VI

Das Geborgene Land, Protektorat West-Gauragar, Hochheiligstadt, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


Vier Leuchter standen in dem gemauerten Keller verteilt und spendeten den etwa zwanzig versammelten Männern und Frauen spärliches Licht.

Die meisten waren froh, wenn ihre Züge nicht allzu genau zu erkennen waren. Die schlichte Kleidung verriet nichts über den Stand oder die Herkunft ihres Trägers, die Kapuzen hüllten die Gesichter vorsichtig in Schatten.

Sie befanden sich unter dem Haus des Schultheißen, der wiederum zwei Stockwerke über ihnen schlafend in seinem Bett lag und nichts von dem wissen wollte, was hier vor sich ging. Sein Mut reichte nur dazu aus, die dicke Eisentür zum Gewölbe unverschlossen zu lassen.

Mallenia saß im Kreis ihrer Verschwörerfreunde und weigerte sich zu verstehen, was sie soeben aus dem Mund von Frederik gehört hatte. »Der Dritte lebt noch?« Sie atmete tief ein, auch wenn es sie Überwindung kostete. Die Luft war warm und abgestanden, roch nach Schweiß und Essen. Die Zusammenkunft zwischen Sauerkrautfässern, Obst- und Marmeladengläsern sowie Räucherschinken und Bottichen voller Salzfleisch dauerte schon eine Weile, weil viel und heftig geredet wurde.

Frederik, ein unbescholtener Fleischer in Hochheiligstadt, dem man niemals zugetraut hätte, dass er sich gegen die Vasallenherrscher und die Albae auflehnte, nickte betreten. Er war Anfang Dreißig und hatte ein viel zu harmloses Gesicht für seine rohe Zunft und die gefährliche Aufrührerei. »Es stimmt, Herrin. Hargorin reitet wieder an der Spitze der Schwarzen Schwadron und zieht den Zehnten ein. Man sagt, dass er seine Krieger rücksichtsloser denn jemals zuvor antreibt.« Er nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus dem Aufschlag seines Hemdsärmels hervor und reichte es ihr. »Lest. Die Prämie auf Euren Kopf wurde erhöht. Wer ihn bei Hargorin abliefert, darf sich aus seiner Schatzkammer nehmen, was immer ihm gefällt.«

Mallenia betrachtete ihr gezeichnetes Gesicht auf dem zerknitterten Papier, das dem echten erschreckend genau glich; darunter stand die Zahl 1000. Das war viel Gold. »Man sagt, dass Hargorin Gegenstände von atemberaubendem Wert hortet«, sagte sie nachdenklich.

Frederik sah fragend in die Runde. Er zog seine Mütze ab, sodass sein kurzes schwarzes Haar zum Vorschein kam. »Herrin, ich weiß, dass Ihr es nicht hören möchtet, aber wir denken, dass es besser wäre, wenn Ihr eine Rast einlegen würdet. Ihr habt die Albae und ihre Diener bis aufs Blut gereizt, und bei diesen Belohnungen...«

»Und ich werde es weiterhin tun«, unterbrach sie unverzüglich und entschlossen. »Sie werden mich ohne Unterlass jagen, auch wenn ich mich zyklenlang in einem Loch verkrieche.« Mallenia ließ den Blick schweifen.

Ihre Mitstreiter sahen müde aus, auf manchen Gesichtern zeigten sich Angst und Unbehagen: Sie fürchteten um ihre Familien. Der Tod ihrer Freunde, die beim Überfall auf die Schwarze Schwadron gefallen waren, hatte deutlich gemacht, dass selbst der beste Plan unberechenbare Wendungen und Unsicherheiten barg.

Mallenia wusste, warum Frederik ihr den Vorschlag in Wahrheit unterbreitet hatte, und konnte es den Männern und Frauen nicht verdenken. Sie lächelte. »Ich danke euch für das, was ihr mit mir in den vergangenen Zyklen unternommen habt, doch ich entlasse euch«, sagte sie freundlich und gab sich Mühe, ihnen zu zeigen, dass sie keinen Groll hegte. »Von diesem Umlauf an reite ich allein.«

»Herrin!«, entfuhr es Frederik erschrocken. »Nein! Wir wollen nicht aufgeben, sondern...«

Sie legte ihm eine Hand auf den Oberarm. »Es ist gut, Frederik. Ich kann es nicht länger verantworten, das Leben anderer für meinen Kampf aufs Spiel zu setzen.« »Gauragar ist unsere Heimat, Herrin. Wir sind ebenso zum Kampf gegen die Besatzer verpflichtet wie Ihr«, ließ er nicht locker. »Wir sind sehr froh, dass wir Euch an unserer Seite haben. Wären Leute aus Urgon hier, würden sie Euch das Gleiche sagen.« Zedrik erhob sich. Er war einer von Hochheiligstadts Torwachen, ein grober Mann mit grobem Äußeren. Man sah ihn immer nur in der Rüstung, als gäbe es für ihn kein Leben außerhalb seines Dienstes. »Die Götter und Ihr, Herrin, mögen mir verzeihen, doch ich denke schon lange über den Sinn unserer Sache nach«, hob er an. »Wir stehlen den Zehnten, erschlagen ein paar Dritte, aber haben wir den Menschen in Gauragar eine wahrhaftige Verbesserung gebracht?« Zedrik hörte sich traurig und entmutigt an. »Die Bewohner halten zu uns, ja, aber sie leiden umso mehr unter den Vergeltungsschlägen.«

»Was ist denn dein Vorschlag?« Frederik musterte ihn. »Möchtest du dich auf ewig vor den Schwarzaugen ducken? Willst du auch deine Kinder und Kindeskinder unterdrückt wissen?«

»So war es doch schon vorher, und wir leben kein schlechtes Leben«, erwiderte Zedrik seufzend. »Sie lassen uns in Ruhe, solange wir zahlen.«

Mallenia verfolgte den Disput aufmerksam und sah sich in ihrer Entscheidung bestärkt, die Verschwörergruppe aufzulösen. Der Fleischer wollte zwar nicht aufgeben, wie sie zuerst vermutet hatte, doch dafür einige andere. Zu viele. Denn Angst gebar ebenso Verräter wie eine hohe Belohnung.

Frederik stieß die Luft aus. »Wie einfältig bis du, Zedrik? Und wenn wir nichts mehr haben, um sie zu bezahlen? Wenn sie beschließen, unsere Siedlungen dem Erdboden gleichzumachen, weil sie die Landstriche in ihrem aberwitzigen Kunstwahn nach ihrem verqueren Schönheitsdenken verändern wollen?«, rief er beschwörend. »Erinnert sich denn keiner von euch mehr an Tareniaborn?«

Tareniaborn. Mallenia schluckte, und der Gedanke an die Stadt mit ihren vierzigtausend Männern, Frauen und Kindern bereitete ihr Grauen. Niemals zuvor hatte sie so etwas gesehen.

