Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Stadt Mifurdania, 6491. Sonnenzyklus, Winter.
Coira eilte von Schatten zu Schatten. Sie wählte stets die kleinsten Gässchen der Stadt, um den Orkwachen aus dem Weg zu gehen. Die Kreaturen wagten sich dort nicht hinein, weil sie in der Enge zwischen den Häusern nur hintereinander laufen konnten. Der bestmögliche Ort für einen Hinterhalt gegen starke, übermächtige und verhasste Krieger!
Man hatte die Suche nach ihr zwar aufgegeben, weil man sie schon längst wieder in ihrem Palast auf der Insel Seenstolz vermutete, aber die Lohasbrander ließen ihre hochgerüsteten Orks weiterhin umhermarschieren, um den Einwohnern die Stärke des Drachen zu zeigen und sie einzuschüchtern. Denn die Lage in Mifurdania war angespannt. Das Spektakel um den würdigsten Nachfahren des Unglaublichen Rodarios hatte viele Besucher angelockt, und somit hielten sich noch mehr Menschen als sonst innerhalb der Mauern auf. Gleichzeitig saß der berühmte und vom Volk geliebte Freiheitskämpfer in Haft, der Morde an den verhassten Besatzern verübt hatte und die Flamme des Aufstands schürte, wann immer es vermochte. Sogar jetzt, aus dem Kerker heraus, versprach er den Menschen bessere Zeiten, wie die jüngst aufgetauchten Schriften bewiesen. Eine gefährliche Konstellation.
Es rumorte in den Wirtshäusern. Das Gerücht von seiner bevorstehenden Befreiung wanderte durch die Straßen.
Keiner der Erzähler, der bei Bier und Wein mit gesenkter Stimme davon redete, ahnte, dass Coira aus dem Gemunkel eine Wahrheit werden lassen wollte. Der Held durfte seinen Kopf nicht verlieren.
Die junge Frau wusste, dass sie nicht selbstlos handelte, wenn sie Rodario den Unerreichbaren aus der Zelle befreite. Endlich bekam sie Gelegenheit, mit dem Mann zu sprechen, den sie verehrte. Wegen seines Muts und seiner Poesie. Und dazu sah er noch blendend aus, besaß Witz und Charme. Ihr Herz klopfte daher aus verschiedenen Gründen schneller als sonst. Die Aufregung vor dem bevorstehenden Angriff auf das Gefängnis war lediglich einer davon.
Coira näherte sich dem schlanken, sehr hohen Turm am Osttor der Stadt, in dem die Verbrecher einsaßen, die gegen die Gesetze des Drachen verstoßen hatten. Weil es in den letzten Zyklen immer mehr geworden waren, die sich etwas zuschulden hatten kommen lassen, war der Bau nach oben erweitert worden. Das hatte ihm den Namen »Schilfrohr« eingebracht. Wenn der Wind stark wehte, begann er zu schwingen, gelegentlich verloren die Zinnen Steine, die Löcher in die Dächer der umstehenden Häuser schlugen. Wer in den obersten Stockwerken saß, hatte mit dem Leben abgeschlossen.
Coira atmete tief ein und blickte in die Höhe. Vermutlich saß der Unerreichbare ganz oben. Sie müsste sich durch die Stockwerke kämpfen und darauf achten, dass niemand Alarm schlug, sonst könnte ihr Vorhaben zu ihrem eigenen Tod führen. Ihre magischen Fertigkeiten vermochten einiges auszurichten, doch die Kraft reichte immer nur für ein paar Zauber, danach musste sie in der Quelle nahe dem Palast neue Energie schöpfen. Das machte eine Maga wie sie besiegbar.
»Es müsste eine Quelle zum Umhertragen geben«, murmelte sie und eilte geduckt auf den Eingang des Turms zu.
Sie lauschte an der dicken Tür und vernahm kein Geräusch. Als sie durch das vergitterte Fenster spähte, sah sie auf einen Vorhang. Licht brannte in der Wachstube, das war alles, was sie in Erfahrung brachte.
Coiras Blut rauschte in den Ohren. So viel Unabwägbares, dem sie sich stellen musste. Wie viele Orks werden drin sitzen?, überlegte sie. An normalen Umläufen betrug die Zahl der Wachen nicht mehr als ein halbes Dutzend, doch jetzt, in Hinsicht auf die Lage in der Stadt - das Dreifache?
Sie zog ihr Schwert unter dem Mantel hervor, sammelte die magischen Kräfte und bereitete sich für einen Zauber vor, der die Bewacher in den Schlaf schicken sollte. An Menschen hatte sie ihn schon des Öfteren erprobt, aber wie die grünhäutigen Scheusale darauf reagierten, konnte sie nicht vorhersagen. Coira zog den Schal vor Mund und Nase, dann gab sie sich Mühe, einen grimmigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, bevor sie die Klinke herabdrückte und in die Stube sprang. »Ihr werdet euch nicht rühren...«, rief sie und hielt inne.
Der Raum war - leer.
Auf dem Tisch standen sieben Humpen, alle gefüllt. Die Spuren des Nachtmahls waren deutlich zu erkennen, abgenagte Hühnerknochen, Brotkrumen und Gemüsereste lagen auf einer Platte herum.
Coira drückte die Tür ins Schloss und durchquerte behutsam den Raum. Waren die Wärter nach oben gegangen, um den Gefangenen ihr Essen zu bringen? Ihre leicht orangefarbenen Augen richteten sich auf das Brett mit den Nägeln neben dem Aufgang zu den Zellen, an dem kein einziger Schlüsselbund hing. Es wurde immer merkwürdiger, und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr kam sie zum Schluss, dass ihr jemand zuvorgekommen war.
Sie eilte die Stufen hinauf in den ersten Stock und hielt sich immer noch bereit, Schwert und Magie einzusetzen.
Noch auf dem Absatz zum ersten Geschoss sah sie sofort die geöffneten Zellentüren. Besaß der Poet der Freiheit derart mutige Freunde, die ihn aus einer Übermacht befreien würden? Sie lächelte bei dem Gedanken glücklich. Hastig rannte sie weiter nach oben, bis sie sich vergewissert hatte, dass jede Zelle leer war. Die Enttäuschung, dass nicht sie es war, die ihn befreit hatte, hielt nicht länger als ein Fingerschnippen. Was zählte, war, dass sich der Unerreichbare in Freiheit befand.
