Braun und Gelb schien sich die westliche Schotterwüste der Nachwelt Millionen Meilen weit vor Gilgamesch und seinen Reisegefährten zu dehnen, über den Horizont hinaus und zu beiden Seiten bis in den Himmel. Vielleicht war das ja wirklich so. Die enge bröckelige Landstraße, auf der sie dahinzogen, schien hinter ihnen zu verschwinden, sobald sie ein Stück weiterfuhren, als verschluckten hinter ihnen gierige Dämonen die brüchigen Pflastersteine, und vor ihnen schien die Straße in mehrere verschiedene Richtungen gleichzeitig zu führen.
»… aber zweifellos wirst du mir doch zustimmen, Gilgamesch«, sagte Simon der Magier, »daß es besser ist, in der Nachwelt ein Herrscher zu sein, als Sklavendienste zu tun.«
»Ich fürchte, du zitierst nicht ganz korrekt«, erwiderte Gilgamesch ruhig. »Aber das macht nichts. Wir haben in unserem Diskurs den Faden verloren, sofern es da je einen gab. Habe ich mich über dich lustig gemacht? Schön, wenn ja, dann ersuche ich dich, mir zu vergeben, Simon. Ich tat es nicht absichtlich.«
»Geredet wie ein König. Es gibt keine Ranküne zwischen uns. Magst du noch einen Schluck Wein?«
»Ja, warum nicht?« sagte Gilgamesch.
Tag und Nacht war die Karawane ohne Unterbrechung über das öde unfruchtbare Land dahingerollt. Die Küste über der Inselstadt Brasil hinauf, in der Hoffnung, eine Stadt zu entdecken, deren Existenz bislang nur bloße Vermutung und Spekulation war.
Gilgamesch trank schweigend. Der Wein war in Ordnung. Er hatte schon Übleres getrunken. Doch nach tausenden Jahren konnte er sich noch immer lustvoll an den Geschmack des süßen kräftigen Weins und des dicken schäumenden Biers im Sumer-Land erinnern. Ach, besonders der Wein! Wie viele Krüge dieses dunklen purpurnen Getränks hatte er gemeinsam mit Enkidu in ihrem alten Leben geleert! Wahrlich, der Wein erhob des Mannes Seele und Herz. Doch hier in der Nachwelt war wenig Gelegenheit zur Erhebung, und der Wein brachte nur flüchtige Freude. Ein kurzes Prickeln auf der Zunge, und dann war es vorbei. Aber hier erwartete man ja auch nicht mehr. Einst, anfangs hatte er das anders gesehen. Er hatte geglaubt, hier sei eine Art zweites Leben, in dem man echte Leistung erringen, wirkliche Ziele durchsetzen konnte, echte Lust erfahren, große Reiche gründen konnte. Nun ja, es war ein Sekundärleben, ein Über-Leben, das war nicht zu bezweifeln. Aber der Wein, der hatte hier nur einen sehr blassen Geschmack. Genau wie die Leiber der Frauen oder ein warmes duftendes Stück Bratenfleisch. Hier war nicht der Ort, an dem echte Freude, wirklicher Genuß zu finden war, wie er sie in Erinnerung hatte. Hier lebte man einfach weiter und weiter und weiter. Diese Nachwelt war in sich selber sinnlos, und deshalb war auch jegliches Streben hier sinnlos. Zu diesem kühlen, trostlosen Schluß war Gilgamesch schon vor langer Zeit gekommen. Und er fand es reichlich verwirrend, daß so wenige dieser großen Heroen, dieser Sultane, Kaiser und Pharaonen und wie sie sonst hießen, während ihrer langen Aufenthaltsdauer hier diese Wahrheit nicht begriffen hatten.
Er wackelte mit dem Kopf, um diese Gedanken, die nicht mehr zu ihm passen wollten, wegzuschüttein. Er hatte kein Recht mehr, den Ehrgeiz anderer Männer verachtungswürdig zu finden, seitdem er durch die Hände Imbe Calandolas in Brasil das Wissen empfangen hatte.
Und er erinnerte sich, daß auch er in der Nachwelt mit Königtum herumgespielt hatte, sogar er, der ernüchterte und abgeklärte Gilgamesch. Er hatte an diesem Ort des Chaos nach Macht gestrebt, und er hatte sie gewonnen, und hatte eine große Stadt gegründet und daselbst in großer Herrlichkeit geherrscht. Und dann hatte er das alles vergessen und war brav und fromm durch die Nachwelt getrabt und hatte fest und überzeugt behauptet, daß er über derlei irdisches Wunschverlangen hinaus sei.
Es stand ihm schlecht an, andere für ihren Ehrgeiz und ihren Stolz auf Errungenschaften zu schmähen. Er hatte einfach vergessen, daß er auch so war, da lag der Fehler. In der Nachwelt konnte einer alles vergessen. Das verstand er nun. Erinnerung war hier etwas Zufälliges. Ganze Erlebnissegmente versackten einfach, tausend Jahre turbulente Geschehnisse. Um dann unerwartet wiederzukommen und einen Mann in tiefste Seelenwidersprüche zu verstricken.
Gilgamesch fragte sich, ob die fiebernde Machtgier, die er derart verächtlich gefunden hatte, ihn nicht über kurz oder lang erneut packen würde. Die Nachwelt konnte einem geschickt gegensätzliche Feuer in der Brust entfachen, das wußte er: Wovon einer zutiefst überzeugt war, daß er so etwas nie tun würde, dabei ertappte man sich hier dann mit hoher Wahrscheinlichkeit.