Es war vor elf Zyklen geschehen. Einer der Alb-Fürsten hatte beschlossen, Tareniaborn in ein Kunstwerk zu verwandeln. Tareniaborn und das gesamte Umland, das dazugehörte.

Niemand wusste bis heute, ob der Alb wahnsinnig gewesen war oder ob jeder Stadt in Idoslän zu jeder Zeit ein solches Schicksal zuteilwerden konnte.

»Ihr wart doch dort, Herrin. Haltet den Memmen vor Augen, wie grausam unsere Besatzer sein können«, forderte Frederik sie grimmig auf. »Und dass sie sicherlich nicht vor weiteren Taten diesen Ausmaßes zurückschrecken.« Die Köpfe der Anwesenden wandten sich ihr zu. »Was genau geschehen ist, kann ich nicht sagen. Ich kam an, als schon alles vorbei war«, sagte Mallenia. »Ich ritt durch einen Zufall mit einer kleinen Truppe Freiwilliger über einen nahen Berg, von dem aus man einen guten Ausblick auf die Stadt und die Ebene hat.« Sie spürte ein flaues Gefühl im Magen, Übelkeit breitete sich aus. »Wir sahen Muster im Schnee rund um die Mauern und ein rötliches Glitzern, das die gesamte Stadt überzog. Alles, was ihr euch vorstellen könnt, war mit einer Schicht aus gefrorenem Blut überzogen. Rotes Eis, überall!« Sie sah die fürchterlich gestalteten Gassen von Tareniaborn genau vor sich. »Auf dem Marktplatz hatten sie die Herzen der Einwohner mit Silberstangen und -drahten durchbohrt, diese miteinander verflochten und daraus einen riesigen Baum gestaltet: die Herzen der Erwachsenen zierten den Stamm, die Kinderherzen die kleinen Zweige und Äste, und als Früchte hatten sie die Köpfe der Säuglinge daran aufgehängt.«

Sie musste schweigen, da der Baum vor ihrem inneren Auge mit all seinen Feinheiten entstand. Mit den vielen verschiedenfarbigen Haarbüscheln, die als Laubersatz gedient und das Werk noch unfassbarer gemacht hatten...

Mallenia erblickte das Entsetzen in den Augen der Männer und Frauen um sich herum. »Seid froh, dass euch dieser Ansicht erspart geblieben ist«, fügte sie leise hinzu. »Auf den Feldern um Tareniaborn hatten sie die Leichen ausgeweidet und die Gebeine dazu verwendet, ein gewaltiges Zeichen auf dem Boden zu formen, in dessen Mittelpunkt die Stadt lag. Es mag einem ihrer Gottheiten gewidmet gewesen sein, ich weiß es nicht. Doch es war von solch ergreifender Besonderheit, dass man es betrachten musste und in seinem fürchterlichen Anblick versank. Knochen fügte sich an Knochen, als hätte es niemals eine andere Bestimmung dafür gegeben, dieses Schriftzeichen zu formen.« Die junge Frau sah Zedrik an. »Die Innereien der Getöteten hatten sie dazwischen gelegt, um dem Ganzen Farbe zu verleihen. Aus der Entfernung betrachtet wurde nicht deutlich, um was es sich handelte, aber da wir unsere Fernrohre dabeihatten, sahen wir...«

Der Torwächter rannte hinaus, zwei weitere folgten ihm, um sich nicht vor die Füße der Freunde und Bekannten zu erbrechen.

Frederik war nicht minder bleich geworden, aber er bewahrte die Fassung. »Und ihr denkt ans Aufgeben?«, schleuderte er den Anwesenden entgegen. »Wenn die Albae beschließen, dass Hochheiligstadt zu einem Kunstwerk werden soll - werdet ihr mit dem Gedanken sterben, dass ihr zu feige wart, etwas dagegen unternommen zu haben!« Zorn hatte seine Stirnader anschwellen lassen.

»Was sollen wir denn tun?«, rief Zedrik von der Tür her und wischte sich über den Mund. Die Stiefelspitzen waren mit Feuchtigkeit und kleinen Bröckchen bedeckt. »In den Krieg ziehen? Gegen die Dritten und die Albae? Vorher müssten wir unsere Liebsten mit eigener Hand töten, damit sie nicht von unseren Besiegern hingerichtet werden.« Er lachte gequält. »Niemand kann uns vor ihnen retten, Frederik. Die Götter höchstens, doch sie haben wohl beschlossen, uns erst noch einige Zyklen leiden zu lassen.«

»Die Götter würden uns auf der Stelle beispringen, wenn wir es wagten, uns gegen die Vasallen aufzulehnen«, gab der Fleischer aufgebracht zurück und wurde durch Mallenias Hand auf der Schulter in seiner Rede gezügelt.

»Ich weiß, welche Sorgen ihr euch alle macht, doch ich sehe auch, dass ich mich eine Weile zurückziehen sollte, wie es mein guter Freund Frederik vorschlug«, verkündete sie, und ein leises Aufatmen ging durch den Raum. »Ich lasse es euch wissen, wenn wir wieder reiten, doch bis dahin bleibt bei euren Familien und verhaltet euch ruhig wie immer. Ich brauche euch lebend.« Sie erhob sich. »Es wird einen Zeitpunkt geben, an dem wir den Aufstand gegen die Albae beginnen, aber er ist nicht morgen und auch nicht in dreißig Umläufen. Wir werden erkennen, wann sich die Gelegenheit bietet, und in allen drei Königreichen vorbereitet sein.« Sie zog ihr Schwert und reckte es. »Für Gauragar, Urgon, Idoslän und die Freiheit der Menschen!«

Alle stimmten in den Ruf ein und bedachten die Nachfahrin des Prinzen mit lautem Klatschen.

Die Lampen - verloschen!

In der Dunkelheit lachten einige, andere riefen erschrocken und aufgebracht nach Licht; an den Geräuschen hörte Mallenia, dass mindestens zwei der Verschwörer ihre Waffen gezogen hatten. Man fürchtete einen Angriff - oder war es der Angriff? Sie duckte sich und legte die Linke an den zweiten Schwertgriff. Dabei dachte sie gleich an verschiedene Möglichkeiten, wer sie im Keller attackieren könnte: die Dritten und Hargorin, Kopfgeldjäger oder die Dsön Aklän.

