XXVII

Das Geborgene Land, Blaues Gebirge, Das Reich der Zweiten, 6492. Sonnenzyklus, Spätfrühling.


Ingrimmsch wurde von den Eindrücken überwältigt. Er befand sich in seinem Zuhause, das er schon vor so langer Zeit verlassen hatte und wegen Lot-Ionan nicht einmal mehr hatte besuchen können! Er atmete tief ein und erkannte den ganz eigenen Geruch des Blauen Gebirges sofort wieder, erinnerte sich an die Gänge, durch die sie liefen, und ihm tat der Verfall weh, den er allenthalben entdeckte.

Stollen, Tunnel, Höhlen, Kavernen, Säle, Hallen, große und kleine Räume verlangten nach Pflege, denn ein Gebirge war nichts Totes, wie die Menschen immer behaupteten. Es bewegte sich, verschob sich, wankte und erzitterte, wuchs und starb an manchen Stellen, und die Zwerginnen und Zwerge handelten entsprechend. Liebevoll war abgestützt, verputzt oder gegraben worden - aber seit Lot-Ionans Herrschaft hatte die Instandhaltung gelitten.

»Risse, Einstürze, Wassereinbrüche«, zählte er leise leidend auf. »Eine Schande! Allein dafür hat der Hokuspokusmacher eine Tracht Prügel verdient.«

»Dabei seien einmal die absichtlichen Zerstörungen außen vor gelassen«, fügte Slin hinzu.

»Sie kommen von den Experimenten, die er und die Famuli unternommen haben«, sagte Franek, der sich mit Tungdil an der Spitze der Gruppe befand.

»Dafür hast du auch eine Tracht Prügel verdient«, knurrte Ingrimmsch und versetzte ihm einen Stoß. »Ein Gebirge ist nachtragend. Ich hoffe, es lässt uns seine Wut nicht spüren, wenn mein Stamm Einzug hält.«

»Es wird sich sicherlich freuen«, meinte Slin. »Es wird die Nase von Magie voll haben.« Hinter den Zwergen liefen die Menschen, die Zhadär bildetenden Schluss. Im gleichbleibend kühlen Berg waren ihrer aller Kräfte zurückgekehrt, sie hatten eine Wasserquelle gefunden und mit jedem Schluck frischen Mut geschöpft. Nun waren sie auf dem Weg zu einer zweiten, sehr wichtigen Quelle. Franek machte nicht den Eindruck, als habe er vergessen, welche Tunnel zu ihr führten.

Ingrimmsch war aber noch aufmerksamer als vorher unterwegs. Sobald das Zaubererlein auch nur den winzigsten Anschein erweckt, uns hintergehen zu wollen, wird mein langer Dorn seinen Schädel öffnen und den Verstand lüften.

»Der Angriff der Albae müsste schon lange begonnen haben«, sagte Rodario zu Mallenia. Sie hatten Coira in die Mitte genommen und die Arme um ihre Schultern gelegt, um die Maga zu stützen. Vorsichtshalber. »Somit sollte sich uns niemand in den Weg stellen.«

»Außer Lot-Ionan«, warf die Ido ein.

Rodario winkte ab. »Welche Möglichkeit besteht denn, in diesem gewaltigen unterirdischen Reich auf den Magus zu treffen?«

»Er könnte die Quelle bewachen. Und dann sähen wir schlecht aus.« Sie sprach leise, damit weder die Zwerge noch die Zhadär sie vernahmen.

»Da vorn ist es«, sagte Franek und hob den Arm. Sein Finger deutete auf eine ovale Tür, um den eingefassten Bogen aus Palandium waren Runen eingemeißelt worden. »Dahinter verbirgt sich die Quelle.«

»Was hat es mit den Symbolen auf sich?«, verlangte Tungdil zu wissen und hielt auf den Eingang zu.

»Es ist eine Formel. Sie muss gesprochen werden, um die Tür zu öffnen, und gleichzeitig wird Lot-Ionan auf diese Weise gewarnt, dass sich jemand Zutritt verschafft hat. Er besitzt ein Armband, das zu leuchten anfängt, wenn der Zauber gesprochen wird«, erklärte der Famulus.

Tungdil betrachtete den Eingang. »Wie bist du zur Quelle gelangt? Du wusstest doch um die Sicherung.«

»Ich hatte mich an einem Gegenzauber versucht und hielt ihn für sicher.« Franek blickte zerknirscht zu Boden. »Das hat mich meine Stellung gekostet.«

»Wir könnten sie einfach aufbrechen, Gelehrter.« Ingrimmsch sah zu Balyndar. »Die Feuerklinge würde schon ein feines Lochhineinhacken und mit ihrer Macht sämtliche Schutzzauber zerstören.« »Nichtsdestotrotz wüsste Lot-Ionan Bescheid«, warnte Franek. »Er kann sehr schnell auftauchen, bevor die Königin oder ich genügend Magie aufgenommen haben, um ihm zu trotzen. Noch wird er nicht geschwächt sein.«

»Wir stehen also vor unserem ersten Ziel und können nicht hinein«, sagte Balyndar ungehalten.

»Entdeckt uns der Magus jetzt, haben wir noch weniger Aussichten, ihn zu bezwingen.«

»Du und Tungdil würden als Einzige überleben«, schätzte Ingrimmsch. »Ihr seid vor magischen Attacken sicher.«

Tungdil schürzte die Lippen und hob Blutdürster. »Balyndar hat recht. Wir gehen hinein und lassen Königin Coira in die Quelle steigen, ich und Balyndar passen auf, dass Lot-Ionan uns nicht überraschen kann.« Er sah die Maga an. »Wie lange benötigt Ihr, um ausreichend Energie aufzunehmen?«

»Das hängt von der Quelle ab«, sagte sie unsicher.

