Das Geborgene Land, Protektorat Gauragar, 11 Meilen östlich des Eingangs zum Grauen Gebirge, 6491./6492. Sonnenzyklus, Winter.
Ingrimmsch sah immer wieder zu den Hügelketten, die sich nördlich von ihnen erhoben. Sie waren Ausläufer des Grauen Gebirges, das sich als Band vor dem Horizont abhob und den Reisenden Sicherheit versprach.
»Ich wäre froh, wenn wir schon dort wären«, brummte er in seinen grau melierten Bart. Tungdil ritt neben ihm, nach wie vor bevorzugte er den Befün. Damit überragte er alle anderen in der Gruppe, die außer ihnen aus Balyndar und der Gesandtschaft der Fünften bestand. Frandibar hatte ihnen seine fünf besten Krieger überlassen, einer von ihnen war Armbrustschütze. »Es gab noch keinen Augenblick, in dem es aussah, als gerieten wir in Gefahr.«
»Das macht mich stutzig«, sagte Balyndar von vorn und spähte über die Schneefläche. »Auf dem Hinweg sind wir einer Patrouille von Herzog Amtrin knapp entgangen. Er steht in den Diensten der Albae.«
»Entgangen! Hört euch das an«, schnaubte Ingrimmsch. »Ich glaube es nicht! Früher hätten wir Jagd auf sie gemacht, anstatt zu flüchten oder zu uns verstecken.« Balyndar verstand die Worte gegen sich und die Fünften gerichtet. »Ich nehme dir nicht übel, was du sagtest, Zweiklinge. Denn du weißt nicht, dass die Patrouillen immer von zwei Albae begleitet werden, und gegen deren Langbogen können wir nichts ausrichten.«
»Das weiß ich selbst«, knurrte er. »Mein Bruder wäre beinahe durch die schwarzen Pfeile gestorben.«
Tungdil richtete sich im Sattel des Befüns auf. »Wir bekommen Gelegenheit, das Gegenteil zu beweisen«, sagte er halblaut und deutete mit Blutdürster nach Südosten. »Sie folgen uns schon eine Weile. Wenn ich es richtig sehe, sind es zwanzig Reiter. Dabei hätten sie uns mit ihren Pferden schon lange einholen können.«
»Sie warten ab, was wir tun. Wohin wir reiten.« Balyndar ließ sein Pony zurückfallen, genau zwischen Tungdil und Ingrimmsch. »Das ist mehr als ungewöhnlich. Die anderen haben uns stets gehetzt.«
»Sie werden Angst haben«, lachte Boindil dröhnend. »Kaum begegnen sie mehr als vierzig Zwergen, geraten sie trotz des Frosts ins Schwitzen.«
»Ich denke«, nahm Tungdil den Faden auf, »dass sie keine Albae dabeihaben. Ich sehe weder einen Feuerstier och einen Nachtmahr. Gerade auf dem Schnee müsste man diese Tiere sehr gut erkennen.«
»Oder es bedeutet, dass sie uns umgehen und von vorn angreifen. Aus einem Hinterhalt heraus«, warf Balyndar alarmiert ein. Sofort gab er den Fünften Befehl, die Schilde von den Rücken zu nehmen und sich bereitzuhalten.
Ingrimmsch schätzte die Entfernung zur feindlichen Truppe auf mindestens zwei Meilen, wenn nicht sogar mehr. Für ihn war es ein Wunder, dass Tungdil überhaupt erkennen konnte, dass es sich um Reiter handelte. Hat der Verlust des einen Auges das andere im Ausgleich geschärft, oder wie sonst lässt es sich erklären?
Der Befün gab ein warnendes Schnauben von sich und wandte den Kopf nach rechts, wo mehrere umherliegende grauschwarze Felsbrocken bis zu sieben Schritt hoch aus dem Schnee herausragten.
»Sucht Deckung!«, befahl Tungdil und ließ sich aus dem Sattel fallen. Ingrimmsch zögerte nicht, dem Beispiel seines Freundes zu folgen, und sogar Balyndar gehorchte. Der langschaftige schwarze Pfeil, der dem Anführer galt, sirrte durch die Luft, strich dicht am rechten Ohr vorbei und bohrte sich in den Schnee; nicht einmal mehr die Federn schauten aus dem Weiß.
Gleich danach ertönte ein erstickter Schrei, und eine Zwergin stürzte rücklings vom Pony. Ingrimmsch sah, dass ihr ein Geschoss durch den Schildrand sowie durch den Helm in die rechte Schläfe gefahren war.
Jetzt hatten alle Zwerge verstanden, dass die Bogenschützen sich hinter den Felsen seitlich von ihnen befinden mussten. Schnell sprangen sie auf den Boden und nutzten die Ponyleiber als Deckung gegen die tödlichen Pfeile. Dennoch kam keine Kopflosigkeit auf, und keiner schrie herum, wie es vielleicht bei Menschen der Fall gewesen wäre.
Es zischte, drei weitere Zwerge ließen ihr Leben. Die Treffer ins Herz und in den Schädel erlaubten keinerlei Hoffnung auf ein Überleben der Unglücklichen. »Verdammte Schwarzaugen!«, tobte Ingrimmsch und robbte durch den Schnee zu Tungdil. »Ich werde ihnen die Bogen in den Hintern schieben und die Pfeile einzeln hinterher! Quer!«
»Sie sitzen auf dem zweitvordersten«, sagte sein Freund ruhig, der zwischen den Beinen des Befüns hindurchspähte. »Siehst du sie? Sie tragen Überwürfe, die sie vor dem Schnee beinahe unsichtbar machen.«
Ingrimmsch musste sich sehr anstrengen, um die Gestalten zu erkennen. Sie hatten sich gerade so weit aus ihrer Deckung erhoben, dass sie die Pfeile über den Rand des Steinbrockens schießen und gleich darauf abtauchen konnten. Wieder wunderte er sich über Tungdils gutes Auge. »Das sind mindestens vierzig Schritt, bis wir bei den Felsen angekommen sind«, schätzte er. »Zeit genug, um uns mit geschätzten vierzig Pfeilen zu verzieren.« Er sah zu Balyndar. »Vorschläge?«
Wiehernd brach ein Pony zusammen, ein Pfeil war durch das Auge gedrungen und hatte ihm den Tod gebracht. Die Albae veränderten ihre Vorgehensweise und gingen dazu über, den Zwergen die Deckung zu nehmen. Ein Pferdchen nach dem anderen wurde niedergestreckt, wild um sich schlagend fielen sie und verletzten mit ihren beschlagenen Hufen manchen ihrer Reiter.