Ihr wurde bewusst, dass es keinen Luftzug gegeben hatte, der stark genug gewesen wäre, alle Flämmchen der Leuchter auszublasen. Magie? Eine bestimmte Art der Magie. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf. Haben sie mich gefunden?

Mit einem Rumpeln wurde die Kellertür geöffnet, schwacher Lichtschein fiel von draußen aus den Fenstern gegenüber herein.

Auf der Schwelle stand eine leicht nach vorne gebeugte Gestalt mit einem überlangen Schwert in der Hand. Die unter den Haaren herausragenden, spitz zulaufenden Ohren erkannten die Verschwörer überdeutlich. Der Anblick lähmte sie, weil sie wussten, was es für alle, die sich im Keller aufhielten, bedeutete: nichts anderes als den Tod. Hinter dem Alb stand der Schultheiß, auf sein wächsernes Gesicht fiel ein einzelner Lichtstrahl.

»Sieh an: die Aufständischen«, sagte der Alb mit samtweicher Stimme. »Du hast gut achtgegeben, Schultheiß. Sie sind tatsächlich in deinen Keller eingebrochen, um sich Vorräte zu beschaffen.« Der Tonfall bewies, dass er dem Verräter Schutz gewähren und ihn nicht weiter mit den Verbrechern in Verbindung bringen würde. Der Alb nahm ein Säckchen von seinem Gürtel und warf es hinter sich; es fiel vor dem Schultheiß auf die Straße in den Schneematsch. »Hier. Dein Entgelt.«

»Gnade, Herr!«, schrie Zedrik als Erster weinerlich. »Gnade für unsere Familien! Sie wussten nichts von dem, was wir taten.« Er sank vor der Treppe, die nach oben zum einzigen Ausgang führte, auf die Knie und reckte die Arme. »Verschont ihr Leben!« Der Alb ging zwei Stufen nach unten, um sich zu seiner vollen Größe aufrichten zu können. Noch immer sah man ihn nur als Umriss, das Licht beleuchtete ihn von hinten. Es hatte niemand mehr gewagt, sich zu bewegen und die Kerzen von Neuem zu entzünden.

»Was genau tatet ihr denn? So legt ein Geständnis ab, und euere Familien werden sich weiterhin am Schein der Sonne erfreuen dürfen.« Er hob den Arm mit dem Schwert und legte die Waffe mit der Schneide nach oben in die linke Armbeuge, als trage er einen Säugling. »Höre ich etwas?«

Zedrik schluchzte. »Wir haben uns schuldig gemacht...«

»... Gauragars Freiheit erlangen zu wollen«, fiel ihm Mallenia ins Wort und erhob sich. »Die Besatzer, die Albae, die Dritten und alle Vasallen hinauszuwerfen und zur Rechenschaft zu ziehen!« »Nein!«, schrie Zedrik. »Schweigt! Ihr wisst nicht...«

»Doch, ich weiß sehr wohl. Sie jagen nicht nur mich, sondern alle, die zur Linie meines Ahnen Prinz Mallen gehören.« Sie starrte den Alb an. »Seht ihn euch an«, forderte sie die Verschwörer auf. »Er spielt ein Spiel und denkt nicht einmal daran, einen von euch zu verschonen. Der einzige Weg, eure Liebsten zu retten, besteht darin, das Schwarzauge umzubringen, bevor es eure Namen erfahren hat und sie weitergeben kann.« Die junge Frau umfasste ihre beiden Kurzschwerter fester und begab sich in Angriffsstellung.

Der Alb hob den Kopf und sah sie an. »Mallenia! Ich müsste lügen, würde ich sagen, dass ich nicht erwartet hätte, dich hier zu sehen.« Er hielt das Schwert weiterhin in der Armbeuge, ließ den Griff los und zog etwas unter seinem Mantel hervor, das er mit einer raschen Bewegung auf sie zu schleuderte. »Dies fand ich. Es mochte dir gehören?« Vor ihren Füßen landete ein Umschlag, den sie sogleich erkannte. Darin hatte eine Warnung an Hindrek gesteckt, einen Großcousin dritten Grades. Dass der Umschlag hier vor ihren Füßen lag, sagte ihr, was mit ihm und seiner Familie geschehen war. »Ihr seid Ungeheuer, die den Tod tausendfach verdient haben«, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

»Ist es nicht umso verwunderlicher, dass wir den Tod tausendfach bringen, anstatt ihn zu empfangen?« Er vollführte eine Geste, und die Lampen flammten wieder auf. Sodann legte er die Rechte an den Griff seiner Waffe. »Wir bringen ihn, wenn es sein muss. Oder uns danach ist. Ich verharrte schon länger vor dem Keller, ohne dass ihr mich bemerkt hättet, und hörte deine wunderbare Erzählung von Tareniaborn.« Er redete in einem Plauderton, als stünde er vor Freunden oder einer Gesellschaft, die etwas zu feiern hatte. Unter seinem schwarzen Mantel schaute eine lamellenartige, dunkle Rüstung hervor. »Ich war stolz und bewegt bei deinen Worten, denn ich, Tirigon, hatte das Vergnügen, der Schöpfer des Kunstwerks zu sein, vor dem du voller Ergriffenheit standest.« Er deutete eine Verbeugung an. »Es war mir ein Vergnügen und eine Ehre gleichermaßen, die Stadt zu erhöhen und die Bewohner von ihren sterblichen Sorgen zu befreien. Tareniaborn ist allen Albae in sehr guter Erinnerung. Die Menschen, das finde ich zumindest, sind eben doch zu etwas gut.« Das Entsetzen im Keller war greifbar. Der Alb erfreute sich daran. »Die Kluft zwischen unseren Rassen ist unüberbrückbar«, sagte er in das Schweigen hinein. »Bei Gelegenheiten wie diesen merke ich es besonders: Ihr seid nicht bereit, für andere Dinge als die Freiheit, Reichtum oder Macht zum Schwert zu greifen und zu töten. Mein Volk vermag es. Tod und Kunst bilden eine Einheit, Vergänglichkeit schreitet einher mit Größe und Vollkommenheit.« Tirigon bedachte sie mit einem bedauernden Rundumblick. Er hatte stahlblaue Augen, in denen sich die Lichter spiegelten. »Ich sehe einige schöne Knochen in euren hässlichen Leibern stecken, aus denen ich etwas Hübsches zu formen wüsste.«

Mallenia hatte genug Selbstherrlichkeit vernommen. Sie rannte auf den Alb zu, die Schwerter zum Schlag erhoben.

