10. KAPITEL


Der Eber hatte Wort gehalten. Nachdem sie die Vorratslager der Garnison von Castra Corona geplündert hatten, waren sie zunächst mit ihrer Beute in seine Bergfestung zurückgekehrt. Obwohl der schwerverletzte Anführer der Räuber sich kaum aufrecht auf seinem Thron am Ende des Langhauses halten konnte, hatte es ein großes Fest gegeben, und am nächsten Morgen durften Volker und Golo das Bergdorf verlassen.

Begleitet von zwei Räubern schlugen sie einen weiten Bogen durch die Berge, um den fränkischen Patrouillen aus dem Weg zu gehen. Sie mieden jede Siedlung, und obwohl das Wetter immer schlechter wurde, verbrachten sie jede Nacht im Freien. Weit im Norden von Treveris hatten sie die Mosel an einer seichten Stelle überquert und sich dann wieder nach Süden gewandt. Nach der Flußüberquerung hatten sich die beiden Jäger von ihnen getrennt, und Golo war nicht traurig, endlich wieder mit Volker allein zu sein. Die zwei waren ihnen auf dem Weg durch die Berge gute Gefährten gewesen, und das war es, was Golo beunruhigte. Er hatte angefangen, sie zu mögen. Sein Bild von den grausamen, herzlosen Halsabschneidern war ins Wanken geraten. Womöglich waren die beiden dabeigewesen, als der Hof von Mechthilds Eltern überfallen worden war. Sie hatten während der ganzen Reise nicht darüber gesprochen... Der junge Ritter erschauerte. Immer wieder hatte er auf der Reise daran denken müssen, ob er mit zweien der Männer, die dem Mädchen Gewalt angetan hatten, am gleichen Feuer saß.

Was wohl aus Mechthild geworden war? Um die beiden Frauen nicht zu verraten, hatten sie nie von ihnen gesprochen. Doch Golo vermißte die Kleine. Sie hatten nie viel miteinander gesprochen, doch in den wenigen Tagen, die sie miteinander gereist waren, war ihm das Mädchen sehr vertraut geworden. Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, daß sie nur Blicke brauchten, um einander zu verstehen. Ob sie bei Belliesa wohl in guter Obhut war? Die Bardin war ihm nicht ganz geheuer! Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie sie nicht gerettet hätten. Der junge Ritter dachte daran, wie er sie heimlich beim Feuermachen beobachtet hatte. Ob Belliesa wirklich eine Zauberin war, wie die Franken behauptet hatten? Und was für einen Einfluß sie wohl auf die kleine Mechthild haben mochte? Sicher würde sie das Mädchen in ihre Geheimnisse einweihen und so ihr Seelenheil gefährden.

Golo seufzte. Wahrscheinlich würde er Mechthild niemals wiedersehen. Er blickte auf die Straße. Sie war gepflastert und führte schnurgerade auf ein riesiges Tor zu. Rechts und links von ihr standen große Grabsteine. Viele zeigten Reliefs von Kriegern oder Beamten, die einst mächtig gewesen waren. Sogar ganze Schiffe mit Weinfässern hatten die Alten aus Stein geschlagen. Von den meisten Monumenten war die Farbe abgeblättert. Nur das Rot, mit dem die eingemeißelten Buchstaben unterlegt waren, hatte sich besser gehalten. Die Römer waren ein seltsames Volk gewesen, dachte Golo. Wann immer man eine ihrer Metropolen betreten wollte, mußte man zunächst eine Totenstadt durchqueren. Alle Gräber lagen außerhalb der Mauern entlang der großen Straßen. So wurde man jedesmal, wenn man eine Reise antrat oder wieder zurückkehrte, an jene erinnert, die ihre letzte Reise angetreten hatten. Die ganzen Grabsteine ließen die jungen Ritter melancholisch werden. Für ihn würde es sicherlich keinen Stein geben, auf dem sein Namen stand. Doch wozu auch? Wer würde sich an ihn schon erinnern?

