Bardin.«

»Vielleicht«, Belliesa zuckte mit den Schultern. »Wenn dem so ist, dann ist das letzte, was jetzt noch Bedeutung hat, wie man nach dem Tod von uns sprechen wird. Nur diese Entscheidung liegt noch allein bei uns.«

»Worauf willst du hinaus?« Der Eber musterte sie lauernd, ganz so, als ahne er plötzlich, daß er ihr in die Falle getappt war.

»Zeig uns die Mine! Wenn sie so beschaffen ist, wie ich hoffe, gibt es vielleicht eine Möglichkeit, die letzten deiner Männer zu retten. Und je nachdem, wie du dich entscheidest, wirst du etwas bekommen, was man für Gold nicht kaufen kann. Du kannst dein vorheriges Leben mit einer einzigen Tat auslöschen und dafür Sorgen, daß man noch in hundert Jahren deinen Namen mit Ehrfurcht nennen wird. Nimm dir die Nacht über Zeit, dir wohl zu überlegen, was du tun willst. Wenn du es schaffst, den Eingang des Turmes für eine Stunde allein gegen die Soldaten Ricchars zu verteidigen, dann werde ich vielleicht alle anderen retten können.«

Der Eber zog eine spöttische Grimasse, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Belliesa fort. »Schweig und denke über mein Angebot nach. Du weißt, daß es sinnlos, ist mit dem Grafen zu verhandeln. Wir sind nicht mehr in der Position, irgendwelche Forderungen zu stellen. Er ist sich völlig sicher, daß nichts auf Erden seinen Sieg noch verhindern kann. Selbst wenn du jetzt darüber nachdenken solltest, uns an Ricchar zu verraten, sei dir gewiß, du würdest keinen Gewinn daraus ziehen. Du hast zu lange an unserer Seite gefochten. Er wird auch deinen Kopf auf einer Lanzenspitze sehen wollen. Uns allen bleibt nur noch die Wahl, zu entscheiden, auf welche Weise wir sterben wollen. Bedenke dies gut, und bring uns jetzt zum Eingang der Mine!«


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