»Nun sieh dir bloß diese Gegend an!« murrte Simon. »Es wird immer scheußlicher. Immer schlimmer!«
»Ja«, antwortete Gilgamesch. »Wir sind an den Rand des Nichts gelangt.«
Anfangs hatte die Expeditionskarawane aus sieben Geländefahrzeugen bestanden — Simons vergoldetem kugelsicheren Palankin; zwei weniger prunkvollen Sänften für Gilgamesch und Herodes; und vier weiteren Vehikeln für das Gepäck und die Sklaven. Doch am dritten Tage war ganz plötzlich die Straßendecke unter den letzten Wagen des Bagagetrosses eingebrochen, und in purpurnen Flammen und mißtönendem Geheul unsichtbarer Geister war der letzte Landrover verschluckt worden. Dann, zwei Tage später, hatte Simons grandiose Motorkutsche plötzlich Pestbeulen an der schimmernden Panzerung entwickelt, war wie von scheußlichen Pockennarben bedeckt, und das Fahrgestell hatte begonnen zu schmelzen und zu zerfließen, wie wenn es von einer Säure zerfressen würde. Also blieben ihnen nur fünf Landrover. Simon reiste verstimmt und genervt mit Gilgamesch im vordersten Wagen und tröstete sich mit gewaltigen Mengen des süßen dunklen Weins.
Dieses angebliche Uruk, das sie suchten, dachte Gilgamesch, konnte irgendwo im Norden liegen, im Süden, Osten oder Westen. Oder auch ganz woanders. Oder nirgendwo. Vielleicht war Uruk ja überhaupt nur ein Gerücht, eine Vision, ein phantastischer Wunschtraum, die Ausgeburt der überhitzten Einbildung irgendeines Lügners vielleicht, dunstverhangene mündliche Überlieferung. Vielleicht würden sie hundert Jahre danach suchen, oder tausend, und es niemals finden.
Also war diese Queste möglicherweise ein törichtes Unternehmen. Doch nicht zu suchen, das wäre wohl ebenso beschränkt und dumm. Selbst für den Fall, daß Uruk nur ein Trugbild und Traum war, was würden sie schon verlieren, wenn sie danach suchten! »Zeit ist Geld«, hatte einst jemand Gilgamesch gesagt — dieser seltsame alte Knabe Ben Franklin? Oder Sennacgerib aus Assyrien? Time is Money? Ganz falsch, dachte Gilgamesch. In der Nachwelt ist Zeit nichts wert, gar nichts. Und wenn ich auch nur die kleinste Chance habe, auf diese Weise Enkidu zu finden — und Simon die Juwelen, nach denen er lechzt —, schön, warum denn dann nicht? Die einzigen Alternativen dazu wären Nichtstun, Stagnation, Hoffnungslosigkeit. Und schlimmstenfalls würden sie eine Enttäuschung erfahren; aber wenn man gar nichts tut, kann man nicht damit rechnen, je irgend etwas zu erreichen.
Simon rutschte unruhig auf seinem Sitz neben Gilgamesch hin und her und sagte besorgt: »Ich glaubte, wir würden durch ein Gelände voller Marschen und Seen ziehen, nicht durch eine Wüste. Das da sieht aber ganz und gar nicht so aus wie auf der Landkarte, die der Karthager mir verkauft hat.«
Gilgamesch zuckte die Achseln. »Warum sollte es denn? Diese Karte war ein Traum, Simon. Diese Wüste ist ein Traum. Und die Stadt, nach der wir suchen, ist wahrscheinlich ebenfalls nur ein Traum.«
»Aber wieso hattest du es dann so eilig, von Brasil aufzubrechen?«
»Auch wenn es nicht existieren sollte, ist das kein Grund, nicht danach zu suchen«, erwiderte Gilgamesch. »Und sobald wir uns einmal für die Queste entschieden haben, ist es einfach besser, je früher wir damit beginnen, statt es hinauszuschieben.«
»Kein Römer würde solch einen Unsinn reden, Gilgamesch.«
»Möglich. Aber ich bin kein Römer.«
»Manchmal habe ich so meine Zweifel, ob du überhaupt ein menschliches Wesen bist.«
»Ich bin eine arme verdammte Seele, genau wie du.«
Simon schniefte verächtlich und reichte einem Sklaven eine neue Flasche Wein zum Entkorken. »Hört euch den an! Eine arme verdammte Seele, sagt er! Seit wann glaubst du denn an Gericht und Verdammung und dieses ganze hohle Blech der Spät-Toten? Und willst du mich etwa täuschen mit diesem schniefenden Selbstmitleid? Eine arme verdammte Seele! Welche arrogante Heuchelei! Du könntest nicht einmal überzeugend zerknirscht sein, wenn dein Leben davon abhinge! Oder dich ernstlich selber auch nur eine halbe Minute lang bemitleiden! Du bist dafür einfach zu verdammt vornehm!« Damit ergriff Simon die geöffnete Flasche, trank einen tiefen bedächtigen Schluck und nickte, dann rülpste er und bot Gilgamesch die Flasche an. Dieser trank gleichgültig, ohne den Geschmack des Getränks richtig zu bemerken.
