XII

Das Geborgene Land, das Zwergenreich der Fünften, im Norden des Grauen Gebirges, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


Tungdil stand ratlos links von einer verschneiten Ebene zwischen zwei Berghängen. Die Fährte der Diebe des Kordrion-Geleges endete unmittelbar vor seinen Stiefelspitzen. Die Spuren waren plötzlich an einem senkrecht nach unten fallenden Abhang verschwunden. »Sie sind die Steilwand nach unten geklettert.« Er beugte sich über die Kante und spähte in den Abgrund. Der Boden war nicht zu erkennen. »Mindestens dreihundert Schritte tief. Das verstehe, wer will.«

Balyndar und Ingrimmsch verharrten neben ihm. »Oder sie können doch fliegen«, meinte der Fünfte und sah nach oben. »Ich kann auch in den Hängen über uns nichts erkennen.«

Ingrimmsch wischte im Schnee herum, bis er auf harten Fels stieß. »Und einen geheimen Gang gibt es hier nicht. Das würde ich hören.« Er bemerkte die Blicke, welche die anderen beiden Zwerge ihm zuwarfen. »Was ist denn? Ich wollte sichergehen.« Tungdil machte einige Schritte seitwärts auf die unberührte Ebene zu. »Dein Gedanke war gar nicht so falsch.« Er bückte sich und strich behutsam über die oberste, dünne Lage des Schnees. Darunter erschienen feste Schleifspuren, die sich tiefer in die älteren Kristalle eingedrückt hatten. »Schlaue Kerlchen«, sagte er anerkennend. »Sie haben auf einem der Schlitten Schnee geladen und ihn hinter sich ausgestreut, um uns glauben zu machen, sie hätten sich abgeseilt. Dabei sind sie in Wahrheit hier entlang.« Grinsend befahl er den Weitermarsch.

»Wie gut, dass ich dabei bin«, sagte Ingrimmsch feixend. »Ohne mich und meine Anmerkung würden wir uns sicherlich in die Kluft abseilen. Ich bin eben auch ein schlaues Kerlchen.«

»Wenn du es sagst. Sie laufen nach Osten«, stellte Balyndar fest. Auf seinem Mantel hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet, dieknirschend den Bewegungen des Stoffes folgte. »Sollten sie ihren Weg weiterverfolgen, gelangen sie auf den Pfad, der sie ins Rote Gebirge führt. Er stammt wie alle alten Verbindungen noch aus den Zyklen, als die Schnelltunnel vergessen waren. Sie wurden schon lange nicht mehr von den Stämmen gepflegt und sind gewiss schwierig zu begehen. Es wäre eher eine Kletterei.«

Ingrimmsch hatte einen neuerlichen Einfall. »Wenn sie mit der Brut zu Lohasbrand wollen, dann... haben wir es vielleicht mit klein gezüchteten Schweineschnauzen zu tun? Der Drache hat sie eigens schaffen lassen, damit sie in den Gebirgen und in unseren Stollen besser kämpfen können. Die Langen haben sich doch solche mickrigen Hunde gezüchtet, um sie in Fuchsbauten zu hetzen. Warum sollte das mit den Orks nicht ebenso gelingen?«

»Manchmal finde ich es erschreckend, auf welche Gedanken du kommst. Was sollte der Drache mit der Brut wollen?« Balyndar spähte über die Ebene.

»Was weiß ich? Den Kordrion gefügig machen und sich dessen Treue sichern?« Der Fünfte schnalzte mit der Zunge. Mehr gab er nicht zur Antwort. »Gehen wir quer über die Ebene und sind für unsere Feinde weithin sichtbar, oder laufen wir dicht an den Hängen entlang?«

»Wir haben kein einziges Sandkorn im Glas zu vergeuden. Quer rüber«, befahl Tungdil und trabte los.

Ingrimmsch folgte ihm sofort. »Was ist nun mit meiner Erklärung, Gelehrter?«, drängte er neugierig gleich einem Kind. »Mir erscheint sie sehr einleuchtend.« »Möglich, aber nicht wahrscheinlich«, gab Tungdil zurück. »Vielleicht sind die Ersten auf den gleichen Gedanken gekommen wie wir und haben eine Gruppe ausgesandt.« »Die Scheusale gegeneinander ausspielen, um sich vom Drachen zu befreien und den sicherlich durch den Kampf geschwächten Kordrion zu vernichten?« Ingrimmsch dachte nach. »Könnte sein. Aber es kommt sehr ungelegen, dass sie ausgerechnet jetzt dieses Vorhaben angehen.« Je länger er überlegte, desto mehr verwarf er seinen eigenen Vorschlag. »Unsinn. Sie hätten sich bei Balyndis vorgestellt und um Erlaubnis für ihr Unterfangen gebeten, wie es sich gehört, wenn man im Haus eines Freundes zu Gast ist.«

Ruckartig blieb Tungdil stehen. »Du, Balyndar, Slin«, flüsterte er, »mitkommen. Die anderen laufen bis zur anderen Seite der Ebene und warten auf unser Signal.« Er hastete geduckt davon und hielt auf eine Felsspalte zu, die Ingrimmsch und den Übrigen entgangen war.

»Ein Wunder, wie er Dinge entdeckt«, meinte Slin. »Ich hätte sie nicht bemerkt, bis wir genau auf sie zugerannt wären.«

»Vraccas liebt den Gelehrten eben«, lachte Boindil. »Das war schon immer so, seit wir uns kennen.« Und es hat sich nicht geändert.

Die kleine Truppe betrat vorsichtig den Spalt, in dem es dunkel war; die Luft roch frisch und keineswegs abgestanden. »Ein Tunnel«, wisperte Boindil.

»Sie haben ihn sicherlich nicht durch eine Fügung entdeckt. Wer auch immer das Gelege zerstört und die Brut gestohlen hat: Es war von langer Hand geplant.« Tungdil führte sie, und der Gang bekam ein merkliches Gefälle, bis sie vor grob gehauenen Stufen standen, die weiter abwärtsführten.

Von unten erklangen gedämpfte Stimmen.

