Seltsame Empfindungen durchströmten Robert Howards Seele, und sie waren ihm ganz und gar nicht angenehm. Er konnte sich verzeihen, daß er hingerissen einen Augenblick lang geglaubt hatte, dieser Gilgamesch sei sein Conan. Da war nur sein Künstlertemperament am Werk und hatte ihn zu einem kurzen fieberhaften Begeisterungsanfall hochgepeitscht. Sich so plötzlich einem gewaltigen nackten muskulösen Mannsriesen mit einem Lendenschurz gegenüber zu sehen, der mit einem kleinen Bronzedolch auf ein gräßliches Ungeheuer loshackt, und sich dann einzubilden, daß dies bestimmt der gewaltige cimmerische Held sein müsse — nun, das war doch wohl nur zu verzeihlich. Hier in der Nachwelt begriff man sehr rasch, daß einem fast jeder über den Weg laufen konnte. Es konnte passieren, daß man mit Lord Byron würfelte oder mit Menelaos eine Kanne Würzwein teilte, oder daß man mit Platon über Nietzsches Ideen diskutierte, der gleich daneben stand und säuerliche Grimassen schneidend auf seinem Bart herumkaute… nach einiger Zeit nahm man das meiste dann mehr oder weniger als selbstverständlich hin.
Weshalb also sollte er nicht glauben, daß dieser Kerl Conan sei? Es spielte doch keine Rolle, daß Conan eine andere Augenfarbe gehabt hatte. Das war doch nebensächlich. In allen wichtigen Punkten sah er aus wie Conan. Er besaß die körperliche Größe und Kraft Conans. Und königlich war er nicht nur der Gestalt nach. Er schien auch Conans kühle Intelligenz und seine psychische Komplexität, seinen königlichen Mut und seine Unbezähmbarkeit zu besitzen.
Das Problem aber war, daß Conan, der wundersame cimmerische Kriegsheld aus dem Jahre 19000 vor der Zeitrechnung, niemals irgendwo gelebt hatte, außer in Howards eigener Vorstellungswelt. Und in der Nachwelt gab es eben keine fiktiven Charaktere. Sofern einer nicht in dieser anderen Welt der ersten Fleischwerdung gelebt hatte, wirklich gelebt, konnte er unmöglich hier wieder leben. Man konnte hier möglicherweise Richard Wagner begegnen, aber es war ziemlich unwahrscheinlich, daß man Siegfried traf. Theseus hielt sich ebenfalls hier irgendwo auf, nicht aber der Minotauros. Wilhelm der Eroberer, ja — aber kein Wilhelm Tell.
Das war auch ganz in Ordnung, sagte sich Howard. Seine kleine Wunschvorstellung, daß er hier in der Nachwelt seinem Conan begegnet sei, war nichts weiter als ein Anfall von degoutanter Eigenliebe; es wäre besser für ihn, das abzustreifen. Aber dem echten authentischen Gilgamesch zu begegnen — ach, wie viel erregender war das! Einem echten sumerischen König — einem realen Titanen aus der Morgendämmerung der Menschheitsgeschichte, nicht eine aus den Fingern gesogene Gestalt aus Pappe und schweißigen, keuchenden Wunscherfüllungsträumen; ein Sterblicher aus Fleisch und Blut, der voller Lebenslust gewesen war und große Kämpfe gekämpft hatte, der Aug’ in Auge mit den uralten Göttern wandelte und sich gegen die Unausweichlichkeit des Todes zur Wehr setzte, und der in seinem Tod die Unsterblichkeit des mythischen Archetypus erlangt hatte… Ja, das war wirklich jemand, den es sich lohnte kennenzulernen! Und Howard mußte eingestehen, daß er aus einem Gespräch mit Conan nicht mehr profitieren würde, als wenn er sein eigenes Spiegelbild befragen würde. Oder aber eine Begegnung mit dem ›realen‹ Conan, sofern denn so etwas überhaupt irgendwie möglich wäre, würde ihn bestimmt in schrecklichen seelischen Zwiespalt und Verwirrung stürzen, aus denen er sich nicht wieder würde befreien können.
Nein, dachte Howard, es ist schon besser, wenn dieser Mann Gilgamesch wäre, nicht Conan, um Himmels willen! Also fand er sich damit ab.
