Epilog

Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, 6492. Sonnenzyklus, Frühsommer.


Hargorin Todbringer sah auf das letzte der sechs Kästchen aus Vraccasium, in welches das Zeichen der Dritten gepunzt worden war.

Darin befand sich etwas Asche von Tungdil Goldhand, dessen Leichnam in einer ergreifenden Zeremonie verbrannt worden war. Jeder Stamm und die Freien würde entgegen der Tradition des Zwergenvolkes einen Teil des mächtigsten, verdienstvollsten und heldenhaftesten Großkönigs, den sie jemals gehabt hatten, mit sich nehmen und die Überreste jeweils in einer Gedenkstätte bergen. So lautete die Übereinkunft der Königin und der Könige.

Ingrimmsch schob ihm das Kästchen über den Tisch zu, danach verteilte er die anderen an Xamtor, an Balyndis, die vom Fieber genesen war, an Frandibar und an Gordislan den Jüngeren aus der Stadt der Freien. Das letzte Kästchen, auf dem die Runen der Zweiten standen, rührte er nicht an.

Sie hatten sich in der Versammlungshalle der Festung an einem kleineren Tisch eingefunden, um darüber zu beraten, was geschehen war und wie es mit den Kindern des Schmieds weitergehen sollte. Allen machte der Tod ihres Helden zu schaffen, die Stimmung war gedrückt.

Hargorin sah in die Runde, dann schob er das Kästchen Ingrimmsch zu. »Sie haben dich zu ihrem König gewählt. Es steht dir zu. Nimm es mit ins Blaue Gebirge und errichte deinem Freund ein Ehrenmal, wie es ihm gebührt.«

Ingrimmsch betrachtete das Kästchen. Ein Teil von ihm weigerte sich noch immer, den Tod des Gelehrten anzunehmen, ein anderer Teil stürzte sich verzweifelt auf die Annahme, dass es Tungdils Doppelgänger gewesen war; doch ein dritter und überwiegender Teil seiner selbst wusste, wen sie unter dem Klang der Hörner, zum ergreifenden Gesang des Zwergenchors und unterden Gebeten zu Vraccas dem Feuer übergeben hatten. Balyndis hatte es ihm damals gesagt: Es war Tungdil gewesen. Auch sein Herz hatte es gespürt.

Ich hätte von Anfang an auf es hören sollen. Verblendete wie Goda und Kiras hatten ihn zu lange beeinflusst. Und noch immer gab es die Ungläubigen in den Stämmen, die heimlich auf die Rückkehr des wahren Tungdil Goldhand warteten. Ich weiß esbesser. Langsam streckte er die Hand aus und legte die Finger auf das rötlich-goldene Metall. »Das werde ich, Hargorin.« Er atmete tief ein. »Ich breche bald auf, um mit denjenigen meines Stammes, die sich zu den Freien geflüchtet hatten, nach dem Rechten zu sehen und die Gänge von den Leichen der Schwarzaugen zu säubern.«

Balyndis lächelte ihm aufmunternd zu. »Es wird dir gelingen, diese Herausforderung zu meistern, Boindil. Das weiß ich von früher: Du magst gewaltige Herausforderungen.«

Ingrimmsch grinste schwach. »Dein Wort in Vraccas Ohr, Königin Balyndis.« »Bleibt die Frage nach dem nächsten Großkönig«, sagte Frandibar überlegt. »Sie soll offen bleiben. Für die nächsten zwanzig Zyklen«, schlug Xamtor vor. »Ich fände es unpassend, einen raschen Ersatz für Tungdil Goldhand zu wählen. Der Thron soll unbesetzt bleiben. Wir werden sehen, wer sich als Oberhaupt aller Zwergenstämme hervortun wird.«

»Ginge es nach mir«, Hargorin blickte zu Boindil, »wäre er es.«

Ingrimmsch hob abwehrend die Hand. »Ich bedanke mich für deine Fürsprache, aber ich würde den Titel nicht annehmen wollen.« Er nickte Xamtor zu. »Sein Vorschlag ist der beste. Lasst uns einmal in jedem Zyklus zusammenkommen und berichten, was in den Zwergenreichen geschehen ist, und in zwanzig Zyklen berufen wir die Clanführer aller Stämme ein. Sie sollen entscheiden.« Er erntete zustimmenden Beifall. Frandibar sah auf das Modell der Schwarzen Schlucht, auf der sich noch immer die Felsen und die Festung erhoben. »Übeldamm werden wir den Ubariu und den Untergründigen überlassen, Boindil.«

