Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Seedorfen, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.
Dass die Bewohner des kleinen Ortes Seedorfen jemals das Privileg erhaltenwürden, die Königin in ihrer Mitte beherbergen zu dürfen und die berühmten Helden der alten Zyklen Tungdil Goldhand sowie Boindil Zweiklinge zu sehen, darüber hinaus die auch hier bekannte Mallenia von Ido sowie einen Nachfahren des Unglaublichen unter sich zu haben - das hätte keiner vermutet. Nicht einmal die begabtesten Geschichtenerzähler und Träumer.
Die Berühmtheiten saßen in der Gaststube der kleinen Hafenschenke bei heißem Tee, Gewürzwein und -bier zusammen. Die Einheimischen hielten sich ehrfürchtig zurück und bewunderten die Besucher durch die Fenster und die geöffnete Tür; es wurde geschoben und gedrückt, während man Ausgewählte in den Schrankraum schickte, um die besten Wünsche sowie Geschenke zu überbringen. Doch ohne ein Zeichen der Zwerge und Menschen wagten sie sich nicht näher als auf vier Schritte heran. »Ihr seid sicher, dass die Quelle vernichtet ist?« Tungdil sah Coira an, die in der einfachen Tracht einer Fischerin steckte und eine Decke um sich gelegt hatte. »Ich habe es sofort gespürt«, antwortete sie bedrückt. »Die Energie wurde freigesetzt, und mir gelang es, einen Teil davon aufzufangen, doch... sie ist... tot. An der Stelle, an der die Quelle lag, ist nichts mehr.«
Ingrimmsch erinnerte sich an das Kribbeln und das Aufleuchten von Tungdils Rüstung. Das musste der Grund dafür gewesen sein: befreite Magie! Auf diese Erfahrung hätte er gern verzichtet, zumal der Verlust der Quelle eine Schrecklichkeit von unermesslichem Ausmaß darstellte!
Coira lächelte den Menschen zu, auch wenn es ihr schwerfiel. Doch ihre Untertanen konnten nichts dafür, und sie wollte niemanden enttäuschen. Sie winkte das kleine Mädchen mit dem Geschenkkorb zu sich, nahm ihn entgegen und streichelte ihr blondes Haar. »Danke sehr.« Das Mädchen machte einen Knicks und eilte zurück zu den Wartenden.
»Ich kann mir nicht erklären, was für ein Wesen das war, welches für Seenstolz Untergang und den Verlust der magischen Quelle verantwortlich ist«, sagte Tungdil. Die Maga schüttelte den Kopf und betrachtete, was man ihr gebracht hatte: Es sah aus wie eine Spange aus Fischbein, in welche die Insel eingeritzt worden war. Seufzend schloss sie die Finger darum.
»Ich denke, es war Lot-Ionan.« Rodario der Siebte sah in die Runde. »Der Magus hat es erschaffen und zu uns geschickt, um entweder die Maga zu töten oder die Quelle zu zerstören. Als es bemerkte, dass es starb, hat es sich in den Schacht geworfen und seinen Auftrag ausgeführt.« Er fuhr sich um den Hals. »Ich habe deutlich gesehen, dass es eine Kette mit einem Stein trug. Ein Onyx, glaube ich. Kann das der Auslöser für die Explosion gewesen sein?«
»Möglich.« Coira nickte zögerlich. »Er kann den Stein mit einem Spruch belegt haben. Es muss ein mächtiger Zauber gewesen sein, um etwas Derartiges auszulösen.« »Da sind wir schon bei einer wichtigen Frage: Seid Ihr bereit, uns gegen den Magus zu helfen?« Tungdil sah sie forschend an. »Vielmehr: Seid Ihr dazu in der Lage?« »Ihr wollt zuerst gegen den Drachen ziehen und danach in den Süden«, fasste sie zusammen. »Folgen wir doch einmal Rodarios Annahme: Lot-Ionan hat den Anschlag auf mich und die Quelle nicht grundlos getätigt. Früher oder später wird er zur Eroberung des Geborgenen Landes ansetzen, und dieser Akt war vorbereitend für den Angriff auf Weyurn, nehme ich an. Er weiß, dass ich als Maga eine Quelle benötige, um dauerhaften Widerstand leisten zu können.«
»Wie viel Magie konntet Ihr aufnehmen?«, wollte Tungdil wissen.
»Für den Anfang genügend.« Coira setzte sich gerade hin. »Um gegen Lot-Ionan zu ziehen, benötige ich mehr. Darauf zielte Eure Frage ab, Tungdil Goldhand.« »Um offen zu sein: Ich zweifele, dass Ihr überhaupt etwas gegen ihn ausrichten könntet.« Ingrimmsch hörte, dass sein Freund die Maga absichtlich reizte. Gleich wird seine Rüstung was zu tun bekommen! Doch zu seiner Verwunderung konterte sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Ich weiß, was Ihr von mir denkt: eine junge Frau, kaum ausgebildet, und noch dazu beging sie den fatalen Fehler, der ihre Mutter letztlich das Leben kostete. Aber ich versichere Euch, dass es einen Ansporn bedeutet. Vielleicht erhalte ich mein Kämpferherz noch.« Sie schwieg kurz. »Ich werde Euch ins Rote Gebirge begleiten.« »Königin!«, begehrte Rodario auf. »Gegen einen Drachen zu ziehen ist...« »Eine gute Entscheidung«, warf Tungdil ein. »Ich weiß, weswegen Ihr mitkommen wollt: Ich habe die Gerüchte um die magische Quelle im Reich der Ersten ebenfalls vernommen.«
Ingrimmsch war es gleichzeitig eingefallen. Goda hatte gelegentlich davon gesprochen, dass Kaufleute aus dem Westen, die mit den Vierten Handel trieben, von rätselhaften Lichtern im Roten Gebirge gesprochen hatten. Sie hatte sogleich magische Entladungen dahinter vermutet; dennoch blieben es nur Gerüchte und vage Vermutungen. »Ganz recht. Ich begleite Euch, nehme so viel magische Energie auf, wie es mir möglich ist, und danach helfe ich Euch gegen den Magus.«
Rodario hob die Hand. »Mit Verlaub: Wer sagt uns, dass Lot-Ionan diese Viecher nicht auch ins Gebirge und zu den Albae gesandt hat?«
»Niemand. Aber Lohasbrand wird mit solchen Wesen spielend fertig, was ich von den Albae nicht unbedingt annehme, wenn Aiphatön nicht in der Nähe ist«, gab Tungdil zurück.