Ingrimmsch langte in den Schnee und presste ihn zu Eis. »Drei Schilde übereinander und Sturmangriff gegen die Schwarzaugen, Gelehrter? Damit könnten wir es bis nach vorne schaffen.«
»Die Patrouille hat sich in Galopp fallen lassen«, rief ihnen jemand aus der Gruppe zu. »Sie greifen an!«
»Jetzt wird es eng«, grollte Ingrimmsch.
Da erschallte ein lauter Schrei vom Felsbrocken her.
Ingrimmsch drehte den Kopf schnell genug nach vorn, um einen der Albae hinter seiner Deckung wanken zu sehen. Er taumelte nach vorn und stürzte kopfüber von seiner Plattform, Pfeile und Bogen folgten ihm.
»Was war das? Ist seine Sehne gerissen und hat ihn erschlagen?« Ingrimmsch bemerkte, dass sich der Schnee am Felsen rot gefärbt hatte. »Hast du die Armbrust nicht gehört?«, erwiderte Tungdil zufrieden.
Da klackte es laut, und der zweite Alb brach zusammen.
»Hussa! Es scheint, dass Frandibar uns wirklich einen sehr guten Schützen mitgegeben hat.« Boindil lachte und sprang auf, hob seinen Krähenschnabel und befahl den Zwerginnen und Zwergen, einen Schildwall gegen die heranbrausenden Reiter zu bilden. »Jetzt ist mir gleich wohler.« Er hielt im Getümmel nach dem Vierten Ausschau, der sie vor weiteren Verlusten bewahrt hatte.
Der Schütze lag eng an einen Ponyleichnam gepresst und lud in aller Seelenruhe nach, während sich die Patrouille rasch näherte. Das Trommeln der Hufe schwoll an, und die Zwergentruppe bereitete sich auf den Aufprall vor.
Der Armbrustschütze war fertig und legte die Winde, mit der er nachgeladen hatte, auf den Sattel des toten Tieres, drehte sich auf den Bauch und visierte den Anführer der anstürmenden Reiterei an. Auf diese Entfernung waren dessen Abzeichen leicht zu erkennen.
Wieder sirrte ein Bolzen davon, und der Mann sackte in die Brust getroffen nach hinten, ehe er aus den Steigbügeln rutschte und fiel; die nachfolgenden Reiter konnten nicht mehr ausweichen, und der Anführer verschwand unter den Hufen und einer glitzernden Wolke aus aufgewirbeltem Schnee.
»Angriff!«, schrie Ingrimmsch voller Vorfreude und stürmte los, den Krähenschnabel über den Kopf wirbelnd. Die Wut, die sich gegen die Albae hatte richten wollen, suchte sich ein anderes Ventil.
Die Truppe folgte ihm und rannte den Feinden ohne Rücksicht auf sich selbst entgegen. Die Reiterei fächerte auseinander, man hörte wildes Rufen, und der Angriff der Patrouille zerfaserte; drei der Soldaten hatten den Befehl zum Anhalten wegen des Gebrülls der Zwerge nicht verstanden und hielten unentwegt auf sie zu, während der Rest zurückfiel und sich zum Rückzug wandte.
»Ha! Kommt und lasst euch mal vom Krähenschnabel picken!« Ingrimmsch duckte sich unter der Speerspitze weg und schlug dem ersten Reiter das stumpfe Ende gegen die Brust. Der Aufprall riss den Mann aus dem Sattel, der Brustharnisch hatte eine Delle und einen Riss erhalten, aus dem Blut quoll. Ingrimmsch nutzte den Schwung und die dadurch übertragene Kraft, um sich über die Schulter nach rechts in die andere Richtung zu drehen und dem nachfolgenden Reiter die lange Spitze der Waffe durch den Unterschenkel zu treiben.
»Hab ich dich!« Sofort stemmte er sich mit beiden Beinen in den Schnee und packte den Stiel fest. »Und hiergeblieben, Langer!«
Zuerst zog es den Zwerg ein paar Schritt weit über den Schnee, dann fanden seine Absätze Halt an einem Stein. Das Bein des Mannes wurde ruckartig nach hinten aus dem Gelenk gedreht, das Knacken war deutlich zu hören; dann zog ihn Ingrimmsch über den Pferdrücken in den Schnee, wo er bäuchlings aufschlug. Schreiend wand er sich am Boden.
Den dritten Reiter schlug Balyndar mit dem Morgenstern aus dem Sattel. Die dornengespickten Kugeln trafen dessen Oberkörper und Hals; röchelnd stürzte der Mann nieder.
Boindil stand über seinem Gefangenen und hielt den Krähenschnabel mit einer Hand, sein rechter Fuß drückte den Leib nach unten. »Wie lange seid ihr uns schon gefolgt? Was ist euer Auftrag?«, herrschte er ihn an. »Sagst du die Wahrheit, wirst du leben.« »Wir sind euren Spuren gefolgt«, ächzte der Mann, der Schmerz verzerrte seine Stimme und seine Züge. »Seit zwei Umläufen. Die Albae wollten euch in einen Hinterhalt locken, damit wir die Überlebenden befragen können, was ihr beabsichtigt. Wir sollten erst angreifen, wenn sie mit dem Beschuss angefangen hatten.«
Balyndar gesellte sich zu Ingrimmsch. »Habt ihr einen Meldereiter unterwegs abgesetzt, der die Nachricht von uns weiterverbreitete?« Er ließ die blutigen Kugeln des Morgensterns vor dem Gesicht des Soldaten hin und her pendeln.