»Aber ich meinte es wirklich ganz im Ernst«, sagte er nach einiger Zeit. »Wir alle hier an diesem Ort sind Verdammte, auch wenn das wohl jeweils für verschiedene Leute etwas ganz Verschiedenes bedeutet. Und arm sind wir alle, ungeachtet der Truhen voller Schätze, die wir horten, denn hier ist alles Dämonenwerk und Truggold, ohne Substanz und Gehalt, und nur ein Narr sieht das nicht ein.«
Simons fleischiges Gesicht wurde dunkelrot, und die Flecken und Schwellungen traten deutlicher und zornig hervor. »Mach dich nicht lustig über mich, Gilgamesch. Ich bin durchaus willens, mir eine Menge von deiner Überheblichkeit gefallen zu lassen, weil ich weiß, daß du zu deiner Zeit etwas ganze Besonderes gewesen bist, und weil du viele Eigenschaften besitzt, die ich bewundere. Aber treib keinen Spott mit mir! Und behandle mich nicht so von oben herab!«
»Tu ich das denn, Simon?«
»Unablässig. Du überheblicher aufgeblasener sumerischer Bastard!«
»Wieso verspotte ich dich, indem ich dir sage, ich nehme die Tatsache hin, daß die launischen Götter mich mit einem Fingerschnippen an diesen Ort hier geschickt haben — ebenso wie dich oder Herodes oder jedermann, der jemals auf Erden atmete? Wieso verspotte ich dich, wenn ich zugebe, daß ich nichts weiter bin und niemals etwas anderes war als ein Spielzeug in ihrer Hand — genau wie du?«
»Du, Gilgamesch? Ein Spielzeug in der Hand der Götter?«
»Du glaubst also, daß wir hier einen freien Willen haben?«
»Nur ein Schwachkopf könnte etwas anderes glauben. Versteh doch, Gilgamesch, es gibt nun einmal Herrschertypen und Sklavennaturen«, sagte Simon. »Auch hier in der späten Nachwelt wohne ich in einem mit Rubinen und Smaragden geschmückten Palast und habe Hunderte von Dienern, die mir das Badewasser bereiten, meine Karossen fahren und mir das Mahl zurichten. Und es ist ein verdammt viel angenehmeres Leben als das, was ich in Samaria hatte, oder sogar in Rom. Ich bin hier — wie seinerzeit in der anderen Welt — eine Führerpersönlichkeit für die Leute. Drüben hatte ich eine Sektengemeinde, hier herrsche ich über eine reiche Insel. Bloßer Zufall? Oder freier Wille, Gilgamesch? — Nein! Weil ich es so möchte. Weil ich mich so entschieden und hartnäckig und ehrlich darum bemüht habe.«
»Die Speisen, die du verzehrst, schmecken sie dir?«
»Man sagt mir nach, daß ich die feinste Tafel dieser ganzen Nachweltregion führe.«
»Die feinste, zweifellos. Aber genießt du, schmeckt es dir, was du ißt? Oder ist nicht das Feinste nur eine winzige Spanne von vulgärer Gemeinheit entfernt, Simon?«
»Jupiter und Isis, Mann! Sei doch kein Esel! Das hier ist das Leben nach dem Leben! Wir sind allesamt tot, Gilgamesch. Wer erwartet denn da schon, daß das Essen besonders gut schmeckt!«
»Tot? Aber das ist doch nur ein Wort. Wir sind gestorben; und aus irgendwelchen, nur den Göttern plausiblen Gründen leben wir erneut. Wir atmen, wir haben Hunger, wir fühlen Schmerz, wir empfinden Hitze oder Kälte, Nässe und trockene Geborgenheit. Das hier ist kein gespenstisches Schattendasein, in dem wir stecken. Es ist von anderer Art als unser vorheriges Leben, doch es ist ein ganz eigenes Leben. Und kein sehr angenehmes.«
»Vielleicht nicht für dich, Gilgamesch. Sicher, es gibt da gewisse Nachteile und nicht gerade ideale Besonderheiten. Aber dennoch, ich nutze meine Möglichkeiten, so gut es geht. Wie das jeder leidlich intelligente Mensch tun würde.«
»Richtig«, erwiderte Gilgamesch beißend. »Wie du so hartnäckig betonst, besitzt du ja einen freien Willen. Verwässert nur durch ein paar belanglose Unannehmlichkeiten.«
»Die Nachteile dieses Ortes hier haben mit dem Problem der freien Willensentscheidung keinen Dämonenfurz zu tun; im übrigen ist es eine törichte Streitfrage, ein Haufen pfeifende Luft, ausgedacht von Später Toten, die nichts zu tun hatten. Wieso sind manche Männer hier Könige und andere Sklaven, außer deshalb, weil wir uns unser Schicksal selbst schmieden?«
»Wir haben darüber bereits debattiert, glaube ich«, sagte Gilgamesch achselzuckend. Er wendete sich ab und blickte starr ins Land hinaus.
Zu beiden Seiten ragten üble zerklüftete Kliffs auf wie schartige Zähne. Die Luft hatte die Färbung von Dung angenommen. Der Boden zitterte wie eine über einen windigen Abgrund gespannte Decke. Ab und zu platzten gasartige schwarze Blasen auf. Alles schien zitternd in gespannter Bewegung. Ein blutfarbener Regen hatte eingesetzt, doch wie es hier oft geschah, kein Tropfen erreichte den ausgedörrten Boden. Magere hundeähnliche Tiere, die ganz aus Mäulern und Reißzähnen und Augen zu bestehen schienen, rannten neben der Straße her und sprangen hoch und jaulten und kläfften. In weiter Ferne erblickte Gilgamesch einen dunklen See, der auf die Seite gekippt zu sein schien. Die Straße vor ihnen verlief in irren Windungen zugleich nach rechts und links, ohne sich zu gabeln, und nun sah es so aus, als krümmte sie sich in den Himmel hinauf. Eine Teufelsstraße, dachte Gilgamesch, angelegt, um die zu quälen, die sie befahren. Ein Land der Dämonen.
»Die Karte des Karthagers…« sagte Simon.
»War der reine Schwindel und Betrug«, warf Gilgamesch ein. »Sie wurde unter deinen Händen ganz leer, nicht wahr? Damit solltest du nur reingelegt werden. Vergiß die Karte, Simon. Wir sind, wo wir sind.«
»Und wo ist das?«
Gilgamesch breitete die Hände aus, beugte sich vor und versuchte mit zusammengekniffenen Augen eine Orientierung zu finden.