Ihr Gegner lachte freudig auf. »Stürmischer Mut! Deine Knochen werden mir eine besondere Zier sein. Ich weiß Kühnheit zu schätzen.« Er packte den Schwertgriff mit beiden Händen und streckte die Klinge waagrecht vom Körper weg. Die Schneide maß mindestens anderthalb Armlängen und brachte ihrem Träger auf einem herkömmlichen Schlachtfeld einen enormen Reichweitenvorteil - zwischen den Fässern und Regalen verwandelte sich das lange Schwert jedoch in eine Einschränkung. Darauf vertraute Mallenia.

Frederik begleitete sie und schwang sein Schlachterbeil.

»Passt auf«, rief sie den Männern und Frauen zu. »Es sind Drillinge. Zwei werden noch in der Nähe sein.« Dann hatte sie den Alb erreicht und schlug sein Schwert zur Seite, duckte sich weg und stach gleichzeitig mit der anderen Klinge zu.

Doch der Feind war verflucht schnell und beherrschte Fähigkeiten, von denen sie nicht einmal träumen durfte.

Tirigon drückte sich vom Boden ab, sprang gegen die Seitenwand und nutzte den Schwung, um einige Schritte hinauf zur Decke zu machen. Nach dieser akrobatischen Leistung, die ihn trotz Rüstung und Mantel nicht einmal angestrengt hatte, landete er hinter Frederik und stach ihm das Schwert in den Nacken, sodass es durch den geöffneten Mund wieder austrat. Von vorne betrachtet wirkte es, als streckte der Mann eine eiserne, spitz zulaufende Zunge heraus.

»Kein schlechter Versuch, Mallenia«, höhnte er. »Hätte der tapfere Fleischer nicht hinter dir gestanden, wärst du jetzt tot.« Ruckartig drehte er die Schneide und zog sie senkrecht nach oben. Das Metall war dermaßen scharf geschliffen, dass es den Kopf entzweischnitt. Blut, Gehirnmasse und Flüssigkeiten platschten auf den Kellerboden, dann stürzte Frederik dort, wo er gestanden hatte, nieder; klirrend prallte das Schlachterbeil auf den Boden. Die Kopfhälften hatten sich verschoben und ließen ihn grotesk aussehen. Mallenia flog herum, ein Schwert zielte auf den Kopf, das andere auf Tirigons Körpermitte. Doch er befand schon lange nicht mehr in ihrem Rücken - oder besser gesagt: jetzt wieder.

Die junge Frau spürte den Luftzug, der ihre blonden Haare zum Wehen brachte, während ihr Angriff ins Leere traf. Da bekam sie einen Schlag ins Kreuz, der sie vorwärts gegen ein steinernes Sauerkrautfass katapultierte.

Sie prallte mit der Hüfte dagegen, fiel darüber und kam neben einem Bottich Salzfleisch zum Liegen. Sie wälzte sich herum und hielt die Schwerter gekreuzt zur Abwehr in die Luft.

Keinen Lidschlag zu spät: Klirrend trafen die Schneiden aufeinander, ihre Arme federten zurück. Der Alb hatte mit viel Kraft zugeschlagen. Sie sah die gegnerische Waffe keinen Fingerbreit von ihrer Nase entfernt.

Mit einem wütenden Grollen drückte sie das Schwert zur Seite und trat nach dem Gegner, traf ihn in die Körpermitte. Auch wenn er eine Rüstung trug, die einen Großteil der Kraft abfing, wurde Tirigon nach hinten gezwungen.

Lachend ließ er das Schwert einmal kreisen und packte es wieder mit beiden Händen, während Mallenia sich erhob und vom Bottich wegbewegte.

Sie wollte eine Wand als Deckung im Rücken haben. Der Feind war zu schnell für sie, ihr weit überlegen. Sie rechnete nicht ernsthaft damit, den Keller lebendig zu verlassen. Es war der jungen Frau bewusst, dass der Alb mit ihr spielte. Hochmut rächte sich jedoch meistens.

Die Männer und Frauen waren vor ihnen zurückgewichen und verfolgten das ungleiche Duell.

»Stehe ich in einem Keller voller Feiglinge?«, verspottete Tirigon sie alle. »Ihr seid zwanzig... neunzehn gegen einen, wenn ihr wolltet! Mallenia sagte es doch: Wenn ihr mich nicht tötet, werden eure Familien sterben - und trotzdem steht ihr herum und haltet Maulaffen feil?« Er zwinkerte Mallenia zu. »Deiner Tapferkeit zolle ich Tribut und töte dich als Letzte. Schau zu und lerne. Du wirst es gegen mich benötigen.« Er machte zwei schnelle Schritte, sprang auf den Rand des Bottichs und drückte sich ab.

Mit den Füßen voraus landete er an der Wand und rannte schräg daran hinauf, bis zur Decke und auf der anderen Seite wieder hinab. Dabei führte Tirigon sein Schwert mit für das Auge nicht nachvollziehbaren Schlägen gegen die Oberkörper der Verschwörer unter ihm. Bei jedem Hieb spritzte das Blut in hohem Bogen aus den tiefen Schnitten. Schreie gellten auf.

Anmutig landete er auf einem Weinfass und hielt das Schwert schräg vom Körper weg; zufrieden besah er sich das Ergebnis seines überschnellen Angriffs. Mehr als die Hälfte der Versammelten lag tot auf dem Kellerboden, Verwundete hinterließ der Alb keine. »Die Kunst besteht darin, diejenigen Knochen unversehrt zu lassen, welche ich noch benötige«, erklärte er den Überlebenden und hob die blutige Klinge. »Da ihr euer Schicksal kennt, seid ihr nun bereit, euch zu verteidigen?«

Drei Frauen wandten sich um und hetzten auf den Ausgang zu.

Doch dort standen zwei weitere Albae, unverkennbar die fehlenden Geschwister, vor denen Mallenia gewarnt hatte. Die Dsön Aklän waren vollständig versammelt. Sie verbarrikadierten die Tür durch ihre bloße Anwesenheit und ohne ihre Waffen ziehen zu müssen. Das finstere Lächeln war Drohung genug.

Tirigon sprang vom Weinfass vor die Überlebenden, die nun endlich ihre Schwerter, Säbel und Dolche zogen und sich um ihn verteilten. »Lange musste ich darum bitten«, kommentierte er boshaft. »Mein Versprechen sei: Verletzt mich, fügt mir einen Kratzer zu, und eure Familien bleiben am Leben. Denn töten werdet ihr mich nicht können«, sagte der Alb großspurig und steckte das Schwert in die Scheide auf den Rücken. Waffenlos präsentierte er sich ihnen, streckte die Arme aus und drehte sich dabei auf der Stelle. »Worauf wartet ihr?«

Mallenia sah zu den beiden Albae an der Tür, die sich nicht regten. Sie überließen ihrem Bruder das Vergnügen und hielten sich zurück - dann richtete sich das Gesicht der Albin plötzlich auf sie.

