Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Eingang zum Roten Gebirge, 6492. Sonnenzyklus, Frühling.
Nach Einbruch der Dunkelheit begaben sich die Zhadär in den strömenden Regen, und schon nach wenigen Schritten hinaus aus der Höhle waren sie aus dem Blickfeld verschwunden. Sie glitten in die Nacht hinein und schienen sich mit ihr zu verbinden. »Unheimliche Gesellen.« Rodario nickte den Frauen zu. »Ich werde mal in Erfahrung bringen, was Boindil mit dem Zhadär besprochen hat.« Er ging hinüber zu Ingrimmsch. Seine fortlaufende Veränderung war Coira nicht entgangen. Sie beobachtete Rodario, der sich eben mit dem Zwilling unterhielt. Der Mann trug ein Kettenhemd und ein Schwert an seiner Seite. Rasiert hatte er sich seit seiner freiwilligen Offenbarung nicht mehr, sodass ein kurzer Bart in seinem kantig-männlichen Gesicht stand. Zusammen mit seiner veränderten Haltung hatte er nicht mehr das Geringste mit dem Schauspieler gemein, den man als unentwegten Verlierer des Wettbewerbs in Mifurdania kannte. Mallenia wiederum betrachtete die in Träumereien versunkene Maga, die sie als Nebenbuhlerin ansah. Gleichzeitig schalt sie sich, dass sie sich in einen Mann verliebt hatte, den es niemals gegeben hatte. Ihr Herz war einer Theaterrolle verfallen, einem nur scheinbar hilflosen, ungeschickten Mimen, der sich plötzlich als tapfer und schlagkräftig erwies. Das passte nur auf den ersten Blick besser zu Mallenia, die lieber Beschützerin sein wollte. Und dennoch...
Coira seufzte. »Wer hätte das gedacht?«
»Dass er ein echter Mann ist?« Mallenia lachte bitter und schnitt sich Brot ab, um es mit etwas Kernöl zu beträufeln. »Ich bin ebenso überrascht wie Ihr.«
Die Maga langte nach ihrem Trinkbeutel und gönnte sich einen Schluck Wasser. Sie sah der Ido in die Augen. »Wie küsst er?«, fragte sie unvermittelt. »Was?« Beinahe hätte sich Mallenia verschluckt.
Coiras Augen leuchteten, sie war aufgeregt und schlang die Arme um die Knie. »Er hat sich doch einen Kuss gestohlen. Wie hat es sich angefühlt? Erzählt es mir, bitte!« »Ihr seid in ihn verliebt?«
»Mag sein«, gab sie übermütig zurück. »Er wird mich für eine schwärmerische Göre halten, wenn er es herausfindet. Aber das ist mir gleichgültig.«
»Ist er nicht ein wenig zu alt für Euch? Er ist in meinem Alter, etwa dreißig Zyklen, und Ihr habt höchstens zwanzig gesehen.« Mallenia bemerkte selbst, dass ihr Ton missgünstig geworden war.
Coira fiel es ebenfalls auf, und sie sah die Ido erstaunt an. »Höre ich da Eifersucht heraus?«
»Nein«, blaffte sie - und ärgerte sich im nächsten Augenblick darüber. Das war so gut wie ein Eingeständnis. In Liebesdingen war sie leider zu unerfahren. Der Kampf um die Freiheit ihres Landes hatte ihr wenig Raum für derlei Gefühle gelassen. Außer zwei kurzen Ausflügen ins Reich der körperlichen Leidenschaft war nichts gewesen. »Mir scheint, sein Kuss hat bei Euch mehr angerichtet, als Ihr zugeben möchtet«, erwiderte die Maga und stellte den Lederbeutel auf die Erde. Sie strich sich die schwarzen Haare zurück und bändigte sie mit einem Lederband im Nacken. Sie musste grinsen. »Da sitzen wir also, mitten im größten Abenteuer, kurz vor einem Angriff auf einen Drachen, und stellen fest, dass wir den gleichen Mann mögen. Die Götter haben einen absonderlichen Sinn für Humor.«
Zuerst wollte Mallenia abstreiten, doch sie verwarf den Gedanken wieder. Warum sich nicht zu den Gefühlen bekennen? »Ich habe es wesentlich schwerer als Ihr, Coira«, sagte sie. »Mir war nämlich der schusselige Rodario der Siebte lieber.« »Seid froh, dass Ihr ihn nicht so erlebt habt, wie es mir vergönnt war. Ihr hättet ihn erschlagen! Wir können ihn ja fragen, ob er den einen Umlauf Euer niedlicher Tölpel und den nächsten mein verwegener Held sein möchte.« Sie reichte ihr den Trinkbeutel. »Schwören wir, dass wir uns seinetwegen nicht entzweien.«
»Entzweien?« Mallenia versuchte sich zu erinnern, wann sieund die Herrscherin von Weyurn sich verbündet hatten. Sie sah unschlüssig auf den Lederbeutel.
»Seht: Ihr werdet bald auf dem Thron von Idoslän sitzen, und ich werde das Erbe meiner Mutter antreten. Ich fände es schön, wenn die künftigen Herrscherinnen sich verstünden und sich durch die Liebe zu einem Mann nicht zu Hass und Zwist verführen ließen. Am Ende erwächst daraus noch ein Krieg zwischen unseren Ländern.« Auch wenn man an ihrem Lächeln sah, dass ihre Worte nicht wirklich ernst gemeint waren, bargen sie einen winzigen wahren Kern.