Aber diese andere Geschichte — dieses plötzliche bestürzende zwanghafte Bedürfnis, vor dem Riesen niederzuknien, von seinen Armen emporgerissen und in einer glühenden Umarmung an seine Brust gedrückt zu werden…
Was sollte denn das? Woher kam das denn? Beim flammenden Herzen Ahrimans, was konnte das bedeuten?
Er erinnerte sich an einen Tag aus seinem früheren Leben, an dem er zum Cisco-Damm gefahren war und zugesehen hatte, wie die Bauarbeiter sich auszogen und hineintauchten: Gutgebaute Männer, selbstsicher, anmutig, im Einklang mit ihrem Körper. Einige Zeitlang hatte er ihnen zugesehen und ihre körperliche Vollkommenheit bewundert. Sie hatten nackte griechische Statuen sein können, die zum Leben erwacht waren, ein ganzer Trupp von kräftigen saftstrotzenden Apolls und Zeusen. Und dann, als er hörte, wie sie sich ihre üblen zotigen Witze zubrüllten, wurde er zornig und sah in ihnen nur denkunfähige hirnlose Tiere, die die natürlichen Feinde von Träumern sind, wie er es war. Er haßte sie, wie Schwache stets die Starken verabscheuen müssen, diese glanzumstrahlten Schweine, die einen Träumer und seine Träume jederzeit in den Boden stampfen konnten, wenn sie wollten. Und dann war ihm eingefallen, daß er selbst ja auch nicht gerade ein Schwächling sei, daß er — der früher spillerig und kränklich gewesen war — sich durch harte Mühe und Training zu einem großen, breiten beeindruckenden Kerl gemacht hatte. Nicht so körperlich schön und perfekt, wie diese Männer es waren — dafür war er zu untersetzt, zu grob, zu ungeschlacht —, aber trotzdem, sagte er sich, unter diesen ganzen Männern war keiner, dem er nicht die Rippen zerquetschen konnte, wenn es zu einer Auseinandersetzung kam. Und er war damals dort weggegangen, erfüllt von Wut und rasenden Vorstellungen blutrünstiger Gewalttätigkeit.
Was steckte hinter dem allem? Diese kaum zu bändigende Wut — war das eine versteckte dunkle Lust, ein zutiefst bestialisches Verlangen nach Sünde? Sollte die in ihm aufgestiegene Wut nur jene andere kaschieren, die er gegen sich selbst hatte richten müssen, weil er diese nackten Männer heimlich beobachtete und weil ihm das Vergnügen bereitete?
Nein. Nein, Nein. Er war schließlich kein Abartiger. Dessen war er sich ganz sicher.
Er war überzeugt davon, daß es ein Anzeichen von Dekadenz sei, des Niedergangs der Zivilisation, wenn Männer nach Männern verlangten. Er selbst war ein Pionier und kein schwächlicher, gezierter Sodomit, der sich in Schmutz und eitler Sünde suhlt. Und wenn er in seinem kurzen Leben auch nie die Liebe einer Frau gekannt hatte, dann aus Mangel an Gelegenheit, und nicht etwa, weil er jene andere schändliche Form der Liebe bevorzugte. Er lebte bis ans Ende seiner Tage in dieser kleinen abgeschiedenen Präriestadt, ganz der Sorge für seine Mutter und seiner Schriftstellerei hingegeben, er hatte es vorgezogen, sich nicht mit Prostituierten und leichten Weibern abzugeben, aber er war sicher, wenn er ein paar Jahre länger gelebt hätte und die Frau, die ihm die wahre Gefährtin hatte sein können, sich ihm eröffnet hätte, dann hätte er gewißlich leidenschaftlich und hingebungsvoll zugegriffen.
Und doch — und trotzdem —, als er diesen Prachtriesen Gilgamesch erspäht hatte und ihn für Conan hielt…
Dieser elektrische Stoß, der ihm durch den ganzen Leib fuhr, ganz besonders in seinen Lenden — was sonst hatte es sein können als Verlangen, urplötzlich und heftig und überwältigend? Sexuelle Sehnsucht nach einem Mann? Es war undenkbar! Nicht einmal bei diesem von Ruhm umstrahlten Helden — diesem grandiosen königlichen Geschöpf…
Nein. Nein und nein und nein!