»Nein«, stöhnte er. »Nein, wir sind die Einzigen, die von euch wissen.« Tungdil stapfte durch den Schnee zu ihnen, dabei hielt er sein Auge auf den Horizont gerichtet, auf den die Patrouille zugaloppierte. »Es spielt keine Rolle«, sagte er düster. »Sie werden zu ihrer nächsten Garnison zurückkehren und Bericht erstatten. Bis dahin müssen wir im Grauen Gebirge sein. Die Albae werden sich denken können, dass eine solche Anzahl unseres Volkes etwas Wichtiges zu bedeuten hat, das nicht gut für sie sein kann.«
»Ach, das waren noch Zeiten, als man durch die Tunnel flitzen konnte«, bedauerte Ingrimmsch. »Sie stehen größtenteils unter Wasser, das sagte ich bereits«, meinte Balyndar. »Wir vermuten, dass die weyurnschen Seen sich dorthin entleerten. Der Durchbruch ins Jenseitige Land kann dafür nicht alleine verantwortlich sein.«
Tungdil befahl den Zwergen das Aufsitzen und legte dem Soldaten Blutdürsters Spitze ins Genick. »Noch etwas, was wir wissen sollten?«
»Nein, nein!«, rief der Mann verängstigt. »Ich habe alles berichtet!«
»Dann bist du nicht mehr von Nutzen.« Sein Arm stieß nach vorne, die Schneide zerteilte Haut, Muskeln und Sehnen, knackend trennten sich die Wirbel voneinander. »Sehen wir uns die Schwarzaugen an«, sagte er gleichmütig zu Balyndar und Ingrimmsch.
»Ich hatte ihm das Leben versprochen, Gelehrter!«, platzte es aus Boindil heraus. »Sofern er die Wahrheit sagt. Das waren deine Worte«, fügte Tungdil unverzüglich hinzu und ging zu seinem Befün, stieg in den Sattel und lenkte ihn auf die Felsen zu, vor denen die Albae in unnatürlicher Haltung lagen. »Wie wolltest du herausfinden, ob er dich angelogen hat oder nicht?«
Balyndar sah dem schwarz gerüsteten Zwerg nach, dann auf den Leichnam vor ihm, aus dessen Nacken das Blut sprudelte. »Ich habe sicherlich kein Mitleid mit dem Langen«, meinte er nachdenklich. »Doch auch kein Verständnis für Goldhands Tat. Wir hätten ihn ebenso gut liegen lassen können. Der Winter hätte ihn gerichtet.« Er wandte sich ab und ging zu seinem Pony.
Ingrimmsch zog die Spitze des Krähenschnabels aus dem Bein des Soldaten, reinigte sie an dessen Mantel und marschierte zu den Steinbrocken. Der alte Tungdil hätte so etwas niemals getan. »Doch, hätte er«, hielt er murmelnd dagegen. »Wir hätten es tun müssen. Der Gelehrte hat richtig gehandelt. Es war nicht schön, aber richtig.« »Was sagtest du, General?« Der Zwerg mit der Armbrust, an dem er vorbeischritt, drehte sich zu ihm. »Ich habe dich nicht richtig verstanden.«
Ingrimmsch blieb stehen und betrachtete den Vierten. Er trug eine leichte Rüstung unter dem offenen Mantel, die mehr aus Leder denn aus Kettenringen bestand, was ihn durch das geringere Gewicht beweglicher machte; nur quer über die Brust lag ein brei ter Eisenstreifen, um Herz und Lungen zu schützen. Lange braune Haare fielen unter dem Helm hervor bis auf die Schultern, der gleichfarbige Bart war am Unterkiefer entlang geflochten; unmittelbar unter dem Kinn hatte der Zwerg die Strähnen mit Silberdrähten fächerförmig geordnet. Es gab ihm etwas Geckenhaftes.
An seiner Hüfte hing ein Köcher mit Bolzen sowie eine Halterung, die dazu gedacht war, den Lademechanismus der leichten Armbrust einzuklinken und zu spannen. Die dicke Sehne der schweren Fernwaffe, die er eben nachlud, musste allerdings mit einer Handwinde zurückgezogen werden. Dafür war die Durchschlagskraft maßlos, wie die Albae und der Anführer der Patrouille zu spüren bekommen hatten.
Boindil blickte auf den Lauf. »Eigentlich«, sagte er, »mochte ich Armbrüste und Bogen noch nie leiden. Sie nehmen einer Schlacht den Reiz. Aber heute bin ich Vraccas dankbar, dass er einen wie dich bei uns sein ließ.« Er reichte dem Zwerg die Hand. »Wie ist dein Name?«
»Goimslin Schnellhand aus dem Clan der Saphirfinder vom Stamme Goimdil des Vierten. Aber man nennt mich Slin«, stellte er sich vor und befestigte die Armbrust am Sattel seines Ponys, um einschlagen zu können. »Ich weiß, dass alle Kinder des Schmieds die Klinge höher schätzen als einen Bolzen. Doch wenn man mit der Klinge nicht gut ist so wie ich, dann bleibt einem nur dieser Weg.« Er zeigte auf die Felsformation. »Da du dir die Albae ansehen wirst: Ich sollte beide ins Herz getroffen haben. Falls nicht, schulde ich dir zwei Goldstücke.«
»So genau?«
Slin nickte. »Ich ziele immer auf das Herz. Bei den Frauen und bei meinen anderen Opfern.« Er zwinkerte, und Ingrimmsch musste lachen.