»Diese hier ist sehr stark«, merkte Franek an. »Ich brauchte nicht länger als eine einige Augenblicke, um mich aufzuladen.«

»So lange halten wir gegen ihn durch«, sprach der Fünfte entschlossen und nickte Tungdil zu. Der Einäugige warf sich daraufhin mit der Schulter gegen die Tür. Ein lautes Zischen erklang, als sämtliche Runen um den Eingang aufflammten und Tungdil mit einem Blitzschauer bedachten; doch die Tioniumrüstung absorbierte den Spruch, als wären es harmlose Lichtstrahlen. Das Holz zerbrach, teils riss die Tür aus den Angeln, teils schwang sie auf.

Tungdil stand mit erhobener Waffe im dahinterliegenden Raum und sicherte nach allen Richtungen. »Hier ist niemand«, rief er über die Schulter.

Sie eilten zu ihm, Balyndar blieb am Durchgang stehen, das Gesicht zum Gang gewandt und die Feuerklinge in beiden Fäusten haltend.

Es war mehr eine kleine Kammer, die an ein Schwitzbad erinnerte. Stufen führten zu einem senkrechten Schacht hinab, der vergittert war; die Wände waren mit Mosaiken verziert, die Lot-Ionans Gesicht zeigten.

Der Magus hat sich schon verändert, fand Ingrimmsch. Im Gegensatz zu früher hatte er eine Glatze und drei silber-rötliche Bartsträhnen am Kinn, auch die Augenbrauen wirkten buschig undsehr hoch geschwungen. Die Züge waren dämonischer, grausamer geworden, als hätten sich die Knochen verformt und neu angeordnet. Doch es war unzweifelhaft der Ziehvater des Gelehrten.

»Sie muss sich auf den Schacht stellen«, sagte Franek. »Der Gitterboden wird dann durch ihr Gewicht fünf Schritt in die Tiefe sinken und sie genau ins Feld bringen. Mithilfe eines Zaubers muss sich die Königin wieder nach oben schweben lassen.« Slin war neben Balyndar an der Tür stehen geblieben. »Warum hat man die Stufen nicht bis zur Quelle geführt?«

»Lot-Ionan wollte es so. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat.« Er sah das misstrauische Gesicht von Ingrimmsch. »Lasst mich halt zuerst gehen, wenn ihr eine Falle befürchtet.«

»Das hättest du wohl gern!« Ingrimmsch lachte. »Gelehrter, was machen wir?« Tungdil winkte Coira zum Schacht. »Wenn ihr etwas zustößt, tötest du Franek«, lautete seine einfache Anweisung.

»Das ist leicht. Das kann ich«, gab er zurück.

Die Königin wurde von Rodario und Mallenia die Treppe hinab zum Gitter gebracht, und als sie ihre Hände von den Nacken ihrer Begleiter nahm, senkte sich der Boden wie vorhergesagt mit leisem Klicken nach unten.

»Auf das Ausziehen verzichte ich heute«, sagte sie zum Abschied. »Es wird andere Gelegenheiten für Euch geben, mich ohne Kleidung zu bewundern.«

»Es hört sich so an, als werde etwas gespannt«, meinte Slin, der aufmerksam auf die Geräusche der Mechanik lauschte.

»Achtet auf Euch!«, rief Rodario besorgt in den Schacht, dann blickte er Mallenia an. »Es gefällt mir nicht, dass wir nichts haben, um sie notfalls herauszuziehen.« Die Ido zog ihren Gürtel aus und verlangte den des Schauspielers. Schnell verband sie die beiden miteinander und prüfte die Festigkeit des Knotens. »Wenn Coira springt, wird sie bis zum Gürtel hinaufreichen, und wir können sie dann hochziehen.« Sie ging neben dem Loch auf die Knie und schaute hinab. »Es ist finster wie in einem Grab«, sagte sie leise.

»Kein schöner Vergleich.« Rodario kniete sich hin. Noch immer klickte es, die Fahrt abwärts war nicht zu Ende. »Geht es bald los?«, fragte er ungeduldig.

Ein blasses Schimmern um die Maga verriet, dass die magische Quelle ihre Kraft an die Frau abgab. Sie warteten schweigend. Die Anspannung in der Kammer brachte alle zum Schwitzen, lediglich Tungdil schien die Ruhe selbst zu sein, als besäße er das geheime Wissen, dass sie lebend aus dem Blauen Gebirge gelangten und Lot-Ionan ihren Gefangenen nennen durften.

Ingrimmsch sah zwischen den Menschen und der Tür hin und her, ab und zu rieb er sich die Hände am Untergewand ab. »Wie ich es hasse«, grummelte er vor sich hin. »Oh, wie ich es hasse. Lieber kämpfe ich einen Umlauf lang.«

Im Gang zur Quelle blieb es ruhig. Keine Geräusche, keine Schreie und kein Lot-Ionan. »Wohin müssen wir, um ihn zu finden?«, verlangte Tungdil von Franek zu wissen. Der Famulus zuckte mit den Achseln. »Er kann überall sein, doch ich denke, er ist nicht weit von uns entfernt. Es wundert mich, dass er nicht auftaucht, um nach dem Rechten...«

»Still!«, befahl Balyndar. »Es kommt jemand!«

Rodario sah, dass sich Coira in dem Schimmern wand, als leide sie immense Schmerzen. Sie krümmte sich zusammen, hielt sich an den Wänden fest, wankte und stöhnte leise. So hatte er den Prozess von Seenstolz her nicht in Erinnerung. »Coira, wie ergeht es Euch?«

Die Königin gab keine Antwort.

»Wir holen sie raus«, entschied er und ließ das verknotete lange Lederband hinabhängen. »Greift zu!«

Ingrimmsch stellte sich hinter Balyndar und Tungdil, achtete darauf, ihre Rüstungen nicht unmittelbar zu berühren, und spähte zwischen ihnen hindurch.