Ich befinde mich in der Nachwelt, und das ist möglicherweise so eine Abart der Hölle, und wenn hier die Hölle ist, dann ist dies meine Strafe, dachte Howard.
Zornig stapfte er am Landrover auf und ab. Verzweifelt wehrte er sich gegen die dunkle Angst, die ihn nun zu überschatten drohte, wie dies schon so oft in diesem Leben nach dem Leben geschehen war. Diese plötzlichen verderbten und lasterhaften Gefühle, dachte Howard, sie sind nichts weiter als die teuflische Verdrehung meiner natürlichen Seele und sollen mich in Verzweiflung und Selbsthaß stürzen! Bei Crom, ich will mich dagegen wehren! Bei den Brüsten der Ischtar, ich will mich solcher Verdorbenheit nicht preisgeben!
Und dennoch ertappte er sich immer wieder dabei, wie seine Augen hinüber zum Rand des Dickichts abirrten, wo Gilgamesch noch immer über dem Tier kniete, das er erlegt hatte.
Was für erstaunliche Muskeln spielten über diesen breiten Rücken, in diesen eisenstarken Schenkeln! Mit welcher hingebungsvoller Sorglosigkeit er dem Tier die zottige Haut abzog, obwohl er dabei über und über mit dunklem gerinnenden Blut besudelt wurde! Diese Kaskade üppiger schwarzer Haare; die locker von einem edelsteinbesetzten Stirnband gefaßt waren, dieser dichte schwarze Kräuselbart…
Howards Hals wurde trocken. Etwas tief unten in seinem Leib verkrampfte sich zu einem festen Ball.
Lovecraft sagte: »Du möchtest also gern mit ihm reden?«
Howard fuhr herum. Er spürte, wie ihm die tiefe Röte in die Wangen schoß. Er war ganz sicher, daß man ihm sein Schuldbewußtsein unbedingt von seinem brennenden Gesicht ablesen konnte.
»Was meinst du damit, verdammt?« knurrte er. Unwillkürlich ballten sich seine Hände zu Fäusten. Um seine Stirn zwängte sich etwas wie ein glühendes Band. »Wozu und worüber soll ich denn mit dem reden wollen?«
Lovecraft schien verblüfft, weil Howard in seiner Stimme und seiner Haltung so heftig reagierte. Er trat einen Schritt zurück und hob den Arm, als wollte er sich schützen. »Was für eine merkwürdige Äußerung! Ausgerechnet von dir, bei deiner Vorliebe für die Antike, deiner tiefen anhaltenden Leidenschaft für diese dumpf-schweißigen Reiche im Orient, die schon so lange verschwunden sind? Mann, gibt es denn wirklich nichts, was du über die sumerischen Königreiche erfahren möchtest? Über Uruk, Nippur, über das Ur der Chaldäer? Die geheimen Riten der Göttin Inanna in den finsteren unterirdischen Gängen unter dem Ziggurat? Die Beschwörungen, die die Tore zur Unterwelt öffneten, die Trankopfer, durch die bis in die Welten jenseits der Sterne die Dämonen freisetzen und binden konnten? Wer weiß, was er uns alles erzählen könnte? Dort steht ein Mann, der sechstausend Jahre alt ist, ein Held aus der Frühdämmerung unserer Zeit, Bob!«
Howard schnaubte: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser überdimensionierte Mistbrocken bereit sein könnte, uns irgendwas zu erzählen. Der hat doch nichts andres im Sinn, als dem verdammten Biest, das er erlegt hat, die Haut abzuziehen.«
»Damit ist er beinahe fertig. Warum warten wir nicht ab, Bob? Und bitten ihn dann, sich eine Weile zu uns zu setzen. Und dann können wir ihn aushorchen, ihn dazu bringen, uns Geschichten preiszugeben über das Leben, wie es sich vor langer Zeit am Euphrat abspielte!« Und jetzt glühten auch Lovecrafts dunkle Augen, als verspürte auch er ein seltsames Lustgefühl, und seine Stirn glänzte von bei ihm ungewohntem Schweiß, aber Howard wußte, daß es sich bei seiner Begeisterung nur um die Begierde nach Wissen handelte, einen Hunger nach den geheimen Weisheitsschätzen der hohen Frühzeit, die seiner Vorstellung nach aus dem Mund dieses Zweiströmehelden sprudeln müßten. In ihm selbst brannte ebenfalls diese Begierde. Mit diesem Mann zu sprechen, der gelebt hatte, ehe es Babylon gab, der durch die Straßen von Ur schritt, als Abraham noch nicht geboren war…