Mallenia nahm daher den Trinkbeutel entgegen, schraubte ihn auf und trank auf die Verschwesterung, Coira tat es ihr nach. »Er küsst sehr männlich«, sagte die Ido dann. »Es hatte mich damals schon verwundert, aber ich dachte mir nichts dabei. Mein Misstrauen hat sich von seinem schauspielerischen Talent überlisten lassen.« Sie aß weiter. »Werdet Ihr es ihm gestehen?«
»Meine Liebe?« Die Maga atmete tief ein. »Ich weiß es nicht. Es wäre mir... Ich käme mir töricht und gedemütigt vor, wenn ich ihm das Geständnis mache und er mich auslacht. Oder mich für eine andere ablehnt.« Sie sah Mallenia in die Augen. »Er hat sich von Euch den Kuss gestohlen, nicht von mir. Meine Eifersucht auf Euch müsste daher viel größer sein als die Eure auf mich.«
Mallenia stutzte. »Jetzt, da Ihr es sagt... Aber ich denke, er hielt es mehr für ein Spiel denn für eine ernsthafte Angelegenheit. Er hat keine Ahnung, was ich für ihn fühle.« Sie lächelten sich an und sahen gleichzeitig durch die Höhle zu Rodario, der die Blicke der Frauen auf sich zu spüren schien und sich kurz in ihre Richtung wandte. Grüßend hob er die Hand und widmete sich erneut Ingrimmsch.
»Männer.« Mallenia zog ihr Schwert und schärfte die Klinge.
Coira schnitt sich grinsend eine Scheibe Schinken ab und sah der Ido zu. »Ihr habt es besser getroffen als ich.«
»Weswegen?«
»Ihr könnt mit Waffen umgehen. Ich dagegen brauche meine Magie, um mich richtig verteidigen zu können. Und ohne eine magische Quelle sind meine inneren Reserven sehr rasch aufgebraucht.« Die Maga kaute das würzige Fleisch. »Mit meiner Tapferkeit ist es zudem nicht weit her. Ich habe sie nie wirklich benötigt.«
»Ihr scherzt! Ihr standet Albae gegenüber!« »Und war dabei voller Magie. Da braucht es keine Tapferkeit.«
»Ihr sagtet doch, dass die Vernichtung der Quelle bei Seenstolz genügend Energie freigesetzt hätte, um sie aufzufangen.« Mallenia hob den Kopf. »Ihr habt doch genügend Energie, um Zauber zu sprechen?«
»Sicher habe ich die. Aber es ist bei Weitem nicht so viel, wie ich bei einem langen Aufenthalt in der Quelle aufgenommen hätte.« Sie sprach zögerlich. »Ich setze meine Hoffnung in die Quelle, die wir im Roten Gebirge finden werden.«
Jetzt war die Ido aufmerksam geworden. Sie nahm den Trinkbeutel wieder zur Hand. »Wenn dieser Wassersack Euer größtmögliches Reservoir wäre, wie viel tragt Ihr derzeit in Euch?«
Coira schraubte den Verschluss ab und ließ den Inhalt mit einem dünnen Strahl herausfließen, bis sich nur mehr ein Drittel darin befand. Ohne eine weitere Erklärung verschloss sie ihn wieder und gab ihn der Ido zurück.
»Mehr nicht?«
Die Maga schüttelte den Kopf. »Mehr nicht. Aber es genügt, um mit den Orks fertig zu werden. Die Quelle wird mir bald meine volle Stärke zurückgeben.«
»Und es bedeutet keine Schwierigkeit, sie zu finden?«
Coira verneinte. »Ich habe ein Gespür dafür. Es gibt einen Zauber, mit dem man Magie entdecken kann, und der wird mir von großem Nutzen sein.«
Mallenia kümmerte sich um das zweite Schwert. »Ihr hattet recht. Ich trage lieber Stahl zu meiner Verteidigung.«
Rodario kehrte zu ihnen zurück. »Da sind ja die bezauberndsten Frauen des Geborgenen Landes«, sagte er beschwingt. »Und dazu noch die mächtigsten.« »Er übertreibt maßlos«, sagte Mallenia zu Coira. »Bezaubernd wäre außerdem nur die Maga.« Sie hob wie zufällig das Schwert, und die Spitze wies in den Schritt des Mannes. »Ich bin bestechend, Rodario der Siebte.« Sie funkelte ihn böse an, während die Schwarzhaarige kicherte und schnell die Hand vor den Mund legte.
Erstaunt blickte Rodario zwischen ihnen hin und her. »Ich habe den Eindruck, dass sich im Verlauf meiner Abwesenheit hier etwas zugetragen hat, das mich in den Mittelpunkt einer Verschwörung stellt, die zudem gegen mich gerichtet ist.« »Nein. Seid beruhigt: Wir befassen uns nicht mit Nebensächlichkeiten«, entgegnete die Maga zwinkernd und schnitt sich wieder vom Schinken ab. Ein Zhadär kehrte bald darauf zurück und brachte Tungdil die Nachricht, dass die fünf Tore geöffnet seien; sofort machten sie sich mit der dezimierten Schwarzen Schwadron auf den Weg.
»Sie sind nicht lange weg gewesen«, sagte Slin zu Balyndar und lud seine Armbrust im Gehen. Gemeinsam verließen sie die Höhle und rannten durch den Regen auf das Tal zu.
»Ich wäre zu gern dabei gewesen, aber sie haben mich nicht gelassen.« Ingrimmsch war neugierig auf die Künste der Unsichtbaren.
»Es war besser so.« Tungdil hatte Blutdürster gezogen. »Es ist nicht deine Art zu kämpfen, Ingrimmsch. Leise ist eben nicht, mit erhobenem Krähenschnabel und lauten Vraccas-Schreien gegen die Orks anzurennen und sie kurz und klein zu schlagen, dass die Rüstungen scheppern.«
Sie näherten sich dem ersten Holztor, das offen stand und vor dem ein Zhadär sie erwartete.
Beim Hindurcheilen sahen sie auf der anderen Seite ein zweifaches Dutzend Orks im Matsch liegen. Ihre Kehlen waren durchtrennt worden, andere zeigten tiefe Dellen und Schnitte in den Panzerungen, und manchen fehlte der Kopf gänzlich.
Diese Eindrücke wiederholten sich: vor den weiteren vier Toren wartete immer ein Zhadär, und dahinter lagen die getöteten Wächter im Schlamm.
Ingrimmsch war von der Leistung schwer beeindruckt. »Da brat mir einer einen Elb«, murmelte er.
Schließlich erreichten sie den Durchgang ins Rote Gebirge. Vor einer Höhle hatten die Orks eine weitere Palisadenwand errichtet; dieses Mal erwartete sie Barskalin, um sie in Empfang zu nehmen.