Doch da draußen war alles nur verwirrend und widerwärtig. Und er begriff, es war töricht, wenn er versuchte, es zu begreifen.
In der Nachwelt durfte man niemals hoffen, Entfernungen oder räumliche Bezüge zu verstehen, oder den Ablauf der Zeit, die Ausmaße von Dingen — oder sonst etwas. Wenn einer weise war, nahm er alles so hin, wie es kam, und stellte keine Fragen. Das, dachte er, war das Grundprinzip in der Nachwelt, die alles andere hier bestimmende Haupteigenschaft der Nachwelt. Man nimmt es, wie es kommt. Und was immer Simon Magus behauptete: Keiner war hier der Schmied seines eigenen Geschicks. Wer so etwas glaubte, betrog sich nur selbst.
Plötzlich verschwand draußen der ganze Wahnsinn, wie von einer Hand weggewischt. Aus Rissen im Boden wuchs dicker grauer Dunst herauf und klebte wie ein Baumwolltuch über allem und hüllte alles in dichte Düsternis. Der Landrover bockte und hielt an. Der nachfolgende, in dem Herodes aus Judäa saß, konnte nicht so rasch halten und krachte dröhnend gegen das Heck des vorderen Wagens.
Dann griffen unsichtbare Hände nach Simons Karosse und begannen sie auf und nieder zu schaukeln.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« grunzte Simon. »Sind es Dämonen?«
Gilgamesch hatte bereits seinen Bogen von hinten geholt, den Pfeilköcher, seinen Bronzedolch.
»Räuber, glaube ich. Es sieht mir ganz nach einem Hinterhalt aus.«
Aus dem Dunst tauchten Gesichter auf und spähten durch die beschlagenen Fensterscheiben herein. Verwirrt blickte Gilgamesch zu ihnen hinaus. Glattes dunkles Haar, dunkle Augen, bräunliche Haut — unverkennbar vertraute Gesichtszüge…
Sumerer! Männer seines eigenen Blutes! Diese Gesichter hätte er überall erkannt!
Eine Meute aufgeregter Sumerer umringte den Zug, sprang herum, rüttelte an den Stoßstangen, brüllte!
Simon, entflammt von Zorn und trunkener Tollkühnheit, zog sein römisches Kurzschwert und fummelte am Türgriff herum.
»Warte!« sagte Gilgamesch, packte ihn am Ellbogen und zog ihn zurück. »Bevor du uns in ein Gemetzel stürzt, laß mich erst mal mit den Männern reden. Ich glaube, ich weiß, wer sie sind. Und ich glaube, wir wurden soeben von der Grenzpolizei der Stadt Uruk angehalten.«
In einem weiträumigen dumpfigen Kellerraum in der Straße der Gerber und Färber saß der Mann, der sich Ruiz nannte, unter knisternden, spuckenden Flutlampen an seiner Staffelei und arbeitete unentwegt in der totenstillen Nacht weiter. Sein Oberkörper war nackt. Er war ein untersetzter, kräftiger Mann, über seine Lebensmitte hinaus, mit tiefliegenden durchdringenden Augen und einem runden Schädel, den nur noch ein weißer Haarkranz zierte.
Die Arbeit ging beinahe gut voran. Beinahe. Doch es war schwer, verdammt schwer. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, wie schwer ihm die Arbeit fiel. Droben war es immer ganz leicht gewesen, so natürlich wie das Atmen. Aber hier tauchten nervende Komplikationen auf, wie er sie im früheren Leben nicht gekannt hatte.
Er betrachtete angestrengt die vor ihm stehende Frau, dann die halb vollendete Leinwand, dann wieder die Frau. Er ließ ihre Eigentümlichkeit in sein Bewußtsein eindringen und sich dort ausbreiten und schwellen, bis sie seine Seele ganz erfüllten.
Was war sie für ein prachtvolles Geschöpf! Siehst du, wie sie da steht, wie eine Priesterin, wie eine Königin, wie eine Göttin!
Er wußte nicht einmal ihren Namen. Sie war eine von diesen uralten Frauen, von der die Stadt übervoll war, eine von diesen Babyloniem, Assyrern oder Sumerern, wie sie leicht direkt einem der alten Sandsteinreliefs aus Ninive gestiegen sein konnten, die sie im Louvre hatten. Schimmernde dunkle Augen, starke edle Nase, schimmerndes schwarzes Haar, im Nacken unter einem zierlichen Silberkrönchen mit Karneolen und Lapislazuli zusammengerafft. Die Frau trug ein prachtvolles Kleid, scharlachroter Stoff, von Silberfäden durchwirkt, an der Schulter mit einer langen geschwungenen Goldagraffe gehalten. Es fiel dem Mann, der seinen Namen als Ruiz angab, nicht schwer, sich vorzustellen, was sich unter der Robe verbarg, und wahrscheinlich würde sie, wenn er darum bat, die Hülle nur zu bereitwillig abstreifen. Vielleicht würde er sie bitten… Später. Jetzt aber brauchte er den Stoff für sein Bild. Die stark gemeißelten Linien waren wesentlich. Sie trugen dazu bei, der Frau diesen wundersam vorzeitlichen Ausdruck zu geben. Sie war Aphrodite, Eva, Ishtar, Mutter und Hure in einem, eine Göttin, eine Königin.
Sie war grandios! Aber das Bild… das Bild…
Mierda! Es ging schief, wie alle die anderen.