Aber es gab andere Gelüste neben diesem Hunger nach Erkenntnis und Wissen, ein dunkles unheimliches Verlangen, das man verleugnen mußte, koste es, was es wolle…
»Nein«, sagte Howard abweisend. »Verschwinden wir von hier, und zwar jetzt und verdammt schnell, H. P.! Diese verdammte öde Gegend geht mir auf den Keks.«
Lovecraft sah ihn seltsam an. »Hast du mir nicht gerade vorhin erklärt, wie wunderschön es hier…«
»Zur Hölle mit allem, was ich dir möglicherweise gesagt habe! König Henry erwartet von uns, daß wir für ihn ein Bündnis aushandeln. Und das werden wir nicht hinkriegen, wenn wir hier draußen am Arsch der Welt…«
»Dem was?«
»Am hintersten Ende der Welt. In einem wilden un-zivilisierten Land. Ein Begriff, der nach unserer Zeit in Mode kam, H. P. Hinterwäldlerisch, weißt du, provinziell. Aber du hast dich ja nie besonders um Lokalkolorit gekümmert, nicht war.« Er zog Lovecraft am Ärmel. »Also, komm schon! Dieser große verdammte Affe da drüben erzählt uns bestimmt nichts von seinem Leben und seiner Zeit, garantiere ich dir. Wahrscheinlich erinnert er sich an nichts, was sich irgendwie lohnt. Und er geht mir auf den Keks. Entschuldige schon, H. P. aber ich finde ihn einfach furchtbar eklig, ja? Und ich habe nicht den Wunsch, seine Gesellschaft noch länger zu ertragen. Was dagegen, H. P.? Glaubst du, wir könnten jetzt endlich hier abfahren?«
»Ich muß gestehen, daß du mir manchmal Rätsel aufgibst, Bob. Aber selbstverständlich, wenn du…« Plötzlich riß Lovecraft erstaunt die Augen weit auf. »Runter, Bob! Hinter den Wagen! Schnell!«
»Was…?«
Ein Pfeil schwirrte durch die Luft und flog knapp an Howards linkem Ohr vorbei. Dann noch einer und noch einer. Ein Geschoß prallte widerlich dumpf von der Seite des Wagens ab. Und ein weiterer Pfeil traf direkt und steckte zentimetertief zitternd im Metall.
Howard wirbelte herum. Er sah Reiter, ein Dutzend, vielleicht auch anderthalb Dutzend, die aus der Finsternis im Osten herangeprescht kamen und ihre Pfeile auf sie abschossen.
Es waren magere kräftige Männer von irgendwie orientalischem Typ in karmesinrotem Lederwams, die ritten wie die Teufel. Ihre Reittiere waren kleine flachnasige glutäugige graue Dämonenpferde, die dahinpreschten, als könnten die kurzen stampfenden Beine sie ohne einen Augenblick der Rast bis ans Ende der Niederwelt tragen.
Die gelbhäutigen Krieger sangen und johlten, wie von wilder Wut gepackt. Mongolen? Türken? Was immer sie sein mochten, sie donnerten wie die Sendboten des Todes selbst auf den Landrover zu. Einige schwangen lange bösartig gekrümmte Klingen, doch die meisten hatten kleine seltsam geformte Bogen, von denen sie mit erstaunlicher Schnelligkeit ganze Schauer von Pfeilen verschossen.
Neben Lovecraft hinter dem Landrover kauernd, starrte Howard den Angreifern verblüfft und wie gelähmt entgegen. Wie oft hatte er solche Szenen beschrieben? Wehende Federn, starrende Lanzen, eine fauchende pfeifende Wolke von ellenlangen Lanzenschäften! Donnernde Pferdehufe, wildes Kriegsgeschrei, das Prasseln der Pfeilspitzen der Barbaren gegen die Schilde Aquiloniens! Sich bäumende Rösser, die ihre Reiter abwarfen… Ritter in blutbedeckter Rüstung, die auf den Boden geworfen wurden… stahlgepanzerte Gestalten über das wellige Schlachtfeld verteilt…
Aber was sich jetzt hier abspielte, das war keine Saga von ›hyboreanischen‹ Nordlandkriegern, die einen Ringelreihentanz veranstalten. Hier handelte es sich um reale Reiter — so wirklich wie alles andere an diesem Ort — und sie kamen über die kalte windgepeitschte Ebene am Rand der Nachwelt herangeprescht. Und die Pfeile waren echte Pfeile, und sie würden sich wirklich tief in sein Fleisch bohren und echte Schmerzen bereiten, höchst schrecklich qualvolle.