Mallenia hatte die ganze Zeit geschwiegen und sich darauf beschränkt, Hargorin Todbringer wütend anzufunkeln. Doch um des lieben Friedens willen hielt sie sich zurück. Ingrimmsch spürte, dass es ihr schwerfiel. Der Zwerg hatte aus ihrer Sicht sicherlich zu viele Verbrechen im Namen der Albae begangen. Und er konnte nicht umhin, Mallenia ein wenig recht zu geben. »Mir behagt es nicht, dass wir einen Pakt mit den Schwarzaugen eingegangen sind. Sie haben mein Volk unterdrückt, so viele Zyklen lang, und plötzlich will Aiphatön sich geändert haben und die Albae aus freiem Willen in den Untergang führen und die Albae-Reiche auslöschen?« Ihr Mund wurde zu einem Strich. »Ich glaube nicht daran.«
»Wer sagt uns, dass die Dritten sich uns anschließen?«, gab Rodario zu bedenken. »Gut, einer aus ihrem Stamm ist Großkönig geworden aber - verachten sie die übrigen Stämme nicht weiterhin?« Er sah zu Hargorin und Barskalin. »Wie nehmt ihr mir meine Zweifel?«
»Dir?«, fragte Hargorin erstaunt und lachte auf. »Du bist ein Schauspieler. Du sitzt an diesem Tisch, weil du dich selbst eingeladen hast. Mit dem Geschick des Geborgenen Landes wirst du gar nichts zu tun haben. Du kannst nicht einmal kämpfen. Aber ein Maskottchen können wir gut gebrauchen.« Barskalin lachte zustimmend. Da entstand ein gefährliches Lächeln auf dem Gesicht des Mannes, das Tungdils durchaus Konkurrenz machte. »Versucht, mich zu schlagen, und Ihr werdet ein Wunder erleben.«
Coira neigte sich zu Mallenia hinüber. »Täusche ich mich, oder ist sein Gesicht schmaler geworden?«
Die Ido stimmte ihr zu. »Außerdem hat ihm der See die paar Barthaare ausgerissen, die er besaß.« Sie schaute genauer hin und meinte, an Kinn, Hals und Wangen einen deutlichen, dunklen Schatten zu bemerken. »Aber sie werden kräftig nachwachsen. Mir scheint, kräftiger als sonst.« Die beiden Frauen sahen sich an, beide lasen die Zweifel der anderen von den Augen ab.
Hargorin indes hatte es sich nicht nehmen lassen, sich von seinem Platz zu erheben und vor Rodario aufzubauen. »Du bist dir nicht bewusst, welche Prüfung du dir auferlegen willst.«
»Doch«, gab er selbstbewusst zurück. »Aber in Anwesenheit der Damen ist es nicht schön, Euer Blut zu vergießen und die Wände mit Euren Gedärmen zu dekorieren. Außerdem haben wir Besseres zu tun, als uns zu prügeln.«
»Hört auf damit. Beide«, befahl Tungdil ungehalten.
»Aber ich werde nicht ernst genommen, nur weil ich ein Mime bin. Das kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Ich habe ja nicht nach irgendetwas Albernem gefragt, sondern nach der Loyalität der Dritten«, entgegnete Rodario. »Was, wenn sie beschließen, den Albae zu helfen, denen sie über zweihundert Zyklen gedient haben? Sie würden bei einer Veränderung der Machtverhältnisse große Verluste erleiden, und vom Zorn der Menschen in Urgon, Idoslän und Gauragar will ich gar nicht reden. Sie wären besser ohne eine Veränderung dran.«
»Ganz unrecht hat er nicht«, stimmte Mallenia zu und bekam dafür von ihm einen langen Blick voller Zuneigung. Rodario legte die Hände auf den Tisch. »Versteht meine Vorbehalte: Was, wenn die Zwergenhasser die Vierten und die Fünften angreifen, während diese nach Süden marschieren? Damit wäre der Kampf gegen Lot-Ionan kaum möglich.« »Wir folgen Tungdil Goldhand«, grollte Hargorin.
»Wir - damit meint Ihr alle Dritten oder eine überwiegende Mehrheit?«, hakte Rodario nach. »Interessant wäre es zu erfahren, was die Minderheit macht? Und was ist eigentlich mit den Freien? Wo sind sie denn?«
Barskalin meldete sich zu Wort. »Sie haben sich in ihrer letzten Stadt eingegraben und verteidigen sich gegen die Dritten...«
»Ha!«, machte Rodario. »Da seht ihr es! Die Dritten setzen den übrigen Zwergenstämmen noch immer zu.« Er kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich sehe, bei allem Respekt, noch keine Veränderung in ihrem Verhalten.«
»Das liegt daran, dass ich noch keine anders lautenden Befehle erteilt habe.« Alle Köpfe fuhren herum und schauten auf Tungdil. »Wenn sich die Dritten plötzlich nicht mehr so benehmen, schöpfen zu viele Albae Verdacht. Damit geriete Aiphatöns Vorhaben in Gefahr, und die Nord-Albae wären ebenso gewarnt. Deswegen habe ich nicht befohlen, von den Angriffen abzulassen. Das kann ich erst tun, sobald Aiphatöns Heer auf dem Marsch ist. Vorher müssen die Freien ausharren.«
Niemand wagte eine Erwiderung.