Coira hetzte die Stufen wieder hinab - und stand plötzlich vor Rodario dem Siebten. Er erschrak mindestens ebenso sehr wie sie und stieß sogar einen leisen, spitzen Schrei aus; klirrend fiel sein Dolch auf den Boden.
»Was macht Ihr denn hier?«, wunderte sich die junge Frau.
Rodario schluckte und hob die Waffe auf, säuberte sie an seinem Umhang und hielt sie linkisch in der Hand, dann steckte er sie mit einem verlegenen Räuspern weg. Sie sah sofort, dass er damit nicht umgehen konnte. »Vermutlich das Gleiche, was Ihr hier wolltet«, stotterte er verblüfft und sah auf ihr Schwert. Er wischte sich ein paar Strähnen vor den Augen weg. »Den Unerreichbaren befreien.« Coira musste lachen. »Alleine?«
Der Mann runzelte die Stirn, er schien beleidigt. »Sicher alleine. Ich möchte ja niemanden sonst in Gefahr bringen.« Er sah an ihr vorbei zum Aufgang. »Wo ist er?« »Wir sind beide zu spät. Er ist schon befreit worden.« Sie fand es unglaublich rührend, dass ausgerechnet der schmächtige, unbehände Mann und haushohe Verlierer des Umlaufs ausgerückt war, um sich mit Orks zu schlagen und den Favoriten zu befreien. Wo dieser Rodario doch so gar nichts von dem besaß, was dem Unerreichbaren im Überfluss anhaftete.
Rodario strahlte. »Oh, Samusin sei Dank! Umso besser.« Er wirkte sehr erleichtert. »Dann könnten wir doch wenigstens zusammen verschwinden.« Er betrachtete sie, und Coira erkannte in seinen Blicken, dass sie ihm gefiel. Das hatte ihr noch gefehlt! Plötzlich näherten sich von draußen laute, dunkle Stimmen dem Eingang, dann hörten sie das Rumpeln von schweren Stiefeln und das metallische Scheppern von Rüstungen. Eine Wacheinheit kehrte vom Rundgang zurück.
»Der Turm hat nur den einen Ausgang«, flüsterte sie Rodario zu und löschte die Lampen. »Rasch, verstecken!« Er wollte zur Treppe ins erste Geschoss rennen, aber sie hielt ihn am Ärmel fest. »Nein, nicht in die Zellen. Einfacher könnten wir es den Wachen wohl nicht machen.« Sie gab ihm einen Stoß, der ihn neben den Waffenschrank in die Ecknische torkeln ließ. Coira folgte ihm und presste sich neben ihm gegen die Wand. Die Schatten fielen günstig, sodass die Wachen hoffentlich an ihnen vorbeistürmten.
Die Tür wurde geöffnet, und ein Ork betrat den Raum. Er hatte noch keine drei Schritte hineingemacht, da brüllte er seine Befehle und riss sein Schwert aus der Scheide. Acht seiner Soldaten stürmten mit ihm zusammen die Stufen nach oben, vier blieben in der Wachstube und sicherten den Ausgang. Sie entzündeten die Lampen von Neuem. Coira wusste, dass sie um einen Kampf nicht herumkam. Und vor allem musste er schnell entschieden werden, ehe die anderen neun Scheusale zurückkehrten. »Ich werde Euch brauchen, Rodario der Siebte«, flüsterte sie in sein Ohr und sah, wie er vor Wonne erschauderte, als ihr Atem ihn umspielte.
»Alles, was Ihr möchtet«, sprach er eifrig und leider nicht leise. »Da!«, schrie einer der Orks aufgeregt. »In der Ecke!« Er zog sein Schwert, die anderen drei folgten seinem Beispiel und griffen an.
»Das habt Ihr fein hinbekommen«, fluchte Coira und sandte ihre Magie gegen die Angreifer. Aus ihrer linken Hand schnellten vier gelbliche, murmelgroße Sphären und prallten gegen die Köpfe der Orks. Als sie zerbarsten, umgaben sie die Häupter mit einer Art funkelndem Glitzer.
Zwei Wesen brachen einfach zusammen, doch bei den übrigen war die Wirkung ausgeblieben.
»Es ist Coira Weytana!«, brüllte einer von ihnen die Treppe hinauf. »Die Tochter der Maga ist hier unten! Rasch, helft uns!«
»Los, noch mal!«, sagte Rodario und reckte seinen Dolch nach vorne. »Sendet ihnen den Tod!« Mir nichts, dir nichts sprang er den nächsten Ork an und stach zu. Coira wurde überdeutlich bewusst, dass der Siebte weder gut aussah noch schlagfertig war noch einen guten Kämpfer abgab. Sein Angriff erfolgte so offensichtlich, dass es selbst einem Blinden leichtgefallen wäre, der Klinge zu entkommen, ohne sich dabei beeilen zu müssen. Für einen ausgebildeten Krieger war der tölpelhafte Versuch nicht einmal eine Herausforderung, sondern einfach nur lästig.
Dementsprechend verächtlich konterte der Ork. Es langte nach einem der Humpen auf dem Tisch, machte einen seitlichen Ausfallschritt, um Rodario ins Leere laufen zu lassen, und zerschmetterte das Gefäß auf dessen Hinterkopf.
Der Mann ächzte auf und verlor das Gleichgewicht, stürzte nach vorn und fiel der Länge nach auf den Tisch. Die restlichen Humpen krachten zu Boden, schäumend ergoss sich das Bier.
Coira drosch mit dem Schwert nach ihrem Ork. Er parierte in letztem Augenblick und dicht vor seinem Hals. Grunzend drückte er die Klinge weg und schlug seinerseits zu. Die junge Frau hielt ihr Schwert dagegen, doch die Kraft im Hieb hätte sie beinahe dazu gebracht, die Hand zu öffnen. Ein taubes Gefühl breitete sich in ihren Fingern bis zum Unterarm aus. Sie musste sich anders zur Wehr setzen, auch wenn sie es hatte vermeiden wollen.