Er blickte zu Gilgamesch hinüber. Der sumerische Riesenkerl kauerte hinter dem umgedrehten Rumpf seiner Jagdbeute. Den Riesenbogen hielt er in den Händen. Howard starrte beklommen und voll Ehrfurcht hinüber, und dann schoß Gilgamesch. Der Pfeil traf den ersten Reiter und drang durch das Wams und den Brustkorb und ragte aus seinem Rücken hervor. Dennoch gelang es ihm, während er heranstürmte, noch einen letzten Pfeil abzuschießen, ehe er stürzte. Das Geschoß schwirrte in unsicherem Bogen rasch und schwankend und zischend auf Gilgamesch zu und durchbohrte das Fleisch des linken Unterarmes.
Kalt blickte der Sumerer auf den Pfeil in seinem Arm. Dann runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf, etwa so, als hätte ihn eine Wespe gestochen. Dann — genau wie Conan es getan haben könnte, Himmel, wie sehr das an Conan erinnerte! — legte Gilgamesch den Kopf schief gegen die Schulter und biß den Pfeil dicht über den Federn entzwei. Helles Blut spritzte aus der Wunde, als er die zwei Stücke herauszog.
Und als wäre weiter nichts von Wichtigkeit geschehen, hob Gilgamesch seinen Bogen und griff nach einem zweiten Pfeil. Das Blut floß in kleinen Bächen den Arm hinab, doch er schien es nicht einmal zu bemerken.
Howard schaute wie gelähmt zu. Er vermochte sich nicht zu bewegen, er konnte sogar kaum richtig atmen.
Eine dumpfe Übelkeit drohte ihn zu überwältigen. Es hatte ihm gar nichts ausgemacht, abgeschlagene Köpfe und Arme und Beine fröhlich unbekümmert in seinen Geschichten zu gewaltigen blutigen Haufen aufzutürmen, aber in Wirklichkeit hatten ihm Blutvergießen und jegliche Art von Gewalt Entsetzen eingeflößt, wo immer er auch nur den flüchtigsten Blick darauf erhascht hatte.
»Die Kanone, Bob!« rief Lovecraft drängend an seiner Seite. »Nimm doch deine Kanone!«
»Was?«
»Da. Da unten.«
Howard blickte nach unten. In seinem Gürtel steckte die Pistole, die er mit aus dem Wagen genommen hatte, als er sich das kleine Ungetier auf dem Weg näher ansehen wollte. Jetzt zog er die Waffe heraus und starrte sie stumpfäugig an, als wäre sie das Ei eines Basilisken in seiner Handfläche.
»Worauf wartest du denn?« fragte Lovecraft. »Aha. Ach so. Gib sie schon her!« Ungeduldig entriß er die Waffe den starren Fingern Howards und betrachtete sie kurz, als hätte er nie zuvor so etwas in der Hand gehabt. Wahrscheinlich hatte er das auch nicht. Dann aber packte er die Pistole mit beiden Händen, schaute vorsichtig über das Dach des Landrovers und gab einen Schuß ab.
Der laute Knall durchbrach die schrillen Schreie der Reiter. Lovecraft lachte. »Ich hab’ einen erwischt! Wer hätte je gedacht…«
Er feuerte erneut. Und im gleichen Augenblick erledigte Gilgamesch wieder einen von den Angreifern mit seinem Bogen.