»Wir haben die Wachmannschaften überwältigt, wie du es befohlen hast«, erstattete er Tungdil Bericht. »Es wurde kein Alarm gegeben, und auch die Besatzung am Eingang fiel unter unseren Klingen.«
»Ich habe nichts anderes von dir erwartet und bin dennoch mehr als zufrieden«, lobte Tungdil ihn. »Wie viele Orks bisher?«
»Wir haben einhundertvierzehn von denen und zwei Lohasbrander getötet, die sich in der Wachstube aufgehalten haben. Siedienten als Offiziere«, sagte der Syträp. »Einen dritten haben wir gefangen, weil wir annahmen, dass du ihn befragen möchtest.«
»Sehr gut.« Tungdil folgte ihm ins Innere, Ingrimmsch und der Rest schlossen zu ihnen auf.
Die Höhle war sehr hoch, aber karg und ohne Schmuck. Die Orks und Lohasbrander hatten darauf verzichtet, sie außergewöhnlich zu gestalten. Bei genauerem Hinsehen entdeckte man schlecht beseitigte Reste zwergischer Runen und Steinmetzarbeiten. Im vorderen Bereich, unmittelbar im Anschluss an die Palisadenwand, standen zwei hölzerne Baracken, die Mannschaftsquartiere der Orks; zwei kleinere Schuppen schlossen sich an. Barskalin erklärte, dass es sich bei dem einen um eine Vorratskammer und bei dem anderen um einen Kerker handelte. Die beiden Orks, die darin gesessen hatten, waren ebenso ermordet worden.
Ingrimmsch lauschte und staunte. Die Zhadär sind gefährlich wie Schwarzaugen! Hargorin befahl seinen Kriegern, die Höhle zu sichern und sich an den vier Gängen zu verteilen. Keiner der Tunnel war groß genug, um einem ausgewachsenen Drachen Platz zu bieten, was alle mit einer gewissen Beruhigung sahen. Lohasbrand würde sie hier drinnen nicht angreifen können.
Auf dem Weg in das erste der Quartiere, wo die Zhadär den Lohasbrander festhielten, besah Ingrimmsch die Leichen. »Es ist mir ein Rätsel, wie die Unsichtbaren das geschafft haben, ohne dass sich eine der Schweineschnauzen gewehrt hat«, sagte er zu Slin; die Verwunderung trieb ihm die Worte aus dem Mund.
»Sie haben von den Albae erschreckend gut gelernt«, stimmte ihm der Vierte bei. »Ich denke die ganze Zeit daran, dass sie meine Heimat in- und auswendig kennen. Es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, das Gleiche im Braunen Gebirge mit meinem Leuten zu machen.« Er sah zu Balyndar. »Oder bei euch Fünften. Oder den Freien. Man stelle sich vor, die Albae hätten für die Aushebung der Zhadär-Truppe Dritte gefunden, die uns unbedingt töten wollten! Es gäbe uns längst nicht mehr.«
»Es wäre ihnen sicherlich nicht so leicht gelungen«, widersprach Balyndar und betrachtete einen der toten Orks, dem ein Schnitt die Kehle geöffnet hatte; die Wunde klaffte weit auseinander.
»Aber die Verluste wären schrecklich gewesen«, erwiderte Ingrimmsch und betrat das Haus.
Tungdil stand mit Barskalin vor dem Lohasbrander, den sie auf die Knie gezwungen und an einen Stützbalken gefesselt hatten. Er trug eine schwere Lamellenrüstung, hellblonde Haare standen nach allen Seiten von seinem Kopf ab. Er war feist und kräftig zugleich, der hellblonde Bart im breiten Gesicht hatte sich durch das Blut, das aus einer Platzwunde auf der linken Wange floss, rötlich gefärbt.
»Das ist Wielgar!«, rief Coira. »Er ist einer der Lohasbrander, der vor Kurzem in Mifurdania war. Er hat den Unerreichbaren Rodario hinrichten lassen.« »Schau an, die kleine Maga«, ächzte er unter Schmerzen. »Dieser Versuch eines Aufstandes wird Euch teuer zu stehen kommen. Der Drache legt Euer Reich in Schutt und Asche!«
»Wir haben andere Dinge mit ihm vor. Er wird keine Zeit haben, solche Torheiten zu begehen.« Tungdil baute sich vor dem Mann auf. »Wo finden wir die magische Quelle und den Hort des Drachen?« Wielgar setzte zu einem Lachen an. »Bevor du das tust, überlege es dir. Ich bin ein Meister im Zufügen von Leid.« Er ließ sich ein Fußbänkchen bringen, löste eine Fessel und befreite den rechten Arm des Mannes. Er zwang die Hand ausgestreckt auf das Holz. »Wir fangen bei deinen Fingern an, Glied für Glied. Ich klopfe jedes samt Knochen zu Mus.« Mit den Fesseln band er ihm den Oberarm ab, damit der Blutverlust nicht zu gravierend war. »Danach schneide ich mich hinauf, und du kannst deinen Arm in Scheibchen vor dir liegen sehen, ehe ich sie dir einzeln in den Mund stopfe, damit du bei Kräften bleibst. Dann gehen wir über zu deinem zweiten Arm.«
Wielgar wirkte verunsichert. »Ich bin ein Verehrer des Drachen und einer seiner höchsten Männer...«
»Das ist mir gleich.« Blutdürster zuckte mit der flachen Seite nieder, und die Kuppe des kleinen Fingers wandelte sich in ein flaches, matschiges Ding; der Nagel fiel auf die Holzbretter, Blut floss.
Wielgar schrie. »Ihr werdet alle sterben!«, versprach er brüllend. »Gebt lieber gleich auf.«
»Du kennst meine Fragen. Höre ich Antworten?«
»Es gibt keine magische Quelle«, stöhnte er, und als sich das Schwert wieder hob, kreischte er: »Es gibt keine Quelle, glaub mir! Wir kennen die Gerüchte, aber wir haben niemals eine entdeckt.« »Wie solltet ihr auch? Ihr seid keine Magi«, bemerkte Coira.
