Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, Festung Übeldamm, 6491. Sonnenzyklus, Winter.
Boindil saß seinem Freund im Licht zahlreicher Lampen gegenüber und beobachtete grinsend, wie er das Essen in sich hineinstopfte. »Die hatten wohl auf der anderen Seite des Schildes nichts Ordentliches«, bemerkte er feixend. »Niemand bereitet die Felsgraupen mit Gugulhack so gut zu wie Goda. Habe ich recht, Gelehrter?« Sie hatten sich in Boindils Gemächer zurückgezogen, um nach dem Trubel in Ruhe zu speisen. Die Wände hingen voller Waffen und Schilde, eine Seite war verschiedenen Landkarten des Geborgenen Landes vorbehalten, und der Tisch, vor dem sie sich niedergelassen hatten, zeigte unter der Glasplatte eine haargenaue Risszeichnung der Festung mit ihren verschiedenen Ebenen. Ein Raum voller Aufmerksamkeit, Übersicht und Kampfbereitschaft, wie es einem General gebührte.
Tungdil hatte sich von seiner Tioniumrüstung getrennt und saß in einem dunkelbeigefarbenen Untergewand, auf dem Runen und Zeichen eingestickt waren, am Tisch; seinen braunen Bart trug er noch immer kurz getrimmt, doch er wirkte dichter und zeigte eine deutliche grausilberne Strähne auf der rechten Kinnseite. Die langen braunen Haare waren mit Öl an den Kopf angelegt und hingen in den Nacken. Sein Kauen wurde langsamer. »Du starrst mich unentwegt an.«
»Kannst du mir das übel nehmen?«, lachte Ingrimmsch und langte nach seinem Bierhumpen. »Ich habe dich zweihundertfünfzig Zyklen nicht zu Gesicht bekommen!« »Und jetzt willst du alles an einem einzigen Abend nachholen, indem du mir mit Blicken noch mehr Falten in mein Gesicht gräbst?«, hielt Tungdil verschmitzt dagegen. Er nahm seinen Becher und wollte mit Ingrimmsch anstoßen - dabei fiel sein Blick auf den Inhalt. »Ist das Wasser?« Fast angewidert schober den Becher von sich. »Gibt es denn keinen Branntwein mehr? Saufen die Krieger der Festung so sehr? Und warum habe ich kein schönes Schwarzbier so wie du?« Boindil setzte den Humpen überrascht ab. »Das letzte Mal warst du mit dem Alkohol vorsichtiger.«
»Vorsichtiger?« Tungdil wirkte verwirrt, dann hellte sich seine Miene auf. »Ach ja, jetzt verstehe ich, was du meinst.« Er packte den Humpen seines Freundes, nahm einen langen Zug und setzte nicht eher ab, bis das Bier bis auf den letzten Tropfen durch seine Kehle gelaufen war. Hart stellte er den Humpen ab, wischte sich den Schaum vom Bart und rülpste laut. »Das hat sich gegeben.« Ein breites Grinsen entstand auf seinem Gesicht.
Boindil betrachtete ihn, blinzelte und stieß ein schallendes Gelächter aus. »So gefällst du mir!« Er gluckste. »Wenn wir gerade dabei sind: Was sagst du zu meinen Töchtern und Söhnen? Goda hat sie dir doch vorhin vorgestellt.«
»Ganz ihr Vater. Und das sollte ein Lob sein«, gab Tungdil flachsend zurück. »Ernsthaft: Du kannst stolz auf sie sein. Verzeih, dass ich mir die Namen nicht merken konnte, aber ein Sohn und eine Tochter scheinen magisch begabt zu sein, wie Goda meinte. Das ist doch eine Besonderheit! Die zwei Burschen mit den kräftigen Armen sehen aus wie stattliche Krieger. Sie nutzen einen Kampfstil aus Ubariu-Taktik und Zwergenweise, das macht sie einzigartig.« Er sah unangenehm berührt aus. »Verzeih, dass ich dir das so sage, aber die drei anderen... schlagen... aus der Art. Völlig aus der Art.«
Ingrimmsch fühlte sich vor den Kopf gestoßen. »Wie meinst du das?«
Tungdil suchte scheinbar nach den passenden Worten. »Es tut mir leid, das sagen zu müssen, doch sie sind alle«, er zog besorgt die Augenbrauen zusammen, »alle bessere Handwerker als du! Ihre Steinmetzarbeiten sind großartig.« Dann platzte ein schelmisches Lachen aus ihm heraus.
Erleichtert stimmte Boindil ein. »Ja, treib ruhig deine Spaße.« Er sah ihn glücklich an. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich über deine Rückkehr bin. Ich hätte fast nicht geglaubt, dass du es bist. Du sahst so... düster und finster aus, als du in deiner Rüstung an der Spitze der Ungeheuer standest. Als wärst du... einer von ihnen.« Gespannt wartete er, was sein Freund darauf erwiderte. Tungdil senkte den Blick, mit der linken Hand berührte er die goldene Augenklappe. »Es ist vieles geschehen, Ingrimmsch«, antwortete er mit tiefer, veränderter Stimme. Die Heiterkeit war schlagartig verschwunden, und die Schatten kehrten auf sein Gesicht zurück. »Vieles ist mir widerfahren, was mich verändert hat.« Er sah den Kampfgefährten an. »Ich bitte dich schon jetzt um Nachsicht für all das, was dir merkwürdig an meinem Tun erscheinen wird. Du wirst Zweifel bekommen...« »Ich?«, lachte Boindil auf und rief einen Soldaten, um sich eine Karaffe Bier bringen zu lassen. Nach kurzem Überlegen verlangte er nach einem kleinen Fässchen und einer Flasche bestem Branntwein. Eine Zwergenweisheit sagte: Sorgen und Erinnerungen vertragen Bier. »Wie könnte ich...«
»Du wirst zweifeln, Ingrimmsch«, flüsterte Tungdil geheimnisvoll. »Und ich stand einst an der Spitze des Heeres, das du gesehen hast.«
Boindil wusste nicht, was er darauf sagen sollte, und so beschränkte er sich darauf, sein Gegenüber anzustarren.
Tungdil atmete tief ein und aus, als bereiteten die Erinnerungen ihm körperliche Schmerzen.