»Wir haben sie«, flüsterte Ingrimmsch voller Vorfreude. »Oh, bitte, lass mich vorgehen, Gelehrter! Ich schaffe sie alle! In dem engen Gang wird mir keiner entkommen, und ich...«

»Reiß dich zusammen«, zischte Tungdil.

»Gönne es ihm doch«, sagte Slin leise. »Und meinetwegen kann er ihn gern...« In dem Augenblick erklang der Schrei des Kordrion von draußen! Wind schoss durch den Tunnel, wirbelte Schnee hinein und ließ sie mitten im Gestöber verharren. Boindil erschauerte und stand für drei Lidschläge regungslos da, bis er wieder einen Gedanken fassen konnte. Er dachte sofort an die anderen aus ihrer Gruppe, die dem Scheusal auf der Ebene gegenüberstanden. »Vraccas sei mit ihnen!«, betete er. »Lass sie eine Zuflucht vor dem Viech gefunden haben. Wir brauchen doch jeden Mann, wenn wir dein Volk befreien wollen.« Er nahm die Wachspfropfen und wollte sie sich in die Ohren schieben, um danach zu den Gefährten zu stoßen und ihnen zu helfen, aber Tungdil lief bereits die Treppe hinab. Es blieb keine Zeit für Vorsichtsmaßnahmen oder Beistand. Die Brut hatte Vorrang.

Die Stufen waren alt, gelegentlich brachen Steinstückchen unter ihren Sohlen weg. Slin verlor das Gleichgewicht und wurde vom geistesgegenwärtigen Balyndar gestützt, sonst wäre er kopfüber hinabgepurzelt. »Sollten wir nicht zurück und den anderen beistehen?«, fragte der Fünfte. »Sie werden sterben...«

»Und wir mit ihnen, wenn wir ohne Brut ins Freie treten«, unterbrach ihn Tungdil. »Außerdem riecht Ingrimmsch für den Kordrion wie der Mörder an seinen Nachkommen. Es würde niemandem nützen, wenn wir uns in den Kampf stürzten, außer den Feinden der Zwerge. Sie müssen sich selbst retten.«

Endlich erreichten sie den Boden, der Gang verbreiterte sich. Sie fächerten auseinander: Tungdil und Ingrimmsch in der ersten Reihe, Balyndar und Slin in der zweiten. »Er führt schnurstracks nach Osten«, merkte Ingrimmsch an. »Unsere Ahnen haben ihn sicherlich angelegt, weil sie wussten, dass die Höhenstraßen nicht immer passierbar sind.«

Tungdil blieb abrupt stehen, und Slin lief prompt auf.

Ein lautes, sehr tobsüchtiges Lachen brandete durch den Gang. »Da hetzen sie uns ihre besten Helden auf den Hals, als hätten sie noch Dutzende von ihnen zu Hause in der Schatzkammer stehen«, hörten sie eine tiefe Stimme. »Dieser Verlust wird die Zwergenwelt sehr treffen. Was werden die Stämme ohne ihre Berühmtheiten und Vorbilder an Tapferkeit anstellen? Freiwillig auswandern? Sich selbst umbringen?« Slin bückte sich und entzündete rasch zwei Fackeln, die er aus dem Rucksack nahm; eine hielt er selbst, die andere reichte er Balyndar.

»Komm aus der Dunkelheit, und ich klopfe dich und dein großes Maul weich und butterzart«, schrie Ingrimmsch wütend. »Bist du ein Feigling?«

»Nein. Ich bin jemand, der die Dunkelheit schätzt und sie als seinen Verbündeten ansieht«, gab der Sprecher zurück. »Wieso sollte ich ins Licht treten? Komm du doch zu mir!«

»Was ist mit deiner Kehle, dass du klingst wie ein Mädchen?«, rief Ingrimmsch. Er versuchte, den Unbekannten herauszufordern. »Hat dir ein Gugul die Männlichkeit abgebissen?« Bei ihm hätte diese Schmähung ausgereicht, um sich dem Kampf zu stellen.

»Weswegen folgt ihr uns? Sind die Zwerge zum Anbeter des Kordrion geworden und wollen ihm seinen Nachkommen zurückbringen?«

»Wir verlangen den Kokon, den ihr gestohlen habt«, antwortete Tungdil und bedeutete Boindil, der soeben zu einer weiteren Beleidigung ansetzte, zu schweigen.

Dabei ist mir gerade eine so schöne in den Sinn gekommen, ärgerte er sich. Ich werde eine Gelegenheit finden, sie loszuwerden.

»Zu spät!«, sprach die Finsternis. »Wir haben ihn, wir brauchen ihn, und wir geben ihn nicht mehr her.«

»Dann kommen wir und holen ihn uns!« Tungdil zog Blutdürster. »Ihr seid nur zehn Krieger. Und auch wenn ihr den Spuren nach zu unserem Volk gehört, werden wir euch deswegen nicht schonen.«

Es blieb still.

»Wir sind keine Zwerge«, sagte eine andere Stimme plötzlich hinter ihnen grabestief aus der Dunkelheit. »Nicht mehr.«

Wieso erkenne ich sie nicht? Boindil starrte in die Schwärze, bis er glaubte, einen Umriss ausmachen zu können. Wie aus dem Nichts erschien ein zwergengroßer Krieger vor ihnen, der die gleiche Rüstung trug wie der Zwergenhasser, der sich ihnen im Jenseitigen Gebirge entgegengestellt hatte. Der Gang schien ihn förmlich zu gebären; sein Helm war geschlossen, in der rechten Hand hielt er einen Tioniumspeer mit einer langen, dünnen Spitze.

»Eine Albaewaffe«, grollte Ingrimmsch und drängte sich vor Slin. »Sie passt zu den Runen auf deiner Panzerung, Verräter! Die Dritten sind zu weit gegangen, um herrschen zu können.«

Der Zwerg blieb im Abstand von zwei Schritten vor ihnen stehen.

Slin hatte die Armbrust auf ihn angelegt, Balyndar sicherte in die andere Gangrichtung ab, während Tungdil seine Waffe gegen die Schulter lehnte. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass er Furcht empfand, obwohl er ebenso wie seine Begleiter wusste, dass sie von den Feinden umzingelt worden waren.