Eine junge Frau in einem eng anliegenden dunkelblauen Kleid hetzte auf die Kammer zu, die langen dunkelbraunen Haare wehten hinter ihr her.

Sie schaute verängstigt über die Schulter und hatte die Zwerge, die im Eingang standen, noch nicht bemerkt; aus ihrer rechten Schulter ragte ein schwarzer Pfeil. Ein Gruß der albischen Bogenschützen.

»Die kleine Zauberin ist verletzt. Gut!«, murmelte Boindil. Demnach hat sie ihre Magie beimersten Aufeinandertreffen aufgebraucht und benötigt dringend eine Auffrischung ihrer Kräfte. Damit war sie ein leichtes Opfer. ›Lasst sie mir?‹, fragte er Tungdil und Balyndar bettelnd. Jetzt hatte Bumina sie gesehen, und sie blieb sofort stehen. »Zwerge? Wie, bei Samusin, seid ihr denn hereingekommen?«

Franek begab sich hinter die Zwerge, sodass die Famula ihn erkennen musste. »Damit hast du wohl nicht gerechnet«, sagte er schadenfroh und setzte ein boshaftes Lachen hinterher. »Oh, haben dir die Albae wehgetan?« Er zog seinen Dolch. »Das wird nichts im Vergleich zu dem sein, was ich mit dir anstellen werde! Du hast meine Stadt vernichtet! Die Falle trug deine Handschrift.«

»Auf Geheiß von Lot-Ionan.« Bumina musterte die Zwerge und versuchte abzuschätzen, was sie erwartete. Sie hob die Arme. »Geht zur Seite und lasst mich zur Quelle!«

Tungdil und Balyndar hoben gleichzeitig ihre Waffen.

Rodario rief wieder in den Schacht hinab, doch Coira antwortete nicht. Mit einem Fluch sprang er in die enge Röhre, lenkte seinen Sturz so gut es ging mit Schuhen und Händen an den Wänden und kam neben der kauernden Maga auf; auch er wurde vom weißlichen Leuchten erfasst, doch er spürte nichts.

»Was ist?«, sagte er und half ihr beim Aufstehen.

»Sie ist unglaublich... mächtig«, ächzte Coira. »Das bin ich nicht gewohnt, und es... schmerzt mich! Sie pumpt Kraft in mich, wie ich sie nicht kannte.« Ihr nächster Satz erstickte in einem Stöhnen, ihre Finger schlugen sich in Rodarios Kragen und krallten sich fest. »Ich kann mich nicht auf einen Zauber konzentrieren, um ihr zu entkommen«, stammelte sie. »Helft...« Ihr Leib versteifte sich und verbog sich widernatürlich unter den Krämpfen, welche sie ohne Unterlass schüttelten.

Rodario nahm ihren Gürtel und ließ sich von Mallenia das behelfsmäßige Seil hinabwerfen. Rasch verband er die Gürtel miteinander, verknotete Coiras Hände und schleuderte das andere Ende zurück aus dem Schacht. »Zieht sie hoch!«, schrie er nach oben und ging in die Hocke, um die Maga auf seine Schultern zu stemmen. »Ich gebe von unten Halt!«

Das Seil straffte sich, und bald wurde die junge Frau Stück für Stück aus dem Schacht und damit aus dem Wirkungskreis der Magie gezogen.

Plötzlich endete das Klicken - und das Gitter schwang unter Rodarios Füßen zur Seite! Davon bemerkten die Zwerge am Eingang nichts.

Franek lachte Bumina noch immer aus. »Wenn du wirklichnoch Magie in dir trügest, hättest du schon lange einen Zauber gegen uns geschleudert.«

»Da du es auch nicht getan hast, nehme ich an, dass dein Reservoir ebenso leer ist wie meines«, konterte sie.

Ingrimmsch sah über die Schulter. In diesem Augenblick wurde Coira von Mallenia aus dem Schacht gehievt und auf den Boden gelegt. Die Königin bedankte sich, rang nach Luft und erhob sich. Sie sah lange nicht mehr so erschöpft aus und trug ein waches Funkeln in den Augen. »Aber wir haben jetzt eine Maga, die euch beide an die Wand zaubern kann.«

Tungdil wandte sich kurz um, nickte Franek zu, der es nicht länger erwarten konnte, in die Quelle einzutauchen. »Du gehst jetzt.« Ansatzlos stach er ihm Blutdürster zweimal durch den Bauch. »Zu Samusin oder dem Gott, der dir gefällt.«

Röchelnd brach der Famulus auf den Steinplatten zusammen, er bewegte die Lippen, aber mehr als ein unverständlicher Laut drang nicht hervor, und die Fingernägel glitten kratzend über die Beinschienen der Tioniumrüstung; als sein Kopf schließlich den Boden berührte, war er bereits tot.

Ingrimmsch war nicht bestürzt, jedoch sehr verwundert. Wieder eine Tat, die nicht zum alten Gelehrten passt.

»Er hat uns deinen Pfad verraten«, sagte Tungdil eisig zu Bumina und marschierte auf sie zu. »So gelangten wir in die Stollen.« Er hob den rot gefärbten, feuchten Blutdürster. »Wo finden wir Lot-Ionan? Und wage es nicht zu flüchten.«

Die Famula wich vor ihm zurück. Sie wollte sich umdrehen und rennen, da schleuderte Tungdil mit einem wütenden Schrei seine Waffe nach ihr.

