16

Es war eine von jenen Nächten, die im Nu verflogen, wie in einem Augenblick. Das geschah oft in der Nachwelt, doch zum Ausgleich gab es Tage, die eine, zwei Wochen, ja einen Monat zu dauern schienen. Gilgamesch war nun schon so lange hier, daß er diese kleineren Unregelmäßigkeiten kaum noch bemerkte. Er vermochte sich noch deutlich zu erinnern, wie das auf der Erde gewesen war, wo die Tage in vorhersehbaren Zeitintervallen aufeinander folgten. Doch hier kam ihm das nun unwirklich vor und schmerzlich bedrückend. Schlaf bedeutete hier wenig, Mahlzeiten waren bedeutungslos, weshalb also sollten die Tage gleich lang sein? Was machte es schon aus?

Und nun war nach allgemeiner Übereinkunft Sonntag. Der Tag des Stierkampfes. Auch der Kalender flatterte und sprang ohne Sinn und Verstand her und hin. Aber die Corrida sollte am Sonntag stattfinden, und da sie heute stattfand, war demzufolge Sonntag. Morgen konnte ein Donnerstag sein. Was machte es schon? Heute war der Tag, an dem er mit Enkidu wiedervereint sein würde, wenn alles gut verlief. Das war es, was zählte.

Die Nacht, so kurz sie war, bekam ein besonderes Glanzlicht aufgesteckt durch einen zweiten Mordanschlag gegen Gilgamesch. Diesmal nicht grob und direkt durch einen Schlägertrupp, aber dennoch ziemlich einfältig geplant: die alte abgedroschene Methode mit der Schlange im Lüftungsschacht. Das Gitter, entdeckte er, war losgemacht worden, möglicherweise von einem Zimmermädchen, das das Bett aufdecken sollte. Er hörte ein gleitendes Schaben hinter der Wand.

Er stieß das Gitter ganz auf und trat mit gezogenem Schwert schlagbereit seitlich daneben. Es war eine ganz prachtvolle Schlange, schwarz und schimmernd und mit grellroter Zeichnung und gelben Feueraugen. Die Zähne blitzten wie Chromstahl. Gilgamesch bedauerte, daß er sie in zwei Stucke hauen mußte, doch was blieb ihm anderes übrig? Hätte er sie in ein Bettlaken verpacken und den Zimmerkellner rufen sollen, damit der sie wegbrachte?

Die gleichen Motorkutschen, die ihn und seine Begleiter vor etlichen Nächten zur Festhalle des Königs gefahren hatten, warteten an diesem Morgen draußen, um sie zur Kampfstätte zu bringen. Anscheinend war der Stierkampf der Höhepunkt der Saison in Uruk: Die halbe Stadt schien daran teilzunehmen, wenn man nach der Zahl der Fahrzeuge ging, die in Richtung der Arena fuhren.

Herodes saß bei Gilgamesch. Der Lenker war ein Sumerer, der vor ihm aufs Knie fiel und den zitternde Ehrfurcht schüttelte; kein Mordbube, der Mann, außer er war einer der besten Schauspieler in der Nachwelt.

Der Stierkampf fand ziemlich weit vor den Mauern statt, in den Sandhügeln im Osten. Der Tag war heiß und wolkenverhangen. Etliche langschnäuzige Flugdämonen mit Fledermausschwingen, purpurn und rot und grün, trieben träge im dunstigen Himmel.

Herodes kam nahe an Gilgamesch heran und sagte mit gedämpfter Stimme: »Es ist alles arrangiert.« Sie waren schon nahe am Stadion. Gilgamesch konnte den Bau sehen, die zahlreichen Steinarkaden übereinander, die sich aus der flachen Wüste erhoben. »Tukulti-Shar-rukin will versuchen, Enkidu aus dem Gefängnis zu befreien, genau dann, wenn der Kampf anfängt. Wir haben in der Nähe ein halbes Dutzend von Simons Leuten postiert und drei der Landrover. Jeder weiß, was er zu tun hat. Sobald Enkidu aus dem Gebäude kommt, steigt er in einen der Rover, und alle drei fahren in verschiedene Richtungen los, aber alle kommen sie hierher.«

»Und Vy-otin?«

»Du meinst Smith.«

»Natürlich, Smith.«

»Der wartet direkt vor der Arena, wie du es gewollt hast. Sobald die Landrover auftauchen, tritt Smith zu dem mit Enkidu und bringt dann diesen herein und direkt zu der Loge, in der du und Picasso sitzen werdet. Die liegt gleich neben der Königsloge. Dumuzi wird der Schlag treffen, wenn er ihn sieht.«