Schließlich hüstelte Ingrimmsch. »Dann reisen wir morgen weiter zu Lohasbrand, rauben ihm die schönsten Schätze aus dem Hort und eilen zum Magus. Sobald wir vom Kaiser der Schwarzaugen eine Nachricht erhalten, schicken wir Reiter los, welche die Dritten und die anderen Zwergenstämme in den Süden befehligen, um den geschwächten Lot-Ionan zu fangen.« Er sah zur Königin. »Mit Eurer Hilfe.« »Eine schöne Zusammenfassung«, meinte Rodario. »Ich bin ebenso dabei.« »Ich auch«, sagte Mallenia. »Idoslän wird seinen Anteil an der Befreiung des Geborgenen Landes leisten, wie es schon mein Ahne gehalten hat. Da wir nicht mit einem Heer dienen können, stelle ich euch meine Kampfkraft zur Verfügung. Meine verbliebenen Widerstandskämpfer werden sich um die Albae kümmern, die einzeln im Land umherstreifen. Ich setze den Brief gleich auf. Sie werden den richtigen Moment abwarten.« »Gut.« Tungdil wirkte zufrieden. Wieder hob Rodario den Arm. »Wie wäre es, wenn wir die bevorstehende Befreiung des Geborgenen Landes dem Volk verkünden und nicht nur dem Widerstand? Menschen, die den Wind der Freiheit spüren und sich gegen die verbliebenen Vasallen der Albae und Lohasbrander auflehnen, wird nichts mehr aufhalten.«
»Dazu ist das Geborgene Land viel zu groß«, widersprach Tungdil.
»Stopf jemand dem Schauspieler den Mund. Am besten mit etwas, das wehtut«, murmelte Hargorin.
Rodario wies mit dem Finger auf seinen Hals. »Trüge ich einen so hässlichen Bart wie Ihr am Kinn, wäre ich vorsichtiger mit Beleidigungen.«
Ingrimmsch verzog das Gesicht. Ein Zwerg mochte Spaße, sie durften auch mal derb sein, aber sein Bart war etwas Besonderes. Spott und Feuer waren dessen größte Feinde. »Schweig lieber, wenn du dein Leben und deine adligen Züge behalten willst«, riet er ihm leise. »Entschuldige dich bei ihm...«
Hargorin war längst aufgesprungen und kam auf den Schauspieler zu. »Du willst eine Tracht Prügel, kann es sein?«, rief er aufgebracht und ballte die breiten Kämpferhände zu Fäusten.
»Verzeiht mir«, sagte Rodario liebenswürdig zu den beiden Frauen, dann schnellte sein Fuß in die Höhe und fischte nach einer der brustlangen Bartsträhnen, griff mit der Rechten danach und zog ruckartig an. Der linke Arm hob sich, und der Ellbogen krachte dem Zwerg gegen die Stirn, sodass er aufschnaufte.
Rodario glitt vom Stuhl, ohne die Bartsträhne loszulassen, und zog Hargorin mit sich. Er stemmte die Füße gegen seinen Bauch und schleuderte den Zwerg über sich hinweg; rücklings landete er auf dem Dielenboden.
Der Schauspieler schlug einen Purzelbaum rückwärts und kam auf der Brust des Zwerges zum Sitzen; die Bartsträhne hielt er noch immer fest und zog sie seitlich nach oben. Als er den Fuß daraufstellte, konnte Hargorin den Kopf nicht mehr bewegen. Ingrimmsch war ebenso überrascht wie alle anderen im Raum.
Von irgendwoher hatte Rodario einen Dolch gezogen und hielt ihn dem Zwerg an die entblößte Kehle. »Ich finde es sehr, sehr bedauerlich, dass man von so vielen nur als wahrer Mann gesehen wird, wenn man sich als Kämpfer beweist oder möglichst viele Frauen genommen hat«, säuselte er, doch seine Augen blicktenhart und achteten auf jede Regung seines Gegners. »Euch dürfte ich damit überzeugt haben, Hargorin Todbringer, nicht wahr?«
Mallenias Vorstellung von dem wehrlosen, erfolglosen Mimen zerbarst, und Coira sah den Mann in einem vollkommen neuen Licht. Beide Frauen starrten ihn an und konnten es nicht fassen, wie schnell er sich verändert hatte. Eine Wandlung, die nur mit vorheriger Täuschung zu erklären war.
Seelenruhig ließ Rodario die Strähne los und erhob sich, dann streckte er Hargorin die Hand hin.
Der Dritte stand ohne die angebotene Hilfe auf. Die Schmach saß zu tief, und auch der Bart hatte einige Haare gelassen.
Ingrimmsch ahnte, dass der Anführer der Schwarzen Schwadron Rodario dies niemals verzeihen würde. Das wird Blut kosten.
»Eine entzückende Vorstellung«, meinte Slin und freute sich.
»Erklärt uns, wo ein Mime derart gut kämpfen gelernt hat«, forderte Tungdil. »Und warum Ihr Euch alle Mühe gegeben habt, Eurem Vorfahren nicht zu ähneln«, fügte Coira hinzu. »Wenn ich mir Euch mit einem Kinnbärtchen und Schnauzbart vorstelle, säht Ihr ihm zum Verwechseln ähnlich.«
»Sagte ich doch«, grummelte Ingrimmsch. »Schon als ich ihn an Bord klettern sah.« Rodario kehrte an seinen Platz zurück und verneigte sich in Richtung der Frauen. »Ich muss mich bei Euch beiden entschuldigen, denn ich habe Euch ein wenig Theater vorgespielt. Doch es ist durchaus an der Zeit, den Schleier um das Geheimnis des unbekannten Poeten zu lüften.«
»Ihr? Ihr wollt es gewesen sein?«, platzte es aus Coira heraus, und sie lachte ungläubig. Sie bedachte ihn mit einem neugierigen Blick. »Das könnt Ihr mir nicht weismachen.« »Unmöglich«, sagte Mallenia sofort. »Ihr...« Sie schwieg verwirrt.