Bumina wurde in den Rücken getroffen, genau in die Wunde, in welcher der Albpfeil steckte; aufkreischend stürzte sie zu Boden, niedergeworfen von der Kraft des Wurfs. Sofort war Tungdil bei ihr, riss Blutdürster brutal aus ihrem Körper und drehte die Famula mit dem Stiefel auf den Rücken. Die Klingenspitze richtete er auf ihren Hals. »Ich zähle bis drei, und wenn ich nicht erfahre, wo er ist, wirst du sterben«, grollte er mit tiefer Stimme, die Ingrimmsch einen Schauder verursachte. »Eins...!« »Stirb und verliere deine Seele!«, wimmerte Bumina. »Schütze deinen Meister nicht länger. Es schadet dir, nicht ihm. Zwei!« Er verstärkte den Druck, und die Klinge durchstach die Haut. »Fort! Er ist fort!«

»Drei!« Ungerührt drückte Tungdil Blutdürster durch die Kehle der Famula. Hustend und würgend sog sie nach Luft, die Finger legten sich um die Waffe und versuchten sie zu bewegen, aber der Arm des Zwerges schien zu Stahl geworden zu sein. Bumina rang mit dem Tod - und verlor. Ihre Augen trübten sich ein, das Leben war gewichen. »Wir suchen ihn selbst«, gab Tungdil bekannt. »Er kann nicht weit sein.« »Die Schwarzaugen auch nicht«, meinte Ingrimmsch, der es nicht fassen konnte, was sein Freund getan hatte. Die Menschen taten ihm nicht leid, sie hatten den Tod verdient. Aber die Handlung als solche verwunderte ihn. Gründlich.

»Zu Hilfe!«, vernahmen sie Mallenias Stimme. »Ich brauche starke Arme!« Ingrimmsch wollte sich umdrehen und der Ido beistehen, da bogen Albae um die Ecke des Ganges. Er schätzte mindestens siebzehn, alle trugen schwarz gefärbte Lederrüstungen mit eisernen Verstärkungen über der Brust. Die Waffen waren sehr unterschiedlich, aber schwertähnlich. Sein Kampfgeist erwachte auf der Stelle. »Gleich«, rief er zurück. »Ich habe noch ein paar Schwarzaugen weichzuklopfen!« Er riss den Krähenschnabel in die Höhe und warf sich ihnen mit einem lauten Vraccas-Ruf entgegen.

Ein schwarzer Schatten überholte ihn.

»Ho, nein! Gelehrter, verdirb mir nicht das ganze Vergnügen, hörst du?«, beschwerte er sich enttäuscht. »Geh du Mallenia helfen! Lass sie...« Mir hatte er noch sagen wollen. Schon krachte Blutdürster waagrecht in die Seite des ersten Albs und zerschnitt ihn, als bestünde er aus Wachs. Während der Gegner noch stürzte, drosch Tungdil schon auf den nächsten Alb ein und durchbohrte seine Brust, zog die feucht schimmernde Klinge heraus und zerteilte den Hals eines dritten Albs. Bluttröpfchen lösten sich von der Klinge und spritzten umher.

Ingrimmsch blieb stehen und starrte gebannt auf seinen Freund, den er noch niemals zuvor so hatte wüten sehen.

Die Schnelligkeit seiner Bewegungen lag über der eines Schwarzauges, und die Albae wussten nicht, wie ihnen geschah. Sie kannten keine Zwerge als Gegner, und falls doch, waren sie einem solchen Vertreter seiner Art noch nicht begegnet. Das schwarze Blut regnete auf den Stollenboden, Körperteile fielen nieder, Waffen und Rüstungen zerbrachen bei jedem Schlag von Blutdürster.

Tungdil schrie bei seinen Attacken gleich einem Tollwütigen und tief wie ein Schacht. Er mähte sich durch die Albae, schlug eine Schneise, und die Fallenden verdeckten Ingrimmsch die Sicht. Als der letzte Feind zusammengebrochen war, sah er Tungdil mit dem Rücken zu ihm regungslos am anderen Ende des Ganges stehen. Das Blut hatte ihn von Kopf bis Fuß bedeckt, es perlte von der Rüstung, vom Helm.

»Vraccas stehe uns bei!«, hörte er Balyndar neben sich sagen.

Er wandte sich um und sah einen sehr bleichen Fünften zu seiner Rechten, der nicht weniger beeindruckt den Kampf verfolgt hatte. Nahm man es genau, war es kein Kampf, sondern ein Abschlachten gewesen. Die Albae haben so harmlos wie besoffene Orks gegen Tungdil gewirkt. Und doch wusste Ingrimmsch, dass er es niemals geschafft hätte, von einem Ende des Gangs zum anderen zu gelangen. Nicht in dieser Zeit und nicht unverletzt.

Coira hatte keinen Blick hinaus verschwendet. Sie sah in die Finsternis des Schachts, wo sich Rodario befand. Um ihm einen helfenden Zauber zugutekommen zu lassen, musste sie ihn jedoch sehen.

Sie hob die Hand, und schon flog eine Fackel aus der Halterung zu ihr. Sie lenkte das Licht in den Schacht und ließ es so lange sinken, bis sie den Schauspieler erkannte. Er hatte sich mit beiden Händen am geöffneten Gitter festgeklammert und baumelte frei über einem Abgrund.

Allerdings hob sich die Absperrung wieder. Sie würde Rodario die Finger abquetschen und ihn stürzen lassen.

Es kostete die Maga nun keinerlei Mühe mehr, einen Schwebespruch zu formulieren. Außerhalb der Quelle fühlte sie sich nicht mehr benommen und von Wogen der Glückseligkeit überflutet, die ihr jeden klaren Gedanken verboten hatten. Die unsichtbaren Kräfte bekamen den Mann zu packen und hoben ihn an, zogen ihn durch die schmale Lücke zwischen Wand und Gitter hindurch und ließen ihn aus dem Schacht zu den beiden Frauen schweben.

Kaum stand er, warf sich Coira erleichtert in seine Arme und drückte ihn an sich, ließ ihn jedoch sofort wieder los. »Ich muss sehen, was sich draußen auf dem Gang tut«, entschuldigte sie sich und lief zum Ausgang. »Ein Held«, meinte Mallenia und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Und doch auf Beistand angewiesen. Das mag ich an Euch.« Sie grinste und folgte der Maga zu den Zwergen.