»Ich werde sehr genau hinsehen.« Er eilte los, um zu den anderen zu stoßen, die sich bereits bei den Steinbrocken eingefunden hatten.
Slins Augenmaß wurde überdeutlich. Beide Albae lagen mit durchbohrtem Herzen im Schnee. Die verstärkten Bolzen hatten die Panzerung durchschlagen, und Ingrimmsch ertappte sich bei der Überlegung, ob Tungdils Rüstung wohl auch etwas gegen Slins Kunst auszurichten vermochte.
»Sie haben die Nachtmahre auf der anderen Seite angebunden«, sagte Tungdil zur Begrüßung. Ingrimmsch tätschelte den Krähenschnabel. »Sie werden ihren Herren in den Tod folgen.« Er sah auf die Bogenschützen und befahl, sie zu durchsuchen. Balyndar und zwei Zwerge machten sich an die Arbeit.
Unter den weißgrauen Mänteln verbargen sich die Lamellenrüstungen der Albae, ihre Schwerter staken unbenutzt in der Scheide. Sie hatten keine Gelegenheit bekommen, sie gegen die Zwerge einsetzen zu dürfen. Für den Proviant interessierten sich die Zwergenkrieger nicht, dafür aber für einen Dolch, den einer der Feinde am Gürtel trug. Balyndar war er zuerst aufgefallen. »Bei Vraccas!«, rief er erbost und zog die Waffe aus der Hülle. »Das ist die Arbeit eines Zwergenschmieds!« Er drehte und wendete die Klinge, hielt sie in die Sonne, fuhr prüfend mit dem Daumen darüber. »Zweifellos: Dieser Dolch ist von einem Zwerg gefertigt worden.« Er bückte sich und begutachtete die Rüstung genauer. »Das kann ich fast nicht glauben!«, brach es aus ihm heraus. »Die Dritten haben sich enger mit den Schwarzaugen zusammengetan, als ich in meinen schlimmsten Befürchtungen vermutet hätte.«
Ingrimmsch sah zu Tungdil und dachte an die Begegnung mit dem Zwergenhasser im Jenseitigen Land. »Sie haben ihnen auch die Harnische angefertigt?«
Balyndar sah zu ihm auf. »Ich bin mir sehr sicher.«
»Damit haben die Dritten keine Gnade von uns zu erwarten, sobald wir die Albae besiegt haben«, grollte Boindil. »Dass sie die anderen Stämme derart verraten, ist unentschuldbar. Sie haben unsere Schmiedegeheimnisse preisgegeben!« »Und doch ist ein Dritter dein Großkönig.« Tungdil sah sehr gelassen aus. Er stieß den Alb vor sich mit dem rechten Stiefel an. »Was hat ihnen die Zwergenrüstung genutzt? Solange wir die besseren Bolzen haben, können ihnen die Dritten weiterhin die Panzer schmieden.«
Balyndar drehte und wendete den Dolch wieder, fuhr mit den Fingern darüber. »Hier stimmt etwas nicht.« Er schickte sich an, die Albae zu entkleiden.
Tungdil rief ihn zurück. »Was tust du?«
»Ich möchte die Rüstungen mitnehmen. Um sie näher erforschen zu können. Ich glaube...«
»Dafür ist keine Zeit.« Der Einäugige winkte den Tross heran. »Geh auf die andere Seite und hilf Ingrimmsch, die Nachtmahrezu erledigen. Danach reiten wir weiter. Die Patrouille wird bald in einer Garnison des Grafen angelangt sein und Bericht erstatten.« Balyndar wollte etwas erwidern, doch Tungdil hob die Hand. »Ich befehle es dir.« Auffordernd starrte er den Fünften an, der sich mit einem angedeuteten Kopfschütteln erhob, auf den Weg machte und dabei den Morgenstern zur Hand nahm.
Boindil war nicht entgangen, dass er den Dolch unbemerkt von seinem Freund eingesteckt hatte. »Dann gehe ich mal«, sagte er fröhlich und folgte Balyndar. Als er das Knirschen hinter sich vernahm, blickte er zurück: Tungdil versetzte den Albae zusätzliche Hiebe und durchbohrte die Oberkörper.
»Was tust du denn da, Gelehrter?«, rief er verwundert.
»Sichergehen, dass sie nicht überleben«, gab Tungdil zurück und wischte Blutdüster mit Schnee ab, danach stieg er auf den Befün. »Beeilt euch. Ich möchte bald im Grauen Gebirge sein.« Er ließ sein Reittier vorwärtspreschen und setzte sich an die Spitze des Zuges.
»Er hat die Rune zerstört«, sagte Balyndar in Ingrimmschs Rücken. »Du hast sie auch gesehen, Zweiklinge, nicht wahr?«
»Rune?« Er kam auf den Fünften zu, dessen Morgenstern voller dunklem Blut war. Die Nachtmahre lebten nicht mehr. »Ich verstehe nicht.«
»Du verstehst nicht?« Balyndar zeichnete mit dem herabrinnenden Rot ein Symbol in den Schnee. »Das meinte ich. Sieh auf die linke Brust deines Freundes, Zweiklinge, und du wirst es auch dort entdecken.« Er ließ Ingrimmsch stehen und ging zu seinem Pony.
Das Geborgene Land, das Zwergenreich der Fünften, Graues Gebirge, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.
Der Zugang ins Reich der Fünften hatte sich verändert. Vor dem eigentlichen Tor erhob sich ein steinerner Bau, der zwanzig Schritt in die Höhe ragte und an dessen Mauern unzählige Ausgussluken eingelassen waren; eine verhältnismäßig schmale Tür, gerade groß genug für einen Befün, bildete den Eingang. Ingrimmsch ahnte, was die Öffnungen bedeuteten. Wenn sich daraus heißes Pech und Schlacke ergießen, kann man ein Heer wegspülen.