Schweigend warteten sie, bis die Tür geöffnet und das verlangte Fässchen Bier und der Branntwein gebracht wurde. Wortlos leerten sie jeder einen weiteren Humpen, bis sich Tungdil dazu durchrang, die Stimme erneut zu erheben.
»Ich habe Dinge getan, Ingrimmsch, die mir niemand glauben würde. Niemand, der den Tungdil von früher kannte. Doch um an den Orten zu überleben, an denen ich mich auf der Suche nach einem Ausgang aus dieser dämonischen Welt aufhielt, musste ich sie tun.« Er sprach heiser, und sein Blick ging durch Boindil hindurch, in eine andere Welt. »Es gibt Geschöpfe, mein Freund, die ihren Opfern unsägliche Folter bereiten. Um sie zu bezwingen, muss man schlimmer sein als sie.« Er berührte die Runen auf seinem Untergewand. »Glaube mir, ich war schlimmer als sie. Selbst die Albae würden mich grausam nennen.« Er griff nach der Flasche.
Boindil musterte den Freund, der ihm plötzlich unendlich fremd erschien. »Möchtest du mir mehr davon berichten?«, brachte er schließlich hervor und goss sich ebenfalls vom Branntwein ein. »Oder...«
Tungdil schüttelte den Kopf. »Alles zu seiner Zeit. Ich habe zu lange in der Finsternis gelebt. Erlaube mir, mich am Licht deiner Gesellschaft zu erfreuen.« Er räusperte sich, sie prosteten sich zu. »Nun, was gibt es im Geborgenen Land?«
»Hat man nichts auf deiner Seite davon gehört?«
»Nein. Es gab keine Verbindung, solange der Schild gehalten hat.« Tungdil trank mit zunehmender Geschwindigkeit, und auch der Becher wurde beim Nachschenken jedes Mal ein wenig voller. »Du hast Lot-Ionan erwähnt. So manches habe ich in den Gängen von Übeldamm im Vorbeigehen aufgeschnappt, das mich mit Sorge erfüllt.« Er füllte sich Bier nach. »Sie redeten von einem Drachen, der im Westen lebt, dem Kordrion, der den Norden beherrscht, und den Albae, die den Osten erobert haben. Wie viel von dem, was ich gehört habe, stimmt?«
»Alles, Gelehrter«, seufzte Boindil. »Das Geborgene Land hat seinen Namen schon lange nicht mehr verdient.« Er stand auf und ging zu einem Tischchen, auf dem noch mehr Karten zusammengerollt lagen. Eine davon wählte er aus, kehrte zu seinem Freund zurück und breitete sie aus. »Lot-Ionans Verstand ist gegangen, das sagt jeder. Er hat meine Heimat, das Blaue Gebirge, von den Zweiten erobert und sie mit seinen magischen Künsten vertrieben. Wer nicht weichen wollte, ist vernichtet worden. Er sammelt Famuli um sich, und wenn du mich fragst, rüstet er sich schon lange für einen Krieg.«
Tungdil starrte auf die Linien. »Gegen den Kordrion?«
»Nein, gegen den Drachen Lohasbrand, der sich das Rote Gebirge der Ersten genommen hat. Soweit wir wissen, gibt es nur noch eine Handvoll des Stammes, die den Durchgang weit im Westen halten und gegen Scheusale von außen verteidigen.« Boindils Zeigefinger zeigte auf Tabain und dann auf Weyurn. »Sie sind dem Drachen tributpflichtig. Der Geschuppte hat Menschen gefunden, welche sich als Vasallenherrscher betätigen und sich Lohasbrander nennen. Jeder von ihnen regiert wie ein Adliger und befiehlt Ork Kontingenten.« Boindil fuhr sich über den Bart. »Ach ja, die Schweineschnauzen sind klüger geworden, jedenfalls diejenigen, die der Drache ins Geborgene Land führte. Das macht es nicht einfacher.«
»Bei den Infamen!«, entfuhr es Tungdil, und er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass Becher, Flasche und Humpen sprangen.
Ingrimmschs Augen verengten sich. »Infame? Was ist das denn?«
Tungdil winkte ab. »Berichte weiter«, sagte er düster. »Im Osten haben die Albae ihre Städte wieder errichtet...« »Die Albae sind zurück!« Boindil nickte. »Es sind andere Albae. Sie kamen durch die Hohe Pforte, nachdem Lot Ionan die Zweiten vertrieben hatte. Unter der Führung eines alten Bekannten von uns: Aiphatön. Erinnerst du dich an ihn?«
»Ja. Und ich hätte niemals geglaubt, dass er dem Geborgenen Land Unglück bringen würde.«
Ingrimmsch nickte. »Wir waren alle überrascht, als er die Albae an die alten Stätten der Schwarzaugen führte und einen Krieg gegen die letzten Elben und diejenigen begann, die den Spitzohren helfen wollten. Na ja, Krieg kann man es nicht nennen, was er gegen etwa vierzig Spitzohren ausgerufen hat.«
»Die Elben sind ausgerottet...«
»Nein. Die meisten von ihnen sind abgeschlachtet worden, die Übrigen sind verschwunden. Niemand weiß, wo sie abgeblieben sind. Es kursieren die unterschiedlichsten Geschichten über ihren Untergang, die ich nicht mal alle kenne, aber Elben wirst du im Geborgenen Land keine mehr finden.« Boindil kratzte sich an der juckenden Nase. »Die Dritten sind seine Verbündeten geworden und herrschen im Osten über einen großen Teil des einstigen Idoslän. Die Albae regieren außerdem über die ehemaligen Menschenreiche Gauragar und Urgon im Norden und Osten.« Er bemerkte, dass Tungdils Augen durch die Karte hindurchblickten. »Ist es zu viel für dich?«
»Fahre fort. Ich kann mehr Leid ertragen, als es den Anschein hat«, erwiderte er und klang zornig.