Rodario rieb sich die schmerzenden Hände, auf deren Innenseiten sich Schürfwunden abzeichneten. »Samusin, Gott des Ausgleichs, ich danke dir«, betete er knapp. Dann bemerkte er Franeks Leichnam und das schwarze Blut, das zum Eingang hereingeflossen kam. Neben ihm klickte es vernehmbar, und das Gitter saß fest an der alten Stelle. »Hussa! Gelobt sei Vraccas: Da kommen noch mehr Schwarzaugen!«, vernahm er Ingrimmschs glückliche Stimme. »Gelehrter, dieses Mal sind sie mir, verstanden? Ich kann dir nicht die ganze... Gelehrter! GELEHRTER!« Gleich darauf erklangen laute Schreie und das Krachen von Waffen, die gegeneinanderschlugen. »Jetzt hat er es schon wieder getan!«

Rodario stemmte die Hände in die Hüften, holte Luft und zog sein Schwert. Es hatte etwas für sich, kein Held zu sein. Dummerweise betrachtete er sich als einen solchen, und Helden hatten Kämpfe zu bestehen.

Er folgte den Zhadär, vor ihm liefen Mallenia, Coira und Slin, und vorneweg rannten Balyndar und Ingrimmsch den Korridor entlang. Tungdil sah er nirgends, dafür hörte er anhaltendes Scheppern und Schreien aus einem anderen Gang.

»Wieso erklärt mir niemand, was vor sich geht?«, lamentierte er in bester Schauspielermanier und beeilte sich, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sie eilten in lockerem Trab durch die Gänge des Zwergenreichs, immer auf der Hut vor einer Begegnung mit Lot-Ionan, dem letzten Famulus Vot oder den Albae. Das taten sie nach Ingrimmschs Schätzungen bereits mindestens drei Umläufe lang. Begegnet war ihnen jedoch nichts und niemand.

Die Albae, welche von Tungdil im Alleingang niedergemacht worden waren, hatten nicht zur Hauptstreitmacht gehört; anscheinend war es ein Spähtrupp gewesen, der es an Vot und Bumina vorbei in die Stollen geschafft hatte. Sie wollten sicherlich Bumina töten, ehe sie neue Kräfte schöpfen konnte, und sind uns dabei in die Arme gelaufen. Er grinste. Gut so! Ingrimmsch war aber immer noch wütend auf Tungdil, der nicht weniger als fünfundzwanzig Albae allein und in Windeseile getötethatte. Es schien ihm keinerlei Mühe zu bereiten, auch seine Einschränkung durch den Verlust des einen Auges zählte nicht. Ingrimmsch musste sich eingestehen, dass Tungdil ihm im Gefecht weit überlegen war, was die Handhabung der Waffe, die Schnelligkeit und Wendigkeit anbelangte. Früher hatten sie sich einigermaßen gleichauf befunden, doch an diesem Umlauf wurde ihm bewusst, dass er sich mit seinem Freund nicht mehr messen konnte.

»Nach rechts«, befahl er und führte die Gruppe in den ehemaligen Thronsaal. Die Pracht und die Würde waren vergangen, hier hatten die Famuli einige Experimente an den Höhlenwänden versucht und etliche Säulen zum Einsturz gebracht, die einst in schwindelnde Höhe emporgeragt hatten. Die in Stein gehauenen Kampfszenen an den Wänden aus der Geschichte des Zwergenvolkes wiesen Löcher und Brandflecken auf, umgestürzte Kohlebecken und Leuchter lagen umher.

Auch der Tisch für die Stammeskönige und die kunstvoll gemeißelten Steintribünen dahinter für die Clananführer waren zertrümmert worden; der eindrucksvolle Marmorthron, auf dem einst Gundrabur Weißhaupt gesessen hatte, war unter der Wucht eines Zaubers zersprungen. Ein Sinnbild für die verlorene Macht der Zwergenstämme.

Ingrimmsch hatte eigentlich gehofft, dass Lot-Ionan hier sein Refugium errichtet hatte. »Das geht so nicht«, sagte Rodario, dem die hängenden Schultern des Zwerges aufgefallen waren. »Wir können zyklenlang durch das Gebirge streifen, ohne den Magus ein einziges Mal zu Gesicht zu bekommen.«

»Was bleibt uns denn anderes?«, gab Slin zurück und schaute Coira an. »Sagtest du nicht, dass du einen Zauber kennst?«

»Um ihn zu finden?« Sie verneinte.

Mallenia setzte sich auf ein Säulentrümmerstück. Sie machte aus ihrer Unzufriedenheit keinen Hehl. »Wir brauchen sofort einen neuen Plan. Wer weiß, wie es an der Schwarzen Schlucht oder in meinem Land aussieht?«

»Um die Albae müsst Ihr Euch keine Sorgen machen. Das Gift sollte inzwischen seine Wirkung getan haben. Es werden nur noch sehr wenige von ihnen am Leben sein«, beruhigte sie Tungdil. »Die wenigen Überlebenden bedeuten keinerlei Gefahr und werden von Aiphatön bald ausgelöscht sein.« »Wir hätten bei der Quelle bleiben sollen«, murrte Balyndar. »Früher oder später hätte Lot-Ionan dorthin kommen müssen.«

»Nichts hindert uns daran, zu ihr zurückzukehren.« Ingrimmsch streckte das Kreuz und hörte seine Wirbel knacken. »Ich werde alt«, staunte er. »Man könnte meinen, ich hätte Holz in mir und keine Knochen.«

»Zurück zur Quelle«, befahl Tungdil. »Unterwegs suchen wir Proviant. Einigen knurrt der Magen so laut, dass wir uns nirgends anschleichen könnten.«

Die Gruppe kehrte um, und als sie eben den geschändeten Thronsaal verlassen wollten, vernahmen sie Schritte von der anderen Seite hinter ihnen.