Der Einlass öffnete sich für sie, und ein einsamer Bote und die Wachmannschaft des Tores erwarteten sie, um sie im Namen der Königin zu begrüßen und zu geleiten. Kein Jubel erklang, als sie einritten, keine Fanfaren dröhnten, die mit ihrem Schall die Ankunft im Grauen Gebirge verkündeten, keine festlich geschmückten Wände, keine Fahnen. Keine Zwerginnen und Zwerge, die sie willkommen hießen.
Ingrimmsch ärgerte sich still, doch gewaltig.
Er wusste, dass Balyndar einen Krieger vorausgesandt hatte, um ihr Kommen anzukündigen, und dennoch war der Empfang unterkühlt ausgefallen. Man konnte von Tungdils Erscheinung und seinem Benehmen halten, was man wollte, doch er führte den Titel des Großkönigs. Der Respekt vor diesem Amt hätte es erforderlich gemacht, dem Tross unter seiner Führung, der in Kürze Heldentaten vollbringen würde, mehr Ehrfurcht zu zeigen.
»Wir reiten in das Reich der Fünften ein wie mäßig erwünschte Händler«, sagte Slin, der sein Pony neben Boindils gelenkt hatte, laut. Er machte aus seiner Unzufriedenheit keinen Hehl und wollte wohl, dass sowohl Balyndar als auch der Bote es vernahmen. »Hat die Königin vergessen, wen sie empfängt?«
»Das hat sie nicht«, erwiderte ihr Sohn von vorne. »Im Gegensatz zu den Vierten haben unsere Zwerginnen und Zwerge eine schwere Aufgabe und kämpfen sowohl gegen den Kordrion als auch gegen das Fieber. Beides schwächt uns und sorgt dafür, dass wir Besseres zu tun haben, als uns artig in Reih und Glied aufzustellen und den Helden der vergangenen Zyklen«, er betonte es absichtlich leicht abfällig, »zuzujubeln. Essen und Trinken werdet ihr bald bekommen, und wenn euch nach Tanzen und Singen zumute sein sollte, lasst es mich wissen. Aber es wird schwierig sein, aus Trauernden fröhliche, ausgelassene Gastgeber zu machen.«
»Nicht so dünnhäutig, Balyndar.« Slin bleckte die Zähne. »Ich werde nicht weiter betonen, dass der Empfang unter der Würde eines Großkönigs ist, den du selbst erwählt hast.«
Ingrimmsch sandte ihm einen Blick zu, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Lass es gut sein«, bat er leise. »Wir brauchen keine Zwietracht. Bedenke, dass du mit ihm ins Gefecht ziehen wirst.« Slin grinste. »Aber ich werde immer hinter ihm stehen, Zweiklinge«, gab er zurück und legte die Rechte auf den Griff der schweren Armbrust. »Noch ein Vorrecht der Schützen.«
Sie ritten schweigend durch die Gänge, deren Verläufe sich verändert hatten. Ingrimmsch erkannte nichts mehr davon wieder, und ohne ihren Führer hätte er sich nicht zurechtgefunden.
Sie wurden in eine Halle geführt, wo sie ihre Ponys und den Befün zurückließen, danach ging es zu Fuß weiter.
Die Angehörigen der Fünften verließen den Tross nach einer kurzen Verabschiedung einer nach dem anderen, um zu ihren Clans zurückzukehren, bis die Vierten, Tungdil und Ingrimmsch allein mit Balyndar waren.
»Man könnte beinahe an einen Hinterhalt glauben«, raunte Slin vor sich hin, sodass es die Umstehenden vernahmen. Er hatte die Armbrust auf dem Rücken hängen, in seinem Gürtel steckte ein handliches Beil. »Wenn wir uns nicht bei Freunden befänden.«
Ein zweiter Bote gesellte sich unterwegs zu ihnen und raunte Balyndar etwas ins Ohr. »Meine Mutter freut sich darauf, die Tapferen kennenzulernen, die unter der Führung des Großkönigs Tungdil Goldhand aufbrechen werden«, verkündete er und deutete auf ein großes, schmuckloses Eisentor, vor dem zwei Krieger mit Hellebarden Wache hielten.
»War der Thronsaal nicht einmal an einer anderen Stelle?«, meinte Ingrimmsch erstaunt. »Es hat sich zwar einiges verändert, aber ich meine...«
»Du hast recht. Dahinter ist nicht der alte Thronsaal«, unterbrach ihn Balyndar. »Er liegt in den Bereichen des Grauen Gebirges, in dem immer wieder das Fieber ausbrach. Wir halten uns dort nicht mehr auf und werden auch für unseren hohen Besuch keine Ausnahme machen.« Er ging voraus. »Das ist unser neuer Thronsaal.« Er gab den Wächtern ein Zeichen, und sie öffneten die Flügel.
Kalter, silbriger Lichtschein fiel auf sie. Die gesamte Kammer war mit poliertem Stahl verkleidet worden. Jegliches Möbel, die Tische, die Stühle, glänzten kühl im Lampenlicht; sogar die Säulen, welche die hohe Decke stützten, schienen aus Stahl zu bestehen, dessen Oberfläche dermaßen glatt und ebenmäßig war, dass sich alles ohne eine Verzerrung darin spiegelte.
Verschnörkelte Ornamente waren eingeätzt und in verschiedenen Farben eingefärbt worden, um sie deutlich hervorzuheben. Auf diese Weise entstanden augenverwirrende Muster, die sich zu bewegen schienen, wenn man sie länger betrachtete.
An anderer Stelle hatten sich die Künstler darauf beschränkt, die Abbildungen von Zwergenherrschern in den Stahl zu treiben und sie mit Edelmetallen sowie Schmucksteinen zu verschönern. Man sah dem Raum an, dass hier eine Königin empfing, die einst dem Stamm der Ersten angehört hatte, eine begnadete Schmiedin und Metallverarbeiterin.