Coira ließ einen tödlichen Zauber gegen den Feind los. Knisternde rote Blitze stießen aus ihren Augen hervor und schlugen ins Gesicht des Orks. Die Haut kochte und warf Blasen, die Augengerannen und verdampften zu kleinen, erbsengroßen Punkten; aufkreischend stürzte er nieder.
Der Ork, der Rodario niedergestreckt hatte, schleuderte seinen Dolch nach der Maga. Sie nutzte ihre Fertigkeiten, um die wirbelnde Klinge in der Luft anzuhalten. Ein Gedanke und ein kurze Formel genügten, und das Metall schmolz brodelnd. Coira sandte den rot glühenden Ball zurück zum Werfer, der dem Geschoss nicht mehr ausweichen konnte: Es folgte jeder seiner Bewegungen!
Das flüssige Eisen klatschte gegen seinen Hals und brannte sich zischend durch seine Haut in ihn hinein. Der Ork versuchte, es in seiner Angst abzuwischen, und verbrannte sich die Finger bis auf die Knochen; die Schmerzen ließen ihn besinnungslos zu Boden gehen.
Laute Befehle schallten die Treppe herab, das Trampeln der Stiefel kehrte zurück. Coira lief zum Tisch und zog den benommenen Schauspieler am Kragen in die Höhe. »Kommt, Ihr Glücklosester unter den Glücklosen«, rief sie und verpasste ihm eine leichte Ohrfeige, um seinen Verstand zu wecken.
Rodario verdrehte die Augen, dann grinste er sie unsicher an. »Das habt Ihr gut gemacht, Prinzessin.«
»Und Ihr das Gegenteil!« Sie rannte zum Ausgang. »Weg von hier!«, befahl sie. »Oder wollt Ihr den Grünhäuten begegnen, um weitere glorreiche Schlachten zu schlagen?« Diese Bemerkung hatte sich Coira nicht verkneifen können.
»Ich weiß aber nicht, wo ich hin soll«, jammerte er und nahm einen Dolch in beide Hände. Zwei Orks kamen die Treppe herab und blieben auf der Schwelle stehen. Coira seufzte. Das hatte sie bereits geahnt. »Begleitet mich. Ich bringe Euch in Sicherheit, obwohl es eigentlich umgekehrt sein sollte. Ihr seid schließlich der Mann.« »Ich weiß«, rief er niedergeschlagen und hetzte hinter ihr her zur Tür hinaus. »Der Held rettet die Prinzessin und nicht umgekehrt.«
»Schön! Merkt es Euch für das nächste Mal«, erwiderte sie und lief zurück in die engen Gassen zu einer Stelle in der Mauer, durch die sie nach außen gelangte und wo Loytan auf sie wartete. Mit zwei Pferden. Eines war eigentlich für den Unerreichbaren gedacht gewesen, nun schleppte sie dafür dessen schlechte Nachahmung mit sich durch Mifurdania. »Das ist ungerecht, ihr Götter«, murmelte sie und wandte den Kopf, um nach dem Mimen zu sehen.
Er stolperte ständig über seine Gewandung, verlor seinen Dolch und wollte tatsächlich anhalten, um ihn zwischen dem Unrat zu suchen. Coira musste Rodario wegzerren. Sie rannten die Stadtmauer entlang, ohne verfolgt zu werden. Die Orks vermuteten sie an einem der Tore.
Plötzlich erschien eine Gestalt aus einer Gasse vor ihnen, die eine Laterne in der Linken hielt und sie anscheinend erwartete.
Coira erkannte den Unerreichbaren!
Gleich darauf hatten sie ihn erreicht. Er hatte einige blutige Schrammen im Gesicht, sein rechtes Auge war zugeschwollen - Beweise der Zuneigung seitens der Orks und Lohasbrander. Er reichte zuerst dem außer Atem geratenen Mann, dann der jungen Frau die Hand. »Ich wollte mich bedanken für das, was Ihr beide für mich tun wolltet«, sagte er rasch. »Das werde ich Euch nie vergessen.«
»Kommt mit uns«, erwiderte Coira schnell und hoffte, dass er ihr laut schlagendes Herz nicht hörte. Er hatte ihre Finger nicht losgelassen. »Wir haben Pferde, um Euch...« Der Unerreichbare schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann Mifurdania nicht verlassen. Es gibt zu viele Menschen, denen meine Zeilen noch Hoffnung geben müssen. Nun mehr denn je.« Er deutete einen Handkuss an. »Außerdem muss ich den Titel gewinnen.« Er nickte Rodario zu, und es kam Coira ganz so vor, als tauschten sie dabei unhörbare Botschaften aus. »Nehmt meinen Freund mit. Er ist eher in Gefahr als ich. Es gibt niemanden in der Stadt, der ihm Zuflucht gewähren würde, und sein Gesicht ist zu bekannt.«
Rodario der Siebte lächelte unglücklich und spielte mit dem Saum des linken Ärmels. Coira wurde von der nächsten Enttäuschung gepackt. »Das tue ich«, versprach sie dennoch dem Unerreichbaren und spürte das Verlangen, ihn niemals mehr loslassen zu wollen. Stattdessen musste sie mit einem Tollpatsch abziehen, während ihr strahlender Kämpfer zurückblieb und weitere Heldentaten vollbrachte. Ohne sie. So ungerecht, ihr Götter!
Sie neigte sich nach vorn und gab dem Unerreichbaren einengehauchten Kuss auf die Wange, dann zog sie Rodario hinter sich her. »Welch ein Mann«, sagte der Mime verzückt. »Was gäbe ich dafür, zu sein wie er.«
»Was gäbe ich erst dafür, wenn Ihr so wärt wie er«, fügte sie leise hinzu und wurde rot. Sie schämte sich sofort für die Gemeinheit, die Rodario aber offenbar nicht gehört hatte. Sie gelangten zu der geheimen Pforte in der Mauer, die noch aus der Zeit des alten Mifurdania stammte. Damals war sie für Spione eingelassen worden, um bei einer Belagerung die Feindesstärke zu erkunden. Die Stelle war nur wenigen bekannt, Coira hatte sie von Loytan gezeigt bekommen. Den Lohasbrandern war sie bislang verborgen geblieben. Wer würde sie ihnen auch weisen wollen?