Ein junger Mann, höchstens dreißig Zyklen alt, betrat die Halle und sah die Zhadär, die den Schluss bildeten. Er riss den rechten Arm in die Höhe und jagte einen grelllilafarbenen Zauber gegen sie.

Der Stänkerer und der Knurrer besaßen genügend Geistesgegenwart, um hinter den Säulen in Deckung zu springen.

»Danke, Vraccas!«, jubelte Ingrimmsch und machte auf den Absätzen kehrt. »Wir haben Vot gefunden!«

»Wie entzückend! Aber er hat uns gefunden«, meinte Slin, ließ sich auf die Knie herab und hob gleichzeitig in einer fließenden Bewegung die Armbrust. Bevor ihn jemand aufhalten konnte, sandte er dem Famulus einen Bolzen. »Das ist meine Magie!« Vot hatte nicht bemerkt, was sich ihm näherte, und die Arme erhoben, um einen weiteren Spruch zu wirken. Plötzlich sah er auf seine Brust, wankte und stürzte nach rechts zu Boden. Mit einem einfachen Bolzen hatte er nicht gerechnet.

»Rasch!«, befahl Tungdil und rannte los. »Vielleicht können wir ihn noch verhören.« Er rief Coira zu sich, damit sie dem Famulus notfalls das Leben rettete.

Vot lag in seinem Blut, weil er den Bolzen aus der Wunde gezogen hatte. Das Geschoss hatte ihn ins Herz getroffen, doch das Leuchten um das Loch in seinem Körper sagte ihnen allen, dass er im Begriff stand, sich mit seinen magischen Fertigkeiten zu heilen. Tungdil richtete Blutdürster auf ihn, und Coira belegte den Verletzten mit einem schimmernden Fesselspruch um Hände und Augen. Damit war er so gut wie harmlos, da er keine Ziele erkennen und keine Zauber schleudern konnte.

»Wir suchen deinen Meister: Lot-Ionan«, sagte Tungdil. »Wirhaben vor einigen Umläufen schon Bumina nach ihm gefragt, aber da sie es uns nicht sagen wollte, verrottet sie nun vor dem Eingang zur magischen Quelle. Es liegt an dir, welches Schicksal du erwählst.«

Vot hatte seine Überheblichkeit noch nicht verloren. »Wer seid ihr, dass ihr es wagt, in mein...«

Der finstere Zwerg schnitt ihm mit der Klinge leicht am Hals entlang, sodass es stark blutete, aber die Wunde nicht lebensgefährlich war. »Der zweite Streich wird mit Macht geführt.«

»Lot-Ionan ist nicht mehr hier«, sagte Vot gepresst. Er hatte begriffen, dass es ihm nicht zustand, Fragen zu stellen.

Ingrimmsch trat ihm gegen das Schienbein. »Du stehst kurz davor, dem Tod zu begegnen, wenn du noch ein weiteres Mal lügen solltest, Bürschlein!«

»Ich sage die Wahrheit«, antwortete der Famulus ängstlich. »Der Magus ist gegangen.« Tungdil senkte die Spitze leicht in seinen Brustkorb. »Wohin? Sprich, oder ich finde heraus, wie schnell du Wunden zu heilen vermagst.«

Vot blieb still liegen und wagte es nicht mehr, sich zu bewegen. »Nach Norden«, kam es leise. »Er will nach Norden, um die Albae für ihren Angriff zu bestrafen. Er wusste von ihren Plänen und überließ uns die Verteidigung der Quelle. Sie sollen bei ihrer Rückkehr in ihre Reiche nur mehr Ruinen vorfinden.«

»Das ist gelogen!«, rief Ingrimmsch. »Franek hat gesagt, dass er seinen Famuli niemals erlaubte, ohne Aufsicht in die Quelle zu steigen.«

Vot seufzte. »Die Lage hat ihn dazu gezwungen.« »Ich glaube dir nicht.« Tungdil setzte die Spitze an einer anderen Stelle an.

»Es ist die Wahrheit! Er hat uns drei Besuche gewährt, danach würde ein Vernichtungszauber beim Eintreten in die Kammer ausgelöst«, erwiderte Vot rasch. »Was will er genau im Norden?«

»Die Reiche der Albae für den Angriff auf ihn in Asche legen. Was sonst?« »Ja, was auch sonst?«, ahmte Ingrimmsch den Tonfall des Famulus nach. »Das mache ich auch jeden Umlauf: aufstehen, die Schwarze Schlucht mit bloßen Händen zuschaufeln und ein bisschen Vernichtung bringen.«

Vot schnaubte verächtlich. »Lot-Ionan besitzt Macht genug, um Landstriche zu verwüsten so weit sein Auge reicht. Er hat gelernt, Unmengen Magie in sich aufzunehmen. Das werden die Albae bald zu spüren bekommen.«

»Dort befindet sich zudem eine weitere magische Quelle«, sagte Ingrimmsch zu Tungdil. »Es klingt, als wolle Lot-Ionan auch noch auf der anderen Seite des Geborgenen Landes sein Unwesen treiben.«

»Er wird bemerken, dass es weder den Kordrion noch den Drachen gibt. Die Albae sind vernichtet - und er kann der alleinige Herrscher des Geborgenen Landes sein«, führte dieser den Gedanken fort.

»Wir hätten also gemütlich bei Aiphatön warten können«, meinte Slin seufzend. »Er wäre zu uns gekommen.«

»Dann hätten wir sie nicht gefunden.« Balyndar hob die funkelnde Feuerklinge. »Sie wird uns von großem Nutzen sein.«

»Nach Norden also.« Rodario schaute auf seine abgewetzten Lederstiefel. »Dieses Mal nehmen wir uns Pferde oder irgendetwas, das uns trägt, sodass wir nicht laufen müssen.«

Der Stänkerer stieß einen Warnlaut aus und zog seine Waffe.