Aus der Überlegenheit auf ihren Zügen wurde unverhohlene Neugier, und sie wollte einen Schritt nach unten machen, doch ihr Bruder hielt sie am Arm zurück. Die blauen Augen der Albin blieben weiterhin forschend auf die Ido gerichtet, als ginge es darum, eine alte Bekannte zu betrachten.

Mallenia hatte keine Ahnung, woher das Interesse an ihrstammte. Sie schüttelte das beklemmende Gefühl ab und schritt über die Leichen hinweg zu der Handvoll Getreuer, die sich dem Kampf gegen den Alb stellten. Wenn sie starb, wollte sie es im Kreis der Menschen tun, die sich für Gauragar hingaben. Sie war von dem Gedanken beseelt, dem Gegner einen einzigen, winzigen Schnitt zuzufügen, um die Familien zu retten.

Tirigon rückte seine Unterarmschienen aus Tionium zurecht und wartete. Lächelnd. Uwo, ein recht kleiner Mann und der einzige Fischhändler der Stadt, schlug mit seinem Schwert zu und machte dabei einen Ausfallschritt.

Der Alb blockte das Schwert mit dem Unterarm, die Schneide zerbarst durch den Aufprall in drei Teile. Noch während sie durch die Luft flogen, schnappte der Alb das längste von ihnen und schleuderte es gegen Uwo. In die Brust getroffen, sank der Mann nieder.

Doch Tirigon hatte sich bereits das nächste Stück gegriffen und warf es schräg gegen einen Heranstürmenden. Das Eisen schlitzte die rechte Halsseite auf, gurgelnd ging er zu Boden und versuchte, die klaffende Wunde mit den Fingern zu verschließen. Der Mut der Verzweiflung trieb die Verschwörer zu einem gemeinsamen Angriff gegen den Feind, der sich einen Spaß daraus machte, den Schlägen und Stichen auszuweichen und die gegnerischen Hände durch Stöße in eine andere Richtung zu lenken; somit fuhren die Klingen in die Körper der Freunde und Kampfgefährten.

Am Ende standen Mallenia und Arnfried der Schmied gegen den Alb. Der Rest war gefallen oder krümmte sich tödlich verletzt auf der gestampften Erde.

Der kräftige Mann mit dem langen Bart und den astdicken Muskeln blutete aus einer Wunde in der rechten Schulter, doch er hielt seinen Dolch fest und schnaubte vor Hass. Tirigon betrachtete die roten Spritzer auf seiner Rüstung. »Das hätte nicht passieren dürfen«, bedauerte er. »Es läuft so gern in die Ziselierungen und gerinnt darin.« Arnfried sprang abrupt nach vorne, um den Feind zu überraschen. Er täuschte einen Stich mit dem Dolch an und schlug gleichzeitig mit der Faust nach dem Gesicht. Mallenia preschte ebenfalls vorwärts. Sie wollte auf die Abwehrbewegungen des Albs reagieren. Der schlanke Gegner wich der Klinge aus und fing die geballten Finger des Schmieds mit der geöffneten Linken ab. Doch er hatte die Kraft des Mannes unterschätzt und wurde rücklings gegen ein Weinfass gestoßen.

Arnfried riss sein Knie in die Höhe und rammte es gegen Tirigons Rippen; die Rüstung knirschte. Die Albin rief etwas in ihrer Sprache, sie klang besorgt.

Mallenia stach mit ihrem linken Schwert nach dem Alb, der gerade noch rechtzeitig auswich. Die Spitze durchbrach das Holz, und Weißwein ergoss sich in seinen Rücken; der Lehmboden wurde augenblicklich rutschig.

»Meinen Respekt«, knurrte Tirigon dem Schmied zu und fing den nächsten Angriff von ihm mit der anderen Hand ab. Es klickte, und zwei Metallscheiben fuhren aus der äußeren, langen Seite der Unterarmschiene hervor. Blitzschnell zog er sie über die Brust des Mannes, der aufschreiend nach hinten sprang und auf dem weichen Untergrund ausrutschte. In seinem Sturz war der Alb unvermittelt über ihm und zerschmetterte ihm mit einem brachialen Schlag gegen das Sonnengeflecht den Brustkorb. Die Knochen bogen sich nach innen und zerstörten die Lunge, röchelnd wand sich Arnfried im Matsch.

Mallenia dachte nicht nach und warf sich gegen Tirigon, um ihn zu Boden zu reißen. Er hatte ihren Sprung aus den Augenwinkeln bemerkt und machte einen Satz von ihr weg - und wurde ebenso Opfer des Schlamms wie der Schmied: Sein rechter Fuß rutschte aus. Obwohl er noch versuchte, sich abzufangen, krachte er gegen den Salzfleischbottich, mit dem Mallenia bereits vorher Bekanntschaft gemacht hatte. Die Albin schrie auf.

Mallenia schleuderte ihre beiden Schwerter nach dem Liegenden, eines zielte auf den Kopf, das andere auf den Unterleib. Beide Angriffe, so hoffte sie, würde er nicht parieren können.

Doch Tirigon riss die gepanzerten Unterarme in einem Reflex in die Höhe: Das erste Schwert prallte ab und flog in eine Ecke des Kellers, das zweite zersprang am Tionium in Stücke.

Aber der Alb stöhnte dennoch auf.

Mallenia traute ihren Augen kaum: Ein langer, schmaler Klingensplitter hatte sich durch die linke Wange ihres Feindes gebohrt und verband den Kopf mit dem Holzbottich. Es war keinetödliche Wunde, aber gewiss eine schmerzhafte. Und vor allem zerstörte sie das vollkommene Antlitz.

Hinter sich vernahm sie eilige Schritte und das Schleifen von Metall.

Tirigon vor ihr hob die Hand und sagte etwas in seiner Sprache, was durch seine Verletzung noch fürchterlicher klang.

»Du hast versprochen, die Familien meiner Mitstreiter zu verschonen«, sagte Mallenia zu ihm. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Albin mit gezogenem Schwert hinter ihr stand und sie am liebsten töten würde. »Du hältst dich an deine Worte?«

Der Alb gab ein dumpfes Ja von sich.

»Und ich Werde aus diesem Keller gehen können?«

»Niemals«, zischte eine Frauenstimme hinter ihr. Doch ihr besiegter Bruder bestätigte auch diesen Teil der Abmachung.