Rodario verbeugte sich, als stünde er vor seinen Spectatores. »Doch, ich bin der unbekannte Poet«, antwortete er. »Niemand wäre jemals auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet in mir, dem Nachfahren des Unglaublichen Rodario, der ihm an wenigsten gleichkommt, den Freiheitsverteidiger und Volksaufhetzer, den Mörder an Lohasbrandern und deren Orks zu sehen. Täuschung ist der beste Schild.« Ingrimmsch musste bei diesen Worten schnell zu Tungdilsehen - und um dessen Mundwinkel huschte ein verstohlenes Lächeln. Hoffentlich nur ein Zufall.
Rodario fuhr sich über das markante Kinn. »Ich merkte sehr bald, dass ich meinem berühmten Vorfahren wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Wenn ich meine Stücke auf den Bühnen in Idoslän, in Tabain und in Gauragar aufführte, trug ich niemals Schminke, doch abseits davon an jedem Umlauf«, erklärte er lächelnd und setzte sich. »Ich machte mich zum Trottel, ich verlor die Wettbewerbe absichtlich und wollte, dass mir niemand etwas zutraute.«
Coira sah ihn in jener Nacht vor sich, als er ihr im Turm von Mifurdania begegnet war. »Ich habe Euch wirklich den Verlierer und Tollpatsch abgekauft«, meinte sie verblüfft. »Und Ihr könnt sicherlich auch reiten?«
»Im Grunde sehr gut, Hoheit«, erwiderte er. »Es war eine Rolle, die ich spielte. Und natürlich vermag ich zu schwimmen, sonst hätte ich den Sturz vom Schacht nicht überstanden.«
»Ein echter Held«, sagte Mallenia grinsend. »Da denkt man, der Mann braucht Schutz von starken Armen, und dann ist er in Wahrheit ein guter Krieger. Ein ziemlich guter, wie ich eben gesehen habe.«
Rodario warf ihr ein Zwinkern zu. »Danke... muss ich auch Hoheit sagen?« Sie winkte ab. »Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn den einen unbekannten Poeten gibt es nicht.«
»Was du wieder redest!« Ingrimmsch kniff die Augen zusammen. »Du hast doch eben gesagt...«
»Es gibt den einen nicht.« Lächelnd hob Rodario den Zeigefinger. »Der Wettbewerb in Mifurdania ist eine weitere Tarnung für uns. Die Nachfahren des Unglaublichen haben sich seit der Eroberung durch den Drachen der Freiheit verschrieben. Egal ob Mann oder Frau, wir widersetzen uns, wo auch immer wir mit unseren Wandertheatern sind, den Besatzern. Wir schlagen unsere Gedichte an Wände und Türen und halten den Gedanken an die Selbstbestimmung hoch. Wir sind überall im Land unterwegs, das Lohasbrand sich angeeignet hat, und bekämpfen den Drachen mit unseren Mitteln.« Er nahm einen Schluck Wein. »Der Wettbewerb dient uns dazu, unsere neuesten Erkenntnisse auszutauschen, neue Zeilen zu schreiben, neue Pläne zu schmieden. Wir sind vorbereitet, um die Menschen gegen die Vasallen des Geschuppten zu führen, sobald uns die Götter eine Gelegenheit bieten. Wir kennen ihre Schwachstellen, ihre Gewohnheiten, ihre geheimen Lager - alles!« Er prostete in die Runde und hielt den Becher auf Tungdil gerichtet. »Dank Euch, Tungdil Goldhand, ist diese Gelegenheit gekommen: Die Götter haben Euch gesandt.« Er trank auf ihn, und die Versammelten stimmten in den Trinkspruch mit ein. Coira funkelte ihn an, in ihren Augen war die Wissbegierde zu sehen. »Sagt: Was ist wirklich an jenem Abend im Turm geschehen?«
Rodario lachte. »Wir haben den Unerreichbaren befreit, allerdings vergessen, seine Wertsachen mitzunehmen. Darunter befanden sich einige sehr seltene Stücke, und ich wagte es, nochmals zurückzukehren. Als Ihr mich traft, hatte ich sie bereits eingesammelt. Und der Unerreichbare bekam sie von mir übergeben, ohne dass Ihr in der Gasse etwas bemerkt hattet, richtig?« Er strahlte sie an und setzte sich in Pose. »Wie der Unglaubliche«, befand Ingrimmsch anerkennend. »Mit Bärtchen würde ich meinen, er hätte die letzten zweihundertfünfzig Zyklen wie ich überstanden.« Die Königin nickte verblüfft.
»Der Tod einer unserer Freunde hatte mich sehr getroffen, wie Ihr glücklicherweise nicht bemerkt hattet«, erzählte er weiter. »Aber die Sache, das wusste ich, wird weitergeführt. Heute sehe ich, dass unser Kampf seinen Wert hatte.«
»Und wieso habt Ihr Coira bei ihrer Flucht begleitet?«, fragte Mallenia. »Das habe ich doch richtig verstanden, oder?«
»Nun, es ergab sich die unvermutete sowie unauffällige Möglichkeit, die Maga besser kennenzulernen und zu überprüfen, ob wir sie für unsere Sache, die Vorbereitung des Aufstandes, gewinnen könnten. Hätte ich den Eindruck gewonnen, dass sie eine devote, kleine Frau ist, wäre ich sehr schnell wieder von ihrer Seite gewichen.« Rodario verneigte sich erneut. »Aber ich sah sehr schnell, dass Ihr alles andere als unterwürfig wart. Also blieb ich und beobachtete Euch und Eure Handlungen. Mehr und mehr fügte sich etwas zusammen, das spürte ich.« Er sah zur Ido. »Als Ihr und die Albae aufgetaucht seid, Mallenia, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das Geborgene Land geht der Freiheit entgegen. Oder seinem Untergang. Ersteres wollte ich unterstützen, Letzteres verhindern.«
»Ich sehe die Freiheit«, gab Coira zurück und warf ihm glühende Blicke zu. »Wer würde diesem Bündnis aus Entschlossenen widerstehen können?« Er lächelte sie an.