Die Stadt, die vor ihnen lag, hatte gewaltige Ausmaße. Sie war viel größer als Worms, wo König Gunther regierte. Allein das Tor war schon eine kleine Festung für sich und prächtiger geschmückt als die meisten Kirchen, die der junge Ritter bisher gesehen hatte. Über dem Doppeltor erhoben sich zwei Etagen mit runden Fensterbögen, die von Säulen flankiert waren. Rechts und links sprangen zwei halbrunde Tortürme vor. Auch sie zeigten zahlreiche Bogenfenster, aus denen die Wachtposten bis weit über das Land sehen konnten. An beide Seiten des Tores schloß sich eine massige Mauer an, die wohl mindestens sieben Schritt hoch sein mochte. Das ganze Tor war aus schwärzlichen Steinen gebaut und wirkte gleichermaßen bedrohlich und erhaben, so als wolle es jeden verhöhnen, der sich mit feindlichen Absichten dieser mächtigen Stadt näherte.

Im Osten, zum Moselufer hin, konnte man hohe Kräne erkennen, die ihre langen Arme noch hoch über die Dächer der Speicherhäuser erhoben. Die Masten der Flußschiffe an den Kais wirkten im Vergleich zu ihnen geradezu klein und zerbrechlich. Auf sieben Pfeilern spannte sich dort eine prächtige Brücke über den Fluß, getragen von Rundbögen, die so hoch waren, daß die meisten Flußkähne wohl unter ihnen hindurchfahren konnten.

Golo fragte sich, wie die Franken es geschafft haben mochten, den Römern diese gewaltige Stadt zu entreißen. Und wie konnte es sein, daß das Volk, daß solche Wunder vollbringen konnte, von Barbaren vertrieben wurde. War es, weil sie zu lange in den Mauern ihrer Städte heidnische Götzen verehrt hatten? Konnte es eine andere Erklärung für ihren Untergang geben als die, daß sie den Zorn Gottes auf sich gezogen hatten?

Verlegen klopfte sich der junge Ritter ein wenig Schmutz von der Tunika. Mehr als zwei Wochen hatten sie ihre Kleider nicht gewechselt oder auch nur gereinigt. In der Wildnis waren Volker und ihm Bärte gewachsen, ihr Haar war strähnig und verfilzt. Wie zwei Strauchdiebe mußten sie aussehen! Womöglich würde man sie gar nicht in die Stadt hineinlassen?

Schon von weitem konnte Golo die grünen Umhänge und die roten Schilde erkennen, die die Krieger Giselhers, des Bruders des Königs, trugen. Er war zum Statthalter von Treveris eingesetzt worden und residierte nun in dieser Stadt, in der angeblich einst der Kaiser Konstantin geherrscht hatte.

Unmittelbar vor ihnen passierte ein hoch mit nassem Heu beladener Wagen das Doppeltor. Offenbar kannten die Wachen den Kutscher, denn sie winkten den Mann durch, ohne auch nur einen Blick auf dessen Fracht zu werfen. Ihnen beiden jedoch verstellten sie den Weg. Ein älterer Mann mit einem prächtigen Bart winkte sie zur Seite.

»Was wollt ihr beiden in der Stadt? Hier tragen nur die Männer des Königs Waffen.«

Golo wollte antworten, doch Volker gab ihm ein Zeichen zu schweigen. Der Spielmann musterte den Torposten kühl. »Weil hier nur die Männer des Königs Waffen tragen, solltest du uns besser durchlassen.«

»Was soll das heißen, Kerl? Werd’ hier nicht frech, oder ich laß dir das Maul stopfen!«

»Das soll heißen, daß vor dir Volker von Alzey, ein Vertrauter des Königs Gunther und Freund deines Herren Giselher, steht. An meiner Seite siehst du meinen Vertrauten, den Ritter Golo und...«

»Und ich bin der Schwager des Königsbruders Gernot!« Der Wächter lachte. »Das ist die dreisteste Lüge, die ich jemals gehört habe, Fremder. Bist du ein Possenreißer oder ein Narr? Oder hat Gott dir den Verstand verwirrt, daß du dich für einen Herrn von Adel hältst? Der Mann, für den du dich ausgibst, ist ein berühmter Held, und er führt in den Bergen, die du dort hinten auf der anderen Seite des Flusses siehst, Krieg gegen den Ketzerfürsten Ricchar.«

Für einen Moment lang konnte Golo beobachten, wie es Volker förmlich die Sprache verschlug. Doch der Spielmann hatte sich schnell wieder gesammelt. »Siehst du diesen Wollumhang? Hast du je einen Stoff in diesem Rot gesehen? Nur Volker trägt einen solchen Umhang. Und sieh mein Schwert! Ist das die Waffe eines Jägers aus den Bergen?«