»Und du meintest, dass es uns nicht gelänge, dich zu töten«, sprach Mallenia vorsichtig, während ihre Linke sich an den Dolchgriff legte. Sie beugte sich nach unten und schnitt sich eine schwarze Haarsträhne ab. »Das wird mein Andenken an meinen Triumph über dich und deinen Hochmut sein.«

Der mörderische Ausdruck in Tirigons Augen sagte alles über seine Gedanken aus. »Schone dein Glück, Letzte der Ido«, hörte sie die warnende Stimme des zweiten Albs von der Tür. »Du wirst den Keller verlassen können. Den anderen Verschwörerfamilien soll das Leben gewährt bleiben. Von unserer Seite aus. Was Kaiser Aiphatön allerdings befiehlt, wenn er davon erfährt, wissen wir nicht.«

»Erfahren wird er es sicherlich«, fügte die Albin genüsslich hinzu.

Mallenia wandte sich wütend um. Die Geschwister standen unmittelbar hinter ihr, und die Albin hielt wirklich ein Schwert in der Hand. »Ich hätte wissen müssen, dass ihr euch eine Lücke sucht, um die Abmachung zu brechen!«

»Keine Lücke. Es ist die genaue Auslegung der Abmachung.« Der Alb, der von seinem Bruder für Mallenia nur durch sein anders gestaltetes Schwert zu unterscheiden war, neigte den Oberkörper. »Würde ich sie noch genauer auslegen, könnte ich sagen, dass er sich selbst verletzt hat und nicht du es warst, der das Wunder gelang.« Er zeigte auf seine Schwester. »Firüsha würde sich sehr freuen, wenn wir zu dieser Ansicht gelangten. Solange wir darüber nachdenken, wie wir deinen Sieg zu deuten haben, kommst du zumindest unbeschadet bis zur Tür.« Betont machte er einen Schritt auf die Seite und gab den Weg frei.

Mallenia zögerte nicht und beeilte sich, den Raum zu verlassen, in dem sich der Geruch nach Blut, Innereien, Wein und Salzfleisch zu einem widerlichen Gestank mischte. Im Gehen nahm sie ihre Handarmbrust aus der Halterung auf dem Rücken unter dem Mantel hervor, spannte sie und drehte sich auf der Schwelle noch einmal um. Sie zielte auf den Verwundeten der Drillinge, visierte den Kopf an und drückte ab. Der Bolzen zischte los und traf Tirigon in den Hals.

Mallenia fluchte. Der Kopf war das eigentliche Ziel gewesen, doch ihre Hand hatte gezittert. Mit ein wenig Beistand der Götter - mit Ausnahme Tions - war sie den Feind dennoch los.

Hastig trat sie hinaus und warf die dicke Tür ins Schloss. Der Schlüssel steckte von außen, der Schultheiß hatte vergessen, ihn abzuziehen, und so konnte sie die Geschwister einsperren. Es würde ihr einen kleinen Vorsprung auf ihrer Flucht geben. Und den benötigte sie unbedingt!

Die Albae würden ihr folgen. Damit waren die Familien der Verschwörer in Sicherheit. Vorerst. Über alles andere würde sie sich unterwegs Gedanken machen. Mallenia drehte sich um und sah die drei Nachtmahre keine fünf Schritt weit von ihr entfernt stehen. Soll ich?

Es gab niemanden, der es gewagt hatte, auf die Reittiere der Albae zu steigen - oder es hatte noch keiner überlebt, um davon zu berichten.

Sie wusste, dass sie auf dem Rücken eines solchen Tieres die besten Aussichten hatte, die Verfolger auf Abstand zu halten. Herkömmliche Pferde waren den gebrochenen Einhörnern rettungslos unterlegen.

»Mal schauen, ob ich dich überlisten kann«, murmelte sie und näherte sich den Nachtmahren, die Haarsträhne des Albs am ausgestreckten Arm vor sich haltend. Aufmerksam betrachtete sie die Nüstern der Tiere und glaubte zu erkennen, welches von ihnen den Geruch seines Herrn an ihr wahrnahm.

Sie rieb mit den Haaren über die weiche Nase, dann über ihre Arme und kurz über ihren Oberkörper und die Beine. »Hier, riechst du das? Tirigon hat mir erlaubt, auf dir zu reiten«, sprach sie freundlich und umrundete das große schwarze Tier mit den schaurig roten Augen, in denen die Glut von Lava zu schwelenschien. Sie trat mit einem Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Unverzüglich bäumte sich der Nachtmahr auf und wieherte, was mehr an ein Kreischen erinnerte. Die Hufe stampften auf das Pflaster und ließen weiße Blitze um die Fesseln spielen, Brandspuren blieben auf dem Stein zurück.

Mallenia krallte sich an den Hals und machte sich flach, um nicht von den schnappenden, scharfen Zähnen gepackt zu werden, doch sie ließ sich nicht abwerfen; schließlich trieb sie ihm die Stiefelabsätze hart in die Flanken. »Wer nicht hören will...«, rief sie und schlug der Kreatur mit dem Dolchknauf gegen die Blesse.

Der Nachtmahr preschte los und galoppierte durch die nächtlichen Gassen. Immer wieder zuckte und funkte es unter ihm auf, wenn die Eisen den Boden berührten, und das Licht beleuchtete die vorbeifliegenden Mauern gewitterhaft.

Mallenia griff die Zügel und lenkte den Nachmahr mit aller Kraft, wie sie es noch bei keinem Pferd hatte tun müssen. Bei einem normalen Reittier wäre die Haut rings ums Maul eingerissen, und die Wirbel wären sicherlich bei derlei Gewalt gebrochen. Doch er störte sich kaum daran und gehorchte ihren Befehlen. Sie schössen auf das Tor zu, das für sie von den aufmerksamen Wachen bereits geöffnet wurde. Man hielt sie für einen der Albae.

In wildem Ritt flog sie aus Hochheiligstadt hinaus und donnerte auf der Straße nach Westen.



Das Jenseitige Land, vierundsiebzig Meilen südwestlich der Schwarzen Schlucht, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


Tungdil und Ingrimmsch ritten nebeneinanderher und näherten sich Meile um Meile der Festung der Vierten, durch die man ins Geborgene Land gelangte. In die alte Heimat...

In der Festung sollte die Zusammenkunft mit den verbliebenen Zwergenherrschern stattfinden, die Boten waren schon vor einiger Zeit ausgesandt worden. Boindil hatte sich ein braun geschecktes Pony ausgesucht; ein zweites, schwer bepacktes trottete hinter ihm an einer Leine her, festgebunden an der Satteltaschenhalterung. Tungdil dagegen ritt einen Befün, wie es die Ubariu taten.