»Du hast mir nicht richtig zugehört, Boindil Zweiklinge«, sagte der Unbekannte und schob sein Visier nach oben. »Wir sind keine Zwerge mehr.«

Ingrimmsch sog scharf die Luft ein. Zuerst hatte er geglaubt, der Zwerg besäße kein Antlitz, doch dann verstand er, dass die Schwärze von der Farbe stammte, mit der sich der Unbekannte sogar den kurzen Bart getüncht hatte. »Für mich siehst du immer noch wie einer aus«, gab er mürrisch zurück. »Also, bekommen wir die Brut jetzt?« Der Unbekannte lachte auf eine sehr angenehme, freundliche Weise. »Ich bin in euer Licht getreten, daher schlage ich vor, dassihr zum Ausgleich in die Dunkelheit kommt.« Er hob langsam die Linke und ballte eine Faust.

Die Lichter der Fackeln erloschen schlagartig; mehr als ein bisschen rote Glut gab es nicht mehr.

»Albae-Kunst!«, entfuhr es Ingrimmsch überrumpelt. »Vraccas schlag sie mit deinem Hammer nieder: Die Rockträger haben dich und deine Schöpfung verraten!« Es klackte laut, als Slin die Armbrust ausgelöst hatte. Das Geräusch von splitterndem Holz zeigte ihnen, dass der Bolzen sein Ziel verfehlt hatte.

»Wir sehen euch so gut, als stündet ihr im helllichten Sonnenlicht«, sagte der Zwerg zu ihnen. »Wenn sich eure Fackeln gleich wieder entzünden, regt ihr euch nicht, oder ihr werdet sterben.«

Die Glut entflammte.

Ingrimmsch fluchte. Er wurde von zwei schwarz gerüsteten Zwergen flankiert, eine gebogene Dolchklinge lag an seiner Kehle, die andere verharrte vor seinem rechten Auge. Er hatte die Angreifer weder gehört noch den Windhauch ihrer Bewegungen gespürt. »Vraccas soll euch in die Esse werfen und eure wertlosen Verräterseelen zu nichts verbrennen«, sagte er verächtlich zu dem Feind, der ihm am nächsten stand. Was seine Worte bewirkten, wusste er nicht. Das Visier gab den Blick nicht frei. Um Tungdil standen drei Gerüstete, er sah Speere auf sich gerichtet. Niemand wollte zu dicht an ihn heran.

»Ich frage ein weiteres Mal: Was wollt ihr mit der Brut des Kordrion?« Ihr Anführer verharrte noch immer an derselben Stelle.

»Sie dir in den Hintern schieben«, giftete Ingrimmsch. »Lass mir ein wenig Platz für meinen Krähenschnabel, und ich mache dir noch ein größeres Loch!«

»Die Wahrheit wäre angebracht«, sprach Tungdil zu seiner Überraschung. »Denn ich hege die Hoffnung, dass wir zu einer friedlichen Einigung kommen. Zwerge... Wesen wie euch zu treffen, an diesem Ort, mit dieser Beute, die unsere sein sollte, stimmt mich zuversichtlich, dass es eine Fügung der Götter war.« Er sah auf die Speerspitzen, die gegen sein Gesicht, die Kehle und seine Leiste gerichtet waren. »Wir wollten dem Kordrion seine Brut stehlen, um sie zu Lot-Ionan zu bringen und das Scheusal gegen den Magus zu hetzen. Danach wäre eine Zwergenstreitmacht aufgebrochen, um den geschwächten Magus auszulöschen.« Er musterte den Anführer. »Ihr wolltet nach Osten. Da ichkeinerlei Drachenschuppen an euch sehe, gehört ihr nicht zu Lohasbrand, und deswegen vermute ich, dass ihr einen ähnlichen Plan wie wir hattet: Ihr wolltet den Kordrion gegen den Drachen treiben, um den Sieger anzugreifen.« Er zeigte ein überlegenes Lächeln. »Habe ich recht?«

Der Anführer verzog lobend den Mund und nickte. »Du hast recht, Tungdil Goldhand.«

»In wessen Auftrag handelt ihr? Für die Albae? Wollen sie sich den Westen und den Norden des Geborgenen Landes ebenso einverleiben, wie sie es mit dem Osten taten?« Tungdil blieb felsenruhig, als wäre er derjenige, welcher die Oberhand besaß. »Das geht dich nichts an. Aber ich hätte dir einen Vorschlag zu unterbreiten.« »Behalte ihn«, murrte Ingrimmsch und überlegte bereits, in welcher Abfolge er seine Wächter angreifen sollte. Er legte sich ein Muster zurecht, das ihn befreien würde. Bei Vraccas! Ihr Verräter werdet gleich sehen, wozu ein Krieger wie ich fähig ist. »Nur zu. Alles, was das Blutvergießen verhindert, kommt mir gelegen«, gab Tungdil zurück.

Verwundert und beinahe empört hörte Ingrimmsch, wie sein Freund einwilligte. »Aber mir nicht, Gelehrter!«, begehrte er auf. »Das sind unsere ärgsten Feinde! Mörder und Verräter unserer Stämme, weil sie mit den Albae...«

Tungdils Blick brachte ihn zum Schweigen. Er sah in die Runde, doch Slin scharrte mit dem Fuß, und Balyndars Wangen mahlten. Niemand sprang ihm bei.

Die Speere wurden weggenommen, und Tungdil ging mit dem Anführer ein paar Schritte tiefer in den Gang hinein, um sich besprechen zu können. Abseits von ihnen. Die ersten paar Sätze zwischen den beiden vernahm Ingrimmsch noch, auch wenn er den Sinn nicht erfasste. Doch der Klang war ihm vertraut, und dennoch dauerte es, bis ihm sein Verstand sagte, was sein Gefühl verweigert hatte: die Sprache der Albae! Ausgerechnet...