Zorn und Verzweiflung wühlten in ihm. Er konnte nicht abbrechen — er würde weitermachen, bis er schließlich ein Bild richtig hinbekam —, aber es war eine unablässige Qual für ihn, diese ungewohnten Fehlschläge, diese bestürzende Unfähigkeit, sich zum Herrn über die eigene Vision zu machen, wie ihm dies so triumphal in den über neunzig Jahren seines früheren Lebens gelungen war.
Überall im Raum stapelten sich Bilder, mitten zwischen gräßlichem Trödel, zerknüllten Hemden, schmutzigen Tellern, zerfetzten Hosen, alten Socken, wachsbetrauften Kerzenleuchtern, geleerten Weinflaschen, fortgeschleuderten Sandalen, Teilen verrosteter Maschinen, Treibholztrümmern, Scherben von Tongefäßen, ausgebleichten Decken, überquellenden Aschenbechern, Werkzeug, Pinseln, Gitarren ohne Saiten, Farbtiegeln, gebleichten Knochen, ausgestopften Tieren, Zeitungen, Büchern, Zeitschriften. Er malte die ganze Nacht hindurch, jede Nacht, und inzwischen — auch wenn er seine Arbeiten meistens wieder vernichtete, indem er die Leinwände neu bemalte — hatte er genügend Stücke zusammengebracht, um ein halbes Museum zu füllen. Aber es war alles falsch, alles, wertlos, Abfall. Schales, nutzloses Zeug, Imitationen seiner selbst, ja sogar Selbstparodien. Worin lag ein Sinn, wenn er die Harlekine und Gaukler noch einmal malte, oder die drei Musikanten? Das hatte er doch alles bereits geschaffen. Sich selbst wiederholen zu müssen, das war schlimmer als der Tod. Das Mädchen vor dem Spiegel? Die kubistischen Sachen? Die Demoiselles? Auch wenn sein jetziges neues Leben ewig währen sollte, was für eine Verschwendung, es damit hinzubringen, daß er sich mit Problemen herumschlug, die er längst gelöst hatte! Aber anscheinend konnte er nicht anders. Es war ihm fast, als liege ein Fluch auf ihm.
Aber dieses neue Modell — diese mesopotamische Göttin mit den funkelnden Augen — vielleicht würde sie ihn inspirieren und das Bild würde diesmal endlich gelingen.
Der Ansatz war kühn gewesen. Vertrau deinen Augen, vertrau deiner Hand, vertrau auf deine cojones, und male einfach, was du siehst. Schön. Sie posierte wie ein Berufsmodell, stolz und aufrecht, ohne die geringste Verlegenheit. Eine schöne Frau, etwa vierzig, in voller Reife. Er arbeitete mit der vollen früheren Sicherheit, er dachte, daß er vielleicht diesmal die Sache im Griff behalten würde, daß er vielleicht diesmal etwas wirklich Neues schaffen könnte, anstatt sich zu wiederholen. Ihre mythische Großartigkeit einfangen, diese urzeithafte weibliche Göttlichkeit dieser Frau aus Sumer oder Babylon, oder woher sie stammen mochte.
Doch das Bild veränderte sich ihm unter der Hand wie dies immer der Fall war. Als hätte ein Dämon sich des Pinsels bemächtigt. Er mühte sich zu malen, was er sah, und es wurde wieder nur kubistisch, lauter Flächen und Kanten, dieses sinnwidrige Zeug, das zu malen er schon fünfzig Jahre vor seinem Tod aufgegeben hatte. Mierda! Carajo! Me cago en la mar! Er biß die Zähne zusammen und brachte das Bild wieder in den Zustand, den er haben wollte, doch nein, nein, es wurde ganz sanft und glatt und rötlichblau, Zeug aus seiner Rosa Periode, und wenn er es wütend übermalte, bekam das Bild wieder die scharfen Konturen seiner ›Demoiselles d’Avignon‹.
Abgestanden, schal und alt. Alt und schal geworden. Alt, alt, alt.
»Me cago en Dios!« sagte er laut.
»Wie bitte?« fragte die Frau. Die Stimme klang dunkel, rätselhaft und fremdartig. »Was bedeuten diese Worte?«
»Es ist Spanisch«, antwortete er. »Wenn ich fluche, fluche ich immer spanisch.« Jetzt sprach er englisch. Fast alle redeten sie so hier, sogar er, der in seinem anderen Leben diese Sprache so merkwürdig haßerfüllt verabscheut hatte. Aber man hatte nur die Wahl zwischen Englisch und Altlatein — und das fand er noch scheußlicher. Es erstaunte ihn, daß er jetzt tatsächlich englisch redete. Aber hier mußte man eben viele Konzessionen machen. Mit seinen Freunden sprach er noch immer französisch und mit seinen ältesten Freunden unterhielt er sich in Spanisch oder manchmal katalanisch. Mit Fremden war es dieses Englisch. Aber wenn er fluchte, dann immer spanisch. Immer.
»Du bist erzürnt?« fragte sie. »Auf mich?«
»Nein, nicht auf dich. Ich bin wütend auf mich selbst. Auf diese Pinsel. Auf den Teufel. Was für eine Hölle, diese Nachwelt!«
»Du bist drollig«, sagte sie.