Coira suchte den Mechanismus, Rodario blickte die ganze Zeit nach rechts und links, um nach Orks Ausschau zu halten.
»He! Ihr da unten!«, traf sie der verwunderte Ruf von oben, und ein gerüsteter Nachtwächter beugte sich über die Brüstung, um sie besser sehen zu können. »Was treibt ihr an der Mauer?« Er ging ein paar Schritte die kleine Treppe neben ihm herab, hob seinen Spieß und drehte ihn, damit die Klinge nach unten wies und er nach ihnen stechen konnte.
Coira wich einen Schritt zurück, hob den linken Arm und wollte den Mann mit einem weiteren Schlafzauber ruhig stellen, doch ihr inneres magisches Reservoir war aufgebraucht. Zwar stieg der letzte Rest Energie empor und strömte aus ihren Fingern, aber mehr als ein schön anzuschauendes Flittern wurde daraus nicht. Harmlos, Vergeudung.
Der Nachtwächter fluchte und riss sein Rufhorn an die Lippen.
Dafür handelte Rodario für seine Verhältnisse sehr geistesgegenwärtig. Er schleuderte einen zweiten Dolch, den er wie aus dem Nirgendwo zog, kraftvoll in die Höhe - hatte jedoch vergessen, ihn aus der Hülle zu befreien!
Mit einem hohlen Geräusch knallte die breite Seite gegen die Stirn des Wärters, der aufstöhnte und blitzartig hinter der Brüstung verschwand; gleich darauf hörten sie seinen Körper fallen.
»Ich habe meinen letzten Dolch verloren!«, beschwerte er sich bei Coira. »Verflucht, der war teuer! Er war aus...«
»Seid ruhig!« Coira drückte den Öffnungsmechanismus, und die Mauer ließ sich etwas zur Seite schieben. »Ich kaufe Eucheinen neuen, aber jetzt bewegt Euch!«, scheuchte sie ihn hinaus. »Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn, nicht wahr?«
»Ich... bin kein Huhn!« Rodario geriet wieder ins Stammeln.
Loytan wartete auf der anderen Seite und sah den Schauspieler verwirrt und dann sie anklagend an. »Ihr wisst, dass Ihr den Falschen befreit habt, Prinzessin?«, fühlte er sich verpflichtet, sie aufmerksam zu machen.
Coira seufzte und schwang sich in den Sattel. »Erspare mir das«, fauchte sie und beobachtete, wie sich der Schauspieler mit dem Saum seines Gewands im Steigbügel verfing. Das Pferd trabte los, und er hopste auf einem Bein nebenher. »Kein Wort darüber. Ich erkläre es dir unterwegs«, fügte sie hinzu, als sie sah, dass Loytan den Mund wieder öffnete.
Endlich saß der Siebte im Sattel. »Von mir aus können wir flüchten«, verkündete er. »Am liebsten vor ihm«, raunte sie Loytan zu und ließ ihren Rappen antraben. Die beiden Männer folgten ihr. »Wohin reiten wir?«, rief Rodario.
»Zum Palast«, gab Coira zurück und sah hinter sich, wo sie Lichtschein in der Dunkelheit bemerkt hatte. Reiter mit Fackeln in den Händen erschienen, etliche kläffende Bluthunde rannten vor den Pferden her und setzten sich auf die Fährte der Flüchtenden. Die Lohasbrander hatten nicht vor, sie einfach ziehen zu lassen. Umso wichtiger war es, die Quelle bei Seenstolz zu erreichen, um frische Energie aufzunehmen.
Andernfalls...
Das Geborgene Land, Protektorat Süd-Gauragar, 6491. Sonnenzyklus, Winter.
Hindrek lenkte den Schlitten, auf dem sich armlange, dicke Holzstücke bis zum Rand der Ladewand stapelten, aus dem Wald auf das Haus inmitten der verschneiten Lichtung zu.
Er hatte den Vorrat bereits vor einem Zyklus angelegt, und nun war es an der Zeit, das Brennmaterial zu seinem Heim zu bringen und es auf ofengerechte Größe zu hacken oder zu sägen. Die Scheite im Haus gingen zur Neige, sie hatten gerade noch gereicht, um den Herd in der Küche anzufeuern.
Hindrek ließ die Pferde neben der Scheune anhalten und rief nach seinen beiden Söhnen, damit sie ihm beim Abladen halfen.
Die Tür öffnete sich, und zwei Jungen im Alter von elf und vierzehn Zyklen kamen herausgelaufen. Sie trugen wie ihr Vater wild gemusterte Mäntel und Mützen aus verschiedenen Fellstücken, vom Eichhörnchen bis zum Hasen. Es spielte keine Rolle, solange sie warm hielten. Ihre Mutter winkte vom Fenster aus und hielt ein abgezogenes Kaninchen in die Höhe. Es sollte das Mittagsmahl werden. Hindrek stand auf der Ladung und reichte Cobert, dem älteren der beiden, das Holz. »Na, wer hat das Tier gefangen?«
»Ich«, sagte Ortram stolz. »Es hing in meiner Schlinge.«
»Er weiß einfach immer, wo die kleinen Biester langlaufen«, lobte Cobert und grinste. »Dafür bin ich besser im Umgang mit dem Bogen.«
»Du hast aber schon lange kein Wild mehr nach Hause gebracht«, sagte sein Bruder und streckte ihm die Zunge raus. »Ich bin viel besser als du!«
»Ja, ja, ohne dich wären wir sicherlich verhungert«, lachte Hindrek und gab auch ihm ein großes Stück Holz. »Hier, zersäge es, spalte es klein und kräftige deine Muskeln. Sonst wirst du es niemals schaffen, einen Bogen so zu spannen wie Cobert.« Jetzt streckte der andere Junge die Zunge raus und eilte zum Hackklotz, in dem die schwere, große Axt steckte; sein kleiner Bruder folgte ihm.