»Ja. Es gibt keinen Grund, die Festung zu halten oder sie herzurichten. Sollen sie Übeldamm zerfallen lassen oder etwas Neues aus den Steinquadern bauen. Ich habe etwas von einer Statue vernommen, zu Ehren von Tungdil.« Er sah der Reihe nach in die zerfurchten Gesichter. »Haben wir alles besprochen?«

Weil keiner etwas vorzubringen hatte, lösten sie die Runde auf, und sie verabschiedeten sich voneinander, um die Rückwege in die jeweilige Heimat anzutreten; die kürzeste Route hatte Frandibar, die längste wohl Xamtor.

Ingrimmsch schlenderte mit dem Kästchen in der Hand gedankenverloren durch die Festung, in deren Wänden überall kleine Risse entstanden waren. Es wurde Zeit, dass die restliche Besatzung Übeldamm verließ, bevor weitere Teile ungeachtet der Stützen und Streben absackten oder herausbrachen.

Wie von der Dunkelheit ausgespuckt, stand der letzte Zhadär vor ihm und grinste dämonisch. »Geht es nach Hause?«

Ingrimmsch betrachtete die schwarze Rüstung, die der Zwerg, der sich selbst Balodil nannte, nicht abgelegt hatte. »Ja. Für dich nicht? Du bist ein Dritter...« Er verneinte harsch. »Ich bin ein Zhadär, geschaffen von den Albae. Und genau diese werde ich jagen, bis ich den letzten aus seinem Versteck getrieben habe.« »Aiphatön wollte das übernehmen. Und du solltest eigentlich eine Schar der einstigen Schwarzen Schwadron mit diesem Ziel anführen.«

»Aiphatön würde sie niemals alle finden. Ich kenne ihre Geheimnisse, er nicht. Sie haben ihren eigenen Kaiser hintergangen, das hat er zu gern vergessen. Und ich gehe allein. Die Dritten sind gute Kämpfer, aber nicht das Mittel gegen die Albae, die ich hetzen werde.« Balodil nahm seine Trinkflasche vom Gürtel. »Die ist für dich.« Ingrimmsch betrachtete das Geschenk und griff danach. »Aber... ich denke, du brauchst das Mittel ebenso?« Er sah sich um, ob sie auch niemand beobachtete. Der Zhadär kicherte, dann bellte er wie ein Hund, um gleich darauf normal zu schauen. »Ich werde mir mein eigenes Mittel brauen.« Er neigte sich nach vorn. »Aus Albae-Blut«, flüsterte er tief wie ein Brunnen. »Ich presse sie aus wie eine Frucht.« Er leckte sich über die Lippen, und die Augen glitzerten.

Ingrimmsch konnte nicht abstreiten, dass Balodil ihm unheimlich war. »Was wirst du tun, wenn du sie alle erwischt hast?«

Er zuckte mit den Achseln und stieß die Luft aus, dabei sah eraus wie ein Kleinzwerg, der von seiner Mutter einen Tadel erfahren hatte. »Dies und jenes. Vielleicht gehe ich zu den Freien, vielleicht verlasse ich das Geborgene Land, vielleicht stürze ich mich in eine Schlucht.« Er gluckste und rieb sich den kurzen Bart. »Oder aber ich gehe ins Jenseitige Land und suche mir ein Heer, um ins Geborgene Land einzufallen.« Lauernd sah er in Boindils Augen. »Na?«

»Das würdest du nicht tun.« Ingrimmsch betrachtete ihn. »Du weißt, dass es zu viele Helden gibt, die dich aufhalten könnten.« Jetzt beugte er sich nach vorn. »Und ich kenne deine Schwachstelle: Tungdils Sohn würde niemals das Erbe seines Vater zerstören.«

Balodil zuckte zurück und lachte boshaft. »Nein, ich war niemals sein Sohn. Ich habe den Namen und die Geschichte gehört und fand es spaßig, damit herumzualbern.« Er kicherte wieder. »Du bist darauf hereingefallen, nicht wahr?«

»Beinahe«, gestand Ingrimmsch erleichtert. »Ich wünsche dir Glück bei dem, was du tust.«

Der Zhadär salutierte. »Wenn du mich eines Umlaufs brauchen solltest, dann rufe meinen Namen dem Ostwind zu. Er ist mein Freund und wird mich deine Botschaft wissen lassen«, sagte er ernsthaft und machte einen Schritt nach hinten in einen Seitengang, in dem die Fackeln plötzlich von selbst erloschen. »Dir den Beistand deines Gottes.« Dann war er verschwunden.