»Fehlt uns noch der Norden.« Ingrimmsch tippte auf das Graue Gebirge. »Königin Balyndis... Du weißt, wer sie ist?«
Tungdil stimmte abwesend zu, als sei es ihm egal, von wem sein Freund erzählte. Ingrimmsch wunderte sich insgeheim, dass der Name Balyndis nicht mehr in seinem Freund auslöste, doch er fuhr fort. »Sie hält den Steinernen Torweg mit ihren verbliebenen Fünften und setzt sich gleichzeitig gegen den Kordrion und seine Brut zur Wehr. Allerdings ist es ein sehr langwieriger Kampf, denn das Biest vermehrt sich ständig. Niemand weiß, wie es vonstattengeht, denn es gibt nur dieses eine.« »Nun, das konntet ihr nicht wissen. Sie benötigen keine Weibchen«, erklärte Tungdil. »Sie sind alle in der Lage, Eier zu legen, was sie zu einer großen Plage macht. Auch auf der anderen Seite. Es sei denn, man befiehlt ihnen.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Nacken; sein Auge richtete sich an die Decke. »Es ist unfassbar. Ich kehre nach zweihundertfünfzig Zyklen nach Hause zurück und bin müde vom ewigen Kämpfen. Mein Haupt sehnt sich nach einem ruhigen Flecken, wo es sich betten kann. Doch hier erwartet mich mehr Unbill, als es auf der anderen Seite des Schirmes jemals gegeben hat.« Er trat von unten gegen den Tisch, und dieses Mal fielen die Becher sowie die Flasche um. Branntwein ergoss sich auf die Karte, und Boindil versuchte zu verhindern, dass die Linien vollständig verwischten. »Ist denn keiner im Geborgenen Land Manns genug? Was ist mit den Langen? Muss ich wieder die Waffe zur Hand nehmen, die ich liebend gern in den tiefsten von Weyurns Seen geworfen hätte?«
Ingrimmsch hüstelte verlegen. »Das hatte ich vergessen zu erwähnen: Weyurn ist kein Inselreich mehr. Als Lohasbrand sich seinen Weg zu uns bahnte, schuf er einen tiefen Durchbruch, durch den sich die Fluten aus Weyurn ergossen. Er muss für weitere Abflüsse gesorgt haben, um...«
Mit einem wilden Schrei sprang Tungdil von seinem Stuhl auf, packte den schweren Tisch einhändig an der Kante und schleuderte ihn gegen die sieben Schritt entfernte Wand. Das massive Holz zerbrach beim Aufprall in zahlreiche Trümmer, als bestünde es aus morschen Balken; Scherben verteilten sich klirrend auf dem Boden. Boindil schaute seinen Freund mit offenem Mund an. Kein normaler Zwerg, und war er noch so stark, vermochte das zu tun, was er soeben mit eigenen Augen gesehen hatte. Tungdil stöhnte auf und griff sich an den Kopf. Er sank auf seinen Stuhl, keuchte und fluchte gleichzeitig in einer unbekannten Sprache. Ingrimmsch glaubte zu sehen, dass einige Runen auf dem Gewand schwach schimmerten.
Wachen kamen hereingerannt und sahen beunruhigt zu ihrem General, der sie mit einem Winken wieder hinaussandte. Doch es würde Gerede geben.
»Siehst du?«, ächzte Tungdil mit tiefer Stimme unter seiner Hand hervor. »Das meinte ich, als ich von Zweifeln sprach. Du überlegst, wie es sein kann, dass ich einen Tisch mit diesem Gewicht wie einen Sack Federn durch die Luft schleudere.«
»Irgendwie... schon, Gelehrter«, räumte der Zwerg ein. »Miteiner Hand! Ich meine, das ist schon eine Leistung, die sich sehen lassen kann.« Er gab sich Mühe, heiter und lustig zu klingen. »Früher hättest du das nicht gekonnt. Ho, das wären lustige Kämpfe an deiner Seite geworden: Schweineschnauzen-Weitwurf!« Tungdil nahm die Finger vom Gesicht und sah seinen Freund an. Rings um die goldene Augenklappe verschwanden schwarze, dünne Adern unter der Haut. Das Wort Albae zuckte durch Ingrimmsch Verstand. »Ich kann es dir nicht erklären. Noch nicht«, sagte er müde. »Ich brauche dein Vertrauen.« Er streckte ihm die Hand hin. »Gibst du es mir? Ich schwöre, dass ich es nicht missbrauchen oder enttäuschen werde. Bei dem, was wir früher gemeinsam erlebt haben!«
Boindil schlug nach kurzem Zögern ein. Er nahm an, dass es das Beste war, was er für seinen zurückgekehrten Kampfgefährten tun konnte. Mit der Sicherheit, wenigstens einen Zwerg an seiner Seite zu haben, dem er vertrauen durfte, würde er sich rascher einleben und hoffentlich wieder zum alten Tungdil werden. Was ist dir geschehen? »Bei dem, was wir gemeinsam erlebt haben«, wiederholte er die Formel. »Ach, ich bin sicher, dass Boendal sich freuen würde, dich zu sehen.«
»Boendal?«
»Mein Zwillingsbruder!«, kam es überrascht aus Ingrimmschs Mund. Erst Balyndis, jetzt Boendal.
Tungdil schlug sich gegen die Stirn. »Tut mir leid, mein Gedächtnis ist noch immer von Dunkelheit umgeben.« Er stand auf, hob die Humpen, die den Flug unbeschadet überstanden hatten, und füllte sie mit Schwarzbier. Einen reichte er Boindil, den anderen behielt er in der Faust. »Wann sehe ich ihn?«
»Wen?«, fragte Boindil verwirrt.
»Boendal«, antwortete er freudig. »Jetzt, da du ihn erwähnt hast, ist mir sein Gesicht wieder eingefallen.«
»Tungdil, mein Bruder ist schon lange tot.« Ingrimmschs Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Welches Granen muss man erleben, um so viel zu vergessen wie er? Wie sehr hat sein Verstand gelitten? Hat die Narbe auf seiner Stirn damit etwas zu tun? Tungdil sah betreten zu Boden. »Verzeih mir. Es ist mir...« Er seufzte.
»Was ist mit Sirka? Hast du auch sie vergessen?« Ingrimmsch sah schon am Ausdruck in seinem Gesicht, dass er keine Ahnung hatte, von wem er redete. Er packte ihn bei den Schultern. »Gelehrter, sie war eine der Untergründigen und deine große Liebe! Und du willst mir sagen, das wäre dir entfallen?« Er schaute in das Auge und suchte nach einer Erklärung, einer Entschuldigung, einer Antwort. Das Lid schloss sich, bevor das Braun ihm Geheimnisse offenbaren konnte.