Hindrek sah ihnen nach, dann hob er die Hand und grüßte seine Gemahlin Qelda, die ihm einen Handkuss zuwarf, bevor sie vom Fenster verschwand. Der Mann beobachtete, wie seine Söhne das Holz abluden und sich darum stritten, wer nun die schwere Arbeit machen durfte.
Hindrek war mit seinem Leben als Wildhüter zufrieden, auch wenn er sich gewünscht hätte, nicht im Dienst von Graf Pawald zu stehen, einem Vasallen der Albae. Doch sie ließen ihm seine Ruhe, solange er seiner Aufgabe nachging. Er hoffte nur, dass seine Söhne im Gegensatz zu ihm eines Umlaufs in wirklicher Freiheit leben würden. Der Wind drehte und wehte nun aus Norden. Er trug den dreien einen wunderschönen Gesang zu, der sie mit den ersten Tönen rührte und die Härchen auf ihren Armen und im Nacken vor Ergriffenheit sich aufrichten ließ.
Die Weise bestand aus einfachen Silben ohne Sinn, doch die Klarheit der Frauenstimme und das Gefühl darin bannte die drei an ihre Plätze und zwang sie dazu, in den Wald zu blicken, von wo sie erklang, bis sie leiser und leiser wurde und schließlich nicht mehr zu hören war.
Ortram wandte sich mit verzücktem Gesicht an seinen Vater. »Was war das?« Hindrek erschauderte und spürte Sehnsucht in sich. Sehnsucht nach mehr von dem, was er soeben hatte vernehmen dürfen. »Ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht eine Wanderin, die sich die Zeit ihres Marsches mit einem Lied vertreiben wollte.« Cobert warf die Axt in den Schnee und ging schnurstracks auf die Bäume zu. »Ich möchte sehen, wie eine Frau aussieht, die eine solche Stimme hat«, rief er und rannte los.
»Bleib!«, befahl ihm Hindrek und sprang vom Schlitten. »Wir haben Arbeit zu erledigen.« Doch er verstand den Wunsch seines Ältesten nur zu gut. »Warte!« Er folgte dem Sohn, der zwischen den Stämmen verschwand. Gut, dass er nun einen Vorwand hatte, dem Gesang zu folgen, ohne sich vor seiner Gemahlin rechtfertigen zu müssen. »Ortram, du wartest hier. Ich gehe und achte auf deinen Bruder.«
Er sah Coberts Flickenmantel vor sich zwischen den Bäumen verschwinden. Der Junge legte eine enorme Geschwindigkeit vor. Wie besessen trieb es ihn vorwärts, und er zog seinen Vater tiefer in den Forst; bald schwitzte der Wildhüter gewaltig unter seinem Mantel.
Die Schatten wurden dichter, und es schien mit einem Mal, dass die Sonne ihre Kraft verlor, je weiter sie sich vom Haus entfernten. Hindrek wurde unheimlich zumute. »Cobert!«, rief er. »Bleib endlich stehen!« Er hielt inne und stützte sich an einer Palandiell-Tanne ab. »Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Es werden die Waldgeister sein, die sich einen Spaß mit uns erlauben wollen. Hörst du nicht?« Er hielt den Atem an und lauschte.
Da setzte der Gesang wieder ein.
All seine Vorbehalte wurden von den Tönen und der glasklaren Stimme ausgelöscht und ließen den Wunsch zurück, die Sängerin mit eigenen Augen zu sehen. Sie bewundern zu können und an ihren Lippen zu hängen, während sie allein für ihn sang. Nur für ihn! Niemand sonst durfte in diesen Genuss kommen!
Lodernde Eifersucht schoss in ihm hoch, und ohne dass es ihm bewusst wurde, zog er seinen schweren Jagddolch. Die kräftige, scharfe Klinge glänzte matt auf. Hindrek folgte der Melodie, die sich ganz in seiner Nähe befand.
Aus seinen schnellen Schritten wurde ein Rennen, ein getriebenes Vorwärtsstolpern, das sich durch kein Hindernis aufhalten ließ. Der Wildhüter wollte die Frau sehen, die ihm solche Wonnen bereitete.
Er kämpfte sich durch das Dickicht, durch den Schnee, durch reißende Dornenranken, über gestürzte Bäume hinweg.
Er spürte keine Schmerzen, die Mundwinkel waren zu einem seligen Lächeln nach oben gezogen, während seine Augen fiebrig glänzten. Weiter, immer nur weiter! Dann kam er unerwartet zwei Schritte hinter seinem Ältesten zum Stehen. Er kniete barhäuptig vor einer Frau in einem schwarzen, mit Silberfäden bestickten Mantel. Aus ihrem Mund drang die Weise, der Cobert andächtig lauschte. Sie hatte die rechte Hand auf seinen blonden Schopf gelegt und streichelte ihn zärtlich wie den Kopf eines Liebhabers.
Ihr Gesicht war voller Anmut, und selbst die schönste Frau, der Hindrek bislang begegnet war, verblasste vor ihr und schien ihm hässlich. In seinem Verstand gab es nichts anderes mehr als die wohlgestaltete Sängerin. Ihre langen schwarzen Haare wurden von einer leichten Brise bewegt und umrahmten ihr schmales Gesicht. Auf ihrer Stirn lag ein finsteres Diadem aus Tionium, Silber und Gold; zwei fingerkuppengroße Diamanten saßen funkelnd über den Augen.
Durch Hindrek schoss glühender Neid, den nicht einmal die Melodie besänftigen konnte. Er wollte an der Stelle von Cobert sein, die zarten Finger der Frau auf sich spüren. Was wusste der Knabe schon von Liebe und Gefühlen?
Seine Missgunst erfuhr im nächsten Augenblick noch eine Steigerung: Als Cobert die Wange gegen das Handgelenk der Frau drückte und zu einem Kuss ansetzte, warf sich Hindrek mit einem aufgebrachten Schrei auf seinen Sohn, packte seine Haare und stieß ihm den Hirschfänger von hinten durchs Herz.