»Entzückend«, meinte Slin verdrossen. »Da geht unser Großkönig mit Zwergen, die keine mehr sein wollen und sich anscheinend für kleinwüchsige Albae halten.« Er drehte den Kopf zu seinen Bewachern. »Darf man erfahren, wie ihr euch selbst nennt?« Er bekam keine Antwort.

Balyndar fluchte. »Was machen wir nun, Boindil?« »Woher soll ich das wissen? Ich bin Krieger, kein Denker.« Ingrimmschs Muskeln spannten sich kaum merklich - doch sofort legte sich die Dolchklinge fester an seine Kehle. Seine Wächter waren sehr aufmerksam. »Ja, ja, schon gut. Ich bewege mich nicht mehr«, beschwichtigte er. Er sah zu, wie sein Freund und der unbekannte Zwerg redeten.

Nach einer Weile, die ihm endlos erschien, kehrten Tungdil und der Anführer zurück. Auf einen Befehl des fremden Zwerges hin senkten die Wärter ihre Waffen und sammelten sich hinter ihm; Tungdil trat an Ingrimmschs Seite.

»Wir haben neue Freunde gewonnen«, verkündete er, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Wenn du dich meinen Begleitern vorstellen möchtest?«, forderte er und steckte Blutdürster in die Scheide.

Der Zwerg nickte ihnen zu. »Ich bin Barskalin, der Syträp der Zhadär. Zhadär ist Albisch und bedeutet die Unsichtbaren, Syträp meint nichts anderes als Kommandant.« Sein linker Arm beschrieb einen Halbkreis. »Das sind die zehn Besten meiner Zhadär, der Rest wartet an einem geheimen Ort auf unsere Rückkehr. Um zu verstehen, warum wir hier sind, muss ich weiter ausholen.«

»Keine Zeit! Was soll aus unseren Begleitern draußen auf der Ebene werden?«, meinte Ingrimmsch scharf. »Wir müssen ihnen gegen den Kordrion beistehen!« Mit einem bösen Blick auf Tungdil fügte er hinzu: »Da könnten unsere neuen Freunde gleich beweisen, was sie taugen.«

Barskalin schüttelte den Kopf. »Sie sind tot, Boindil. Der Kordrion hat sie ausgelöscht. Einer meiner Zhadär, den ich ungesehen von euch am Ausgang postiert hatte, meldete es mir, bevor ich mich euch zeigte. Es war weise, uns in den Tunnel zu folgen.« Balyndar schnaufte laut. »Tot?«

»Der Kordrion hat sie auf der Ebene gestellt. Wie hätten sie seinem weißen Feuer entgehen können?« Barskalin nickte den Gang entlang. »Wir sollten später sprechen und erst einige Meilen zwischen uns und die Bestie bringen. Es wird der Duftspur dennoch folgen.«

Ingrimmsch sah zu Slin und Balyndar, danach erst zu Tungdil. »Und wohin gehen wir nun?«

Eigentlich hatte er die Antwort vom Gelehrten erwartet, doch der Syträp erwiderte: »Nach Süden, ins Rote Gebirge.« Wie hat der Gelehrte das geschafft? Damit hatte Ingrimmsch nicht gerechnet. Nicht wirklich. Den erstaunten Gesichtern von Slin und Balyndar nach zu urteilen, sie ebenso wenig. Aber echte Erleichterung wollte sich nicht einstellen.

Auch nicht, als sie den Kokon erahnten, den die Zhadär unter einer dicken Schicht Felle geborgen hatten und auf einem Schild mit Rollen durch den Gang zogen.



Das Geborgene Land, das Zwergenreich der Fünften, im Norden des Grauen Gebirges, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


Die Zhadär, von denen durch ihre Unkenntlichkeit und Verwechselbarkeit in den gleich aussehenden Rüstungen etwas Unheilvolles ausging, sowie die Überlebenden der Gruppe aus Fünften und Vierten marschierten rasch. Den Kokon hatten sie wie die übrige Ausrüstung sowie den Proviant auf einen Schild mit Rollen darunter geladen und zogen ihn in ihrer Mitte.

»Wie hast du sie davon überzeugt, dass sie bei uns mitmachen, Gelehrter?«, fragte Boindil unterwegs.

»Wir werden ein wachsames Auge auf sie haben müssen«, warf Balyndar ein. »Und was noch viel wichtiger ist: Was haben sie als Gegenleistung verlangt?« Slin sah sich um. »Ich werde nicht schlafen können, das weiß ich jetzt schon. Niemand von denen hat uns sein Gesicht gezeigt. Außer Barskalin.«

»Ihr werdet es bei der nächsten Rast erfahren. Es ist besser, wenn ihr es von Barskalin hört«, vertröstete Tungdil sie und schritt zügiger aus, um neben den Kommandanten zu gelangen.

»Sie besprechen sich schon wieder. Wie alte Freunde.« Slin rempelte Balyndar an und zeigte verstohlen auf Tungdils Rücken, genau auf eine Rune. »Die haben die Zhadär auch auf ihren Panzerungen«, raunte er ihm zu. »Am Ende ist es doch gar keine Fügung, dass wir uns hier getroffen haben. Der Plan mit dem Gelege stammt von Tungdil - vielleicht sind das hier seine Krieger, und sie tun nur so, als wären sie... Zhadär?« »Ein guter Gedanke«, meinte der Fünfte sinnierend. »Hört auf mit dem Unsinn«, befahl ihnen Ingrimmsch, wohl wissend, dass er ihnen gar nichts vorschreiben konnte.

Balyndar sah ihn missbilligend an. »Du wechselst unentwegt deine Ansicht, Boindil Zweiklinge. Mal stehst du auf seiner Seite, dann schwenkst du ein bisschen um, überlegst es dir aber wieder anders.« Er legte die Hände an den Gürtel. »Du wirst dich vielleicht entscheiden müssen. Sobald alles vorbei ist.«

Ingrimmsch ärgerte sich. »Wir haben eine Aufgabe, und die werden wir erfüllen, ganz gleich, wer uns dabei hilft, solange es dem Geborgenen Land hilft«, lenkte er von sich ab. »Es gab schon etliche Verluste. Jetzt haben wir neue Krieger und die Brut.« »Da hat er auch wieder recht«, sagte Slin. »Besser so, als tot und als Aschehäufchen in der Ebene zu liegen oder dem Kordrion als Fraß zu dienen.«

Balyndar verzog den Mund. »Wer sagt uns, dass sich nicht Tion was dabei gedacht hat, als er uns die Zhadär sandte?« Danach sprach er kein Wort mehr.