Ein junger Ritter im Kettenhemd, der offenbar die Wachen am Tor kommandierte, war inzwischen auf sie aufmerksam geworden und trat an die Seite des Kriegers. »Was geht hier vor, Ruitbold? Machen die beiden Ärger?«

»Würdet Ihr diesem hirnlosen Waffenständer erklären, daß es sich nicht ziemt, dem Spielmann des Königs den Zugang in eine burgundische Stadt zu verwehren. Wenn ich nicht spätestens in einer halben Stunde in einem warmen Bad sitze und einen Becher voll geharztem Wein in Händen halte, werde ich dafür sorgen, daß ihr beiden die nächste Gesandtschaft in die Barbarenlande begleiten dürft.«

Der junge Ritter wollte schon zu einer passenden Antwort ansetzen, als er plötzlich erbleichte. »Bei allen Heiligen! Ihr seid es wirklich, Herr Volker. Es ist lange her, daß ich zum letzten Mal die Ehre hatte, einem Eurer Lieder am Hofe des Königs zu lauschen und... vergebt mir diese Bemerkung... doch Ihr saht damals... anders aus.«

»Eure Anspielung auf mein Äußeres ist nicht gerade höflich, Ritter.«

»Vergebt, Herr. Ich wollte nur erklären, warum ich Euch nicht gleich erkannt habe. Wenn Ihr gestattet, werde ich Euch sogleich zum Fürsten Giselher geleiten. Ich bin sicher, daß er Euch umgehend sehen möchte und...« Der junge Ritter strahlte. »Ich... Ich wollte nur sagen, daß ich glücklich bin, einem Helden wie Euch begegnen zu dürfen. Wir alle hier sind begierig auf jede Nachricht aus den Bergen und die Geschichten, die die Reisenden von Euch erzählen.«

Golo musterte den Ritter verständnislos. Was für Geschichten meinte er? Irgend etwas stimmte hier nicht. Entweder verwechselte man sie oder...



Volker räkelte sich im Holzschuber und streckte seine müden Glieder, während eine Magd heißes Wasser nachgoß. Es gab drei große Thermen in der Stadt, doch obwohl die Römer vor nicht einmal einer Generation die Herrschaft über Treveris aufgegeben hatten, funktionierte schon jetzt keine der großen Badeanlagen mehr. Nun ja, verglichen mit der Wildnis war auch ein hölzerner Badezuber Luxus. Volker musterte die dralle Magd, die sich gerade gebückt hatte, um neue Scheite unter den Kessel zu legen, in dem das Wasser für den Badebottich erhitzt wurde. Sie war ein wenig kräftig gebaut, aber nur für eine Nacht wäre sie sicher eine unterhaltsame Gespielin. Vor allen Dingen ihr frecher Blick hatte ihm gefallen...

Etwas lustlos kratzte er mit dem Rasiermesser über seine Wangen. Er hatte sich schon zweimal geschnitten und hätte das verfluchte Ding am liebsten in die Ecke geworfen. Es gab Schlachten, in denen er weniger Blut verloren hatte als an diesem Nachmittag bei der Rasur. Aber wenn er vor den Bruder des Königs trat, wollte er wieder aussehen wie ein Ritter und nicht wie ein abgerissener Wegelagerer.

»Ist das Wasser warm genug, Herr?«

Die Magd lächelte verführerisch. Baderinnen hatten im allgemeinen einen sehr schlechten Ruf, doch das war nichts, was ihn schreckte. Im Gegenteil! Bei einer Frau mit schlechtem Ruf hatte er sich noch nie gelangweilt. Er lächelte zurück. »Erstreckt sich dein Dienst bis in die Nachtstunden?«

»Das kommt ganz darauf an...«, entgegnete sie mehrdeutig.