Tungdil wandte den Kopf zur Seite. »Es tut mir leid«, wiederholte er rau wispernd. Mit einem Zucken schüttelte er die Hände seines Freundes ab und ging langsam zum Ausgang. »Wir reden morgen weiter, wenn es dir recht ist. Ich brauche mehr Zeit, um...« Seine Stiefel zerbrachen die Scherben zu noch kleineren Stückchen. Ingrimmsch hatte den Eindruck, dass er noch etwas sagen wollte, bevor er die Tür öffnete und in den Flur trat; aber er verließ den Raum schweigend. »Bei Vraccas, was ist mit ihm geschehen?«, wiederholte er leise seine Gedanken und suchte in den Trümmern nach der Karte des Geborgenen Landes.
Sie war untauglich geworden. Der Branntwein hatte die Arbeit des Zeichners zunichtegemacht; Grenzen und Namen verliefen zu Schlieren und unlesbaren Zeichen. Boindil legte den Kopf schief und betrachtete die Überschrift Das Geborgene Land. Der Alkohol und das aufquellende Papier hatten mit einer Prise Vorstellungskraft Das Verlorene Land daraus gemacht.
»Was für eine treffende Bezeichnung«, murmelte er und warf die Karte zurück auf den Boden; dabei entdeckte er einen rauchtrüben, türkisfarbenen Edelstein, den er vorher an der Gurtschließe seines Freundes gesehen hatte. Bei seinem wütenden Tischwurf schien er sich gelöst zu haben.
Ingrimmsch hob ihn auf und machte sich auf den Weg, um ihn Tungdil zurückzubringen. Er war wertvoll. Auch wenn das Edelsteinschleifen nicht zu seinen besten Künsten gehörte, wusste er doch den Wert eines Stückes einigermaßen einzuschätzen. Einen Rauchdiamanten fand man sehr selten.
»Oh, ich bin auch vergesslich geworden. Wir haben gar nicht über die Vierten gesprochen. Und die Freien«, fiel es ihm dabei ein. Noch zwei Gründe, den Freund kurz vor der Nachtruhe zu stören.
Es wirkte auf ihn nach wie vor wie ein Scherz von Vraccas, dass ausgerechnet das Zwergenreich der Vierten, also der Zwerge mit den schmälsten Staturen und den vermutlich geringsten Kampfkünsten, allen Versuchen trotzte, erobert zu werden. Die Drittenführten einen Feldzug nach dem anderen gegen sie, ohne sie bezwingen zu können. Und die Freien wehrten sich nicht minder erfolgreich.
»Das wird ihn wundern«, sagte er sich und drückte die nur angelehnte Tür zu Tungdils Gemach nach einem lauten, deutlichen Klopfen auf. »Ho, Gelehrter! Ich habe dir etwas mitgebracht. Du wirfst mit kostbaren Diamanten um dich, wusstest du das?« Tungdil stand mit dem Rücken zu ihm und schien ihn nicht bemerkt zu haben. Er hatte sein Untergewand vom Oberkörper gestreift und zeigte Boindil ungewollt seinen blanken Rücken.
Die Haut war übersät mit Narben.
Manche waren punktgroß, andere verliefen anscheinend über die Seite weiter bis nach vorne auf die Brust, breite und schmale liefen kreuz und quer durcheinander, mal waren sie gezackt, mal glatt, mal konnten sie von Waffen stammen, mal von Zähnen oder Klauen. Die Wülste zerstörten eintätowierte Runen und Bilder.
Boindil sog die Luft ein. Sein eigener Körper wurde von etlichen Andenken an Gefechte und Schlachten geziert, doch was er auf diesem Rücken sah, war unerreicht. Da er wusste, dass Tungdil über ausgezeichnete Fertigkeiten als Kämpfer verfügte, konnte er sich nicht ausmalen, womit sich der Zwerg gemessen hatte, das ihn derart zugerichtet hatte. Was hatte ein Krieger zu fürchten, der sich gegen einen Kordrion stellte? Tungdil hatte ihn nicht bemerkt. Er hielt den Kopf gesenkt und . betrachtete anscheinend seine Brust. Dann warf er einen blutigen Lappen in eine Schüssel mit Wasser; er stöhnte unterdrückt, und gleich darauf leuchtete es vor ihm auf. Boindil legte den Edelstein ohne einen Laut auf den Boden der Kammer und zog sich rasch zurück.
Er hatte den Freund bei etwas gestört, was niemand sehen sollte, das war sicher. Der Zwerg verließ den Trakt der Festung und versuchte, die lauter werdenden Zweifel in seinem Verstand zu übertönen, indem er ein Lied summte.
Ganz wollte es ihm nicht gelingen; vor allem die schwarzen Adern um das verlorene Auge bereiteten ihm Sorge. Ein besonders hartnäckiger Zweifel verlangte leise, doch beständig, unter die Klappe schauen zu wollen: Was sich dort wohl verbarg? Goda und Boindil saßen im großen Versammlungsraum, in dem sich die Offiziere gewöhnlich wegen der Wacheinteilung und Rundgänge berieten. Auf dem Tisch stand ein verkleinertes Modell der Schwarzen Schlucht sowie der Festung; jede noch so kleine Bodenwelle war übertragen worden, was es ermöglichte, genaue Routen abzusprechen.