Sofort bewegte sich die Gruppe von der Tür weg, Vot ließen sie achtlos in der Blutlache liegen.

»Verdammt!« Ingrimmsch sah eine Horde Albae von der Seite aus in den Thronsaal stoßen, an der sie eben den Rückzug hatten antreten wollen. Aus ihren Nasen und Mündern lief schwarzes, halb geronnenes Blut; nicht wenige von ihnen schwankten beim Gehen, und als sie ihre Waffen für das Gefecht mit den Zwergen und Menschen hoben, wirkten sie kraftlos. Das Gift hatte sie noch nicht ganz bezwungen, doch es siegte mehr und mehr.

Auch durch den zweiten Eingang strömten Albae, und an ihrer Spitze befand sich - Aiphatön. Im Vorübergehen erstach er Vot mit dem Speer, hob den Leichnam damit gut sichtbar für alle in die Luft und gab einige Sätze von sich.

»Er sagt«, übersetzte Mallenia, »dass er den Zauberer, der sie mit dem Fluch beladen hat, getötet habe und ihr Leid bald nachlasse. Um sich vollständig davon zu befreien, müsse man Lot-Ionan finden. Die...«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »Zwerge - also ihr - wären keinen Aufenthalt und keine Anstrengung wert. Der Magus müsse gefunden werden, das habe Vorrang vor allem.«

Ein Alb trat nach vorn und redete auf Aiphatön ein. »Er ist der Meinung, dass man uns töten müsse. Er hat die Feuerklinge erkannt und befürchtet, dass wir Scherereien machen könnten. Wir wüssten zudem sicherlich, wie man verborgene Fallen auslöst, die aus den Zwergenzeiten stammen, um Eroberer aufzuhalten.« Mallenia lauschte. »Wenn ich es richtig verstanden habe, sind die Albae, die wir hier sehen, die letzten, die von dem gesamten Kontingent übrig geblieben sind.« Hm, das wird nicht leicht. Ingrimmsch hatte bereits angefangen zu überschlagen und kam auf dreihundert Gegner. Unter normalen Umständen hätte er schwerlich an einen Sieg geglaubt. Aber mit einer von neuen Kräften durchzogenen Maga, einem brandgefährlichen Tungdil sowie Balyndar und der Feuerklinge wurde der Kampf eher zum Wettstreit, wer die meisten erlegte. Er war derjenige mit den geringsten Aussichten auf den Sieg. »Ich nehme Aiphatön«, wisperte er Tungdil zu.

»Du wirst warten, was geschieht.« Tungdil wies Coira an, einen Abwehrzauber bereitzuhalten, um eventuelle Pfeilwolken von ihnen abzuhalten.

Mallenia verschaffte sich mit einem Zeichen Gehör. »Der Kaiser lehnt das ab. Er sagt, dass sie sich nach dem Öffnen des Tores um uns kümmern könnten. Erst soll die Suche nach dem Magus abgeschlossen sein.«

»Er versucht eindeutig, uns zu schützen«, sagte Rodario erleichtert. Er hatte wie Mallenia das Schwert gezogen.

»Ich denke nicht, dass es ihm gelingen wird. Und das muss es auch nicht.« Tungdil sprang die kleine Treppe zu den Fragmenten des Thrones hinauf, reckte Blutdürster und rief etwas.

»Will ich es wissen?« Rodario seufzte.

»Ich schon.« Ingrimmsch grinste vor Vorfreude. »Er macht reinen Tisch mit den Schwarzaugen! Sie werden im Gebirge ausgelöscht, wie es sich gehört. Von uns Zwergen!« Er lächelte grimmig. »Vraccas, welch herrlicher Umlauf!«

»Er sagt«, so Mallenia, »dass er es gewesen sei, der ihnen den Fluch gebracht habe und dass sie sein Leben nehmen müssten, um den Bann zu brechen.«

Ein lautes Raunen ging durch die Masse der Albae, dann rannten die Ersten auf die Treppe zu, um sich gegen Tungdil zu werfen.

Der Einäugige breitete die Arme aus und streckte Blutdürster von sich weg, legte den Kopf in den Nacken und schien zu beten. Eine Rune nach der anderen flammte im schwarzen Tionium auf, und je mehr leuchteten, desto durchdringender wurde ihr Schein.

»Ich habe den Eindruck, dass ich wieder zu kurz komme«, murmelte Ingrimmsch. Als die Welle der Albae gegen den Aufgang der Stufen schwappte, sprang Tungdil über ihre Köpfe hinweg mitten unter sie und verschwand für die Augen seines Freundes und den Rest der Gruppe. Aber die Geräusche von Metall, das gegen Körper schlug, die gellenden Schreie der Feinde und das hoch aufsprühende Blut, das als Gischt bis zu ihnen wehte und sie benetzte, sagte mehr als jeder Anblick. »Sie lassen uns wirklich in Ruhe«, befand Rodario verblüfft, der das Schwert schräg vor den Körper hielt und neben Mallenia stand. »Sie werfen sich wie von Sinnen gegen Tungdil!«

»Das kann ich keinesfalls zulassen! Ich will auch was abhaben!« Ingrimmsch begann seinen Angriff auf die Albae.