Ingrimmsch rieb sich die Hände. »Ausgezeichnet! Da haben wir ja alles zusammen, was wir brauchen. Wenn Rodario seinen Freunden Bescheid gibt und Mallenia ihren, kann ein weiterer Sturm losbrechen. Damit dürfen wir uns ganz auf den Süden konzentrieren, nicht wahr, Gelehrter?«
Tungdil rieb sich über die Stirn und berührte seine Narbe, das braune Auge blickte in die Unendlichkeit; anscheinend hatte er nicht zugehört.
Ingrimmsch setzte neu an, doch er wurde unterbrochen.
»Was ist mit Sisaroth?« Barskalin hatte die Frage gestellt. »Ich kenne ihn. Unter anderem bildete er die Zhadär aus, und er wird nicht eher lockerlassen, bis er den Tod seiner Geschwister gerächt hat. Wenn er mitbekommt, dass Mallenia und die Königin noch am Leben sind, haben wir einen gefährlichen Alb bei unserer Reise im Schlepptau, der uns einen nach dem anderen auslöschen kann.«
»Hm. Er wird sich eher zurückziehen und auf den Angriff des Drachen warten«, widersprach ihm Hargorin. »Ich kenne die Dsön Aklän schon sehr lange. Sie würden für ihre Stadt in Dsön Bharä alles tun, um sie vor Schaden zu bewahren. Sie wollen dort, wie wir gehört haben, ein neues Albae-Reich errichten. Sisaroth muss davon ausgehen, dass Lohasbrand zumindest einen Erkundungstrupp ins Reich der Albae schickt, um den Vorgängen auf seinem Land auf den Grund zu gehen.«
Barskalin wiegte den Kopf. »Das könnte auch sein.«
»Und wenn Elria endlich etwas Gutes tun möchte, könnte sie das Schwarzauge einfach in den Wassermassen ertrinken lassen«, sagte Ingrimmsch gut gelaunt. »Nur für den Fall, dass er doch noch in der Nähe war.«
Durch Tungdils Körper verlief ein heftiger Ruck. Mit einem Stöhnen sank er auf den Tisch und hielt sich den Kopf, zwischen den Fingern floss Blut hervor. Die Zwerge sprangen auf und zogen ihre Waffen, weil sie an einen Anschlag glaubten, doch Ingrimmsch sah, dass sich die Narbe auf der Stirn geöffnet hatte. »Los, helft mir, ihn auf sein Zimmer zu tragen«, befahl er Hargorin und Barskalin.
»Soll ich?« Coira hatte sich erhoben. »Ein Heilzauber...« »Nein, keine Magie!«, wehrte Boindil rasch ab, weil er nicht vorhersagen konnte, wie die Rüstung darauf reagierte. »Es ist eine alte Wunde. Er hat sich vorhin auf dem Schiff den Kopf gestoßen, dabei ist die Narbe gerissen. Ich werde sie rasch nähen. Morgen früh brechen wir auf, sobald die Sonne steigt.« Er verließ die Versammlung, und sie schleppten den Gelehrten durch den Schankraum in die hinteren Gästezimmer, wo sie ihn auf das Bett legten.
»Danke.« Ingrimmsch sandte die Zwerge hinaus und wartete, bis sie den Raum verlassen hatten.
Die Tür schloss sich gerade rechzeitig.
Tungdil riss das Lid in die Höhe, und Ingrimmsch sah erneut die mysteriösen Farbwirbel um das Schwarz der Pupille.
Mit einem leisen Schmatzen schloss sich die geplatzte Narbe, gleichzeitig verschoben sich die Knochen knisternd im Gesicht und gaben dem Zwerg ein schmaleres Aussehen, das den fassungslos starrenden Ingrimmsch an die Züge eines Albs erinnerte.
»Bei Vraccas!«, stotterte er, wich zwei Schritte zurück und fasste nach dem Stiel des Krähenschnabels. Es machte ganz den Anschein, als verforme sich sein Freund. Feine schwarze Linien zuckten schwarzen Strahlen gleich unter der goldenen Augenklappe hervor und zerschnitten Tungdils Züge, Bluttropfen rannen hervor - dann leuchteten alle Runen auf der Rüstung gleichzeitig auf, sodass Boindil geblendet die Augen schließen musste.
Als er wieder etwas erkennen konnte, sah sein Freund aus wie vor seiner Ohnmacht: keine Wunden mehr im Gesicht, die Narbe war verheilt; er hatte sein vertrautes Antlitz, und schwarze Linien gab es ebenfalls keine mehr.
Vorsichtig trat Ingrimmsch an Tungdils Lager. »Was mache ich mit dir, Gelehrter?«, wisperte er und schluckte. »Immer wenn ich denke, dass ich dir vertrauen kann, geschieht etwas, das meine Zweifel nährt.« Er zog einen Schemel heran und entschied, dass es besser war, wenn er die Nacht über Wache hielt.
Dabei konnte er nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er Tungdil vor etwas beschützte oder die Gruppe vor ihm.
Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Eingang zum Roten Gebirge, 6492. Sonnenzyklus, Frühling.
Ingrimmsch ritt hinter Tungdil und betrachtete die Hänge des Roten Gebirges. Auch wenn er den Eindruck erweckte, auf die Umgebung zu achten, waren seine Gedanken immer wieder bei der Nacht, in der Tungdil sich für kurze Zeit verändert hatte. Beängstigend verändert hatte...
Sie hatten darüber nicht gesprochen, und ihre Gruppe glaubte das Märchen vom Schwächeanfall. Woran leidet er? An einem Dämon? An einem Fluch? Seitdem sang der Chor der Zweifler wieder laut.
Auf Tungdils Befehl hatten sie den alten Pfad genommen, der sie zu dem schmalen Tal führen würde, das sich auf einen tiefroten Berg zuschlängelte.
Ältere Erinnerungen stiegen in Ingrimmsch auf, als sie auf den Eingang zuritten. Das Tal besaß fünf Biegungen, und an diesen hatten die Ersten damals Befestigungen errichtet, dicke Wälle mit runengesicherten Toren gegen ihre Feinde. Hier waren sie damals vor den Albae Sinthoras und Caphalor geflüchtet, als sie bei den Ersten einen Schmied gesucht und ihn in einer Zwergin gefunden hatten: Balyndis Eisenfinger, die jetzige Königin der Fünften.