»Das brauchen wir wohl nicht mehr.« Ingrimmsch fasste die Glasglocke, die zur Darstellung der Barriere gedient hatte, und stellte sie zur Seite, danach entfernte er sehr langsam den Nachbau des Artefakts. Nachdenklich starrte er auf die Felsen. »Wartest du darauf, dass sich der Kordrion zeigt?«, stichelte Goda. »Noch stimmen Modell und Wirklichkeit überein: keine Spur von den Scheusalen.«
»Ich habe überlegt, ob wir es wagen können, unseren alten Plan in die Tat umzusetzen«, antwortete er und strich mit der Hand über die Ränder der Schwarzen Schlucht. »Wir brechen die Kanten ab und verfüllen alles mit minderwertigem Eisen und anderen Metallen zu einem großen Klumpen, durch den sich nichts mehr ins Geborgene und Jenseitige Land ergießen kann. Einen Pfropfen gegen das Böse.« Er blickte zu seiner Gemahlin. »Was hältst du davon? Mit deiner Magie wäre es möglich, die Schlucht einstürzen zu lassen. Ich weiß jedoch, dass deine Famuli noch nicht weit genug sind, um dir dabei Unterstützung zu gewähren.«
Goda strich ihm über den Rücken. »Es würde mir vielleicht gelingen, aber danach besäße ich keine Energie mehr für weitere Zauber. Und die Menge an geschmolzenem Metall wäre gigantisch! Woher sollen wir das nehmen?«
»Die Ubariu würden es uns bringen. Aus allen Teilen ihres Reiches, wenn sie dafür dieser Bedrohung auf ewig ein Ende setzen könnten.« Ingrimmsch ging zu dem Beistelltischchen und goss ihnen jeweils einen irdenen Becher voll Wasser ein. »Ich fürchte, dass die Scheusale sich durch einfachen Stein graben und zurückkehren würden. Sie haben mehr als zweihundertfünfzig Zyklen gewartet und standen mit einem Heer vor uns. Wie am ersten Umlauf, als wir die Barriere das erste Mal zum Leben erweckten. Ohne den Schild hätten sie uns überrannt.«
Goda setzte sich. »Du traust deiner eigenen Festung nicht zu, die Horden bändigen zu können?«
»Auf Dauer?« Boindil schüttelte den Kopf. Tungdils Andeutungen hatten ihm Schauder über den Rücken gejagt. »Ich möchte nicht wissen, was alles aus der Schlucht steigen wird, wenn wirnoch lange warten. Ein Kordrion scheint noch das Harmloseste zu sein, was über uns herfallen könnte.«
»Wer sagt uns, dass das Schlimmste nicht schon mitten unter uns ist?«, sprach sie halblaut und hatte es eigentlich nur denken wollen, aber ihre Zunge war schneller gewesen. Rasch sah sie in ihren Becher.
Ingrimmsch hatte es natürlich vernommen. »Du zweifelst an Tungdil.« »Ich zweifle daran, dass wir den echten Tungdil in unseren Mauern willkommen geheißen haben«, hielt sie ihm mit fester Stimme entgegen.
»Er ist es«, sagte Boindil stur, doch er mied ihren Blick.
»Woher willst du das mit Sicherheit sagen können? Weil ihr gestern zusammen gezecht habt?« Goda seufzte. »Ich wünsche mir doch auch, dass es unser Tungdil ist und kein Trugwesen, das irgendeine finstere Macht gesandt hat, um uns in die Falle zu führen. Aber ich finde, er benimmt sich nicht wie damals...«
Boindil stieß ein freudloses Lachen aus. »Er hat Menschengenerationen lang in einer Welt verbracht, die aus Mord, Leid und Gewalt besteht. Denkst du, einer von uns käme zurück, trüge ein breites Grinsen im Gesicht und würde unentwegt Spaße machen? Das würde mich eher argwöhnisch werden lassen«, verteidigte er seinen Freund heftig. »Ich wäre vermutlich meinem Wahn restlos anheimgefallen.« Er sah sie an. »Tungdil hat sich allein gegen den Kordrion gestellt! Für uns!«
»Es könnte abgesprochen gewesen sein«, hielt sie dagegen.
»Das Vieh hat dabei ein Auge eingebüßt, und ihm wurde die Seite aufgeschlitzt! Es sah nicht so aus, als hätte es sich darüber gefreut!«
»Wenn es einem höheren Ziel dient. Wie der Bezwingung von Übeldamm. Der Kordrion hat genügend Augen.«
Schnaufend warf er die Arme in die Luft. »Goda, du könntest zu allem, was ich sage, mit diesem... Verschwörungsgespenst kommen.« Boindil schnalzte mit der Zunge, ihm gingen die Worte aus. »Du bist eine Maga. Dann sprich eben einen Zauber, um ihn zu prüfen.« Wütend stierte er auf das Modell und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Es ärgerte ihn, dass sie seine eigenen Vorbehalte schürte, anstatt sie zu mindern. Dabei war er so überzeugt gewesen, seinen Freund zurückbekommen zu haben.
»Das habe ich schon. Als ich ihm unsere Kinder vorstellte«, gab sie zu seinem Erstaunen zurück. »Und ich...«
Es klopfte, die Tür schwang auf, und ein gerüsteter Tungdil erschien auf der Schwelle. Er bemerkte mit einem Blick, dass sich die beiden gestritten hatten, so sehr sie sich auch Mühe gaben, es vor ihm zu verheimlichen, indem sie lächelten.
»Ich bin nicht zu früh, oder? Wir waren doch verabredet?«, fragte er und betrat den Raum. Dann setzte er sich an die andere Seite des Tisches und richtete sein Auge auf Goda. Kurz sah er sie böse an, als hätte er gelauscht und wüsste von ihren Worten gegen ihn; dann schaute er freundlich zu Ingrimmsch. »Ein schönes Model!«, lobte er den Nachbau und zwinkerte. »Gibt es dazu auch kleine Bestien?«
Boindil lachte erleichtert. »Wir haben ein paar passende Fähnchen gebastelt. Aber wir müssen sie erst suchen. Wer konnte ahnen, dass wir sie jemals brauchen würden?« Rasch erklärte er dem Freund, wie sein Vorhaben aussah, die Schlucht für immer zu versiegeln, sodass nichts mehr daraus entkommen konnte, egal wie groß oder klein es war.
Goda hielt sich zurück und beschränkte sich darauf, Tungdil anzuschauen. Sie wollte ihn reizen, damit er sich verleiten ließ, sich durch Taten und Worte zu verraten. Ihrer Ansicht nach war er nicht der bekannte, viel gerühmte Held, sondern ein raffiniertes Trugbild Tungdils, das es zu entlarven galt. Doch ihre Blicke prallten an ihm ab wie Schwertschneiden an einer guten Rüstung.