Da verstummte der Gesang. »Weg von ihr!«, schrie er und schleuderte den Leichnam zur Seite, als wäre es ein Sack Getreide. »Sie ist mein. Ich habe sie zuerst gehört«, wisperte er und sank mit den Knien in den blutigen Schnee. Seine Arme senkten sich, und er sah die schweigende, lächelnde Frau an. Sehnsüchtig wartete er darauf, dass sie ihn berührte wie Cobert, er reckte den Kopf und schloss die Augen. »Bitte, singt für mich, Göttin!«, bettelte er. »Was würdest du dafür tun, Hindrek?«, fragte sie und berührte seine linke Wange. »Ich erwarte eine Gegenleistung, ehe ich meine Stimme erhebe.«
»Alles«, kam es sofort über seine bebenden Lippen. Sein Körper schmerzte vor Sehnsucht nach den Tönen, er wollte sie bis ans Ende seines Lebens hören, wieder und immer wieder, ohne Unterlass. Nur er allein.
»Kehre zu deiner Hütte zurück und bringe mir die Köpfe deiner Familie«, sagte die Schöne verführerisch. »Danach werde ich eine andere Weise für dich singen.« Er öffnete die Augen und sah, wie sie sich zu ihm beugte. Beinahe berührten ihre Lippen die seinen. »Die Weise von der Lust.«
Hindrek sprang auf und rannte. Er rannte den Weg zurück, den er gekommen war, und vernahm ihre Stimme, die Töne, die ihn anstachelten und seinen Beinen Kraft genug gaben, rasch wie der Wind sein Zuhause zu erreichen.
Es war dunkel geworden. Im Innern des schlichten Gebäudes brannten Lichter, Rauch stieg aus dem Kamin. Die Pferde waren ausgespannt worden, ein kleiner Stapel gespaltenes Holz lag neben dem Hackklotz.
Der Wildhüter marschierte keuchend auf den Eingang zu, riss im Vorbeigehen die Axt aus dem Holz und nahm sie in beide Hände. Sie taugte dazu, Köpfe von Schultern zu schlagen. Er wollte die Sängerin, deren Stimme er noch immer in seinen Ohren vernahm, nicht länger warten lassen. Die Weise von der Lust - er schauderte wohlig. Die Tür wurde aufgerissen, und Ortram stand auf der Schwelle. »Mama, er ist da«, rief er erleichtert nach hinten und sah sich um. »Wo ist Cobert?« Die Augen des Jungen weiteten sich, als er das Blut auf dem Mantel seines Vaters entdeckte. »Was ist denn geschehen?«
Qelda tauchte auf und warf ihrem Gemahl einen besorgten Blick zu. »Hindrek? Was ist mit dir? Und wo ist unser Ältester?« Der Klang ihrer vertrauten Stimme zerbrach die betörende Wirkung des Gesangs der Schönen, und der Mann blieb mit halb erhobener Waffe vor den beiden stehen. Er blinzelte, sah das Gesicht seiner Frau und seines Sohnes.
»Ich...« So sehr er sich bemühte, ihm fiel nicht ein, was er erlebt hatte. »Ich stand auf dem Schlitten...« Hindrek drehte sich zum Schuppen. »Eine Stimme, eine Weise...« Er versuchte, die Melodie nachzusingen, doch aus seinem Mund klang sie furchtbar. »Ich bin ihr...«
Qelda stand mit erschrockenem Gesicht plötzlich vor ihm und hielt den Axtstiel fest. »Hindrek, wo ist der Junge? Und wessen Blut ist das auf deinem Mantel?« Ihre Stimme klang hoch, schrill und unerträglich im Vergleich mit der Schönen. Es schmerzte ihn. Sein Gesicht hellte sich auf. »Die Frau! Im Wald... sie hat für mich gesungen!«
»Mama«, heulte Ortram auf und kam herbeigerannt, klammerte sich an ihre Hüfte. »Was ist mit Vater?«
Dann hörten sie die Melodie aufs Neue.
Sie wehte seiden aus dem Waldessaum zu ihnen herüber und umschmeichelte den Verstand.
»Mama, da ist es wieder!«, flüsterte der Junge.
»Sei still!«, schrie Hindrek ihn erbost an. »Du klingst wie eine quietschende Ratte!« Seine Frau wich vor ihm zurück und zog den Jüngsten mit sich. »Zurück ins Haus«, sagte sie eilig und schlug einen weiten Bogen um ihren Gemahl. Es gab nur eine Erklärung: »Dein Vater ist von den Waldgeistern besessen.«
Hindreks Züge verzogen sich voller Abscheu. »Schweig! Dein Gekeife ist furchtbar!« Er hob die Axt, und ihm fielen die Worte der Schönen wieder ein. Das Versprechen von der Weise der Lust und seine Gegenleistung, die er dafür erbringen sollte. Bevor Qelda etwas sagen konnte, schlug er zu.
Die Klinge fuhr ihr durch den Hals, und weil Hindrek ein kräftiger Mann war und über viel Kraft verfügte, trennte die Axt den Kopf vollständig ab. Sie fiel enthauptet neben ihm nieder, der Schädel plumpste in eine Schneewehe und verschwand darin. Ortram kreischte und starrte dabei den Leichnam der Mutter an, die Hände zu Fäuste geballt und die Arme an den Leib gepresst.
Hindrek zögerte nicht, dem störenden Ton ein Ende zu setzen, der den wunderschönen Gesang der Unbekannten durchschnitt. Vier rasche Schritte, und er befand sich vor seinem Sohn, die Axt hielt er schräg und zum Schlag ausholend. Gleich, gleich würde er seine Belohnung erhalten!
Ein harter Schlag traf sein rechtes Bein, und es knickte ein. Die Schneide der Axt surrte über den Kopf seines Sohnes hinweg, und durch den Schwung wurde Hindrek umgerissen. In seinem Knie steckte ein Armbrustbolzen, dann hörte er Huftrappeln. Auf dem Pfad, der zum Dorf führte, kamen vier Reiter in braunen Lederrüstungen und hellen langen Mänteln entlang. Einer von ihnen hielt eine abgefeuerte Armbrust in den Händen.