Die Bauten von einst waren verschwunden. Heute erstreckten sich hölzerne Palisaden anstatt der Mauern, hinter den Spitzen sah er gelegentlich das Metall von Helmen und Speerklingen aufblitzen; von der Größe her mochten sie zu Schweineschnauzen passen. »Da oben«, Tungdil zeigte zum Roten Gebirge hinauf, »befand sich früher der Zugang.« »Nicht mehr. Er ist zusammen mit der Zwergenfestung verschwunden. Der Drache hat alles eingerissen, was an die Ersten erinnert.« Rodario wies zur Seite. »Hinter dem Steinhaufen gibt es nun eine gewaltige Höhle, wie wir erfahren haben. Einen Durchbruch, den sich der Geschuppte geschaffen hat. Den benutzen die Lohasbrander, um in das Höhlensystem der Zwerge zu gelangen.«
»Es war bestimmt die alte Ausfallpforte«, meinte Ingrimmsch. Er versuchte, die Helme zu zählen, die er sah. »Ich komme nur auf zwanzig Wachen. Schweineschnauzen.«
»Wozu sollten sie auch mehr aufstellen?« Slin ließ den Himmel keinen Herzschlag lang unbeobachtet. »Wer würde sich denn in die Heimat eines Drachen begeben?« »Zwerge«, kam es sofort aus Ingrimmschs Mund. »Unsere Ahnen haben sie damals verjagt, und wir tun es wieder.« Er sah zu Tungdil. »Du willst am helllichten Tag ins Tal reiten?«
»Nein. Die Zhadär sollen unter Beweis stellen, dass sie bei den Albae etwas gelernt haben«, sagte er und richtete sein Auge auf Barskalin. »Ihr werdet die Tore eines nach dem anderen erobern und sie erst öffnen, wenn sämtliche Bewacher tot sind. Findet heraus, wie wir durch den Eingang gelangen können, ohne dass uns der Drache bemerkt.«
»Wenn wir doch seinen Hort ausräumen wollen, wäre es dann nicht klüger, wenn wir uns hineinstehlen würden, anstatt die Orks umzubringen und die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken?«, wandte Rodario ein. »Da wird Lohasbrand schneller angreifen, als uns lieb sein kann.«
»Die Orks werden leise sterben. Es wird dauern, bis man ihren Tod bemerkt.« Tungdil deutete auf Hargorin. »Wir haben uns unterwegs besprochen und sind zur Ansicht gelangt, dass wir uns aufteilen sollten, sobald wir den Hort geplündert haben. Die Zhadär und wir, während Hargorin die Schwadron anführt. Sie werden sich auf einer anderen Route nach Süden begeben, einige von ihnen reiten als Boten in die Zwergenreiche und fordern die Heere an, mit denen wir gegen Lot-Ionan ziehen. Andere reiten zu Aiphatön.« Mit einer Hand zeigte er auf Rodario. »Sie werden seine Briefe an die Nachfahren des Unglaublichen überbringen.«
Gut, dass wir sie getroffen haben. So viele Boten hätten wir gar nicht auf die Schnelle gefunden. Verlässlich werden sie wohl sein. Ingrimmsch war nicht böse, dass sie die Begehrer los waren. »Wir treffen sie an einem bestimmten Umlauf vor dem Blauen Gebirge«, vermutete er laut.
»Mitte des Frühlings sollten die Vorbereitungen abgeschlossen sein. Sowohl unsere als auch die des Kaisers. Dann kann es losgehen.« Tungdil blickte zu den imposanten Hängen hinauf, die im Licht rot leuchteten.
»Ich habe immer noch nicht verstanden, wie wir Lohasbrand entkommen, wenn er uns angeblich gleich riecht oder was auchimmer«, ließ Rodario nicht locker. »Und ich möchte nicht hören, dass ich ja nur ein Schauspieler bin, der keine Ahnung von Kriegskunst hat.« Mallenia und Coira gaben ihm mit ihren Blicken recht.
»Es ist aber so«, sagte Hargorin verächtlich.
»Der Drache wird zuerst nicht wissen, was vorgefallen ist. Er wird uns für Aufständische halten und die Sache den Orks überlassen - bis er seinen Verlust bemerkt«, erklärte Tungdil ihnen. »Bis dahin sollten wir mindestens die Hälfte der Strecke zu Lot-Ionan hinter uns gebracht haben. Mindestens! Wir werden von morgens bis abends reiten müssen und die Pferde wechseln, sobald sie müde werden. Ohne den Vorsprung ist es nicht zu schaffen. Holt er uns ein, dann müssten wir«, er warf Coira einen kurzen Blick zu, »Lohasbrand vernichten. Damit würde uns aber ein wichtiges Element fehlen, das wir zur Schwächung von Lot-Ionan benötigen. Kommt er uns zu nahe, werden wir versuchen, ihn in die Flucht zu schlagen.«
»Ihr traut mir einiges zu«, sprach die Königin und schluckte schwer.
»Das tue ich. Weil ich es muss. In der Schlacht bekommt man ein Kämpferherz, nicht beim Geschichtenhören über den Krieg.« Er richtete sein Auge auf sie. »Sagt es mir lieber gleich, wenn Ihr zu viel Angst habt, damit ich den Plan ändern kann.« Coira fühlte sich in ihrer Ehre als Maga gekränkt. »Sicher schaffen wir es, sowohl den Drachen als auch den Magus gemeinsam zu Fall zu bringen. Lot-Ionan wird bei unserer Ankunft angeschlagen genug sein, denn ich gehe ebenso davon aus, dass unser Plan gelingt.«
Die Sonne verschwand hinter den aufziehenden Wolken, erste Regentropfen fielen auf die gerüstete Gruppe nieder, und ein leichtes metallisches Klappern erfüllte die Luft. Tungdil wendete sein Pony und ritt weg vom Taleingang. »Da drüben gab es Höhlen. Darin schlagen wir unser Lager auf, bis die Zhadär zurückkehren und uns berichten, was sich bei ihrem Einsatz ereignet hat.«
Sie fanden tatsächlich Unterschlupf, bevor der Regen stärker wurde und bindfadendick vor dem Eingang hinabstürzte. Er spülte auch die letzten Reste des Schnees hinweg und verwischte die Spuren des Trosses.