»Die Schächte und Höhlen unmittelbar unter den Schlucht reichen tief und sind verzweigt«, erklärte er. »Es gibt nicht genügend Metall im Geborgenen und Jenseitigen Land, um sie zu schließen. Aber einen Pfropfen zu formen, das macht in der Tat Sinn. Allerdings kann man diese Arbeit erst beginnen, wenn das Heer vernichtet ist, das in der Schlucht lauert.«
»Und das du zu uns geführt hast«, fiel ihm Goda ätzend ins Wort.
»Ich habe es angeführt. Zu euch gekommen wäre es von selbst. Das ist ein Unterschied.« Tungdil blieb erstaunlich ruhig, fand Ingrimmsch, wenn er an den Vorfall der letzten Nacht mit dem Tisch dachte. »Ich habe Zyklen damit verbracht, mir einen Namen unter den Scheusalen zu machen, damit sie mir vertrauen und mich als einen der ihren annehmen. Nur so gelang esmir, zu ihrem Führer aufzusteigen, von dem sich sogar ein Kordrion etwas sagen ließ. Denn es war mir bewusst, dass der Umlauf kommen würde, an dem die Barriere fällt, und dann wollte ich in der ersten Reihe stehen. Als ein Dritter, ein herkömmliches Kind des Schmieds, hätten sie mich zerfetzt. Was ihnen ganz am Anfang auch beinahe gelungen wäre.« Mit jedem Satz wurde seine Stimme tiefer und bedrohlicher, bis er sich mit Nachdruck räusperte und die Gefährlichkeit aus seiner Kehle vertrieb. »Ich ließ sie glauben, dass ich sie leiten und gegen euch führen würde. Bis sie sich von der Überraschung erholt haben, wird nicht mehr zu viel Zeit vergehen, und dann werden sie mit noch mehr Hass angreifen.«
»Übeldamm wird sie zurückschlagen«, sagte Ingrimmsch so überzeugt, wie es ihm möglich erschien.
»Das wird nicht ausreichen, mein Freund. Ich weiß, was noch alles kommen wird.« Tungdil sah zwischen ihm und der Zwergin hin und her. »Ihr benötigt ein Heer, ein großes Heer, das in die obersten Kammern und Tunnel eindringt, um die Bestien weiter zurückzuschlagen, während hier Vorbereitungen zum Schließen der Schlucht getroffen werden. Und einen Magus. Einen sehr mächtigen Magus.« Er sah zu Goda. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Sie hatte den veränderten Tonfall bemerkt. »Du wirst uns offenbar nicht helfen?« »Wie kannst du das annehmen?«, regte sich Boindil auf. »Natürlich wird er das!« »Sie hat recht«, meinte Tungdil gelassen und legte die gepanzerten Hände zusammen, als wolle er beten oder etwas zwischen seinen Fingern gefangen halten. »Ich habe meine Schlachten geschlagen und verspüre keine Lust mehr, länger ein Krieger zu sein.« Ingrimmschs Mund klappte auf. »Das ist ein Scherz, Gelehrter!«, rief er dann. »Halte mich nicht zum Narren! Nicht damit! Es sind so viele, die auf dich gewartet und alle Hoffnung in dich gesetzt haben, um dem Unrecht im Geborgenen Land ein Ende zu setzen. Menschen, Elben - wo auch immer sie sein mögen - und Zwerge. Dein Volk erwartet dich!«
»Ich weiß«, entgegnete er leise. »Doch ich habe niemandem das Versprechen gegeben, als ein Retter zurückzukehren. Ich habe einen ersten Angriff auf die Festung unterbunden undmeine Warnung vor dem, was euch droht, ausgesprochen. Jetzt wisst ihr, was ihr dagegen unternehmen solltet. Mehr werde ich nicht tun.«
»Das klang gestern Nacht aber ganz anders!« Ingrimmsch war der Verzweiflung nahe. »Du hast selbst gesagt...«
»... dass ich nach Hause gekommen bin, um Ruhe zu finden«, ergänzte Tungdil grollend. »Nichts weiter. Und dass ich Zeit benötige, um mehr von...«
»Welches Zuhause meinst du, Tungdil Goldhand?«, mischte sich Goda ein und setzte zur nächsten Probe an. »Sage mir: Wo bist du zu Hause? Im Stollen von Lot-Ionan? Er existiert schon lange nicht mehr. Oder möchtest du zu den Freien, die in ihrem unterirdischen Reich von den Dritten eingeschlossen sind und nicht hinausgelangen? Oder zurück zu Balyndis, deiner ersten Liebe? Aber vielleicht sind es die Untergründigen, bei denen du die restlichen Zyklen verbringen möchtest?« Sie deutete auf das Fenster. »Ist es nicht eher so, dass dein Zuhause in dem Land ist, von dem aus die Tunnel zur Schwarzen Schlucht führen? Du hast die längste Zeit deines bisherigen Lebens dort verbracht. Es wäre zuallererst als Heimat zu bezeichnen, findest du nicht?« Sie erhob sich. »Mir würde es nichts ausmachen, wenn du verschwindest.« »Goda!«, brüllte Boindil sie erschüttert an, aber sie überging ihn.
»Du traust dich vielleicht nicht, deinen Zweifeln Gehör zu schenken, aber ich verschließe mich den meinen nicht. Was nutzt uns dieser Tungdil in seiner prächtigen Rüstung, wenn er nichts unternimmt?«, sagte sie angriffslustig. »Bei Vraccas, es kann nicht Tungdil sein!« Goda warf dem einäugigen Zwerg verächtliche Blicke zu. »Denn der Gelehrte hätte alles in Gang gesetzt, um dem Elend im Geborgenen Land ein Ende zu bereiten. Wären das deine ersten Worte gewesen, hätte ich niemals Argwohn gehegt.« Sie richtete den Zeigefinger auf ihn. »Du bist nicht Tungdil, also laufe in die Schwarze Schlucht, aus der du gekommen bist, bevor du uns weiter entmutigst und unseren Truppen die Zuversicht raubst. Lieber lasse ich sie im Glauben, dass du heimlich gegangen bist und eines Umlaufs ein zweites Mal zurückkehrst!« Sie wandte sich ab und schüttelte Boindils Hand von ihrem Arm, dann verließ sie den Raum.