»Der Drache hat es uns gesagt«, entgegnete er und schielte dabei auf Blutdürster, der über seiner Hand schwebte. »Ich schwöre bei Samusin, dass es im Roten Gebirge nichts gibt, das Magie in sich trägt. Außer der Maga.«
Coira sah zu Mallenia und bat sie schweigend mit Blicken, der Gruppe nichts von ihrem Zustand zu berichten. »Auch nicht weiter schlimm«, sagte sie gespielt gleichmütig. »Mit meinen Kräften könnte ich zehn Drachen besiegen. Dennoch werde ich einen Zauber wirken, um zu sehen, ob er die Wahrheit spricht: Lügt er bei der nächsten Frage, wird sein Kopf platzen.« Sie bewegte die Finger, schloss die Augen und berührte die Stirn mit dem linken Zeigefinger. »Gibt es eine magische Quelle?« »Nein!«, rief Wielgar außer sich. »Nein, bei den...«
»Und der Hort?«, erinnerte Tungdil den Lohasbrander und nahm für einen weiteren Schlag Maß.
»Weit von hier, siebzig Meilen in Richtung Westen«, kam es unverzüglich. »Er hat alles dorthin schaffen lassen, was wir in seinem Namen von den Tributpflichtigen eingesammelt haben.«
Ingrimmsch konnte sich nicht länger zurückhalten. »Wie viele Schweineschnauzen stehen unter seinem Kommando?«
Wielgar zuckte mit den Achseln. »Tausende. Wir haben sie gezählt.«
»So, so. Tausende.« Tungdil schlug zu und zerquetschte den kleinen Finger vollständig. »Versuche es noch einmal. Oder soll die Maga einen weiteren Spruch sprechen, um deinen Kopf...«
»Nicht mehr als siebentausend«, schrie Wielgar. »Sie hausen in den Höhlen und werden von uns zusammengerufen, wie wir sie brauchen. Dazu kommen etwa eintausend, die in Weyurn mit unseren Statthaltern reisen.« Er starrte den Zwerg wütend an. »Sie werden schon bald hier sein und euch vernichten. Euer Angriff ist bemerkt worden.«
»Ist er sicherlich nicht«, widersprach Barskalin entrüstet. »Wir haben keine Überlebenden außer ihm gelassen, Tungdil. Es ist uns keiner entkommen.« »Aber ihr habt einen übersehen.« Wielgar grinste boshaft. »Ein zweiter Ausguck, über dem Höhleneingang im Felsen. Der Wächter wird bereits auf dem Weg sein.« »Wir sollten verschwinden«, sagte Coira beunruhigt.
»Ohne ein einziges Stück aus dem Hort gestohlen zu haben? Welchen Grund hätte Lohasbrand, uns zu folgen?« Sie sah zu Tungdil. »Wir brauchen etwas, damit der Drache uns jagt.«
»Wie wäre es mit ihm?«, schlug Rodario vor und zeigte auf Wielgar. »Wenn er doch so hoch in der Hierarchie steht, wird ihn Lohasbrand zurückhaben wollen.« Wielgar lachte ihn aus. »Noch einer von denen. Die sind aber auch überall! Aber er passt in diese Komödie, die sich um mich herum abspielt.«
»Der Drache hat genügend von seiner Sorte. Der Verlust würde ihn nicht dazu bringen, uns zu folgen.«
Ein lautes, fauchendes Dröhnen erklang in der Höhle; aufgeregte Rufe klangen von draußen, Schritte näherten sich der Baracke.
»Lohasbrand!« Mallenia sah in die Runde. »Er hat uns entdeckt!«
»Er kann nicht durch die Gänge gelangen. Wir sind sicher vor ihm.« Ingrimmsch sah zur Tür, durch die einer der Schwarzen Schwadron gerannt kam. »Aber er nicht vor uns!«
»Der Drache kommt, Herr«, meldete er Tungdil. »Wir haben seinen Schrei durch den zweiten Gang vernommen. Hargorin lässt fragen, wie deine Anweisungen lauten.« Wielgar lachte siegessicher. »Wenn ihr mich fragt, dann rennt um euer Leben. Vielleicht findet ihr draußen ein Loch, in dem ihr euch verkriechen könnt.«
Tungdil musterte den Lohasbrander lange, und dessen zuversichtliche Heiterkeit verschwand mehr und mehr. »Wir greifen an«, verkündete er. »Danach komme ich zurück und schlage dir den Kopf von Schultern.« Er rannte hinaus.
»Hussa! Es geht gegen einen Drachen!« Ingrimmsch hob den Krähenschnabel. »Der hat mir noch auf meiner Liste von Ungeheuern gefehlt.« Er folgte seinem Freund. Slin blickte seufzend auf seine Armbrust. »Schon wieder die falsche Waffe. Was kann ich schon gegen Drachenschuppen ausrichten?«
»Aufs Auge schießen?«, empfahl Rodario liebenswürdig. »Mich jedenfalls würde das sehr irritieren, wenn ich ein Drache wäre.« Er sah die Frauen an. »Das wird ein harter Kampf, doch wir haben ja eine überragende Maga dabei. Ich sichere Euch den Weg, aber Lohasbrand werdet Ihr für mich erlegen müssen.«
Coira versuchte sich erfolglos an einem Lächeln; Mallenia legteihr von hinten aufmunternd eine Hand auf die Schulter. Gemeinsam liefen sie hinter den Zwergen her, die gleich einer schwarzen Flut auf den zweiten Gang zuströmten und hineinrannten.
Erneut erklang die dröhnende Stimme des Drachen, und heißer, stinkender Dampf waberte durch den Gang. Auftakt zu gewiss Schlimmerem.
Ingrimmsch wich nicht von Tungdils Seite und gelangte durch den Gang in einer weitere Höhle.
Unvermittelt schoss eine Feuerlohe von oben auf sie zu!
Die Zhadär und die Schwarze Schwadron hoben ihre Schilde und ließen die Flammen davon abgeleiten.