»Vielleicht würde ich deine Dienste noch einmal gerne in Anspruch nehmen, wenn der Statthalter mich wieder entlassen hat.«

»... und du willst sicherlich nicht noch einmal ein Bad nehmen. Nun, ich weiß nicht, ob es Sünde ist, sich mit einem Mann wie dir einzulassen. Doch du warst es ja schließlich, der mich gefragt hat, und wer bin ich, daß ich mich einem, den Gott selbst auserwählt hat, verweigern könnte.«

Volker runzelte die Stirn und blickte die Baderin fragend an. Was meinte sie damit? Alle in dieser Stadt behandelten ihn so komisch. Selbst Golo war das schon aufgefallen. Sein Kamerad hatte sich nur kurz über einer Viehtränke gewaschen und dann nach der Küche umgesehen. Golo war der Meinung, daß ein allzu ausgiebiger Kontakt mit Wasser krank machte.

»Du meinst, ich bin auserwählt, weil ich dem Adel angehöre?«

Jetzt blickte die Baderin verwundert. »Bist du so bescheiden, oder willst du mich foppen? Adelige gibt es viele, und ich habe schon mehr als einem Ritter das Bett gewärmt. Nein, es geht um...«

Die Tür ging auf und ein hochgewachsener junger Krieger trat ein. Giselher! »Du darfst dich entfernen!«

Die Baderin verbeugte sich und verschwand wortlos. Volker fluchte innerlich und nickte höflich. »Verzeiht, wenn ich nicht aufstehe und mich vor Euch verbeuge, Herr, aber ich fürchte, in meiner Lage wäre das noch unschicklicher, als die höfische Etikette zu verletzen, indem ich sitzen bleibe.«

»Wie ich sehe, hat sich an deinem Humor nichts geändert.« Giselher war ein Stück vor dem Bottich stehengeblieben, hatte den Kopf ein wenig schief gelegt und musterte ihn, als wären sie sich gerade zum ersten Mal begegnet.

Volker war von dem seltsamen Verhalten aller, die ihm begegneten, in zunehmendem Maße irritiert. Stimmte etwas nicht mit ihm? Er strich sich mit den Händen über die Wangen. Freilich, seine Rasur war noch nicht ganz beendet, und er hatte seine schulterlangen Haare abgeschnitten, doch so sehr konnte ihn das doch nicht verändert haben. Er hatte seine halbe Kindheit zusammen mit Giselher in Worms verbracht. Warum starrte der Kerl ihn jetzt so unverhohlen an?

»Stimmt etwas nicht, mein Fürst?«

»Laß diesen Fürstenquatsch! Wir haben früher ganz normal miteinander gesprochen, und so sollte es auch weiterhin sein, oder bist du jetzt zu heilig dazu?«

»Zu heilig? Was willst du damit sagen?«

Giselher blickte ihn streng an. »Treibst du ein Spiel mit mir, Volker? Du wirst doch wohl nicht vergessen haben, wie dir ein Erzengel erschienen ist und dich in die Berge gerufen hat, um von dort den Krieg gegen den Ketzerfürsten zu beginnen.«

»Was?« Volker konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte.

»In Castra Bonna ist es geschehen. Die Geschichte ist in aller Munde. Auch die Wachen des Gaugrafen Ricchar haben den Erzengel in deinem Zimmer gesehen. In jener Nacht hast du beschlossen, dem Frankenfürsten die Fehde zu erklären. Nur von Golo und einem kleinen Mädchen begleitet, bist du in eine Stadt voller Krieger geritten, um eine Bardin zu retten, die zu Unrecht zum Tode verurteilt war. Und du hast den dämonischen Krieger, der der Herr dieser Stadt war, besiegt und die eherne Maske zerschlagen, hinter der er sein vom Teufel gezeichnetes Antlitz verborgen hat. Man erzählt sich auch, daß du...«

Volker spürte, wie sich sein Magen krampfhaft zusammenzog. Was ging hier vor? Wer verbreitete solche Geschichten über ihn? Und worauf würde das alles hinauslaufen?