Zwerge und Menschen verteilten sich in der weitläufigen Höhle, um sich vor dem anstehenden Angriff auf die Lohasbranderund die Orks auszuruhen. Ingrimmsch versorgte sein Pony und schlenderte umher, sah nach den Begehrern. Die ersten Botenreiter wurden von Hargorin ausgesucht, damit sie sich bei Anbruch des nächsten Umlaufs auf die Straße begaben und ihre Botschaften an Aiphatön, den Widerstand sowie an die Zwergenstämme überbrachten. Jetzt lässt sich nichts mehr aufhalten.
Danach ging er zu den Unsichtbaren, um zu beobachten, wie sie ihre Vorbereitungen für den nächtlichen Einsatz trafen.
Sie saßen mit Barskalin zusammen und redeten leise miteinander. Kurzbärtig, schwarz von Kopf bis Fuß, schwer bewaffnet. Ich kann sie wirklich nicht auseinanderhalten, stellte er wieder fest. Ob ich es wagen kann, mich mit ihnen zu unterhalten? Wer weiß, wie viele von denen zurückkehren?
Der Gedanke kam nicht von ungefähr: Die Zweifler verlangten es von ihm. Wer eine Geste beherrschte, um die Rüstung des Gelehrten zum Stehen zu bringen, konnte sicherlich mehr über die Runen erzählen. Das war wichtig. Er wusste auch schon, wie er es anstellen würde.
Er wartete, bis die Unterhaltung der Zhadär beendet war, dann näherte er sich Schritt für Schritt. Ingrimmsch achtete darauf, dass Barskalin in eine andere Richtung sah, denn er würde es sicherlich nicht wollen, dass sich der Zweite mit seinen Leuten unterhielt. Sie aushorchte wäre wohl der bessere Ausdruck.
»Darf ich mir mal die Waffen näher ansehen?«, fragte Ingrimmsch den Nächstbesten der Krieger, der am Boden saß und seinen Dolch schliff. Er lächelte unverbindlich, dabei ging er in die Hocke. Somit fiel er nicht zu sehr auf.
Der Zhadär wandte sich um und blickte ihn erstaunt an. »Bitte«, sagte er und reichte Ingrimmsch die Waffe.
»Kennt ihr eigentlich auch Witze? Ich finde den mit dem Zwerg und dem Ork herrlich.« »Wirklich? Ich habe ihn nie verstanden«, erwiderte der Zhadär. »Warum sollte ein Ork ausgerechnet einen von uns nach dem Weg fragen?«
Ingrimmsch stutzte. »Aber das ist doch schon mal die eine lustige Sache daran.« »Lustig? Ich finde es... unwahrscheinlich.« Sein Gegenüber sprach geradeaus. »Jede Grünhaut weiß, dass ein Zwerg ihn köpfen würde.« Er lachte auf. »Und dann die Auflösung des Witzes! Was der Zwerg sagt und macht - recht seltsam. Aber nicht lustig.« »Äh«, machte Ingrimmsch verwirrt. »Die Geschmäcker sind verschieden.« Er beschloss, seine Taktik zu ändern, weg vom Witz, und so drehte und wendete er den Dolch in den Händen, bestaunte laut die Runen und die Güte der Klinge, um dem Zhadär zu schmeicheln. »Was bedeuten die Zeichen denn?«
Geduldig erklärte ihm der Zwerg, dass sie dem Feinden den Tod garantierten. »Wie bei uns«, meinte Ingrimmsch ein bisschen unbeholfen. »Ich meine... ihr wart ja mal welche von uns...« Schnell schwieg er und gab den Dolch zurück. Jetzt war es an dem Zhadär zu grinsen. »Was möchtest du wissen, Zweiklinge?« »Ist es so offensichtlich?«
»Ja. Du bist ein herausragender Krieger, aber kein guter Spion.«
»Das liegt mir tatsächlich nicht. Ich gehe die Dinge geradeheraus an.« Ingrimmsch lachte und setzte sich; er hörte und spürte, wie sich seine Wasserflasche vom Gürtel löste und auf den Höhlenboden rutschte. Mit dem Zeigefinger malte er ein Zeichen in den Boden, das ungefähr der Rune glich, die Tungdil auf der Rüstung trug. Der Zhadär drehte sich zu dem Gelehrten um, der Geruch von kräftigen Gewürzen streifte den Zwerg. »Du hast es auf der Panzerung des Großkönigs bemerkt«, sagte er sofort. »Frak hat uns gesagt, dass er Goldhand einen Schrecken eingejagt hat.« »Frak?«
»Der Zhadär, der euch im Jenseitigen Land begegnet ist.« »Also kennt ihr das Geheimnis der Rüstung?« »Gibt es denn eines? Weil sie magischer Natur ist?« Ingrimmsch nickte. »Ja.«
»Das ist kein Geheimnis. Jeder Magus und jede Maga und jedes Wesen, das sich ein wenig mit den Künsten der Magie auskennt, werden es dem Großkönig ansehen. Oder war es eine bestimmte Art der Magie?« Der Zhadär setzte das Schleifen des Dolches fort. »Ich darf nicht darüber sprechen«, sagte er leichthin.