Als sie eine Höhle mit einer Quelle darin fanden, befahl Tungdil eine Rast, und Barskalin willigte ein.

»Die Rangordnung zwischen den beiden scheint klar zu sein«, kommentierte Ingrimmsch, der vor Ungeduld beinahe platzte. Er, Slin und Balyndar ließen sich absichtlich etwas entfernt von den Zhadär nieder und aßen. Ich möchte endlich wissen, was es mit den Unsichtbaren auf sich hat. Vraccas kann seinen Segen dazu einfach nicht geben. Nicht Zwergen, die Albae-Künste beherrschen. Er sah zu seinem Freund hinüber, der wieder mit dem Syträp sprach. Sie hatten eine Karte vor sich ausgerollt und fuhren mit den Fingern immer wieder über Linien und Punkte. Schließlich waren sie fertig und kamen zu ihnen.

Barskalin setzte sich auf einen Stein. »Ich schulde euch noch eine Erklärung zu mir und den Zhadär«, begann er. Er löste den Kinnriemen des Helms und zeigte seinen kahlen Schädel; auch dieser besaß eine schwarze Färbung. »Wie ich schon sagte: Wir waren einst Dritte. Jeder von uns ist älter als vierhundert Zyklen und ein herausragender Krieger. Als Aiphatön und seine Süd-Albae einmarschierten und sich abzeichnete, dass sie niemand aufhalten konnte, schlug unser König ihnen einen Pakt vor. Sie gingen ihn zu unserem Erstaunen ein.« Seine Blicke wanderten über die Zwergengesichter. »Nach etwa zwanzig Zyklen unterbreiteten uns dann die Dsön Aklän ein Angebot: Sie suchten Freiwillige, um sie in die Lehre zu nehmen und sie in besonderen Künsten zu unterweisen. Im Gegenzug sollte diese besondere Einheit sämtliche Zwergenstämme ausrotten, welche es im Geborgenen Land gibt.«

»Vraccas möge den Schwarzaugen einen glühenden Hammer quer durch die doofen Ohren schieben!« Ingrimmsch nahm einen Schluck aus seiner Trinkflasche. »Das Geborgene Land sollte ohne seine Verteidiger dastehen.« Balyndars Miene verdüsterte sich. »Das hätte seinen Untergang bedeutet!«

»Albae aus dem Süden sind anders als diejenigen, welche man aus den Sagen kennt?«, meinte Slin verwundert.

Barskalin bestätigte mit einem Nicken. »Sie sind wilder, grausamer...« Ingrimmsch lachte auf. »Ich höre ja wohl nicht richtig: grausamer? Wie soll das denn gehen?«

»Es geht, Boindil«, antwortete Tungdil leise und trüb.

»Es sind auch nicht die Einzigen. Einige Hundert Albae aus dem Norden haben es auf irgendeine Weise geschafft, ins Geborgene Land zu gelangen. Ohne die Hilfe von Aiphatön, der von den Süd-Albae als Kaiser verehrt wird«, berichtete Barskalin weiter. »Sondern durch die Dsön Aklän.«

Boindils Augen richteten sich auf Balyndar. »Wie umgingen sie euch?« »Gar nicht!«, widersprach der Fünfte. »Wir halten den Steinernen Torweg und haben nichts Böses hindurchgelassen. Das ist Unsinn!«

Barskalin warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Und doch sind sie ins Geborgene Land gekommen, ohne euer Wissen. Die Zwerge konnten nichts dafür. Die Albae haben einen alten Durchgang entdeckt, mit dessen Hilfe sie vor vielen Zyklen in das Elbenreich Lesinteil eingefallen waren.«

»Bei Vraccas! Dann müssen wir diesen Zugang auf der Stelle verschließen.« Slin sah zu Ingrimmsch. »Sonst macht es keinen Sinn, dass wir die Festungen halten.« »Es gibt diesen Zugang nicht mehr. Er brach ein und lief voller Wasser.« Der Syträp legte die Hände zusammen. »Jedenfalls schwelt zwischen den Albae ein Streit. Die Dsön Aklän samt ihrem Gefolge betrachten sich als rechtmäßige Nachfolger der Unauslöschlichen und empfinden sich ihren Verwandten aus dem Süden gegenüber als gesitteter, wenn nicht sogar überlegener. Siewaren es, mit denen wir unsere Abmachung schlossen.« Der Syträp grinste böse. »Sie hätten uns später sicher gegen die Schwarzaugen aus dem Süden gesandt, darauf verwette ich mein Hab und Gut.«

»Sieh an, sieh an.« Ingrimmsch rieb sich den Bart. »Das ist aber gut zu wissen. Die Schwarzaugen mögen sich selbst nicht leiden.«

»Die Süd-Albae sind in der Überzahl und haben sich das einstige Elbenreich Älandur und Dsön Baisur angeeignet, während die Aklän die Stadt Dsön in einem künstlichen Kraterloch neu erstehen ließen. Und zwar im einstigen Elbenreich Lesinteil, das sie nun Dsön Bharä - das wahre Dsön - nennen. Sie sprechen deinen Namen noch immer voller Hass aus, Tungdil Goldhand. Sie haben nicht vergessen, dass du die Stadt der Unauslöschlichen niederbranntest.« Barskalin sah in die Runde. »Wir gingen bei ihnen in die Lehre, und sie wiesen uns in die Künste ihrer Art ein.«

»Wie soll denn das vonstattengegangen sein? Zwerge und Magie? Dazu noch Magie, die unseren ältesten, schrecklichsten Feinden entspringt« Balyndar schnitt sich einen Bissen aus dem Schinkenstück.