»Sie ziehen sich zurück!« rief Lovecraft. »Bei Al-hazred, ich wette, damit haben sie nicht gerechnet!« Und er lachte wieder und hob zielend sein Schießeisen. »Ja!« brüllte er mit einer Stimme, wie Howard sie noch nie aus dem Mund des zurückhaltenden oberlehrerhaften Lovecraft gehört hatte. »Shub-Niggurath!« Lovecraft feuerte einen dritten Schuß ab. »Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn!«
Howard spürte, wie ihm der Schweiß über den ganzen Körper rann. Diese seine Aktionsunfähigkeit — diese Gelähmtheit! — diese Schmach! — was hätte Conan in dieser Situation gemacht? Was Gilgamesch? Und Lovecraft, dieser scheue spießige Schulmeister, der sich vor den Fischen im Meer gefürchtet hatte, vor den kalten Winden in seinen Neu-England-Wintern und vor so vielen anderen Dingen, der stand da und lachte und grölte in seinem wundersamen Kauderwelsch und ballerte um sich wie irgendein Gangster, der sich einen Heidenspaß gönnt…
Ein Jammer! Eine Schande!
Howard achtete nicht auf die Gefahr, sondern kletterte auf den Wagen und tastete nach der zweiten Waffe, die da irgendwo auf dem Boden liegen mußte. Er fand sie und kniete sich hinter das Fenster. Sieben, acht der asiatischen Reiter lagen in einem Radius von etwa hundert Metern verstreut tot oder sterbend um den Wagen herum. Die übrigen hatten sich auf beträchtliche Entfernung zurückgezogen und kanterten unruhig im Kreis um sie herum. Offensichtlich waren sie von dem unerwartet heftigen Widerstand verwirrt, dem sie da begegnet waren, bei etwas, das sie wahrscheinlich für ein hübsches kleines Schlachtfest in diesen unerforschten Grenzbezirken gehalten hatten.
Und was taten sie jetzt? Sie zogen sich zu einem kleinen engen Trupp zusammen, die Pferde Nase an Nase. Sie hielten Beratung ab. Und dann zogen zwei von ihnen aus der Satteltasche etwas, das aussah wie eine Art Kriegsbanner und hoben es zwischen sich an Bambusstangen in die Höhe: eine lange gelbe Fahne mit flatternden blutroten Fransen, auf der in kantigen schwarzen asiatischen Lettern etwas stand. Die Sache wurde offensichtlich ernst. Und nun formierten sie sich zu einer Reihe gegenüber dem Landrover. Sie machten sich zu einem verzweifelten selbstmörderischen Sturm bereit — so sah das aus.
Gilgamesch stand nun aufrecht und allen sichtbar da und setzte gelassen einen neuen Pfeil auf die Bogensehne. Er hob den Bogen und zielte und wartete ab. Lovecraft, der ganz rot vor Erregung aussah und völlig verwandelt durch die ihm fremden Wonnen eines Kampfes mit Waffen, beugte sich weit nach vorn, spähte gespannt hinaus und hatte die Pistole schußbereit im Anschlag.
Howard zitterte. Scham trieb ihm schmerzhaft die Sporen in die Flanken. Wie konnte er nur so feige hier kauern, während die anderen zwei die Last des Kampfes allein trugen? Obwohl seine Hand zitterte, richtete er die Waffe aus dem Fenster und zielte auf den ihm nächsten Reiter. Sein Finger krümmte sich am Abzug. War es möglich, auf die Entfernung zu treffen? Ja. Ja. Los! Du weißt doch, wie man mit Schußwaffen umgeht. Höchste Zeit, daß du etwas davon praktisch anwendest. Putz den miesen kleinen gelben Hund dort aus dem Sattel! Mit einem Huster aus deinem .38er Colt, ja! Schick ihn direkt in die nächste Welt — nein, geht nicht, er ist ja bereits in der nächsten Welt — also schick ihn ins Vergessen, bis er wieder an der Reihe ist, wieder hervorgezerrt zu werden, ja, so war’s richtig — fertig — zielen…
»Warte«, sagte Lovecraft. »Schieß nicht!«
Was war das? Während Howard, es kostete ihn einige Mühe, die Waffe sinken ließ und seine bebende steife Hand entspannte, starrte Lovecraft, die Augen mit der Hand gegen den geisterhaften Glast der geschwollenen roten Sonne schirmend, lange auf die feindlichen Krieger. Dann wandte er sich um und suchte im Fond des Wagens herum und brachte schließlich den braunen Umschlag zutage, in dem sich ihre Ernennungsurkunde von King Henry befand.
Und dann… aber was tat er denn?
Lovecraft trat mit hocherhobenen Armen aus der Deckung und schwenkte das Portefeuille durch die Luft und ging auf die Feinde zu?