»...bis du schließlich an der Spitze der Rebellenarmee Castra Corona erobert hast?«

»Rebellenarmee!« Volker war aufgesprungen. »Mein Fürst, hier liegt ein schreckliches Mißverständnis vor. Ihr seid einer Lüge aufgesessen.«

»Du bist zu bescheiden, Volker. Wer sollte mich denn belügen? Die Händler aus Castra Corona, die von deinem tollkühnen Angriff auf die Garnison berichtet haben? Oder vielleicht die Bardin, die zu deinem höheren Ruhm Lieder über deine Heldentaten dichtet.«

»Bardin?« Volker kam ein schrecklicher Verdacht. »Etwa eine ausnehmend hübsche rothaarige Frau?«

Giselher grinste anzüglich. »Gibt es eigentlich schöne Frauen, die du nicht kennst? Sie ist nicht sonderlich groß... aber ja, deine Beschreibung trifft durchaus auf sie zu. Sie heißt Belliesa und ist seit zwei Tagen zu Gast an meinem Hof.«

Der Spielmann griff nach dem Handtuch, das über den Rand des Zubers hing. Dieses verdammte Luder! Was wollte sie mit ihrem Spiel erreichen? Wenn das ein Spaß sein sollte, dann war es höchste Zeit, daß er ihr sagte, daß er ihn nicht komisch fand.

»Wohin willst du, Volker?«

Der Spielmann blickte Giselher ein wenig irritiert an. »Ich... ich muß eine dringende Angelegenheit erledigen. Ich hoffe, du kannst für ein oder zwei Stunden auf mich verzichten. Danach werde ich für den Rest des Herbstes zu deiner Verfügung stehen.«

Der Fürst packte ihn beim Arm. »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um mit einem deiner Weiber ins Bett zu steigen. Es gilt, ein paar wichtige Dinge zu besprechen! Was du dort im Gau des Grafen Ricchar begonnen hast, beginnt weite Kreise zu ziehen. Wir sollten in aller Ruhe dein Vorgehen in den nächsten Wochen besprechen. Leider können wir dir keine direkte Unterstützung geben, Volker, das würde umgehend zu Krieg mit den Franken führen, aber dennoch hast du mehr Verbündete, als du vielleicht denkst. Gestern habe ich einen Botenreiter zu meinem Bruder nach Worms geschickt. Ich rechne damit, daß ich in drei Tagen Antwort von ihm erhalte. Ich habe einen ausführlichen Bericht über dich und die Rebellenarmee verfaßt und auch vom Angriff auf Castra Corona geschrieben.«

»Aber das alles ist doch nicht wahr!« Volker ließ sich resignierend auf einem Hocker neben dem Badezuber nieder.

Auf Giselhers Stirn zeigten sich steile Falten. »Was heißt hier nicht wahr? Im ganzen Bergland spricht man von dir und deinen Heldentaten! Sollen das vielleicht alles erfundene Geschichten sein? Willst du mir erzählen, du hättest keinen Angriff auf Castra Corona angeführt? Es sind Männer in der Stadt, die dich selbst gesehen haben, als du den Abtransport der Beute organisiert hast. Bist du dir darüber im klaren, was du in den Bergen begonnen hast? Erst gestern haben mich einige meiner jungen Ritter gefragt, ob sie in die Berge reiten dürfen, um sich dir anzuschließen. Du bist ein Held, und dein Name ist in diesen Tagen in aller Munde.«

Der Spielmann nickte müde. Er wußte nicht, was er dazu noch sagen sollte. Er hatte das Gefühl, in einem Heldenepos gefangen zu sein, das ein fremder Dichter ersonnen hatte, und er fühlte sich von Mächten bestimmt, auf die er keinen Einfluß hatte.

»Du weißt, was für eine Gefahr Fürst Ricchar für Burgund darstellt?«

Der Barde zuckte mit den Schultern. »Er ist ein guter Krieger. Ich habe an seiner Seite gestritten und gesehen, mit welch unbeugsamem Mut er kämpft. Seine Männer vergöttern ihn.«