Das Tier sah aus wie ein übergroßer, grauhäutiger Ork auf vier Beinen und mit einem kurzen Stummelschwanz. Der Leib war muskulös und pferdebreit, die Schnauze war platt, was den Kopf noch gedrungener machte. Klobig geformte Hände mit drei Fingern und einer dicken Hornschicht konnten ordentlich zupacken.

Ingrimmsch wusste, dass sich ein Befün im Kampf aufrichtete und dem Reiter mit seinen Klauen im Gefecht half. Durch den besonderen Sattel mit der gebogenen langen Lehne glitt der Reiter von selbst in die richtige Lage und wurde nicht so leicht abgeworfen.

Die beiden Zwerge bildeten nicht nur von ihren Reittieren her ein sehr ungleiches Reisegespann.

Ingrimmsch kam wie ein klassischer Zwerg daher, wie er in allen Königreichen des Geborgenen Landes seit den Heldentaten des kleinwüchsigen Volkes gegen Nödonn, die Avatare oder die Bestien der Schwarzen Schlucht in zahllosen Geschichten beschrieben wurde. Allerdings waren die großen Zeiten lange vorbei, die meisten Schlachten in der jüngeren Vergangenheit hatten sie verloren: gegen die Albae, gegen Lot-Ionan, gegen den Drachen... Dennoch blieb die Anerkennung.

Ingrimmsch hatte einen stattlichen geflochtenen Bart und ein unverkennbares faltiges Zwergengesicht. Er trug sein verstärktes Kettenhemd unter einem hellen Pelzmantel mit Kragen, hatte den Krähenschnabel am Sattel stecken, paffte eine Pfeife und brummelte ein Lied dazu.

Tungdil in seiner schwarzen Rüstung dagegen wirkte wie ein zu klein geratener Alb. Gerade der Befün verstärkte den unheimlichen Eindruck, und Blutdürster - die umgeschmiedete Albaewaffe - an seiner Seite trug nicht dazu bei, einen freundlicheren Eindruck vom Kind des Schmieds zu vermitteln. Jeder Zwerg vom Stamm der Dritten, den Zwergenhassern, hätte sich ehrfürchtig vor ihm verbeugt, weil sie ihn für einen der Ihren gehalten hätten.

Solche Gedanken beschäftigen Boindil immer wieder ungewollt; nur zu gern schob er sie zur Seite und dachte nicht zu viel über die Wandlung seines Freundes nach. Er stieß eine bläuliche Rauchwolke aus und nahm seine Wasserflasche unter dem Mantel hervor. Damit der Vorrat nicht gefror, trug Ingrimmsch ihn dicht am Körper. »Na, kennst du den Weg noch?«, fragte er Tungdil und nahm einen langen Schluck.

»Ich verlasse mich lieber auf mein Pony als auf meine Erinnerung. Es hat den größeren Kopf.« Er verkorkte das Gefäß und schob es zurück an seinen Platz. »Ich glaube, ich war schon länger als einhundertfünfzig Zyklen nicht mehr auch nur annähernd in dieser Richtung unterwegs.«

Tungdil lachte. »Dann haben wir etwas gemeinsam. Wobei ich noch einhundert obendrauf packen kann.« Er sah sich um. »Nein, beim besten Willen: Ohne den Pfad, der uns leitet, wäre ich verloren. Oder wenigstens sehr lange unterwegs.« Sie schwiegen wieder.

Das Klappern der Hufe, wenn sie auf Stein trafen, wurde von den Bergen zurückgeworfen, eine leichte Brise wehte den gefallenen Schnee umher und schob ihn an manchen Stellen zu Verwehungen zusammen. Mit ihnen hatten die Ponys am meisten zu kämpfen.

»Hast du denn gar keine Fragen?«, meinte Boindil irgendwann und versuchte sich an einem Rauchkringel.

Tungdil sah geradeaus, als er die Lippen öffnete und sagte: »Ich versuche immer noch zu begreifen, was ich aus deinem Mund gehört habe«, gestand er. »Lot-Ionan der Geduldige. Was kann ihn verändert haben? Die Magie?« Er dachte nach, dann seufzte er schwer. »Ich würde mich gern an viele Dinge entsinnen können, um dich davon zu überzeugen, dass ich sie einst wusste. Dass ich es bin, der Freund und Kampfgefährte.« Er berührte die Narbe an der Stirn. »Diesem Schlag, nehme ich an, verdanke ich den Verlust guter und schlechter Erinnerungen. Mein Meister erteilte ihn mir, und er hat mich fast getötet. Zwar vernichtete er nicht mein Leben, doch er löschte Bilder meiner Vergangenheit aus. Das ist die einzige Erklärung, die ich dir dafür bieten kann.« Ingrimmsch sah auf die Narbe. »Ich habe schon davon gehört, dass manche ihren Verstand verlieren, wenn sie zu hart am Kopf getroffen worden sind. Da ist die Vergesslichkeit das geringere Übel, will ich meinen«, sagte er und klang dabei erleichtert. »Ich hätte es mir eigentlich selbst denken können...«

»... aber die vielen Stimmen der Schwarzseher um dich herum ließen dich eher daran glauben oder fürchten, dass ich nicht der Gelehrte bin, der dir so viel verdankt.« Tungdil schwieg und verfiel ins Grübeln.

Ingrimmsch ließ ihn. Nach dem Meister würde er ihn bei Gelegenheit fragen, aber nicht jetzt. »Ich weiß es wieder! Als ich Lot-Ionan das letzte Mal sah, hatte er ein hellblaues Gewand und weiße Handschuhe an...« Tungdil wirkte alarmiert. »Die Handschuhe, Ingrimmsch! Ich weiß es tatsächlich wieder: um die Verbrennung zu verbergen, die ihm das Artefakt zugefügt hatte«, rief er aufgeregt. »Die Haut verheilte, aber sie ist schwarz geblieben.«

»Sehr gut, Gelehrter!«, freute Ingrimmsch sich über den Erfolg. »Das Artefakt hat dem Magus übel mitgespielt. Ich hatte damals schon kein gutes Gefühl«, fuhr er ärgerlich fort. »Doch ich sehe mit Freude, dass du dich entsinnst. Das Artefakt hatte ihm den Zugang versagt, weil er nicht seelenrein war. Damals dachten wir, dass er seine Reinheit durch eine harmlose Verfehlung verloren haben könnte, aber wir wissen schon lange, dass es etwas Schlimmeres sein muss.« Er wünschte sich eine Horde Schweineschnauzen herbei, um seinem Zorn freien Lauf lassen zu dürfen. Seit etlichen Zyklen machte er sich Vorwürfe, damals nicht gehandelt und sich von Goda beruhigt haben zu lassen. »Es ist auch ein Stück weit mein Vergehen. Hätten wir ihn gleich aufgehalten oder eingesperrt oder sonst was mit ihm getan, wäre der Stamm der Zweiten nicht beinahe vollständig aufgerieben worden.«