»Ich muss es wissen! Wenn ein Alb einen Spruch gegen Tungdil wirft und ihn wieder in der Rüstung einsperrt, muss ich ihn befreien können, ohne jedes Mal mit dem Krähenschnabel dagegen zu schmettern.« Die schwarzen, beinahe leeren Augenhöhlen seines Gegenübers machten ihm nach wie vor zu schaffen. Es war sehr schwierig, sich mit einem Zwerg zu unterhalten, ohne an den Augen abzulesen, wie er manche Sachen meinte. »Damit hast du die Starre gelöst?« Der Zwerg lachte los. »Ein Wunder, dass deine Hände nicht geplatzt sind.«
»Ich habe gut achtgegeben.« Ingrimmschs Aufregung stieg. Er stand kurz davor, ein paar Rätsel zu lüften. Schnell sah er zuerst zu Barskalin, dann zu Tungdil. Beide waren beschäftigt und bemerkten ihn nicht. »Sag es mir, bitte! Das Leben des Großkönigs könnte davon abhängen.«
»Wohl wahr.« Der Zhadär setzte den Schleifstein ab. »Merk dir diese Worte.« Aus seinem Mund drangen Laute, die für Ingrimmsch nicht nachzusprechen waren. Verdutzt sah er den anderen Zwerg an. Inzwischen war er davon überzeugt, es mit dem Stänkerer zu tun zu haben; die Stimme passte. »Das schaffe ich nicht.« »Dann übe es. Für den Großkönig.« Er gluckste plötzlich los, dann schwieg er und stieß einen Fluch aus, dabei verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Das Ganze dauerte nur zwei, drei Blinzler lang, doch es genügte, um Ingrimmsch zu erschrecken und nach dem Waffengriff fassen zu lassen. Aber der Zhadär blieb nach seinem Ausbruch gelassen. »Was noch?«
»Es sind also wirklich albische... Runen?«
»Ja. Auf unseren Rüstungen ausschließlich, und beim Großkönig sind viele darunter, die ich nicht zu lesen vermag«, räumte der Zhadär ein. »Was auf der Hand liegt. Aber sie tragen bis zu einem gewissen Grad etwas Albisches in sich. Und Zwergisches.« Er sah Barskalin, der sich zu ihnen umgedreht hatte, die Augenbrauen wanderten nach unten. »Ich muss noch was tun«, sagte er und stand auf.
»He, nein, warte! Das wusste ich doch schon. Das mit der Erklärung.« Ingrimmsch war enttäuscht, verstand aber, dass er dem Zhadär keine weiteren Geheimnisse mehr entlocken konnte. Immerhin besaß er die Formel, um die Starre zu lösen. Er fragte sich, wie viele Befehle es gab, um die Rüstung des Freundes weitere magische Kunststückchen machen zu lassen, und zwar ganz gleich, ob es dem Träger behagte oder nicht. Er sollte sie wirklich ausziehen, wenn wir gegen Lot-Ionan ziehen. Ich werde es ihm schmackhaft machen, beschloss er.
Er langte nach seiner Trinkflasche und drehte sie auf, ohne sie eines Blickes zu würdigen, während er die Zhadär weiterhin beobachtete. Sie arbeiteten schweigend, schliffen Dolche, wechselten die Rüstungen der Schwarzen Schwadron gegen ihre eigenenaus. Immer wieder hielten sie mit ihrem Tun inne, schlossen die Lider und schienen zu beten, ehe sie fortfuhren.
Seine Lippen legten sich an die Flaschenöffnung, Flüssigkeit schwappte in seinen Mund, und ohne den Geschmack zunächst wahrzunehmen, schluckte Ingrimmsch. Erst dann merkte er, dass es scheußlich und schon gar nicht nach seinem Kräutertee schmeckte, den er sich abgefüllt hatte. Den zweiten Schluck spuckte er auf den sandigen Höhlenboden: Es war eine trübe, rötlich-schwarze Flüssigkeit, die zäh verrann und lange benötigte, bis sie versickerte.
»Was ist denn das?« Ingrimmsch besah die Flasche. Es ist gar nicht meine! Die lag immer noch dort, wo er sie verloren hatte.
Angewiderte spie er ein weiteres Mal aus, dann riss er seine Flasche hoch und spülte sich den Mund aus. Aber der metallische Geschmack, der ihn an Blut und sehr starken Alkohol erinnerte, blieb auf seiner Zunge haften, als sei es Pech.
»Wem gehört die?«, rief er laut und hob die fremde Trinkflasche in die Höhe, nachdem er sie verschraubt hatte.
Der Zhadär, mit dem er sich unterhalten hatte, kam angelaufen. »Meine«, sagte er aufgebracht. »Ich muss sie verloren haben.« Er riss sie an sich, als befände sich darin der beste Wein des Geborgenen Landes.
»Was ist denn drin?«
Der Zhadär wirkte erschrocken. »Wieso? Hast du davon getrunken?«
Etwas in der Stimme warnte Ingrimmsch, auf diese Frage mit Ja zu antworten. Stattdessen zeigte er auf den Fleck im Sand. »Nein. Aber sie war nicht ganz geschlossen, und das, was herausgelaufen ist, sah sehr merkwürdig aus und roch noch seltsamer«, log er und hoffte, dass ihn Vraccas für die Lüge nicht mit einem roten Kopf strafte. »Ein Kräuterlikör?« Er grinste. »Daraus bezieht ihr wohl eure geheimnisvollen Kräfte! Ein Zaubertrunk, was?!«
Der finstere Zwerg neigte sich nach vorne. »Destilliertes Elbenblut«, raunte der Zhadär ihm zu. »Mit fürchterlichen Albae-Zaubern verändert und eingedampft, aufgekocht und mit Branntwein flüssig gemacht.« Dann zog der Zhadär wieder eine Fratze und tat vier verdrehte Lacher, um gleich darauf wieder normal zu wirken.
Ingrimmsch spürte ein Würgen. »Elbenblut«, wiederholte er angeekelt. »Wofür soll das gut sein?« »Unsere Magie«, flötete der Zhadär lediglich. »Unsere Magie.« Daraufhin kehrte er zu seinen Leuten zurück.
»O Vraccas! Was habe ich denn verbrochen, dass du mir solche Dinge antust?«, sagte Ingrimmsch niedergeschlagen und legte die Hand auf den Bauch. »Wer weiß, was das Zeug mit mir anstellt?«
Solange er keinerlei Veränderung bemerkte, würde er sein Missgeschick für sich behalten. Es konnte ja auch sein, dass der verrückte Zhadär ihn reingelegt hatte und es nichts weiter war als... ein Likör.