Ingrimmsch betrachtete Tungdil, der die Anschuldigungen ungerührt hingenommen hatte. Kein Aufbegehren, kein Widerstand. »Sag was, Gelehrter!«, flehte er. »Bei unserem Schöpfer, dem Göttlichen Schmied: Sag etwas, das Godas Worten ihre Wirkung raubt und mich an dich glauben lässt. Was uns alle an dich glauben lässt! Du kannst nicht ermessen, welche Wirkung dein Rückzug auf die verbliebenen Zwerge und die Menschen haben würde.«
Tungdil stand auf, ging um den Tisch herum und verharrte drei Lidschläge vor seinem Freund, um ihm die Linke auf die Schulter zu legen, dann trat er durch die Tür hinaus auf den Gang.
»Das ist keine Antwort!«, schrie Boindil zornig. »Komm zurück und antworte mir!« Er folgte ihm und hatte ihn mit raschen Schritten eingeholt, fasste ihn an der Schulter und wollte ihn umdrehen. Doch es gelang ihm nicht, den Zwerg zu bewegen. An seinem Finger kribbelte es warnend, unvermittelt bekam er einen Schlag, der ihn von den Füßen holte und ihn gegen die Wand schleuderte; ächzend sank er auf die Steinplatten.
Sternchen und Feuerkreise tanzten vor Ingrimmschs Augen, und durch sie hindurch sah er das Gesicht seines Freundes, das sich besorgt über ihn beugte. »Ich hole einen Heiler«, vernahm er die Stimme verzerrt. »Das hättest du nicht tun sollen, mein heißblütiger Freund. Aber keine Bange, du wirst bald wieder auf der Höhe sein.« Der letzte Satz verklang in seinen Ohren, Boindil wurde ohnmächtig.
Tungdil machte sich auf den Weg zu seinem Gemach.
Die Aufregung um Boindils Zusammenbruch hatte sich gelegt. Der herbeigerufene Heiler ging davon aus, dass der General der Festung einen harmlosen kleinen Schwächeanfall erlitten hatte. Zu viel der Freude und vielleicht zu viel Branntwein am Abend zuvor.
Auch wenn der eine oder andere mehr vermutete, niemand brachte Tungdil mit dem Vorfall in Verbindung. Offen zumindest. Und Ingrimmsch hatte bei seinem Erwachen nichts gesagt, was irgendjemanden in Übeldamm beschuldigt hätte.
Als Tungdil um die Ecke bog, stand er unerwartet vor einer Zwergin.
Dem schmalen, jungen Gesicht nach hatte sie noch nicht sehr viele Zyklen gesehen. Die Haut war so dunkelbraun wie die eines Hirten. Sie trug einen beigefarbenen, mit Dornenranken bestickten Waffenrock, der über der Vordernaht lose geschnürt war und einen Blick auf das weiße, ebenfalls mit Stickereien verzierte Hemd darunter erlaubte. Tungdils Blicke wanderten an ihr entlang, er sah einen rasierten Schädel und hellblaue Augen.
»Du bist Tungdil Goldhand?«, fragte sie unsicher.
»Und du bist dem Wuchs nach eine der Untergründigen«, sagte er zu ihr. »Größer als eine Zwergin und kleiner als ein Mensch.«
Sie nickte und kam einen Schritt näher. »Ich bin Kiras.« Dabei hob sie das Gesicht, damit das Lampenlicht besser darauf fiel. »Man sagt, dass ich einer meiner Vorfahrinnen sehr genau gleiche«, sprach sie und klang dabei erwartungsvoll. Die Augen waren fest auf Tungdils Auge gerichtet. »Ich trage ein Gewand, das dem ihren nachempfunden ist. Für dich.«
Tungdil runzelte die Stirn. »Was genau geht mich das an?«
»Ahnst du es nicht?« Kiras hoffnungsvoller Ausdruck veränderte sich. »Ich hatte mich so sehr gefreut, dich überraschen zu können. Wenn du sie schon nicht mehr bei deiner Rückkehr in die Arme schließen kannst, hoffte ich, dass ich deinen Schmerz lindern kann: Ich bin eine von Sirkas Tochterstöchtern.« Sie strahlte ihn an.
»Das fehlte noch«, murmelte Tungdil verdrossen. »Ich will dich und das Erbe in dir nicht kränken, Kiras, doch ich erinnere mich nicht mehr an sie. Weder an ihr Aussehen noch an die Liebe zu ihr. Vieles von dem, was ich einst im Geborgenen Land erlebte, ist aus meinem Kopf verschwunden.« Er sah sie scharf an, als könnte ihr Anblick die Erinnerung zurückbringen. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, ich sehe sie auch durch dich nicht vor mir.«
Kiras schluckte, ihre Enttäuschung war maßlos und offensichtlich. »Dann heiße ich dich dennoch in ihrem Namen willkommen, Tungdil«, sagte sie rau und wollte ihn umarmen. »Es spielt keine Rolle, ob du dich erinnerst oder nicht. Ich bin ihre Botschaft an dich: Eure Liebe...«
Doch der Krieger wich vor ihr zurück, als sei sie mit einer tödlichen Krankheit verseucht. »Nein, Kiras, nicht«, befahl er ihr finster, und seine Stimme verdüsterte das Licht im Gang. »Ich möchte nicht, dass du mich anfasst.«
Die junge Untergründige stand erschrocken, fassungslos vor ihm und senkte die Arme. »Du weist dadurch nicht nur mich, sondern auch Sirka zurück!«
»Vergiss mich. Und bete zu deinem Gott, dass ihr Erbe in dir überwiegt. Meines bedeutet den Tod.« Er starrte sie an, dann umrundete er sie wie einen störenden Tisch oder ein hinderliches Fass, um den Weg in seine Unterkunft fortzusetzen.
»Aber... ich habe einen Brief von ihr an dich!« Sie langte an ihren Gürtel und nahm ein versiegeltes Pergament hervor, reckte es in die Luft, damit er es besser sah. »Verbrenne ihn oder stell sonst was mit ihm an«, empfahl er, ohne sich umzuwenden. Kiras wandte sich um und betrachtete ihn, während er den Gang entlangschritt. »Das kann nicht wahr sein«, flüsterte sie ungläubig. Langsam senkte sie den Arm mit der uralten Botschaft. Die Lampen erhielten ihre alte Helligkeit zurück, je weiter er sich von ihr entfernte.