»Und er ist ein überaus gefährlicher General. Ich habe gegen ihn gekämpft und mußte mit ansehen, wie er mit einem Reiterkeil meine Männer auseinandergetrieben hat, obwohl wir mehr als dreimal so viele Krieger waren. König Merowech ist alt, und es gibt Stimmen, die munkeln, daß Ricchar vielleicht die Macht hat, nach Merowechs Tod den Thron der Franken an sich zu reißen. Viele Kriegsfürsten würden ihn dabei unterstützen. Man sagt, Ricchar habe noch nie eine Schlacht verloren... Das macht ihn unter den Soldaten beliebt. Sie glauben, daß er ihnen Ruhm und Gold bringen wird. Nur einen Fehler hat unser Franke gemacht... Hätte er nicht das Christentum abgelegt, so wäre er schon jetzt unangreifbar. So jedoch hat er sich mächtige Feinde gemacht. Die Bischöfe des Frankenreichs stehen in offener Opposition zu ihm, und sie scheuen sich nicht, Ricchar selbst am Hofe des Königs einen Ketzer zu nennen. Durch sie wissen wir, daß Ricchar im Kampf gegen die Rebellen in seinem Gau keine Unterstützung durch den König erhalten wird, und sollte der Ketzerfürst in einem dieser Gefechte fallen, dann wird sein Ruhm so schnell verblassen wie die Sterne beim Morgengrauen.« Einen Moment lang starrten die Männer einander schweigend an. Dann murmelte Giselher leise: »Du weißt jetzt also, was dein König von dir erwartet.«

»Aber ich war Gast an seiner Tafel... Er hat mich zuvorkommend behandelt, und ich würde mich wie ein Verräter fühlen, wenn ich mein Schwert gegen ihn erheben würde, um...«

»Wem gilt deine Treue eigentlich?« herrschte der Fürst ihn an. »Siehst du nicht, welche Gefahr für Burgund Ricchar werden wird, wenn ihn niemand aufhält? Noch ist sein Aufstieg zu verhindern! Du weißt, daß König Merowech seit Monaten kränkelt... Viele rechnen damit, daß er noch in diesem Winter stirbt. Wenn das geschieht, dann ist es zu spät! Von meinen Spitzeln weiß ich, daß Ricchar Waffen hortet. Angeblich kann er schon jetzt zehntausend Fußkämpfer und tausend schwere Reiter ausrüsten. Wenn er erst einmal auf dem Königsthron sitzt, dann wird ihn niemand mehr aufhalten können. Ich habe von den fränkischen Bischöfen ein geheimes Schreiben erhalten, in dem sie mir berichten, daß Ricchar von der Errichtung eines heidnischen Königreiches träumt und daß er das Christentum ausrotten will. In den letzten Monaten sind mehr als hundert Priester und Mönche aus seinem Gau hierhergeflohen und haben sich unter den Schutz unseres Bischofs gestellt. Sie erzählen, daß der Ketzer die Priester foltern und hinrichten läßt, wenn sie dem wahren Glauben nicht abschwören und sich seinem Stiergott unterwerfen. Es ist deine Pflicht als Christ, diesen Mann zu bekämpfen!«

Volker mußte an den Eber denken. Der Räuber war ein Christ! Was hatte der Glaube schon zu bedeuten, wenn die Seele eines Menschen verdorben war. Im Vergleich zu diesem Halsabschneider war Fürst Ricchar wie ein leuchtender Stern in der Finsternis. Der Frankenfürst hatte eine Vision... Volker war sich sicher, daß Giselher mit der Behauptung recht hatte, daß Ricchar Krieg führen würde, falls er König würde... Doch das Ziel des Franken war Frieden. Dessen war sich der Spielmann völlig sicher. Warum sollte er gegen diesen Mann kämpfen? Vielleicht würde der Tag kommen, wenn Ricchar Burgund angriff... Aber jetzt? Außerdem würde es nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee in den Bergen fiel. Kein Feldherr mit Verstand führte Krieg im Winter. In dieser Jahreszeit würden mehr Krieger an der Kälte und an Krankheiten sterben als in der Schlacht.

»Nun, Volker! Hast du es dir überlegt?« Giselher schaute ihn erwartungsvoll an. »Wie lautet deine Antwort?«

Der Spielmann seufzte. »Ich bin erschöpft von der Reise, und du verlangst eine schwere Entscheidung von mir. Ich soll gegen einen Mann in den Krieg ziehen, der nicht mein Feind ist... Gib mir etwas Bedenkzeit!«

Der junge Fürst schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Volker. Seit deiner Rückkehr aus Aquitanien bist du nicht mehr der Mann, den ich einst kannte. Du sollst deine Frist bekommen... Doch sobald der Bote, den ich nach Worms geschickt habe, zurückkehrt, erwarte ich eine Antwort von dir. Denk doch an die Erscheinung, die du in Castra Bonna gehabt hast! Der Erzengel, der vom Himmel zu dir herabgestiegen ist... Du mußt zurück in die Berge! Gott will es!«


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