»Es scheint, der Berg selbst hat den Raum so geboren«, murmelte einer der Vierten. »Alles fügt sich fließend ineinander, es gibt keine Grate und keine Fugen.« Auf dem leicht erhöhten Thron vor ihnen saß Balyndis Eisenfinger. Sie trug das lange dunkelbraune Haar offen unter der Krone aus gleißend funkelndem Stahl, und ihre Schuppenrüstung aus dem gleichen Material zwang die Besucher dazu, die Lider zu verengen.
»Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie im hellen Sonnenschein steht«, meinte Slin. »Sie blendet alle im Umkreis von zehn Schritten.«
Balyndis erhob sich und kam die zwei Stufen von ihrem Thron herabgeschritten. »Kommt herein und nehmt an der Tafel der Fünften Platz«, bat sie. »Ich freue mich über euren Besuch und die vielen guten Nachrichten, die mir der Bote vor eurem Eintreffen überbracht hat. Demnach hat die Herrschaft des Bösen im Geborgenen Land bald ein Ende. Vraccas wird sicher mit uns sein.«
Ingrimmsch versuchte, Tungdils Gesicht zu beobachten, als die Zwergin auf sie zukam und die Hand ausstreckte. Sie war über viele Zyklen hinweg seine Gefährtin gewesen, sie hatten gemeinsam gelebt und einen Sohn bekommen, der bei einem furchtbaren Unfall ums Leben gekommen war. Das Wiedersehen barg genügend Anlass in sich, um einen Funkenreigen aus Gefühlen tanzen zu lassen. Doch so sehr er sich anstrengte, er las keine Regung auf Tungdils Zügen.
Dafür arbeitete es in Balyndis Gesicht umso mehr. »Bei Vraccas!«, sagte sie ergriffen und wurde langsamer, während sie sich dem Einäugigen näherte. »Es ist wahr! Es ist wirklich wahr! Du lebst und bist aus der Dunkelheit zurückgekehrt!« Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln und rannen über die flaumbedeckten Wangen. Die Härchen waren deutlicher zu sehen als beiden Jüngeren ihres Volkes. Sie blieb gerührt vor ihm stehen, die Hand noch immer ausgestreckt.
»In der Tat. Ich bin aus der Dunkelheit zurückgekehrt. Doch ich habe Finsternis mitgebracht«, gab er zurück. »Ich weiß, wer du bist, Balyndis Eisenfinger, Königin der Fünften, aber ich erinnere mich an nichts von dem, was uns einst verband.« Entschuldigend deutete er auf die Narbe über der Stirn. »Ein Schlag löschte viel zu viel von dem aus, was mir lieb und teuer war.«
Balyndis schluckte und sah ihn eindringlich an, als könnte sie damit etwas bewirken und die verschütteten Erinnerungen freilegen. Als sie jedoch bemerkte, dass sich der Ausdruck in seinem braunen Auge nicht änderte, senkte sie den Arm und ließ sich vor ihm auf ein Knie hinab. »Ich grüße dich, Großkönig Tungdil Goldhand«, sprach sie traurig und beugte das Haupt. »Vraccas segne dich und alle, welche dir bei deiner Unternehmung zur Rettung des Geborgenen Landes folgen werden.«
»Ich danke dir, Königin Balyndis.« Er bedeutete ihr mit einer Berührung an der Schulter, sich erheben zu dürfen, und ging auf den gedeckten Tisch zu. Zahlreiche Köstlichkeiten türmten sich in den Schalen und Schüsseln, und der Geruch weckte bei Ingrimmsch den vor Spannung fast vergessenen Hunger.
»Das wurde Zeit«, meinte Slin leise an seiner Seite. »Ich war fast so weit, den Stahl abzulecken, nur um das Knurren in meinem Magen zum Schweigen zu bringen.« Sie ließen sich um den Tisch nieder. Zwerge bedienten sie und sorgten dafür, dass weder die Teller noch die Krüge jemals leer wurden. Während des Mahls legte Tungdil nochmals dar, wie er sich sein Unterfangen vorgestellt hatte. Balyndis enthielt sich einer Erwiderung und beließ es bei gelegentlichem Nicken.
Ingrimmsch hatte den Eindruck, dass sie immer noch versuchte, Tungdils verborgene Gefühle zu erforschen. Ich bin neugierig, ob sie ebenso daran scheitert wie ich.
»Genug von mir«, sagte sein Freund irgendwann. »Das Fieber, das ausgebrochen ist: Seit wann kämpfen du und die Fünften schon dagegen an?«
»Seit etwa einhundertzehn Zyklen. Es begann schleichend, sodass es zunächst keinem unserer Heiler auffiel«, erklärte sie und prostete ihnen mit einem Humpen Schwarzbier zu. »Aber bald häuften sich die Krankheitsfälle, und wir erinnerten uns an die Heimsuchung der ursprünglichen Fünften. Wir haben Stollen und Höhlen räumen lassen, danach haben wir sie versiegelt. Möchtest du auf der Karte sehen, welche Bereiche betroffen sind?«
»Geschehen die Ausbrüche denn willkürlich, oder gibt es ein Muster?« Tungdil hatte sein Essen fast nicht angerührt, und wenn sich Ingrimmsch nicht sehr irrte, wirkte er blasser als gewöhnlich. Er ließ sich die Karte zeigen, schaute und verglich. Es sah sehr gezielt aus, was er tat.
»Keines, das wir uns erklären könnten«, antwortete Balyndis. »Wir haben die Orte, an denen es die meisten Toten gab, sogar von Freiwilligen durchsuchen lassen, ob uns vielleicht ein paar Albae mit ihren Fertigkeiten von dort aus zusetzen, aber wir haben keine Spuren gefunden. Dafür erkrankten die Freiwilligen der Expedition innerhalb von wenigen Umläufen und starben.«
»Wie?«, fragte der Einäugige nach.