»Es ist ein langes, schmerzhaftes Verfahren und geht mit vielen schrecklichen Ritualen einher«, erklärte Barskalin und wirkte bewegt. »Es fühlte sich an, als hätten sie uns die Seelen herausgebrannt, die Vraccas seinen Kindern verlieh. Was ihr seht, ist eine äußere Hülle, die mit etwas gefüllt ist, was euch schaudern macht, falls ihr es jemals erblicken solltet.«

Boindil sah kurz zu Tungdil und erinnerte sich an den vernarbten, geschundenen Oberkörper. Hatte er diese Umwandlung ebenfalls durchlaufen? Hatte sein Gesicht deswegen die feinen, schwarzen Linien wie bei den Albae gezeigt?

Barskalin räusperte sich, seine Stimme versagte; er musste etwas trinken, ehe er weitererzählte. »Die Dsön Aklän hielten uns nach einhundert Zyklen in ihren Diensten für treu und ihnen ergeben.« Er sah zu Slin. »Wir haben eure Festungen erkundet und jeden getötet, der uns durch Zufall begegnete. Ich könnte mich blind in der Gold- und in der Silberfeste bewegen. Es gibt keine Geheimnisse. Wenn wir wollten«, er senkte die Stimme, »könnten wir die Albae oder die Dritten jederzeit in das Reich der Vierten führen. Ihr würdet es nicht verhindern können.«

Der Vierte schluckte. »Das... ist unmöglich.« Barskalin deutete auf Tungdil und Boindil. »Frag sie. Sie haben einen meiner Zhadär im Jenseitigen Land getroffen. Er war durch das Braune Gebirge gereist, quer durch euer Reich. Eine weitere Erkundungsmission. Danach sollte er sich Übeldamm ansehen und den Gerüchten von der Rückkehr des größten Zwergenhelden nachgehen.« Er lachte. »Er meldete mir, dass sie wahr sind. Er entkam euch nur knapp.«

Ingrimmsch spuckte sein Wasser aus. »Er hat den Weißen Tod überstanden?« »Wir sind zäh.« Barskalin lächelte geheimnisvoll.

»Und in ihrem Auftrag habt ihr das Gelege gestohlen.« Balyndar hatte den Syträp nicht aus den Augen gelassen.

»Ja. Die Albae... die Dsön Aklän wollten einen Krieg im Westen anzetteln, um ihren eigenen Plänen Vorschub leisten zu können. Eine Ablenkung, mehr nicht. Das ist natürlich nur eine Vermutung von mir.« Barskalin sah Ingrimmsch an. »Kaiser Aiphatön rüstet sich zu einem Feldzug gegen Lot-Ionan. Er will in den Süden marschieren, um den Magus und seine Famuli endgültig niederzuwerfen und die Hohe Pforte für weitere Albae zu öffnen.«

»Das ist doch gut für uns!« Slin stopfte sich eine Pfeife. »Da müssen wir erst gar niemanden mehr aufstacheln! Sollen sich die beiden einen Krieg liefern, und wir warten ab, wer übrig bleibt. Wir vernichten die Brut und harren auf das, was geschieht.« Balyndar verschränkte die Finger und tippte die beiden Daumen gegeneinander. »Ich fand unseren Plan... besser.« Er betrachtete Barskalin. »Ich möchte gern den Grund erfahren, warum deine Leute und wir friedlich nebeneinandersitzen, anstatt uns zu bekämpfen. Ihr steht in den Diensten unserer Feinde und wollt uns dennoch helfen, das Gelege zu Lot-Ionan zu schleppen?«

»Verrat.« Tungdil sagte es gleichmütig. »Die Zhadär haben niemals mit dem Herzen gehorcht, sondern auf eine Gelegenheit gewartet, die Seiten zu wechseln.« »So ist es.« Barskalin neigte den Kopf vor ihm. »Tungdil Goldhand ist ein Dritter, einer von uns. Es hat sich Einiges im Denken der Dritten geändert, und aus dem Belächelten wurde über die vergangenen Zyklen hin unser größter Held, der sich allein gegen eine Übermacht stellte. Dazu ist er Großkönig aller Zwergenstämme geworden - wem sollten wir sonst mit dem Verstand und dem Herzen folgen? Wir warteten so viele Zyklen darauf, die Albae zuvernichten. Sie mit ihren eigenen Waffen und Künsten zu schlagen.«

»Das war eure Absicht, als ihr euch freiwillig gemeldet hattet?!« Ingrimmsch starrte den Syträp an.

»Nicht mehr und nicht weniger, Boindil Zweiklinge.«

Ingrimmsch konnte es nicht fassen, was sie auf sich genommen hatten. »Bei Vraccas, welch ein Opfer!«

»Wenn es stimmt, was er uns erzählt.« Balyndar klang alles andere als überzeugt. »Mich hat er überzeugt.« Slin nickte ihm zu und schmauchte seine Pfeife. Barskalin lächelte, wie man an der Reihe aufblinkender Zähne in der Schwärze sah. »Wir folgen Tungdil Goldhand und helfen, das Geborgene Land zu befreien. So hatten wir es schon immer vor, und so werden wir es jetzt, da sich die Gelegenheit bietet, auch halten.« Er zeigte auf seine neun Begleiter. »Insgesamt sind wir dreiundzwanzig...« Balyndar lachte los und klang höhnisch. »Damit schlagen wir die Albae sicherlich in die Flucht.«