Ingrimmsch spürte die Hitze, die über ihnen herrschte, aber der Schutz hatte sie vor schweren Verbrennungen bewahrt. Ist das nicht ein wenig harmlos für Drachenbrodem? Wir hätten zu Asche werden müssen! Es gibt nichts Heißeres. »Über uns«, rief er. »Er muss sich an der Decke festgeklammert haben, der Feigling!«
Doch so sehr er sich umsah, an der Decke saß kein Drache. Als er einen Blick auf den Schild warf, bemerkte er, dass sie kaum mit Ruß bedeckt waren. Die Esse der Fünften war durch Drachenatem entfacht worden. Lohasbrand schien dagegen wahrhaftig nicht über gefährliche Flammen zu verfügen.
Dafür grollte die Stimme des Geschuppten, sie kam aus dem hinteren Teil der Höhle. Jetzt sahen sie den dunkelgrünen Drachenkopf, der auf einem langen Hals saß. Der lang gezogene Schädel reckte sich hinter einem Felsbrocken hervor, und aus den Nasenlöchern am Ende der schmalen Schnauze stieg Rauch. Es sollte eine Drohung sein, die Höhle zu verlassen.
Ingrimmsch packte seine Waffe fester. »Wie ist er so rasch dorthin gelangt?« Hinter dem Stein kamen Männer zum Vorschein und nahmen Aufstellung. Ingrimmsch schätzte sie auf etwa achtzig Krieger, welche allesamt Lamellenrüstungen und smaragdgrüne Überwürfe trugen; auf den Köpfen saßen die bekannten Helme in der Form eines Drachen, in den Händen hielten sie Speere und Schilde.
»Der mächtige Drache Lohasbrand befiehlt euch: Verschwindet von hier«, rief einer aus ihren Reihen. »Oder er wird euch und all eure Verwandten töten, wie er es so oft getan hat.« »Genau aus diesem Grund sind wir hier«, sagte Coira und trat einen Schritt nach vorn. »Um dem ein Ende zu setzen. Zu lange haben wir ihn und euch erduldet.« Sie verließ sich auf den Beistand von Tungdil Goldhand und den Zwergen. Darfein Kämpferherz so rasch in der Brust schlagen? »Weyurn will seine Freiheit zurück!«
Einer der Lohasbrander senkte den Speer, zielte auf sie. »Der Drache lacht über euch und euren irrsinnigen Versuch, seine Macht zu brechen. Verschwindet, und er wird vergessen, was ihr vorhattet.«
Ingrimmsch kam das Verhalten des Mannes und vor allem des Drachen sehr verwunderlich vor. Es sollte einem solchen Scheusal ein Leichtes sein, sie allein durch seine Kraft und Größe in Bedrängnis zu bringen. Man sagt, dass er fünfzig Schritte lang und zehn breit ist. Ein Blick zu Tungdil genügte ihm, um zu erkennen, dass sein Freund das Gleiche dachte - oder hatte er bereits eine Vermutung, was vor sich ging? War ihm bei Wielgars Verhör etwas entgangen?
Er betrachtete den Steinklotz, hinter dem der Drachenkopf hervorstarrte. »Das Bröckchen ist niemals im Leben groß genug, um Lohasbrand dahinter Deckung zu geben«, murmelte er und winkte Slin zu sich. »Schieß dem Drachen ins Auge.« Der Vierte starrte Boindil an. »Weiß Tungdil das?«
»Nein. Das muss er auch nicht.«
»Ganz entzückend...«
Er gab ihm einen Stoß. »Los. Mach schon!«
Slin zögerte. »Du willst ihn zum Angriff herausfordern?«
»Tu es endlich!«, grollte Ingrimmsch ihn an. »Es wird nichts geschehen.« Er stellte sich so, dass der Schütze den Lauf verdeckt auf den Drachen richten konnte, ohne von den Lohasbrandern bemerkt zu werden.
Slin atmete ein, hielt die Luft an und zog den Stecher nach hinten. Es klackte, der Bolzen sirrte durch die Luft und traf das Wesen in die rechte, geschlitzte Pupille. »Du hast ihn verfehlt?«, kam es anklagend aus Ingrimmschs Mund.
»Nein, habe ich nicht!« Slin war beleidigt. »Ein solches Ziel würde ich nicht einmal nach einem Krug Branntwein und einem Fass Schwarzbier verfehlen!« Zum Beweis lud er nach, die Fernwaffe ruckte in die Höhe, und ein zweites Mal zischte ein Ge schoss gegen den Drachen; es bohrte sich dicht neben dem ersten Bolzen ins Auge. »Es wird immer entzückender: Er empfindet keine Schmerzen!« Ihr Tun war unbemerkt geblieben.
Ingrimmsch hatte plötzlich zusammen mit seiner ersten Erkenntnis eine eigene Erklärung für die Absonderlichkeit. Aufgeregt sah er zu Slin. »Es kann nicht sein, dass wir ihn mit Bolzen spicken und er nichts merkt.«
»Das ist wahr.« Der Vierte schauderte. »Ein unsterblicher Drache? Bei Vraccas...« »Nein.« Ingrimmsch lachte laut. »Das ist es! Deswegen kommt er nicht hervor.« »Was?«, rief Slin. »Warum nicht?« Er bekam keine Antwort.
Ingrimmsch ging zu Tungdil und raunte ihm seine Erkenntnisse ins Ohr. Der Gelehrte lächelte ihn an und schlug ihm fest auf die Schulter. »Wenn du so weitermachst, bedarf das Geborgene Land meines Verstandes bald nicht länger. Gut gedacht, Ingrimmsch! Ich ahnte, dass etwas nicht stimmt. Diese Erklärung ergibt Sinn. Du hast dem Drachen seine Wirkung genommen.« Er hob Blutdürster und sah nach rechts und links die Reihen entlang. Alle Zwerge warteten auf seinen Befehl. »Maga Coira, Ihr werdet Euch zusammen mit Rodario und Mallenia hinter unseren Linien aufhalten. Sollte der Drache angreifen, werdet Ihr handeln«, befahl er ihr. »Wir übernehmen den Rest.« Dann senkte er das Schwert und stürmte los.
Die Zhadär und die Schwarze Schwadron preschten ihm hinterher, dabei stießen sie laute Rufe aus und schwangen ihre Waffen.