»Weg von dem Kind!«, schrie der Schütze und lud nach.
»Die Weise der Lust«, ächzte Hindrek und nahm die Axt als Krücke. Er kannte die Männer, Wislaf, Gerobert, Viatin und Diederich, die Vertrauten von Graf Pawald. Sie mussten den göttlichen Gesang auch vernommen haben und kamen, um ihn ihm streitig zu machen!
Kaum stand er, humpelte er die Stufen zum Haus hinauf, in das sich Ortram geflüchtet hatte. »Ich will die Weise von der Lust hören!«, tobte er und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, dann drosch er mit der Schneide auf die geschlossene Tür ein. Von drinnen erklangen die verängstigten Schreie seines Sohnes.
Die Reiter donnerten heran und riefen mehrmals nach dem Wildhüter, der wie von Sinnen auf das Holz einschlug.
Unvermittelt hielt er inne und drehte sich zu ihnen um. »Ihr wollt sie auch für euch!«, rief er mit überschnappender Stimme und schleuderte die Axt nach ihnen. »Ihr werdet sterben!«
Die Axt prallte gegen die Brust von Diederichs Pferd, das daraufhin scheute und auf die Hinterläufe stieg; der Mann fiel in den Schnee.
»Mit dir fange ich an!« Hindrek zückte den langen Dolch und hopste auf den Liegenden zu - und bekam einen Bolzen in die Brust. Stöhnend fasste er nach dem Schaft, der nur noch zu einem Drittel herausragte, um nach vorn zu kippen und liegen zu bleiben. Diederich, ein Mann um die vierzig Zyklen, erhob sich fluchend und wischte den Schnee von sich ab. »Was, bei den abscheulichen Mächten Tions, ist hier vorgefallen?« Viatin, der Schütze und etwas jünger als Diederich, hing die Armbrust an die Sattelhalterung und rutschte auf den Boden. Er trug wie seine Begleiter einen kurzen Vollbart; eine Kappe aus Zobel schützte ihn vor dem Winter. »Die Einsamkeit hat schon ganz andere Kerle wie Hindrek bezwungen. Es kann einen verrückt machen.« Er sah zur Frauenleiche. »Anders wird seine Tat nicht zu erklären sein.«
Gerobert lenkte sein Pferd um die Hütte. »Ich schaue mich lieber um. Wer weiß, was wir noch entdecken müssen.«
Diederich, Viatin und Wislaf, mit zwanzig Zyklen der Jüngste von ihnen, gingen gemeinsam zum Eingang und traten die versperrte Tür ein.
Der große Innenraum war sauber und aufgeräumt. Auf dem Herd brodelte ein Kessel, es roch nach Kanincheneintopf, und der Tisch war gedeckt. Ohne die Leichen vor dem Haus sah es nach einem friedlichen Leben aus.
Ortram hatte sich neben dem Ofen zusammengekauert und hielt einen glühenden Schürhaken als Schutz vor sich. Tränen liefen seine Wangen hinab, und er zitterte am ganzen Leib.
»Wir tun dir nichts«, sagte Diederich bedächtig und wies dem Jungen seine leeren Hände. »Dein Vater kann dir nichts mehr anhaben.«
Doch Ortram rührte sich nicht, sondern hielt sie weiter auf Abstand.
»Da möchte man Felle kaufen, und dann stößt man auf so eine furchtbare Tragödie«, meinte Wislaf leise. »Was sich Menschen nur antun.«
»Heuchelei, wenn auch glaubhaft vorgetragen«, sagte eine feine, wohlklingende Stimme vom Eingang voller Spott. Die Männer wirbelten herum, Viatin und Diederich zogen ihre Schwerter mehr aus Überraschung denn aus Furcht.
Über die Schwelle trat ein Alb in einem schwarzen Umhang; er musste sich ducken, um wegen seiner Größe und der Waffe auf dem Rücken durch die Tür zu passen. »Wo wir doch alle wissen, was du den Menschen antust, wenn und wann es dir beliebt.« Die zweite Stimme kam aus dem großen Kamin in ihrem Rücken, und Wislaf wandte sich um. Ein zweiter Alb, dem Gesicht nach der Zwilling des anderen, hob sich vor dem Feuerschein ab. Es war dem Mann ein Rätsel, wie die Kreatur durch die Flammen gelangt war, ohne zu vergehen.
Diederich und Viatin behielten die Schwerter in den Fäusten. Auf sie machte es den Eindruck, als versperrten ihnen die beiden Neuankömmlinge den Weg.
Wislaf räusperte sich. »Was wollt Ihr hier? Habt Ihr etwas mit den Vorgängen zu tun?« »Wir? Niemals. Einen Besuch abstatten wollten wir. Der arme Wildhüter«, sagte der Alb vor dem Ausgang freundlich und lächelte. Die weißen, ebenmäßigen Zähne schimmerten raubtiergleich. »Nennt mich Sisaroth und meinen Bruder Tirigon«, stellte er sie endlich vor.
Wislaf tat das Gleiche mit sich und seinen Begleitern. »Wir sind Leute von Graf Pawald und Vasallen von Mörslaron. Ihr werdet den Namen des Albs kennen, dem dieser Landstrich in Gauragar gehört«, fügte er hinzu, um sich vor einem Angriff zu schützen. Die Albae respektierten nur die eigene Art, und wenn diese unheimlichen Geschwister verstanden hatten, dass er und seine Begleiter einem anderen Alb angehörten, ließen sie gewiss die Finger von ihnen.
Zur Erleichterung der Menschen nickte Sisaroth, ohne sich von der Tür wegzubewegen. »Ich kenne Mörslaron«, sprach er, und es klang nicht so, als fürchte er ihn. Das, fand Wislaf, war kein gutes Zeichen.
Hinter Sisaroth erschien eine Albin und drückte sich an ihm vorbei in den Raum. Auch sie trug einen schwarzen Mantel, ein Diadem lag auf den schwarzen Haaren und hob das bezaubernde Gesicht hervor.
»Drillinge«, entfuhr es Diederich.