»Drollig? Ja, stimmt. Genau das bin ich. Drollig.« Er legte einen Finger auf die Lippen. »Laß mich weiterarbeiten. Ich glaube, ich hab’s jetzt.«
Das tat er dann auch wirklich für ein paar kurze Momente. Tief in die Leinwand hineingebeugt, konzentrierte er sich ganz auf seine Arbeit. Er verzog die Stirn, kaute an seiner Zigarette, kratzte sich am Schädel und malte mit raschen, sicheren Strichen. Die wunderbare Weibsgöttin wuchs ihm aus der Leinwand entgegen. In ihren Augen glühte ein seltsames uraltes Wissen. Doch er war machtlos. Das Bild kippte, es ging wieder schief, es machte sich immer wieder selbständig und entzog sich ihm: Knochen und Zähne zeigten sich, wo er Stoff und Fleisch haben wollte, und wenn er damit kämpfte, rutschte es in Neoklassizismus ab, mit schrillen Farben der Spätperiode und wieder Anflügen von Kubismus, die sich in der linken unteren Hälfte vorzudrängen versuchten. Es war ein unsäglicher Mischmasch, das war es, sämtliche seiner alten Stilrichtungen auf einmal. Dem Bild fehlte jegliches Leben. Ein Anfänger der Kunstakademie hätte so etwas malen können, wenn er genug getrunken hatte. Vielleicht brauchte er einfach ein neues Atelier. Oder Ferien, irgendwo. Aber, überlegte er, dies geht ja schon so, seit er hierher gekommen war, seit dem Tag — er zögerte, die Scheußlichkeit zu denken…
… seit dem Tag seines Todes…
»Also gut«, sagte er. »Genug für heute nacht. Du kannst es dir bequem machen. Wie heißt du?«
»Ninsun.«
»Hm. Ein wundervoller Name. Wunderbare Frau. Wunderbarer Name. Du kommst aus Babylon?«
»Aus Sumer«, sagte sie.
Er nickte. Da gab es einen Unterschied, aber er hatte vergessen, was es war. Morgen wollte er jemand bitten, es ihm zu erklären. Babylonier, Sumerer, Assyrer — alle diese Völker in Mesopotamien, er konnte sie einfach nicht auseinanderhalten. Die ganze Stadt hier wimmelte von Mesopotamiern aller Arten, aber in den ganzen fünf Jahren, die er hier nun hauste, war er nicht dazu gekommen, viel über sie in Erfahrung zu bringen. Fünf Jahre? Oder waren es fünfzig Jahre? Oder fünf Wochen? Irgendwie war es hier unmöglich, das genau zu sagen. Aber das spielte weiter keine Rolle. Überhaupt nicht. Vielleicht war aber nun der richtige Augenblick gekommen, die Frau zu bitten, aus ihrem bezaubernden Kleid zu schlüpfen.
Es klopfte an der Tür, das vertraute dreifache Klopfzeichen, und noch einmal: das Zeichen von Sabartes. Nein, es war also nicht der rechte Moment, dieser Priesterin, dieser Göttin, dieser sumerischen Zauberin solche Dinge anzudienen.
Nun, es würde andere Gelegenheiten geben.
Grunzend gab er das Zeichen, daß Sabartes eintreten könne.
Knarrend ging die Tür auf. Und da stand Sabartes und blinzelte. Sein langjähriger Freund, sein Vertrauter, mehr oder weniger auch Sekretär, Schutzwall gegen Störungen und Zudringlichkeiten — und in diesem Moment ärgerlicherweise selbst ein Störfaktor. Derzeit sah er aus wie ein junger Mann mit gesunden fleischigen Wangen und massenhaft wilden schwarzen Haaren auf dem Kopf, der Sabartes der tollen frühen Barcelona-Tage, damals 1902 oder so, als sie einander erstmals begegneten. Wären da nicht die Augen gewesen, das Kinn, die lange schmale Nase, man hätte ihn nicht wiedererkennen können, so vertraut war der Sabartes der späteren Jahre geworden. Es war eine der beiläufigen Perversitäten hier in der Nachwelt, daß die Menschen irgendwie alterslos zurückkehrten. Man gewöhnte sich nicht leicht daran. Der Mann namens Ruiz sah wie etwa sechzig aus. Sabartes knapp über zwanzig, dennoch kannten sie sich seit beinahe siebzig Jahren drüben im Leben, und noch ein paar Jahre mehr — waren es zehn? Zwanzig? Tausend? Hier im Leben nach dem Leben.
Sabartes erfaßte alles mit einem schweifenden Blick: die Frau, die Staffelei, die finstere Stirn seines Freundes. Scheu fragte er: »Pablo, störe ich?«
»Nur bei einem weiteren wertlosen Bild.«
»Ach, Picasso, du bist zu streng mit dir selber!« Er schaute mit wütend funkelnden Augen hoch. »Ruiz. Du mußt immer daran denken, mich Ruiz zu nennen. Niemals Picasso!«
Sabartes lächelte. »Ruiz. Ruiz. Picasso, no. Ruiz. Ach, ich werde mich nie daran gewöhnen!« Er machte eine Wendung und betrachtete bewundernd und mit einem kaum merklichen Anflug von verstecktem Neid die prachtvolle Sumerische Frau. Dann blickte er verstohlen zu der Leinwand auf der Staffelei, und über sein Gesicht huschten flüchtig die verschiedensten komplexen Gefühlsregungen, die der Mann Ruiz nach den vielen Jahren ihrer Freundschaft ebenso leicht zu entziffern vermochte, als läse er etwas von einem steinernen Epitaph ab: Mit Neid vermischte Bewunderung, wieder einmal, für das handwerkliche Können, Ehrfurcht und Unterordnung und Demut, für das Genie, und dann dunkler etwas, das Sabartes vergeblich zu verhehlen bemüht war, ein Ausdruck von Traurigkeit, von Mitleid, fast von herablassender Bekümmerung, nicht ganz ohne einen Anflug von perverser Schadenfreude darüber, daß das Bild mißlungen war. Einen solchen Gesichtsausdruck hatte Ruiz-Picasso in all ihren gemeinsamen Jahren im Leben niemals bei Sabartes gesehen; aber hier in der Nachwelt zuckte so etwas beinahe automatisch auf, sobald Sabartes sich eines der neuen Bilder betrachtete. Wenn dies so weiterging, dachte Ruiz-Picasso, würde er Sabartes das Privileg entziehen müssen, jederzeit zu ihm ins Atelier zu kommen. Es war unerträglich, derart von oben herab behandelt zu werden, besonders von ihm.