Auch wenn es wie ein wilder, wüster Haufen aussah, besaßen die Krieger eine genaue Formation. Hargorins Männer bildeten die erste Welle, um Lücken in die Reihe der Feinde zu schlagen, und in diese Breschen würden die Zhadär einsickern, um die Gerüsteten wie Schatten hinterrücks anzufallen und sie zu verunsichern. Ingrimmsch warf sich mit Hingabe und Leidenschaft gegen die Lohasbrander. »Heda! Weg mit den Schilden!«, rief er begeistert und zertrümmerte den ersten mit der flachen Seite des Krähenschnabels. Er duckte sich unter der herabstoßenden Speerspitze weg, machte einen Schritt nach links und hackte den Metalldorndurch den linken Rippenbogen; aufschreiend ging sein Feind zu Boden. Ingrimmsch sprang in die Lücke und schob den Zhadär, der ihm folgen wollte, zurück. »Weg da! Hier stehe ich«, fuhr er ihn an und zog den Krähenschnabel aus der Leiche, um ihn sofort in einen nächsten Gegner zu treiben, der unachtsam genug gewesen war, seine Deckung zu vernachlässigen.
Der Eisenhaken riss ihm die Lamellenpanzerung auf und zerschlitzte das Fleisch darunter. Ächzend sank der Lohasbrander in sich zusammen.
»Noch einer weniger!«, jubelte der Zwerg und trat einem dritten Feind gegen den Schild, dass er nach hinten umfiel. Sofort sprang Ingrimmsch auf den Schild und drückte ihn gegen den Mann. »Jetzt wird es für immer dunkel, Drachenfreund«, grollte er düster und schlug ihm die flache Seite des Krähenschnabels mit Wucht ins Gesicht. Der Drache tobte fürchterlich hinter dem Stein - wo er dennoch verharrte. Ingrimmsch hatte sich durch die Reihen der Männer gewühlt und eine Schneise hinter sich gelassen, durch die etliche Zhadär stießen. Gemeinsam mit ihnen und Tungdil hetzte er um den Felsen, um sich mit einem lauten »Vraccas«-Ruf gegen Lohasbrand zu werfen.
Sie blieben stehen und ließen vor Überraschung sogar die Waffen sinken. Vor ihnen standen zwei Dutzend Männer und Frauen, die lange Stangen in den Händen hielten, auf denen der Kopf des Drachen und Teile des Halses aufgespießt waren. Sie hoben und senkten die Latten, um den Schädel zu bewegen, andere ließen die Schnauze auf und zu klappen; unmittelbar neben ihnen waren fünf weitere damit beschäftigt, mit großen Kisten, paukenähnlichen Konstrukten und Eisenbändern die Stimme des Drachen erklingen zu lassen. Eine Art Trichter verstärkte den Schall und ließ ihn satter, voller ertönen.
»Puppenspieler! Seht euch das an: Wie ich es vermutet habe!« Ingrimmsch grinste. »Zwerge lassen sich nicht von euch übers Ohr hauen, ihr Memmen!« Lachend sprang er mitten unter sie und ließ den Krähenschnabel kreisen; die Zhadär und Tungdil folgten ihm.
Die Holzlatten, die ihnen zur Abwehr entgegengehalten wurden, fielen, von wuchtigen Schlägen zertrümmert, auf den Stein, und der Kampfwahn packte Ingrimmsch und zog ihm die rote Maske über.
Laut juchzend drosch er auf die Leiber vor sich ein, spürte das Blut, hörte die Schreie der Sterbenden und Verwundeten - bis ihn die laute Stimme seines Freundes erreichte. Mühsam stemmte er sich gegen das heiße Fieber, gegen die Glut in den Adern und drängte die Mordgier zurück. Er rieb sich über die Augen und betrachtete die Folgen des Gemetzels.
Die Menschen lagen tot am Boden.
Ihr Widerstand war sehr gering und für Ingrimmsch enttäuschend gewesen. Er trat laut atmend gegen den getrockneten, ausgestopften Drachenkopf. Schweiß lief ihm den Rücken hinab. »Ha! Tot!« Schlecht gelaunt säuberte er seine Waffe. »So eine Sauerei! Ich werde mir doch keinen Geschuppten auf meine Liste schreiben dürfen.« Hargorin kam mit einem Trupp seiner Leute um den Stein, um ihnen gegen den vermeintlichen Drachen beizustehen. Er ließ sie anhalten und betrachtete die Überreste der Feinde und des Ungeheuers. »Wielgar wird uns einiges erklären müssen«, lautete seine einzige Bemerkung dazu. Auch Coira, Mallenia und Rodario erreichten den Schauplatz und starrten fassungslos auf das Blutbad und den Drachenkadaver. »Dazu brauche ich Wielgar nicht.« Boindil sah zu Tungdil. »Der Drache ist irgendwann gestorben, und die Lohasbrander haben seinen Tod vertuscht. Damit die Weyurner ihnen weiterhin gehorchen. Und die Schweineschnauzen, nehme ich an.« Der Einäugige nickte.
Die Maga ballte die Fäuste. »Zu Tion mit diesen Bastarden! Sie haben den Tod wahrlich dreifach verdient. Wie lange haben sie uns wohl schon zum Narren gehalten?« Sie wollte es beinahe nicht wissen, um sich keine Vorwürfe machen zu müssen. Ohne die Furcht vor den Vergeltungsschlägen des Drachen hätten sie die Besatzer schon lange aus dem ehemaligen Inselreich werfen können, während sich ihre Mutter gewiss viel früher von den Fesseln befreit hätte. Dann wäre sie heute noch am Leben und nicht gegen die Albae gefallen...
Niemals gekannter Hass flammte in ihr auf, und sie wollte den Letzten der Bande spüren lassen, welche Gefühle in ihr herrschten. Coira flog auf den Absätzen herum und eilte zurück zur Baracke, um sich Wielgar vorzunehmen.
»Ihr nach.« Tungdil rannte hinterher und überließ es Hargorin und Barskalin, die verwundeten Feinde zu töten sowie die Höhle zu sichern.