»Sie erstickten an ihrem eigenen Blut. Sie schwitzten, und die Lungen liefen voller Blut, bis sie keine Luft mehr bekamen.« Sie schauderte. »Ein grauenvoller Tod, Tungdil.« Er schob die Karten von sich und leerte seinen Humpen. Der siebte, wenn Ingrimmsch sich nicht verzählt hatte. Das war für einen Zwerg, der kaum etwas Richtiges gegessen hatte und immer noch nüchtern wirkte, eine stattliche Leistung. Heldenhaft eben. »Haben sich ihre Gliedmaßen verfärbt? Die Fingerkuppen beispielsweise? Und die Zungenspitze?«
Balyndis und ihr Sohn wechselten einen kurzen Blick.
»Ich habe ihm nichts davon gesagt«, sagte Balyndar daraufhin. »Niemand weiß davon.« Tungdil schenkte ihm ein gefährliches Lächeln. »Ich muss es von niemandem erfahren. Ich habe es mir selbst erschlossen.« Er verlangte einen neuen Humpen. »Es ist kein Fluch. Es ist ein geruchloses Gas.«
Balyndar rollte mit den Augen. »Nein, ist es nicht! Das haben wir ausgeschlossen.« »Die Methoden zur Erkundung der herkömmlichen Ausdünstungen des Berges sind bei dieser Heimsuchung zwecklos, Balyndar. Es ist der Kordrion. Er ist in mehrfacher Hinsicht der Schuldige am Sterben im Grauen Gebirge«, redete er überheblich über den Zwerg hinweg. »Er frisst nicht nur diejenigen, die gegen ihn ausziehen. Seine Ausscheidungen bewirken den Tod, den mir Balyndis beschrieben hat. Sobald sie mit Wasser in Berührung kommen.« Er nahm die Karten zur Hand. »Ingrimmsch sagte mir, dass der Kordrion im nördlichen Teil des Grauen Gebirges sitzt, in der Nähe des Steinernen Torwegs. Das ist die Erklärung: Das Regenwasser spült seine Exkremente die Hänge hinab und läuft in die Flüsse, welche durch kleine Kanäle exakt in die Teile fließen, in denen das vermeintliche Fieber auftauchte.«
»Seine Scheiße bringt sogar Verderben?«, entfuhr es Ingrimmsch ungläubig. »Ho, das nenne ich ein hinterfotziges Scheusal! Umso besser, dass wir ihm ein Ende bereiten.« »Nicht wir. Lot-Ionan.« Tungdil setzte den nächsten vollen Humpen an die Lippen und nahm einen langen Zug. »Ich denke, es wird ein oder zwei Zyklen dauern, bis die Wirkung der Ausscheidungen nachlässt und ihr die Gebiete wieder bewohnen könnt.« Er sah, dass Balyndar ihm nicht glaubte. »Es hat etwas mit Alchimie zu tun, Eisenfinger«, erklärte er ihm. »Ich wuchs bei einem Magus und in dessen Laboratorien auf. Die Zusammensetzung der Ausscheidungen des Kordrion ist einmalig und, wenn man so möchte, eine Art getrocknete Säure. Sobald Wasser damit in Berührung kommt, werden die Substanzen gemischt, und ein tödlicher Dunst entsteht. Ich habe die Exkremente auf der anderen Seite der Schwarzen Schlucht mehrmals als Mittel eingesetzt, wenn eine Belagerung scheiterte.« Er trank aus. »Euren Kranken kann ich wenig Hoffnung machen. Die Lungen erholen sich nicht mehr von den Verätzungen. Die Ewige Schmiede ist ihnen sicher.«
»Ich glaube dir«, sagte eine bleich gewordene Balyndis und erklärte anhand weiterer Karten, wo sich der Kordrion aufhielt und wo er seinen Horst gebaut hatte. »Vraccas war uns gnädig und stand uns bei. Bislang haben wir jedes seiner Gelege vernichten können, bevor die Brut aus den weichhäutigen Eiern schlüpfte. Unsere Beobachter meldeten, dass er wieder im Nest sitzt. Der Kordrion hat aber gelernt und sich einen Vorrat angelegt. Wenn wir Pech haben, wird er das Gelege nicht verlassen müssen, um zu fressen. Das war in den vergangenen Zyklen stets die Gelegenheit für uns zuzuschlagen.«
»Es wird uns schon eine passende Ablenkung einfallen«, gab sich Ingrimmsch zuversichtlich. »Also, Gelehrter: Wir gehen zum Nest, schnappen uns die Eier und rennen durch das Graue Gebirge bis zum Ausgang nach Gauragar?«
»Nein. Wir müssen über die Gipfelwege, damit er unsere Spurverfolgen kann. Ich habe mir unterwegs bereits einen Pfad ausgedacht, den wir nehmen können.«
Balyndars Augen wurden groß. »Im Winter? Hast du den Verstand verloren?« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Großkönig.«
Ohne zu zögern zählte Tungdil die Gipfel auf, die sie passieren würden, nannte Rastplätze und Routen. »Klingt es für dich immer noch nach Wahnsinn oder eher nach einer anstrengenden, aber zu bewältigenden Wanderung?«, fragte er schneidend. Balyndis nickte ihm zu. »Ich bin erstaunt, wie viel du noch von den Gegebenheiten meiner Heimat weißt, wo du dich gleichzeitig nicht an andere Dinge erinnern kannst«, konnte sie sich die Spitze nicht verkneifen. »Es scheint mir, als hätte sich dein Verstand ganz auf den Teil des Gelehrten verlagert und jegliches Gefühl außen vor gelassen. Ist es so, Großkönig?«
Tungdil richtete das braune Auge auf sie. »Das mag sein, Königin Balyndis. Doch es hilft uns und dem Geborgenen Land. Da werde ich mich nicht beschweren.« »Ich ebenso wenig«, verkündete Ingrimmsch, der immer noch überrascht von den Einzelheiten der Strategie seines Freundes war. Auf seiner bisherigen Reise hatte er ihn kein einziges Mal mit einer Landkarte hantieren sehen. Sein Wissen musste enormer sein, als er es erahnt hatte. »Ich schlage vor, dass wir uns schleunigst aufmachen, bevor die Viecher schlüpfen.«
»Morgen. Sobald die Sonne aufgegangen ist«, sagte Tungdil und erhob sich. »Ich möchte mich ausruhen. Königin Balyndis, sei so freundlich und lass mich zu meiner Unterkunft bringen. Und morgen möchte ich ausgeruhte Ponys und Proviant für meine Gruppe haben. Richte das bitte ein.«
Sie bedeutete einem der Zwerge, welche sie bedient hatten, den Herrscher aller Stämme zu geleiten, und gleich darauf war Tungdil aus dem Thronsaal verschwunden. Er hatte nicht einmal mehr gegrüßt.