Jetzt wurde der Syträp zum ersten Mal ungehalten. »Jeder von uns schafft zwanzig Gegner, ohne sich anzustrengen. In einem herkömmlichen Gefecht. Doch kommen unsere Kräfte zum Einsatz, nehmen wir es mit einem kleinen Heer auf, Balyndar Eisenfinger aus dem Clan der Eisenfinger! Wenn du gedacht hast, dass wir nur Licht zum Verlöschen bringen können, hast du dich schwer in uns und in der Macht der Albae getäuscht.« Er kniff die Augen zusammen. »An dir bin ich in deinem Leben schon fünf Dutzend Mal vorbeigegangen, ohne dass du mich bemerkt hast. Ich stand an deiner Wiege, ich stand an deinem Bett, als du schliefst. Das Graue Gebirge hat auch keine Geheimnisse vor mir und meinen Zhadär.« Seine Hand legte sich an den Griff des Krummdolches. »Sei mir dankbar, dass ich die Dritten nicht schon längst ins Reich deiner Mutter geführt habe. Auch diese Festungen wären gefallen.« Er erhob sich, kam auf den Fünften zu und neigte sich an sein Ohr hinab. »Ich kenne alle deine Geheimnisse, kommender König der Fünften«, raunte er und erhob sich. »Ihr seid also in den besten Händen. Es ist uns eine Ehre, dem Großkönig folgen zu dürfen.« Balyndar saß steif wie von Vraccas Hammer getroffen und war bleich wie ein Leinenhemd. Tungdil reichte Barskalin die Hand, der daraufhin zu seinen Zhadär zurückkehrte; gleich darauf begaben sich beide Gruppen getrennt voneinander zur Ruhe. Ingrimmsch wunderte sich über Balyndars unvermittelte Einsilbigkeit, doch er beschäftigte sich innerlich noch zu sehr mit den Berichten des Syträp, um eine Unterredung mit dem Fünften zu beginnen. »Vraccas, jetzt bin ich mir sicher, dass es dein Werk war, uns im Gebirge auf die Zhadär treffen zu lassen. Meinen Dank dafür«, betete er leise. »Nun sorge noch dafür, dass wir und die Unsichtbaren Erfolg haben werden. Ich jedenfalls würde alles geben, um die Menschen und die Zwerge wieder lachen zu sehen und zu hören.«

»Wie sieht es mit deinem Leben aus?«, fragte ihn Slin, der seine Worte vernommen hatte. »Würdest du dein Leben geben?« Er drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme im Nacken, die Pfeife klemmte im Mundwinkel. »Ich schon. Aber nur, wenn einer von uns lebend zurückkehrt und unsere Heldentaten verkündet. Sonst bringt der glorreichste und nobelste Tod nichts.«

Ingrimmsch wollte antworten, doch seine Kehle war zu trocken. Vielleicht war es besser so, dass er kein Wort herausbekam. Es hätte das falsche sein können.



Das Geborgene Land, Protektorat Gauragar, 20 Meilen südlich des Eingangs zum Grauen Gebirge, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


Ingrimmsch fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Sie hatten sein Kettenhemd und seine Kleidung, die mit der Brut in Berührung gekommen war, auf ein eilig erstandenes Pferd gebunden, um die verräterische Witterung auf zwei Richtungen zu verteilen und den Kordrion zu beschäftigen. Spätestens wenn er das Pferd gefunden und samt der Eisenringe, Hemd und Hose gefressen hatte, wusste die Bestie, dass er dem anderen Geruch folgen musste; im Austausch trug Ingrimmsch Flickstücke von den anderen Reisenden. »So muss sich ein Lumpensammler fühlen«, sagte er betrübt.

»Hast du was gegen meine Hose einzuwenden?«, fragte Slin grinsend. »Wenn du sie mit deinem dicken Hintern zum Platzen bringst, kaufst du mir eine neue.« »Muskeln, kein Fett. Ihr Vierten habt nicht so viele davon. Eure Hosen würden unseren Kindern passen.« Ingrimmsch sah Balyndar über die Schulter, der wieder den Albae-Dolch in den Händen hielt, den er sich von einem der getöteten Bogenschützen genommen hatte. Er drehte und wendete die Waffe zwischen seinen Fingern, fuhr prüfend darüber, bis er den Dolch in einem bestimmten Winkel gegen seine Unterarmschiene schlug.

Es war kein fester Hieb gewesen - und doch brach die Klinge eine halbe Fingerlänge oberhalb des Hefts mit einem singenden Geräusch ab.

»Dachte ich es mir doch«, brummelte der Fünfte zufrieden und warf den nutzlosen Griff in den Schnee.

»Was denn?«, meinte Ingrimmsch, und Balyndar zuckte erschrocken zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass er beobachtet worden war. »Dass der Dolch fehlerhaft angefertigt ist?«

»Ja. Mir fiel es auf, ohne dass ich genau sagen konnte, was mich daran störte.« Er überlegte anscheinend, wie er es dem Zwerg erklären konnte. »Wir Abkömmlinge der Ersten haben ein gutes Auge für Schmiedekunst. Ich habe sofort gesehen, dass die Waffe von einem Zwerg geschmiedet wurde, aber mich störte auch etwas daran. Der Schmied hat eine feine Zwischenlage eingezogen, die aus wesentlich härterem, spröderem Metall besteht. Sie ist nicht richtig mit dem übrigen Stahl verbunden, und bei größerer Belastung wie in einem Gefecht musste die Schneide abbrechen.« Balyndar sah Ingrimmsch an. »Sie wurden absichtlich minderwertig hergestellt. Es war kein Versehen.«

»Dann begehen die Dritten genauso Verrat an den Albae wie die Zhadär«, befand Boindil zufrieden.

»Na, so weit würde ich nicht gehen. Es mag sein, dass es nur ein einzelner Zwerg ist, der seine Waffen für die Schwarzaugen fehlerhaft schmiedet«, bremste der Fünfte ihn in seiner Zuversicht. »Zudem müsste haufenweise Betrügerei selbst den Albae irgendwann auffallen, und das hätte für die Dritten weitreichende Folgen. Tödliche Folgen.« Er schaute zu Tungdil, der neben Barskalin an der Spitze ihrer Truppe die Anhöhe hinauflief. »Die Dritten mögen gute Krieger sein, besser als wir alle. Aber gegen die Schwarzaugen müssen sie unterliegen. Schon allein durch deren Überzahl.«

»Es wird wohl zu früh sein, wegen eines verpfuschten Dolches in ihnen Verbündete zu vermuten«, stimmte Ingrimmsch nach kurzem Überlegen zu. Er sah nach oben und wunderte sich über die Wolke, die sich ihnen näherte.