»Nun?« fragte Picasso. »Bin ich zu kritisch mit mir?«
»Das Bild steckt voller wunderbarer Sachen, Pablo.«
»Ja. Wundervolle Sachen, die ich vor ewiger Zeit schon hinter mir gelassen habe. Und da kommen sie wieder. Der Pinsel rutscht mir aus der Hand, Sabartes! Ich male das und herauskommt das da.« Er knurrte und spuckte aus. »A la chingada! Aber was überrascht uns da so? Hier ist so etwas wie eine Art Hölle, nicht? Und wer sagt, daß die Hölle ein gemütlicher Ort ist.«
»Niemand weiß, ob das hier die Hölle ist, Pablo«, sagte Sabartes sanft. »Wir wissen bloß, daß es die Nachwelt ist.«
»Worte!« schnaubte Picasso. »Nennt es doch, wie ihr wollt! Mir kommt es vor wie die Hölle, und hier regiert der Teufel! Früher mußte ich mich bloß mit den Kunsthändlern herumschlagen, und mit den Kritikern, aber hier und jetzt ist es der Teufel. Aber ich habe die aufs Kreuz gelegt, oder? Und ihn werde ich auch noch unterkriegen!«
»Das wirst du, ganz bestimmt«, sagte Sabartes. »Wie heißt denn dein neues Modell?«
»Ishtar«, sagte Picasso unbedacht. »Nein. Nein, das stimmt ja gar nicht.« Er hatte den Namen vergessen. Er sah zu der Frau hin. »Como se llama, amiga?«
»Ich verstehe nicht.«
Englisch, ach ja, erinnerte er sich. Wir reden hier ja englisch miteinander.
»Deinen Namen, sage ihn mir noch einmal, guapa.«
»Ninsun, ehemals Priesterin des Himmlischen Vaters An.«
»Eine Priesterin, Sabartes!« sagte Picasso triumphierend. »Verstehst du? Ich erkannte es sofort. Wir haben uns auf dem Markt getroffen, und ich sagte zu ihr: Komm und laß dich von mir malen, und dann wirst du ewig leben. Und sie sagte zu mir: Ich lebe auch jetzt schon ewig, aber du darfst mich trotzdem malen. Was für eine Frau, eh, Sabartes? Ninsun, die Priesterin.« Wieder wandte er sich zu der Frau. »Woher kommst du, Ninsun?«
»Aus Uruk«, sagte sie.
»Uruk, ja, natürlich. Wir sind hier alle aus Uruk. Aber vorher? Im alten Leben? Eh, comprende?«
»Das Uruk, das ich meine, war das alte Uruk, in Sumer, dem Land. Dem auf der Erde, als wir alle noch lebendig waren. Ich war die Gemahlin Lugalbandas, des Königs. Auch mein Sohn war…«
»Siehst du?« krächzte Picasso. »Eine Priesterin und eine Königin!«
»Und Göttin«, sagte Ninsun. »Jedenfalls glaubte ich das. Als ich alt war, sagte mein Sohn, der König, zu mir, daß er mich zu den Göttern senden werde, damit ich unter ihnen lebe. Es gab in Uruk einen Tempel, der mir geweiht war, direkt am Fluß. Aber statt dessen erwachte ich hier an diesem Nachwelt genannten Ort, und der erscheint mir ganz und gar nicht wie eine Wohnstatt der Götter — und dabei bin ich schon so lange hier, seit so vielen Jahren, und alles immer noch so fremd…«
»Aber du bist ebenfalls eine Göttin«, versicherte ihr Picasso. »Eine Göttin, eine Priesterin, eine Königin.«
»Darf ich das Bild einmal sehen, das du von mir gemalt hast?«
»Später.« Er verdeckte die Leinwand und stellte sie beiseite. Zu Sabartes gewandt, fragte er: »Was gibt’s Neues?«
»Erfreuliche Neuigkeiten. Wir haben den Matador gefunden.«
»Es verdad?«
»Absolut.« Sabartes grinste breit. »Wir haben genau den richtigen Mann.«
»Esplendido!« Picasso spürte plötzlich eine hochschießende lustvolle Freude, die jene Stunden des elenden Kämpfens über dem Bild sofort zunichte machte. »Wer ist es?«
»Joaquin Blasco y Velez«, sagte Sabartes. »Ehemals Barcelona.«
Picasso sah ihn starr an. Er hatte den Namen nie gehört.
»Nicht Belmonte? Joselito? Manolete? Ihr habt Domingo Ortega nicht finden können?«
»Keinen, Pablo. Die Nachwelt ist ziemlich groß.«
»Wer ist dieser Blasco y Velez?«
»Ein außerordentlich großer Matador, sagt man mir. Er lebte in der Zeit von Karl IV. Das war vor unserer Geburt«, setzte er hinzu.