»Trefflich beobachtet«, lachte die Albin. »Wäre es nicht schicklich, die Waffen wegzustecken? Schließlich stehen wir auf der gleichen Seite.«
»Können wir Euch behilflich sein?«, fragte Viatin geflissentlich und hatte nur Augen für sie.
Die Albin wechselte kurze Blicke mit ihren Brüdern. »Wenn ihr so freundlich sein wolltet: Wir forschen nach einem Brief. Hindrek hat ihn irrtümlich erhalten. Als er den Inhalt gelesen hat, mag er seinen Verstand verloren haben. Albae-Runen können auf Menschen eine tödliche Wirkung haben. So empfehle ich: Haltet Ausschau, ohne die Zeichen darauf zu beachten.« Mit einer knappen Geste schickte sie die Männer auf die Suche, die in der Kammer des Wildhüters stöberten.
Die Albin bemerkte den verstörten Jungen neben dem Ofen und näherte sich ihm mit leichten, lautlosen Schritten. Nicht einmal die Holzdielen knarrten unter ihren weichen Stiefelsohlen, und sie erschien mehr wie ein Geist denn wie ein lebendiges Wesen.
»Du armes Geschöpf«, sagte sie zu ihm und kümmerte sich nicht um den Schürhaken, der kaum mehr glühte, aber immer noch Hitze verströmte. Sie ging vor ihm in die Hocke und berührte seine Stirn. Ortram zuckte zusammen und starrte die Hand entsetzt an, aber er wehrte sich nicht; ihre Brüder verharrten regungslos an ihren Plätzen und beobachteten Wislaf und seine Leute bei der Arbeit.
»Hier!«, rief Diederich und hielt einen Umschlag in die Höhe. »Das könnte es sein, oder?« Peinlich genau achtete er darauf, keinen Blick auf die Runen zu werfen. Sisaroth winkte ihn zu sich und ließ sich den Fund aushändigen. Er zog den Brief heraus und überflog die Zeilen, dann nickte er Tirigon zu und sah zufrieden aus. »Der Junge wird vielleicht mehr wissen«, meinte er und wandte Ortram den Kopf zu. »Schwester, frage ihn, was der Bote seinem Vater weiterhin übermittelte.« Die Albin hatte den Blick nicht von Ortram gewandt. »Du hast gehört«, sagte sie sanft. »Worüber redeten dein Vater und der Mann, der den Brief übergab?« Der schwarzen Augen gössen intensive Furcht über den Knaben, die in ihn sickerte und seinen Verstand peinigte, während sie noch immer lächelte.
»Über eine Stadt«, würgte er heraus und wollte die Albin schlagen, ihr die schrecklichen Augen mit dem Eisen ausstechen, ihr liebreizendes Gesicht zertrümmern und davonrennen. Stattdessen konnte er sich nicht bewegen, von unfassbarem Schrecken in die Ecke neben den Ofen gebannt, und war gezwungen, ihr zu antworten. »Mehr, Ortram«, lockte sie ihn und streichelte seine Wange.
»Hochheiligstadt«, wimmerte er. Er glaubte zu sehen, dass sich die Schwärze aus den Augenhöhlen löste und auf ihn zukroch, dunkle Gespinste waberten um ihn herum; sein Atem ging schneller, er stöhnte auf.
»Und wer soll in der Stadt sein? Sagte der Bote etwas darüber?«
Die ersten Ausläufer des schwarzen Brodems hatten sein rechtes Auge beinahe erreicht, Kälte ging davon aus. »Eine Frau, die sich Mallenia nennt«, schrie er. »Sie wartet dort. Mehr weiß ich nicht!« Ortram schluchzte. »Bitte, mehr weiß ich doch nicht!« Die Albin fuhr durch seine hellen Haare. »Ich glaube dir.« »Mallenia?«, sagte Viatin überrascht. »Die Aufständische? Hat sie nicht vor Kurzem erst die Schwarze Schwadron bei Hangenturm überfallen und sie um den Zehnten erleichtert?«
Wislaf sah sich um. »Wo ist eigentlich Gerobert? Wollte er nicht nachkommen, wenn er sich umgeschaut hat?«
»Ein großer, kräftiger Mann mit einem grauen, dreckigen Mantel und einem Vollbart?«, erkundigte sich Tirigon. »Ich sah ihn auf einem Fuchshengst.«
»Da ist er«, nickte Wislaf. »Er ist davongeritten, sagtet Ihr?«
»Nein. Das sagte ich nicht.« Der Alb deutete hinaus. »Wir sind uns begegnet. Hinterm Haus.« Er legte die Rechte vielsagend an den Griff des Dolches mit der doppelten Klinge. »Da ich vor euch stehe, werdet ihr euch denken können, wie unsere Begegnung verlief.«
Diederich zog ein Schwert. »Verflucht! Tückische Kreaturen!«, spie er aus. »Sie machen nicht einmal vor ihren Verbündeten halt.«
Sisaroth lachte laut und herablassend. »Wie kommt er darauf, dass solche Geschöpfe wie Menschen unsere Verbündeten sein könnten? Vasallen von Mörslaron, mehr nicht.«
Tirigon nickte erheitert. »Und da Mörslaron weit unter uns steht, können wir über alles verfügen, was ihm gehört.« Schlagartig wurde er ernst. »Oder es zerstören.« Nun zückten auch Wislaf und Viatin ihre Schwerter. »Das würde Euch schlecht bekommen!«, warnte Wislaf sie.
»Schwester, ich glaube, die Gemüter der Männer hier sind ein wenig erhitzt«, rief Sisaroth ihr zu und machte keinerlei Anstalten, sich mit seinen Dolchen zur Wehr zu setzen. »Möchtest du etwas vortragen, um sie zu besänftigen?«
»Du weißt, dass mich das sehr anstrengt«, gab sie zurück. »Meine Stimme leidet.« »Nein«, ächzte Ortram. »Nein, bitte, nicht singen! Habt Mitleid...«
»Aber versuchen kann ich es.« Die Albin gab ihm einen Kuss auf die Wange, holte tief Luft und erhob ihre Stimme.