Slin folgte seinem Blick, riss den Arm in die Höhe und deutete in den Himmel. »Kordrion! Aus dem Norden!«

Ingrimmsch ärgerte sich über seine Begriffsstutzigkeit. »Ich glaube, ich werde alt.« Sie suchten Deckung zwischen den Felsen, während Ingrimmsch zu Tungdil rannte. »Was tun wir, Gelehrter?«

Der Einäugige stand aufrecht und unerschrocken, die rechte Hand schirmend über die Stirn gelegt und den Himmel betrachtend. »Er ist uns näher gekommen, als uns lieb sein kann. Unsere Ablenkung hat ihre Wirkung verloren.«

Boindil schmollte. »Da habe ich meine Rüstung und meine Kleider hergegeben für nichts?«

»Es hat uns bisher einen respektablen Vorsprung verschafft. Aber damit scheint jetzt Schluss zu sein.« Tungdil sah den Kordrion als kleinen Schemen zwischen den Wolken. »Er hält Ausschau. Lange wird er nicht mehr benötigen, bis er uns entdeckt hat.« »Das heißt: Wir schaffen es niemals bis zu Lot-Ionan, Gelehrter?«

»Genau das heißt es.« Tungdil blickte über die Schulter. »Aber wir bringen unser Geschenk jemand anderem. Wir müssen die Gelegenheit nutzen, so viel Schaden wie möglich unter unseren Feinden anzurichten.«

Ingrimmsch verstand die Richtung, in welche sie ihr Marsch führte. »Dsön Bharä.« »Es wäre der sicherste Weg für uns. Es geht viel bergab, und auf unseren Schlitten kämen wir rasch vorwärts. Höhlen, in denen wir uns verbergen können, wenn der Kordrion zu dicht kommt, gäbe es ebenfalls.« Tungdil sah zu Barskalin, der einwilligte. »Das wird ein Spaß: uns bei den Schwarzaugen einschleichen. Welch eine Herausforderung!« Ingrimmsch gab Balyndar und Slin ein Zeichen, zu ihnen zu kommen; auch die Zhadär verließen die Verstecke und schoben die Schlitten den Hügel hinauf.

»Ich habe nicht vor, mich anzuschleichen. Es würde nicht gelingen.« Tungdil zeigte auf die Gruppe. »Wir reisen zu ihnen, offen. Ich stelle mich ihnen als gewandelter Tungdil vor, der sichnichts Sehnlicheres wünscht, als die Zwergenstämme auszulöschen. Ich biete den Albae meine Hilfe an. Dabei setzen wir die Kordrion-Brut unbemerkt aus und warten, was geschieht. Je nachdem, legen wir uns einen neuen Plan zurecht.« Er sah seinen Freund an. »Du, Slin und Balyndar werdet dazu in die Rüstung der Zhadär steigen müssen.« »Ganz entzückend«, entfuhr es dem Vierten unglücklich.

»Keine Bange. Sie haben auch etwas in deiner Größe«, zog ihn Ingrimmsch feixend auf. »Was auch deren Frauen tragen.«

Balyndar stemmte die Hände in die Seiten. »Das passt mir nicht.«

»Es muss dir nicht passen. Ich bin dein Großkönig, also tust du, was ich dir sage.« Tungdil konnte erstaunlich ruhig und zurechtweisend zugleich klingen. »Der Kordrion ist zu schnell für uns, und darüber kannst du nicht mit mir streiten. Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Brut gegen Feinde einzusetzen, tun wir das.« Er schwang sich auf einen Schlitten. »Wir sind in drei Umläufen in Dsön Bharä. Mir nach!« Er stieß sich ab und schoss den Abhang hinunter.

Ein Zhadär nach dem anderen folgte ihm, dann machten sich auch Slin und Ingrimmsch daran, den Hügel hinabzubrausen.

Doch Balyndar stand neben seinem Schlitten und starrte den Gefährten hinterher. »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, wie wir handeln, Boindil Zweiklinge«, sprach er nachdenklich.

»Das wird in den Schriften über uns stehen, Balyndar«, erwiderte Ingrimmsch beruhigend. »Ich weiß es auch nicht, und ich bin mir sicher, dass es der Gelehrte in diesem Augenblick auch nicht weiß. Unser Plan ist dahin, und wir machen das Beste daraus. Mit Vraccas Beistand erreichen wir sogar mehr als gedacht.« Er klopfte ihm auf den Rücken. »Vertrau deinem Vater.« Ingrimmsch wurde sich erst bewusst, was er gesagt hatte, als die Worte seine Lippen bereits verlassen hatten.

Balyndar wandte den Kopf langsam zu ihm um. »Was redet du da für eine Einfältigkeit?«

Boindil stimmte ein Gelächter an. »Ein Scherz, um deine Laune zu bessern.« »Dann ist es dir nicht gelungen. Nicht mit diesem Scherz.« Der Fünfte ging zu Ingrimmschs Erleichterung zu seinem Schlitten und schob ihn nach vorn. »Kennst du keinen besseren?«

»Wie wäre es mit dem, wo der Ork den Zwerg nach dem Weg fragt?« Balyndar winkte ab. »Ein Klassiker. Den kennt jedes Zwergenkind.«

»Aber nicht meine Variante«, erwiderte er stolz und reckte sich. »Kommt ein Ork den Weg entlang und sieht einen Zwerg, und von dem möchte er...«

»Reiter!«, rief Slin aufgeregt. »Da unten, rechts von den Schlitten, in dem kleinen Tal. Sie werden genau auf die Zhadär treffen!«

Wieso sieht er Gefahren stets vor mir? Ingrimmsch blickte in die angegebene Richtung. Balyndar überschlug die Zahl der Berittenen, die auf Ponys daherkamen. »Die Schwarze Schwadron«, stieß er erschrocken aus und warf sich bäuchlings auf den Schlitten. »Rasch, wir müssen die anderen einholen und sie warnen!« Er jagte davon. Slin ließ sich das nicht zweimal sagen und folgte ihm in der gleichen wagemutigen Pose den Abhang hinunter.

»He! He, wartet auf mich!« Ingrimmsch schob seinen Schlitten an, lief einige Schritte den Hügel neben seinem Gefährt her und hüpfte drauf. »Bei Vraccas! Wie soll man denn da einen guten Witz zum Besten geben?«

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