Beinahe zu spät fiel Ingrimmsch ein: »Woher hattest du die Geschichte von Balodil?« »Ein Freund berichtete sie mir«, kam es aus der Dunkelheit. »Der, den du den Knurrer nanntest, hat von sich behauptet, dass er Tungdils Sohn sei.«

Dem Zwerg wurde kalt. »Was?« Er folgte dem Zhadär in die Finsternis. »Ist das wahr?« Er erhielt keine Antwort.

Seufzend und mit noch mehr Gedanken beladen, kehrte er in seine Unterkunft zurück, aus der ihm Zwerge mit Kisten und Truhen entgegenkamen.

Der Umzug hatte bereits begonnen, die Sachen waren verstaut und würden in vielen Umläufen in seinem eigentlichen Zuhause ankommen.

Ein bisschen schade ist es schon. Ingrimmsch verspürte eine gewisse Wehmut, als er mit der Hand über die Granitwand strich. Erbaut nach seinen Plänen und Hunderte Zyklen lang seine Heimat, in der seine Kinder aufgewachsen waren. Ich werde oft an diesen Ort zurückkehren, und wenn es nur in Gedanken sein sollte.

Er betrat den Raum, in dem seine Familie zusammen mit Coira, Mallenia und Rodario saß. Seine Gemahlin unterhielt sich mit der Maga und winkte ihn heran, als sie ihn bemerkte.

Ingrimmsch wusste, dass sie Kiras Beisetzung beigewohnt hatte, welche die Untergründigen rasch und ohne Zeremonie vollzogen hatten. Er selbst war ferngeblieben. Die Mörderin seines Freundes hatte weder Mitleid noch Ehrbezeugung zu erwarten.

»Ho! Haben sich die Magischen des Geborgenen Landes die Länder aufgeteilt?«, machte er einen Scherz und stellte Kästchen sowie Flasche auf den Tisch. »Nein. Wir werden friedlich und im Einklang miteinander leben«, antwortete die Königin. »Wir haben besprochen, dass ich die Quelle im einstigen Reich der Albae nutzen und vor allem bewachen werde. Zusammen mit den beiden Elben. So leid es mir tut, aber ich werde Weyurn von dort aus regieren müssen. Goda beschützt die Quelle im Blauen Gebirge.«

»Das wird den kommenden König von Gauragar aber nicht glücklich machen.« »Wird es«, sagte Mallenia. »Es wird nämlich eine Königin sein.«

»Ihr?« Ingrimmsch deutete eine Verbeugung an. »Das habt Ihr Euch nach den vielen Zyklen als Streiterin für den Widerstand redlich verdient. Na, dann spreche ich Euch meine Gratulation aus, Königin Mallenia. Nimmt der Schauspieler vielleicht Idoslän unter seine Fittiche?« Er zwinkerte.

»Nein, das lasse ich beides ihr. Ich habe mich in Urgon beworben«, gab Rodario gelöst zurück. »Auf dem Rückweg spreche ich bei der Versammlung vor, welche die Anwärter prüfen soll. Bei meinen Heldentaten und legendären Gastspielen wird es mir ein Leichtes sein, den Thron zu bekommen.«

Mallenia und Coira lachten ihn gleichzeitig aus. »Und er glaubt so fest daran, der Arme«, neckte ihn die Ido.