Slin und die Vierten zogen sich ebenfalls zurück, sodass Ingrimmsch mit Balyndis und ihrem Sohn allein war.
Schweigend aßen sie weiter und vermieden es bei allen Gesprächen über die Schwarze Schlucht oder die Bedrohungen im Geborgenen Land über Tungdil zu sprechen. Dann bat die Königin Balyndar, den Raum zu verlassen, um sich mit dem alten Freund unter vier Augen zu besprechen. Ingrimmsch ahnte, was auf ihn zukam, und nahm einen hastigen Schluck Bier. Weil er es leid war, den Gelehrten immer wieder gegenüber anderen verteidigen zu müssen, eröffnete er die Unterhaltung. »Es mag sein, dass ich mich täusche, Balyndis, doch gibt es eine Ähnlichkeit zwischen deinem Sohn und Tungdil?«
Es war ihm durchaus bewusst, dass die Frage unverschämt und anmaßend, zugleich auch noch beleidigend war. Immerhin unterstellte er ihr, dass sie ihrem einstigen Gemahl, Gläimbar Scharfklinge aus dem Clan der Eisendrücker und König der Fünften, einen Sohn untergeschoben hatte, der nicht der seine war.
Doch Balyndis nahm seine Worte mit Fassung, beinahe erleichtert, dass er es angesprochen hatte. »Es ist sehr offenkundig, nicht wahr?«, antwortete sie leise. »Es war ein Fehler, Balyndar zum Treffen ins Braune Gebirge zu senden. Sämtliche Clanoberhäupter haben ihn und seinen leiblichen Vater nebeneinander stehen sehen und können sich wohl einen Reim darauf machen.«
»Wird es denn Auswirkungen auf deine Regentschaft haben?«
Sie verneinte. »Niemand macht mir mehr den Thron streitig, seitdem Geroin Bleiband am Fieber gestorben ist. Er war der Bruder von Syndalis Bleiband, der zweiten Gattin des Königs, die wegen mir verstoßen worden ist. Geroin und einige seines Clans haben mir das niemals verziehen. Ich herrsche gut, und wenn der Kordrion erst einmal vertrieben ist, wird der Stamm der Fünften erblühen.« Balyndis musste husten und schlucken.
»Ich habe vergessen, dass du auch erkrankt bist!« Ingrimmsch sah sie bestürzt an. »Es wird sich bessern. Jetzt, wo wir wissen, was das Fieber und das Lungenleiden auslöst.«
»Wir haben den Schuldigen, aber nicht das Gegenmittel.« Ingrimmsch verdrängte die Erklärungen des Gelehrten, der vom sicheren Tod der Befallenen gesprochen hatte. »Aber wir finden sicherlich etwas dagegen«, beeilte er sich zu sagen. Trauer breitete sich in ihm aus. Reiß dich zusammen. Noch ist sie nicht tot.
Die Königin seufzte. »Glaimbar hatte es gewusst.«
»Was? Dass Balyndar nicht sein Sohn ist?«
»Ja. Er hat es mir niemals gesagt, doch seine Blicke verrieten ihn. Dass er sein Wissen nicht laut äußerte und Balyndar verstieß, darin lag seine Größe. Dafür habe ich ihn geliebt, von ganzem Herzen.« Sie lächelte angestrengt. »Er wird mir auf den Thron der Fünften folgen, Ingrimmsch. Das hat auch Glaimbar gewollt, weiler erkannte, was für ein wunderbarer Herrscher er einmal sein würde.« »Allerdings kommt er mit seinem leiblichen Vater nicht zurecht.« Ingrimmsch wischte sich ein paar Krümel aus dem Bart, den er aus Versehen über den Teller gezogen hatte. »Er ahnt, wen er vor sich hat? Ich meine, er ist nicht blind und müsste die Ähnlichkeit bemerkt haben.«
»Das mag der Grund für seine Ablehnung sein: Er will nicht der Sohn von Tungdil Goldhand sein, der für ihn ein Fremder ist. Glaimbar dagegen hat er bewundert. Von ihm lernte er Kämpfen, von mir das Schmieden. Tungdil kam in meinen Erzählungen nicht immer gut weg, wenn du verstehst, was ich meine. Nachdem er sich von mir mit einem Brief getrennt hatte, war ich sehr lange wütend und enttäuscht von ihm. Das Alter hat mich milder gemacht.« Sie schloss die Augen. »Doch als ich ihn vor mir sah, Ingrimmsch, stiegen die alten Gefühle empor.«
»Du bist dir demnach sicher, dass er Tungdil ist?« Er biss sich zu spät auf die Zunge. Zu seinem Erstaunen lächelte Balyndis, und dieses Mal aufrichtig. »Lass dich nicht von der finsteren Schale in die Irre führen. Mein Herz«, sie legte die Hand an ihre Brust, »hat ihn sofort erkannt. Und es hat sich niemals getäuscht.«
»Meinem erging es nicht anders«, gab er zurück und hob den Humpen.