»Habe ich es dir nicht vorhergesagt?« Goda hatte das Aufeinandertreffen der beiden aus einer Nische heraus beobachtet. Es war kein Zufall gewesen, dass sich die Untergründige und der Held ausgerechnet an dieser Stelle der Festung begegnet waren. Eine von vielen Proben, die kommen sollten. »Wie kann er mich stehen lassen?«, empörte sich Kiras. Goda sah dem Zwerg nach, dabei legte sie einen Arm um die Untergründige, um sie zu trösten. Weil es nicht der wahre Tungdil ist. Es sollen bald alle sehen.
Tungdil kehrte in seine Unterkunft zurück. Er streifte die Panzerhandschuhe ab und legte sie auf eine Truhe. Als er nach dem ersten Verschluss seiner Rüstung langte, leuchtete eine der Runen, die auf der rechten Brust prangte, warnend auf. »Es gibt sicherlich einen Grund, weswegen du dich nicht bei meinem Eintreten bemerkbar gemacht hast«, sagte er, nach vorn gerichtet. »Das könntest du jetzt nachholen. Denn tust du das nicht«, Tungdil legte die Rechte an Blutdürsters Griff, »könnte ich annehmen, dass du nicht mit freundlicher Absicht gekommen bist.« Er wandte sich nicht um, sondern lauschte den Geräuschen und vertraute seiner Panzerung.
Hinter ihm erhob sich eine Person in Rüstung, Metallschienen klapperten, und eine Waffe wurde gezogen. »Mit der Annahme geht Ihr recht«, sagte die tiefe, volle Stimme eines Ubari. »Allerdings nur, wenn ich keine Antworten auf meine Fragen erhalte.« Jetzt drehte sich Tungdil um und betrachtete den Krieger, der neben dem Schreibtisch auf einem Stuhl gesessen und gewartet hatte. Es war der Anführer der Ubariu, die ihn, Boindil und Goda vom Artefakt zurück in die Festung eskortiert hatten. Er stand drei Schritt von ihm entfernt, das überlange Schwert mit der verstärkten, schweren Spitze hielt er schräg vor den Körper, die Klinge wies nach unten. Die roten Augen hatten sich auf Tungdil gerichtet und waren voller Aufmerksamkeit. Beinahe doppelt so groß wie der Zwerg ragte er auf, und die Muskeln seiner dicken Oberarme zuckten.
»Welche Fragen werden das wohl sein, die ein Ubari mir stellen könnte, Yagur?«, erwiderte Tungdil leichthin. »Oder hat dich jemand gesandt, sie in seinem Auftrag zu stellen? Oder sollte ich sagen: in ihrem Auftrag?«
Yagur ging nicht auf die Anspielung ein. »Ich kenne die Legenden von Euch und dem General, Tungdil Goldhand. Nichts läge mir ferner, als Euch durch Respektlosigkeit zu beleidigen«, sprach er behutsam. »Aber ich bin nicht der Einzige, der Zweifel an Euch hegt.«
»Und du denkst, dass ich Rede und Antwort stehe, wenn du dich in meine Kammer schleichst und mich mit deinem Schwert bedrohst?«, hielt der Zwerg dagegen, und das braune Auge funkelte tückisch. »Da wirst du dich bald sehr wundern, Yagur.« Langsam nahm er die Finger vom Waffengriff. »Was willst du gegen mein Schweigen unternehmen? Bestechen? Betteln?«
Der Ubari-Krieger senkte den Kopf und machte einen Schritt nach vorne. »Ich kann Zungen lockern«, drohte er.
»Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du keine Gelegenheit bekommen wirst, mich gegen meinen Willen zu befragen.« Tungdil nickte zur Tür. »Geh und erzähl Goda, was immer du möchtest. Von mir aus lüge sie an, ich werde dich nicht verraten.« Er öffnete die Schließe des Wehrgehänges und legte es ab, Blutdürster kam neben die Handschuhe.
Yagur schritt auf ihn zu. »Ihr habt es so gewollt«, sagte er bitter. Die breite Hand streckte sich nach dem Zwerg aus, gleichzeitig hob sich das Schwert und zielte auf seine Kehle. »Leistet keinen Widerstand. Ich bringe Euch an einen Ort, wo wir beide uns ungestörter unterhalten können.«
»Daran glaube ich nicht.« Tungdil wich nicht zurück, sondern ließ den Ubari seinen Kragen packen. Unvermittelt legte er die Rechte auf die Hand des Kriegers und hielt sie fest, mit der anderen schlug er gegen den Unterarm. Es knirschte laut, als der Ell bogen brach und aus dem Gelenk riss. Blut schoss aus dem Stumpf.
Bevor Yagur seinen Schock verwand und schreien konnte, hatte Tungdil das Gliedmaß fallen lassen, den Dolch des Ubari gezogen und ihn mit einem Wurf in dessen Hals getrieben. Mehr als ein Röcheln gelang dem Hünen nicht mehr. Er knickte ein, sank auf den Stein und ließ das Schwert fallen.
»Du musst schon deutlicher sprechen, Yagur. So verstehe ich dich nicht.« Tungdil betrachtete den Sterbenden mitleidslos.
Die Tür wurde aufgerissen und drei weitere vermummte Ubariu drangen mit Waffen in den Händen in die Kammer ein.
Der Zwerg senkte den Kopf, und ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen. Schwarze, strichdünne Adern tauchten wie aus dem Nichts um die Augenklappe auf und schnellten spinnennetzartig über sein ganzes Gesicht. »Lasst mich raten: Ich seid hier, um mich zu befragen«, grollte er. Zwei Runen glommen in seiner Panzerung auf und warfen ihren goldenen Schein auf die Angreifer. »Lasst hören. Aber hütet euch vor meinen Antworten!«
Die Ubariu blieben stehen - da erklang das Signalhorn und ließ eine gefürchtete Melodie ertönen: Scheusale drangen aus der Schwarzen Schlucht, um zu vollenden, was die erste Welle der Angreifer nicht erreicht hatte.
Tungdil richtete sich auf, und in seinem Gesicht stand maßlose Überheblichkeit. »Ich lasse euch die Wahl: Möchtet ihr in meiner Kammer oder draußen auf dem Schlachtfeld sterben?«