»Das tue ich!« Rodario zog eine Schnute. »Du wirst sehen, dass ich Herrscher werde!« »In deinem nächsten Leben«, meinte Coira flachsend. »Es soll dir vorerst genügen, dass du zwischen zwei Frauen hin und her reisen musst. Da hättest du gar keine Zeit für so ein wichtiges Amt.« Sie setzte eine traurige Miene auf. »Oder willst du sagen, dass wir dir nicht wichtiger sind als solch ein Thron?«

Rodario lachte schallend. »Wenn du eines Umlaufs keine Lust mehr hast, Königin und Maga zu sein, ich nehme dich gern in meinem Theater auf.«

Mallenia grinste nur, eine Hand hielt sie am Schwertgriff. »Lasst uns gehen. Goda und er haben sicherlich eigene Dinge zu besprechen.«

Sie reichten sich nacheinander die Hände, dann verließen die Frauen und der Mann die Unterkunft.

»Die Langen sind schon merkwürdig«, befand Ingrimmsch und gab Goda einen Kuss auf die Stirn. »Manchmal bist du mir schon zu viel, und der Schauspieler nimmt sich gleich zwei Weiber.«

Goda grinste und schickte die Kinder hinaus, um beim Tragen mit anzupacken. »Du wirst ein guter König sein. Deine Kinder werden dich unterstützen.« Sie küsste ihn. »Wie ich es tue.«

»Tust du das?«, rutschte es ihm heraus.

Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch stattdessen streichelte sie sein schwarzsilbernes Haar. »Das ist die einzige Sache, bei der wir niemals einer Meinung sein werden, geliebter Gatte: Kiras hat richtig gehandelt.«

Ingrimmsch blickte ihr in die Augen. »Du weißt, dass ich es anders sehe. Und von nun an werde ich mit dir niemals mehr darüber sprechen.« Er wandte sich ab und biss die Zähne zusammen, damit er nicht noch mehr sagte, was sie verletzen könnte. Dafür liebte er sie zu sehr.

Ingrimmsch hörte, wie sie tief Luft holte und das Zimmer verließ.

Erleichtert, wieder allein mit seinen Gedanken zu sein, wandte er sich dem Tisch zu, auf dem noch immer zwei Dinge auf ihn warteten: das Kästchen und der Trinkbeutel. Er schritt darauf zu, berührte zuerst das kühle Vraccasium, danach langte er nach dem Leder und nahm seinen eigenen Trinkbeutel unter dem Kettenhemd hervor. Voller Abscheu hörte er das schwarze Mittel darin gluckern.

Dieses Zeug trägt die Schuld an Tungdils Tod. Es und der Fluch, dem ich unverschuldet anheimgefallen bin.

Ingrimmsch nahm den Krähenschnabel, trat zu dem mannsgroßen Kamin und entfachte geduldig ein Feuer, schürte es immer weiter, legte Scheit um Scheit nach, bis die Flammen hochhinaufschlugen. Seine Gedanken kreisten dabei um die vergangenen Umläufe. So viele Fragen, die er Tungdil hatte stellen wollen, würden unbeantwortet bleiben. Wir sehen uns in der Ewigen Schmiede. Dann ist viel Zeit zum Erzählen.

»Ich brauche die Gnade einer Elbengöttin nicht«, sagte er leise und warf zuerst seinen Beutel in die Lohen. Die Hitze ließ das Leder verkohlen, und die schwarze Flüssigkeit sickerte heraus. Kaum kam sie mit dem glühenden Holz in Berührung, verging es brodelnd zu dunklem Rauch. »Ich bin Boindil Zweiklinge aus dem Clan der Axtschwinger, ein Kind des Schmieds und König des Stammes der Zweiten.« Mit Schwung warf er das zweite Gefäß in den Kamin. »Vraccas hat uns aus Stein gemacht und uns Leben gegeben. Ich werde diesen Fluch selbst überwinden, so wahr ich hier stehe!«

Gebannt verfolgte er, wie auch der zweite Schlauch verbrannte. Seine Hände stützten sich auf den Kopf des Krähenschnabels, stolz reckte er den Kopf und drückte den Rücken durch. Aufrecht, herrschaftlich stand er vor den Flammen.

Dann drehte er sich um und kehrte an den Tisch zurück. Bewegt betrachtete er das Kästchen aus Vraccasium, das im Feuerschein leuchtete, als spende ihm eine Macht von innen heraus Kraft. Ingrimmsch legte die Hand darauf und fühlte die Wärme. »Du wirst mir fehlen, Gelehrter«, flüsterte er. Er nahm es an sich und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Das Blaue Gebirge erwartete seinen König.


ENDE

Загрузка...