»Gracias! Das hätte ich auch gewußt, Sabartes. Und dein Matador, weiß er, was er zu tun hat?«
»Sie sagen, ja.«
»Wer sind sie?«
»Sportsmänner hier aus der Stadt. Ein Grieche, ein gewisser Polykrates, der sagt, er sah die Stiertänzer in Knossos, und ein Portugiese, Duarte Lopes, und ein Engländer namens…«
»Ein Grieche, ein Portugiese und ein Ingles«, brummte Picasso düster. »Was versteht ein Portugiese vom Stierkampf? Und was versteht ein Engländer schon von irgendwas? Und dieser Grieche, der kennt vielleicht den Stiertanz, aber was bedeutet ihm schon la corrida? Die Sache bedrückt mich, Sabartes!«
»Soll ich warten, vielleicht kann ich Manolete ausfindig machen?«
»Wie du gerade gesagt hast, die Nachwelt ist ziemlich groß.«
»So ist es.«
»Und du versuchst schon so sehr lange, diesen Stierkampf zu organisieren.«
»So ist es, Pablo.«
»Dann versuchen wir es doch mit deinem Blasco y Velez«, sagte Picasso.
Er schloß die Augen und sah wieder die Arena vor sich, kochend von Farben, von Lärm, von Leben. Die vor und zurücktänzelnden Banderilleros, die Picadores, die geschickt ihre Spieße setzten, den Matador, der still in der sengenden Sonne allein dasteht. Und den Stier, den Stier, den Stier, schwarz, schnaubend, den hohen Rücken von Blut bedeckt, die Hörner gereckt wie drohende Lanzen! Wie er das vermißt hatte, seit er in der Nachwelt lebte! Sabartes hatte vor der Stadt Uruk ein altes römisches Stadium entdeckt, das sich zu einer Plaza de Toros umbauen ließ, und er hatte drei, vier Stiere aufgetrieben — dämonische Stiere, nicht so ganz das Wahre, grün-purpurne Kreaturen mit doppelten Rückenwirbeln und Ohren wie Elefanten, doch por dios, wenigstens die Hörner saßen am richtigen Platz —, und Sabartes hatte in der Stadt ein paar Spanier und Mexikaner aufgetrieben, die wenigstens einige oberflächliche Kenntnis der Kunst der Corrida besaßen und die verschiedenen Zweiten Rollen übernehmen konnten. Aber es waren hier einfach keine Matadores zu finden. Massenhaft angeberische Kriegshelden in der Stadt, Assyrer und Byzantiner und Römer und Mongolen und Türken, die sich bereit erklärten, in den Ring zu springen und jedes Tier abzuschlachten, das man ihnen entgegenschickte. Aber wenn er, Picasso, den Wunsch hätte, Metzger an der Arbeit zu sehen, dann konnte er ja gleich in den Schlachthof gehen. Der Stierkampf war ein Schauspiel, ein Ritual, ein religiöser Akt. Ein Tanz. Eine Form von Kunst, und der Matador war der Künstler dabei. Ohne einen echten guten Matador war das Ganze nichts wert. Was konnten irgendwelche grobschlächtigen schwertschwingenden Haudegen schon von der ›Stunde der Wahrheit‹ wissen, davon, wie der Degen gehalten werden, die Capa geschwungen werden mußten, was von den Schritten, von der Technik des Todesstoßes? Nein, es war schon besser, man wartete, bis die Sache anständig getan werden konnte. Aber die Monate vergingen, oder mehr als Monate, denn wer vermochte schon den Fluß der Zeit in diesem Irrenhaus vernünftig zu messen? Die Stiere wurden auf dem Hof, auf dem sie untergebracht waren, feist und träge. Picasso fand es empörend, daß sich kein qualifizierter Kämpfer finden ließ, wo doch jeder, der je gelebt hatte, sich bereits irgendwo hier in der Nachwelt herumtrieb. Man konnte hier El Greco finden, oder Julius Caesar, man konnte hier Agamemnon finden, Beethoven, Toulouse-Lautrec, Alexander den Großen, Velazquez, Goya, Michelangelo, Picasso. Man konnte sogar Jaime Sabartes finden! Aber wo steckten alle die großen Stierkämpfer? Nicht in Uruk, anscheinend, und auch nicht in den benachbarten Landstrichen. Möglich, daß sie in der Nachwelt eine abgesonderte Ecke nur für sich hatten, wo alle, die je eine muleta und den estoque getragen hatten, sich zu einer Corrida versammelt hatten, die Tag und Nacht und Nacht und Tag weltendlos ablief.
Aber nun hatte sich endlich jemand gezeigt, der behauptete, etwas von der Kunst zu verstehen. Hier in Uruk. Also, so sei’s denn! Zwar bedeutete eine Corrida mit nur einem einzigen Matador, daß es ein kurzer Nachmittag werden würde, aber das war immer noch besser als gar kein Stierkampf, und vielleicht würde sich die Nachricht ja verbreiten, und Belmonte oder Manolete würden rechtzeitig in die Stadt kommen und der Fiesta anständigen Glanz verleihen. Er, der sich hier Ruiz nannte, mochte nicht länger warten! Es war schon viel zu lange her, daß er keine Fiesta brava mehr miterlebt hatte. Vielleicht war ein guter Stierkampf ja das Zaubermittel, das er brauchte, damit seine Bilder wieder gut wurden.
»Ja«, sagte er zu Sabartes. »Versuchen wir es mit deinem Blasco y Velez. Wie wär’s mit nächster Woche, heh? Am Sonntag? Oder ist das zu früh?«
»Am nächsten Sonntag, ja, Pablo. Falls es nächste Woche einen Sonntag gibt.«
»Sehr gut. Das hast du gut gemacht, Sabartes. Aber jetzt…«
Sabartes wußte, wann er entlassen war. Er lächelte, er verneigte sich anmutig wie ein Höfling vor Ninsun, streifte die verdeckte Leinwand auf der Staffelei mit einem bedeutsamen Blick und schlüpfte dann aus der Tür.
»Soll ich jetzt die Stellung wieder einnehmen?« fragte die sumerische Frau.
»In einer kleinen Weile vielleicht«, sagte Picasso.