Sie erreichten die Hütte rechtzeitig genug, um mit anzusehen, wie die Maga dem schreienden, zappelnden Wielgar die Ohren abschnitt und sie ihm vor die Knie warf. Sie holte zum Stoß gegen sein Herz aus, als ihr Tungdil in den Arm fiel und sie spielend leicht zurückschob.
»Nein, Königin. Erst muss er uns noch Fragen beantworten, danach überlasse ich ihn Euch und Eurer Rache«, sagte er beruhigend. Rodario und Mallenia hielten sie, während Coira noch immer das Messer in der Hand führte und sich auf den Gefangenen werfen wollte.
Tungdil stand vor Wielgar, dem das Blut rechts und links in Strömen über die Schultern lief. »Wir haben deine Freunde besiegt, Lohasbrander. Seit wann treibt ihr euer Spiel mit den Bewohnern Weyurns?«
»Alles verloren. Alles aus.« Der Mann schluchzte und ließ sich in die Fesseln hängen. Ingrimmsch schüttete ihm Wasser über. »Rede, Langer. Sonst suche ich mir Salz und reibe es in deine Wunden.«
»Seit vierzig Zyklen«, wimmerte er.
»Vierzig?«, schrie Coira außer sich. »Ihr habt die Menschen unnötige vierzig Zyklen lang in Angst leben lassen, damit ihr wie die Götter leben konntet?« Wieder warf sie sich nach vorn. Ohne Mallenia und Rodario hätte sie den Mann niedergestochen. »Ich verfluche dich, Wielgar! Dich und deine Bande!«
Der Lohasbrander schluchzte. »Wir fanden den Drachen eines Morgens tot in einer Schlucht und wussten, dass unsere Herrschaft vorbei wäre, wenn es bekannt würde. Also haben wir ihn geborgen und ausgestopft, damit wir die Orks täuschen konnten und sie uns gefügig blieben.«
»Wie ich es gesagt habe«, meinte Ingrimmsch zufrieden und kreuzte die Arme vor der breiten Brust.
»Du bist ganz ein Schlauer«, erwiderte Slin.
»Einmal zumindest«, fügte Balyndar an.
Tungdil gab Wielgar einen Tritt. »Wie viele Orks habt ihr?«
»Die, welche ihr getötet habt, und eintausend in Weyurn. Mehrsind es nicht mehr«, heulte der Mann. »Die Zwerge haben den Durchgang nach Westen versperrt und lassen keinen weiteren Ork mehr hinein.«
Ingrimmsch richtete sich stolz auf. »Das wird Balyndis freuen. Ihr Stamm leistet ganze Arbeit. Vraccas hat sie mit stählernem Willen gesegnet.« An den Menschen gerichtet, fragte er: »Wo sind eure Schätze abgeblieben?«
Wielgar schniefte, Rotz und Speichel rannen ihm übers Gesicht. »Wir haben schon längst alles ausgegeben. Es ist nichts mehr übrig. Deswegen haben wir die Abgabenlast erhöht, um wieder zu Reichtum zu gelangen.«
Coira spie ihn an. »Ihr seid schlimmer als Orks, als der niedrigste Abschaum!«, zischte sie. »Das eigene Volk zu knechten und zu täuschen, wegen Habgier!«
Wielgar senkte den Kopf und jammerte leise vor sich hin.
Tungdil kam auf die Maga zu. »Königin, Euer Reich hat seine Freiheit schneller erlangt, als wir es vermuten konnten. Die Meldereiter der Schwadron werden die Botschaft im Land verkünden, und wir geben ihnen Stücke des Drachenkopfes als Beweis mit.« Er sah sie streng an. »Ihr werdet mich dennoch in den Süden gegen Lot-Ionan begleiten.« »Ich...« Sie wollte etwas erwidern.
»Jetzt ist Eure Hilfe dringender notwendig als jemals zuvor. Da Lohasbrand nicht länger als Gegner für Lot-Ionan existiert, sind Eure Künste erforderlich und für das Geborgene Land überlebensnotwendig.« Das Braun seines Auges schien sich zu verdunkeln. »Gelingt es uns nicht, den Magus niederzuringen, wird das Unheil aus der Schwarzen Schlucht strömen. Nicht einmal die Eoil und die Avatare waren derart schlimm und mächtig wie das, was über uns herfallen wird.«
Coira schluckte und sah zu Mallenia. »Ja. Sicher werde ich Euch folgen, Großkönig«, entgegnete sie schwach. »Ohne Euch und Eure Tatkraft wäre es mir niemals in den Sinn gekommen, ins Rote Gebirge zu gehen und meine Untertanen zu befreien. Ich stehe in Eurer Schuld. Mein Land steht in Eurer Schuld.«
Er nickte ihr zu und lächelte. Wie der alte Tungdil, fand Ingrimmsch. »Ich danke Euch. Wir rasten einen Umlauf lang, und danach brechen wir sofort ins Blaue Gebirge auf. Den Ersten lassen wir Botschaften hier. Früher oder später werden sie sie finden. Wir haben nicht die Muße, eine Expedition in den Westen zusenden, um sie zu suchen.« Er verließ die Baracke, um Hargorin und Barskalin zu unterrichten.
Mallenia und Rodario ließen die Maga los.
»Geht bitte hinaus«, sagte Coira heiser und hob den Arm mit dem Messer. »Ich möchte mit dem Abschaum allein sein.« Tränen der Wut standen in ihren Augen. Sie verließen den Raum, und als Ingrimmsch die Tür zuzog, erschallte Wielgars erster Schrei.
»Das hätte ich ihr nicht zugetraut«, befand Rodario. »Sie machte immer einen so zarten Eindruck. Einen freundlichen Eindruck.«
»Bedenkt, was ihr durch die Lohasbrander angetan wurde.« Mallenia konnte sich sehr gut in die Königin hineinversetzen. Sie wünschte sich, jeden Alb einzeln in die Finger zu bekommen und ihn den Schrecken spüren zu lassen, den er zyklenlang verbreitet hatte.
Wielgar schrie wieder, laut und schrill. Voller Todesfurcht.
»Werdet Ihr gegen die Vasallen der Schwarzaugen ähnlich vorgehen wie Coira?« Der Schauspieler sah sie gespannt an.