Balyndar folgte ihm mit der Feuerklinge, deren Intarsien und Diamanten loderten. Bei jedem Schlag zog der Axtkopf einen feurigen Schweif hinter sich her, und was die Schneide traf, wurde durchschlagen. Seite an Seite wüteten sie sich durch die Albae, die sie anfangs gar nicht beachteten, bis sich auch Widerstand gegen die Zwerge formierte. Jetzt erst war das Gefecht nach Ingrimmschs Geschmack! »Bringt mir eure Leben, ihr langen Landplagen!«, schrie er begeistert und drosch mit dem Krähenschnabel um sich. »Ihr werdet es bereuen, einen Fuß in meine Heimat gesetzt zu haben! Oh, und wie ihr das werdet!«

Verbissen lieferte er sich einen Kampf nach dem anderen, musste etliche Schnitte und Stiche hinnehmen, die ihn jedoch nicht aufhielten. Dazu befand er sich zu tief in seinem Rausch, der die Welt in ein dunkles Rot getaucht hatte und sein Blut schneller, heißer, lebendiger fließen ließ; dass er Balyndar aus den Augen verloren hatte, störte ihn nicht weiter. Er vergaß sogar die Zeit über sein erbarmungsloses Toben hinweg. Allmählich lichteten sich die Reihen, und Ingrimmsch fällte einen Alb mit schwer gewordenen Armen, indem er ihm mit dem Dorn den rechten Fuß wegzog und dem Stürzenden mit der flachen Seite des Krähenschnabels das Gesicht zerschmetterte. Da bemerkte er, dass es auch der letzte Gegner im Thronsaal gewesen war. »Ho, schon vorbei?«, tönte er und blickte sich um. Tungdil saß auf der Treppe, Blutdürster über die Knie gelegt, und schaute ins Nirgendwo. Rodario und Mallenia standen bei Coira und sahen nicht so aus, als hätten sie ihre Schwerter zum Einsatz bringen müssen; die toten Albae vor ihnen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Macht der Magie.

Slin wanderte über die toten Albae und sammelte seine verschossenen Bolzen ein, und Balyndar kniete vor einem Steinbild, die Hände auf den Stiel der Feuerklinge gelegt und die Augen geschlossen. Er betete zweifelsohne zu Vraccas, um sich für den Sieg zu bedanken.

Rings um sie herum lagen die Leichen der Albae, deren Blut sich zu einem schwarzen See sammelte und wie Tinte auf den Steinplatten stand. Das Blaue Gebirge weigerte sich, die Flüssigkeit versickern zu lassen.

»Gelehrter?«

»Er ist in seinen Erinnerungen gefangen«, sagte eine sanfte Stimme hinter ihm. Noch halb im Kampfrausch, zuckte Ingrimmsch herum und schlug zu. Der Krähenschnabel prallte gegen einen dünnen Speer. Hinter ihm stand Aiphatön. »Das war Glück«, schnaufte er.

»Das war zu langsam«, verbesserte der Kaiser der Albae freundlich. »Das wird wohl an deinen ermüdeten Armen liegen. Ansonsten hättest du mich sicherlich getroffen und getötet wie alle anderen hier, Boindil Zweiklinge.«

Der Zwerg kniff die Augen zu einem Spalt zusammen. »Ich merke, wenn man mich veralbert.«

»Das lag nicht in meiner Absicht.«

»Dass ich es merke oder dass du mich veralberst?«

»Das Veralbern.« Aiphatön nickte Ingrimmsch zu. »Verzeih mir.«

Der Zwerg winkte ab und kam sich seltsam vor, neben einem Alb zu stehen. Seine Rüstung wies keine Blutspuren auf. »Du hast dich nicht beteiligt?«

»Es ist euer Gebirge. Ich hielt es für angebracht, die Säuberung in eure Hände zu legen«, antwortete Aiphatön. »Mein Teil bestand darin, sie zu vergiften. Das machte es euch möglich, sie zu besiegen. Andernfalls hätte ich vielleicht zu euren Gunsten eingegriffen.« Sein Blick schweifte über die Leichen. »Ich war niemals einer von ihnen, auch wenn ich es einige Zyklen lang geglaubt hatte. Es war ein Fehler, den ich wiedergutgemacht habe.« Er sah zu Ingrimmsch. »Das Tor in den Süden ist nicht angerührt worden, und diejenige, welche Vot und Buminas Zauber entkamen, sind in den Gängen verendet. Die letzten Überlebenden habt ihr vernichtet.« Aiphatön zeigte auf Tungdil. »Er sollte die Rüstung ablegen. Sonst nimmt sie ihn noch mehr in Besitz.« »In Besitz?« »Du wusstest es nicht?«

Ingrimmsch griff nach seiner Wasserflasche und spülte seine trockene Kehle. »Ich ahnte es«, gab er leise zurück. »Was weißt du über sie?«

»Nichts. Aber ich kenne die Symbole auf ihr. Es ist ein Versprechen von Rüstung und Träger gleichermaßen, sich gegenseitig zu schützen und niemals mehr zu verlassen. Irgendwann ist der Augenblick gekommen, wo sie der Träger niemals mehr ausziehen möchte. Weder zum Schlafen noch zum Essen noch für seine Notdurft. Sein Fleisch wird sich wund scheuern, der Brand wird ihn packen, und Tungdil wird in seinen eigenen Ausscheidungen zugrunde gehen.« Aiphatön sah den Schrecken im Gesicht des Zwerges. »Bringe ihn dazu, sie abzulegen.« Er schritt an ihm vorbei zum Ausgang. »Ich gehe nach Dsön Bharä, um meine Aufgabe zu erfüllen.«

»Das wird vielleicht nicht nötig sein.« Ingrimmsch erklärte ihm, was sie von Vot erfahren hatten.

Der Alb dachte nach. »Dann werde ich sehen, was der Magus übrig gelassen hat. Wenn er mir dabei begegnet, werde ich ihn überwältigen und verschnürt für euch liegen lassen.« Er zwinkerte Ingrimmsch zu. »Achte auf deinen Freund, wenn dir sein Leben lieb ist.« Mit diesen Worten ging er aus der Halle.

Der Zwerg sah ihm nach, dann schaute er zu Tungdil, der noch immer auf dem zerstörten Thron saß und gegen die Wand stierte; mit der Linken streichelte er versonnen die Beinschiene des Oberschenkels.

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