»Die bringen dich um, H. P.! Runter, geh in Deckung!«
Ohne sich umzudrehen, bedeutete Lovecraft mit einer scharfen Geste, Howard solle den Mund halten, und schritt weiter stetig auf die Reiter in der Ferne zu. Sie schieben ebenso erstaunt wie Howard. Sie saßen bewegungslos, die Bogen gespannt, ein Dutzend Pfeile auf Lovecrafts Körpermitte gerichtet.
Jetzt ist er ganz durchgedreht, dachte Howard bestürzt. Aber eigentlich war er ja nie so ganz ausgeglichen, nicht wahr? Hat immer halb das Zeug geglaubt, das er über die Alten Götter und über Schleusen zwischen den Dimensionen und gotteslästerliche Riten in den dunklen Hügeln Neu-Englands schrieb. Und jetzt, bei der ganzen Schießerei — die Aufregung…
»Laßt eure Waffen sinken, ihr alle!« rief Lovecraft mit einer erstaunlich lauten und gebieterischen Stimme. »Im Namen des Priesters Johannes gebiete ich euch Einhalt! Senkt die Waffen! Wir sind nicht eure Feinde! Wir sind Abgesandte an euren Herrscher!«
Howard blieb die Luft weg. Er begann zu begreifen. Nein, Lovecraft war nicht wahnsinnig geworden!
Er betrachtete sich das lange Kriegsbanner erneut. Ja, natürlich, natürlich! Diese Wirbel und Schnörkel auf der Fahne: Das waren die Wappen des Priesterkönigs Johannes! Und diese blutrünstigen Reiter mußten zur Grenztruppe eben jenes Landes gehören, zu dessen Herrscher sie schon so lange unterwegs waren. Howard fühlte sich beschämt; er begriff, daß Lovecraft mitten in dem tobenden Kampf genug Vernunft gezeigt und sich die Zeit genommen hatte, sich das Banner genauer anzusehen und zu entziffern — und den Mut besessen hatte, vorzutreten und die diplomatische Legitimation hochzuhalten. Er hatte nun die Pergamentrolle mit ihrer Akkreditierung in der Hand und zeigte mit der anderen auf das schmale rote Band und das Sigill König Heinrichs.
Die Reiter spähten herüber, sie berieten sich untereinander und senkten die Bogen. Auch Gilgamesch ließ seinen Großbogen sinken und blickte erstaunt drein. »Seht ihr dies?« rief Lovecraft. »Wir sind Herolde von King Henry! Und wir verlangen den Schutz eures Herrn, des Erhabenen Herrschers Yeh-lu Ta-shth!« Mit einem Blick über die Schulter bedeutete er Howard, er solle an seine Seite treten, und nach nur ganz kurzem Zögern sprang der vom Landrover und trabte nach vorn. Ihm war recht unbehaglich dabei, als er sich diesen finsteren gelben Bogenschützen so preisgab. Es war beinahe so, als stünde man am Rand eines riesigen Abgrunds.
Lovecraft lächelte. »Alles wird gutgehen, Bob! Das Banner, das die da entrollten — es trägt die Zeichen des Priesterkönigs Johannes…«
»Ja. Ich erkenne es, ja.«
»Und siehst du? Sie geben das Zeichen für sicheres Geleit. Sie haben verstanden, was ich sagte, Bob! Sie glauben mir!«
Howard nickte. Eine große Erleichterung wallte in ihm hoch, ja sogar so etwas wie Freude. Herzhaft schlug er Lovecraft auf den Rücken. »Gute Arbeit, H. P.! Ich hätte nicht gedacht, daß das in dir steckt!« Und nun, da er seine Scheißangst zu überwinden begann, fühlte er, wie eine geradezu manische Hochstimmung sich seiner bemächtigte. Er winkte den Reitern zu, fuchtelte wild mit den Armen herum. »Holla! Wir sind Königliche Gesandte!« brüllte er. »Sendboten Seiner Britannischen Majestät des Achten Königs Heinrich! Bringt uns vor euren Herrscher!« Dann blickte er zu Gilgamesch hinüber, der mit zusammengezogenen Brauen dastand, den Bogen noch immer schußbereit. »Holla, auch du dort, König von Uruk! Laß auch du die Waffe sinken! Es ist jetzt alles in Ordnung! Man geleitet uns jetzt an den Hof des Priesterkönigs Johannes!«