»Es wird Gerichtsprozesse geben. Wir werden sie fangen, über sie urteilen und richten, je nach Schwere der Verbrechen, die sie begangen haben.« Die Ido sah zu Hargorin. »Er ist das beste Beispiel dafür, wie sehr man sich täuschen kann.«
»Ich könnte ihn in meine Schaustellergilde aufnehmen.« Rodario nickte. »Er hatte die Albae lange getäuscht, um für den Umlauf gewappnet zu sein, an dem er sich gegen sie erhob. Die Feindschaft der Wesen hätte ihm und den Dritten nichts gebracht.« Sie gingen in das angrenzende Gebäude, wo sie die Unterkünfte der Orks vorfanden. Es war erstaunlich sauber, es roch nicht einmal streng.
»Was werdet Ihr also mit den Dritten machen, die im Dienst der Albae ganze Landstriche verwalteten?« Rodario und sie setzten sich auf eine Bank nahe dem Fenster, aus dem sie die Höhle und das Geschehen darin sahen.
»Es wird schwierig, den Menschen in Urgon, Idoslän und Gauragar zu erklären, dass die Dritten nur eine Rolle eingenommen haben. Ich werde mit dem Großkönig besprechen, wie wir vorgehen. Wenn sich die Dritten ins Gebirge zurückziehen, wird niemand die Waffen gegen sie erheben.« Mallenia überlegte, wie viel Wahrheit sie Rodario zumuten durfte, was den Zustand von Coiras Magiekräften anging.
Sie sah in seine braunen Augen, und ihr Herz schlug schneller. Selbst jetzt, wo er das Hilflose abgestreift hatte, konnte sie nicht von ihm lassen. Wo wird das enden? »Die Reise wird uns in den kommenden Umläufen quer durch Rän Ribastur und Sangrein führen«, sagte sie, um sich selbst abzulenken. Außerdem wollte sie seine Einschätzung hören. »Was wisst Ihr von den Königinnenreichen?«
Er erwiderte ihren Blick, forschte in ihren Augen, bis sie ihm auswich. »Nun, Rän Ribastur ist voller Bäume und Sangrein voller Sand«, meinte er, belustigt wegen ihrer Reaktion.
»So meinte ich es nicht.« Mallenia ärgerte sich über ihr Erröten, das sich als ein heißes Gefühl in ihrem Kopf bemerkbar machte. Das nächste Mal würde sie es ihm beweisen, dass sie sich von ihm nicht verunsichern ließ. »Es ist das Gebiet von Lot-Ionan.« »Aha! Ihr wolltet wissen, was uns dort erwartet?« Er lehnte sich zurück und fand sie mit ihrem knallroten Gesicht äußerst liebenswürdig. Sie besaß offensichtlich nicht viel Erfahrung mit Männern und in Liebesdingen. »Den Gerüchten nach hat er Land an seine Famuli verteilt, die dort ihren Zauberforschungen nachgehen und der Bevölkerung arg zusetzen. Seine magische Quelle hütet er argwöhnisch und gewährt ihnen lediglich einzeln und zu gewissen Zeiten Zugang, um sie stets überwachen zu können. Er soll dem Verfolgungswahn anheimgefallen sein. Unter anderem. Glaubt man den Erzählungen, nennt er sechs oder sieben verschiedene Wahne sein Eigen. Er sammelt sie wohl.«
»Sagen uns die Gerüchte auch, wie viele Famuli der Magus besitzt? Ich frage das wegen Königin Coira. Sie müsste sie außer Gefecht setzen.« Mallenia pochte gegen den rechten Schwertgriff. »Damit gelangt man nicht immer bis zu einem Magischen.« »Das sehe ich ebenso wie Ihr.« Er verzog das Gesicht. »Das Volk kennt da ganz verschiedene Angaben. Manche sagen, er habe nur zwei, die sich untereinander hassen. Andere behaupten, er besitze zehn, und einer sei besser als der andere.« Seine Miene nahm einen verschwörerischen Ausdruck an. »Doch auch sie bekriegen sich angeblich untereinander, jeder möchte die Gunst des Magus für sich allein haben und ihn eines Umlaufs beerben. Wer die Quelle sichert, hat die Macht über alle anderen. Sie haben sich magische Kreaturen geschaffen und sich gegenseitig auf den Hals gehetzt. Ich rechne vor allem in Rän Ribastur damit, unentwegt von Gestalten angegriffen zu werden, die ihren Ursprung unheilvoller Magie verdanken. Aber wir haben ja die Maga dabei.« Mallenia stieß einen Fluch aus. Sie dachte daran, wie wenig Energie Coira in sich barg. Das bisschen musste sie aufheben, um sich gegen den Magus zu stellen. So sehr sie auch nachdachte: Die Zeit würde nicht reichen, mit der Königin ins Reich der Albae zu reisen und sie dort in der Quelle baden zu lassen. Tungdil Goldhand musste die Wahrheit erfahren, sonst war die Gruppe trotz der Zhadär schneller ausgelöscht als alles andere.
Rodario hatte das Kinn auf die Fäuste gestützt und versuchte, im abwesenden Gesicht der Ido zu lesen, womit sie sich beschäftigte. »Ich habe vom schrecklichsten Biest überhaupt gehört. Wollt Ihr seinen Namen wissen?«
Mallenia hörte ihm gar nicht richtig zu, sondern hob zum Einverständnis die Hand. »Xolototh«, sagte er furchtbar düster. »Es jagt die Menschen, vor allem die schönen blonden Frauen, von Bäumen herab.«
»Was tut es mit ihnen? Fressen?«
»Oh, nein, bei Weitem nicht. Sondern das!« Er neigte sich blitzartig nach vorn und gab ihr einen schnellen Kuss.
Besser gesagt: Er hatte ihr einen schnellen Kuss geben wollen.
Doch als er seinen Kopf zurückzog, spürte er eine Hand in seinem Nacken, die ihn unwiderstehlich wieder nach vorne zog. Seine Lippen pressten sich erneut gegen Mallenias, die ihn anlächelte und dann die Augen schloss, um sich dem Kuss hinzugeben. Angriff war doch die beste und in diesem Fall süßeste Verteidigung.