»Goda hat bei ihm die Ausbildung begonnen?«

Ingrimmsch nickte. »Sie war seine Famula für etwa zehn Zyklen. Die Ubariu hatten niemanden gefunden, der sich als Runenmeister geeignet hätte. Aber dann bemerkte sie, dass das Artefakt auf sie anders reagierte als gewöhnlich. Wenn sie die Energiekugel berührte, um neue Macht zu schöpfen, wurde es recht schnell schmerzhaft. Sie verstand, dass ihre Seelenreinheit in Gefahr geriet, ohne sich erklären zu können, woran es lag. Unseren ersten Sohn hatte sie lange vor der Veränderung zur Welt gebracht, daran hatte es nicht gelegen.«

Tungdil rückte die goldene Augenklappe zurecht, und die Strahlen der Sonne brachten das polierte Metall zum Aufleuchten. »Die Veränderung begann schleichend?« Ingrimmsch sah seinen Freund an und wurde unsicher. Hat er sie schon immer rechts getragen? Ist ihm nicht das linke Auge verloren gegangen? Er konnte sich nicht festlegen, was seine Ungewissheit kaum minderte. Er riss sich zusammen und setzte zu einer Antwort an. »Kann man so sagen. Bis er sie magische Formeln lehren wollte, die Goda zu grausam erschienen. Als sie sich weigerte, wurde er wütend und reiste beleidigt ab. Anschließend erreichten uns ein paar Briefe von ihm, in denen er sie bat, zu ihm ins Geborgene Land zu kommen, um über alles zu sprechen, doch sie wollte das Artefakt nicht allein lassen. Der letzte Brief war drohend und unverschämt zugleich. Wir nahmen dies als Bestätigung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.« Ingrimmsch erspähte eine Berghütte, die für Reisende auf der Passstraße angelegt worden war, damit sie in eisigen Nächten nicht im Freien übernachten mussten. »Schau an! Eine karge Unterkunft, aber besser als eine Matratze aus Schnee.«

»Und das Geborgene Land hat zugesehen, wie er das Blaue Gebirge eroberte?«, hakte Tungdil ungläubig nach.

»Was sollten sie denn gegen einen Magus wie ihn ausrichten, Gelehrter? Nachdem er durch die magische Quelle von der Versteinerung befreit worden war, wuchs seine Kraft von Umlauf zu Umlauf. Man kann immer noch meinen, dass er die Fertigkeiten von zwei Magi in sich vereinigt.« Hilflos ballte Ingrimmsch die Faust. »Nur auf diese Weise gelang es ihm, unseren Stamm beinahe vollständig auszurotten: Er zwang die Felsen in die Knie und damit auch die Zwerge.«

»Was genau meinst du damit? Er hat die Schächte einstürzen lassen?« »Genauso kam es, Gelehrter. Er hat ein Beben nach dem anderen gegen uns gesandt, unsere Hallen und Festungen zerfallen lassen, Gänge mit flüssigem Stein überflutet und das Wasser aus den tiefsten Schächten ansteigen lassen. Es kostete Tausende das Leben, und den Flüchtenden lauerte er vor der Festung Ogertod auf, um sie mit Zaubern zu überschütten.« Ingrimmsch stiegen Tränen der Wut und der Trauer in die Augen. Sie liefen über die Wangen in den Bart, wo sie durch den kalten Wind zu funkelnden Tropfen gefroren. »Es sind nicht mehr als einhundert geblieben, die nun bei den Freien leben.«

Tungdil verzog den Mund. »Das klingt nicht nach meinem Ziehvater«, raunte er nachdenklich. »Ich habe keinen Grund, an deinen Worten zu zweifeln, mein Freund. Etwas in der Vergangenheit muss ihn verdorben haben. Die Quelle, die ihn erweckte?« Ingrimmsch wischte sich die Tränenperlen aus dem Bart, sie zergingen zwischen seinen Fingern. »Niemand weiß es. Du bist der Einzige, der es wagt, gegen ihn zu reiten. Außer dem Albae-Kaiser Aiphatön.«

»Die Hohe Pforte - ist sie geschlossen oder geöffnet?« »Er hat sie wieder geschlossen, nachdem die Schwarzaugen aus dem Süden einmarschiert sind. Zu viele Ungeheuer Tions wollte er nicht hineinlassen, wird er sich gedacht haben«, meinte der Zwerg abfällig. »Ist dein Plan immer noch der gleiche, Gelehrter? Oder hast du eine andere Möglichkeit entdeckt, einen Feind wie ihn zu unterwerfen und dazu noch zu zwingen, uns zu dienen?«

Tungdil gab keine Antwort; stattdessen sah er nach vorn zur Hütte. »Wir werden bereits erwartet«, sagte er leise. »Ich frage mich nur, warum kein Feuer geschürt wurde.«

Ingrimmschs Augen wurden groß vor Vorfreude. »Hussa! Du meinst, da haben es tatsächlich ein paar Wegelagerer gewagt, sich auf die Lauer zu legen?« Insgeheim fragte er sich, wie Tungdil die Feinde bemerkt haben konnte. Der Wind wehte von der Hütte weg, es gab keinerlei Spuren im Schnee, und das leiseste Geräusch wäre auch von ihm in der Stille um sie herum vernommen worden. Er schob es auf die im ständigen Kampf geschärften Sinne seines Freundes und wollte schon den Krähenschnabel ziehen, aber Tungdil hielt ihn mit einer Geste davon ab.

»Ich weiß nicht, wie viele es sind. Wir tun so, als hätten wir nichts bemerkt, und lassen ihn oder sie zunächst im Glauben, es mit einfacher, fetter Beute zu tun zu haben«, schlug er vor.

»Denn sollten sie Armbrüste dabeihaben, könnten sie uns aus dem Sattel schießen, ich verstehe«, stimmte Ingrimmsch zu und tat so, als überprüfe er die Schnallen. »Ich hoffe, dass der Raum vor Räubern nur so wimmelt!«, knurrte er. »Ho, das wird ein Spaß!« »Jedenfalls nicht für den, der uns abpasst.« Tungdil streichelte den Hals des Befüns. »Wollen wir wetten?«

»Ausnahmsweise nicht, Gelehrter«, gab Ingrimmsch grinsend zurück.


Загрузка...