»Wenn nicht bei seinem Anblick, dann bestimmt, wenn er sieht, wie ich Enkidu vor der gesamten Stadtbevölkerung in die Arme schließe«, sagte Gilgamesch. »Der Held Gilgamesch wieder vereint mit seinem geliebten Enkidu! Was könnte Dumuzi dazu sagen? Was könnte er tun? Alle werden jubeln. Und nach dem Stierkampf…«

»Ja?« fragte Herodes. »Danach, was?«

»Werde ich König Dumuzi meine Visite abstatten«, sagte Gilgamesch. »Ich werde zu ihm von diesem bedauerlichen Irrtum sprechen, der seine Beamten dazu veranlaßte, meinen Freund in Haft zu nehmen. Ich werde das sehr höflich erledigen. Möglicherweise spreche ich mit ihm auch über den betrüblichen Mangel an Sicherheit und Polizeischutz in den Straßen seiner Stadt und über die ärgerliche schlampige Wartung der Belüftungssysteme in seiner Staatsherberge. Doch das kommt später. Zuerst wollen wir uns das Vergnügen dieses Stierkampf-Schauspiels gönnen, nicht?«

»Ja.« Herodes klang sehr bedrückt. »Der Stierkampf.«

»Du siehst nicht gerade begeistert drein.«

»Ich bin noch nicht einmal gern zu den Gladiatorenkämpfen gegangen. Und die verdienten immerhin, was sie miteinander anstellen. Aber so ein armer dummer unschuldiger Stier? Dieses Blutvergießen diese ganze Qual!«

»Der Stierkampf ist eine Kunst«, erwiderte Gilgamesch. »Dein großes Genie, der Maler Picasso, hat mir das selber gesagt. Und du, Herodes, du bist doch ein Mann von Kultur. Betrachte es doch einfach als ein Kulturerlebnis.«

»Ich bin ein jüdischer Liberaler, Gilgamesch. Ich kann bei Tierquälerei keine Freude empfinden.«

»Ein jüdischer was?«

»Ach, unwichtig«, sagte Herodes.

Der Wagen glitt auf einen Parkplatz vor dem Stadion. Aus der Nähe wirkte der Bau gigantisch, wie ein echtes überdimensionales römisches Amphitheater, mit fünf Rängen übereinander. Das oberste Geschoß war zum Teil zerfallen, zahlreiche der großen Steinbögen waren eingestürzt, doch der restliche Bau wirkte fest und stabil und grandios. In jedem Stockwerk wanderten Massen von Menschen in bunter Festkleidung umher.

Als Gilgamesch aus dem Wagen stieg, erblickte er Vy-otin/Smith in langen Hosen und einem losen kurzärmeligen Hemd, der ihm aus der Nähe eines Kartenschalters zuwinkte. Der langbeinige Häuptling der Eisjäger hob sich deutlich ab gegen die restlichen kleineren, plumpen vorwiegend sumerischen Massen, die sich ringsum drängelten.

Er kam sofort herüber. »Es gibt Ärger«, sagte er.

»Enkidu?«

»Nein, du«, sagte Vy-otin. »Einer von meinen Männern hat in der Toilette etwas aufgeschnappt. Dumuzi hat auf dem obersten Rang Scharfschützen postiert. Und wenn es aufregend wird und die Masse brüllt, sollen die das Feuer auf die Loge von Picasso eröffnen. Du bist das Hauptziel, aber es ist wahrscheinlich, daß sie dabei auch Picasso treffen und deine Mutter und jeden, der sonst in eurer Nähe sitzt. Du mußt hier abhauen!«

»Nein! Das ist unmöglich!«

»Bist du wahnsinnig? Wie willst du dich gegen Schüsse von oben schützen? Bei deiner Größe bist du doch das leichteste Ziel der Welt!«

»Wieviele Leute hast du hier?« fragte Gilgamesch.

»Neun.«

»Das sollte doch reichen. Schicke sie nach oben, sie sollen die Scharfschützen ausschalten.«

»Es bleibt aber dennoch das Risiko, daß…«

»Ja, vielleicht. Wo ist dein Kampfgeist geblieben, Vy-otin? Bist du schon völlig Henry Smith geworden? Dumuzi kann da droben keine hundert Scharfschützen postiert haben. Es werden zwei oder drei sein, schätze ich. Höchstens fünf. Ihr habt ausreichend Zeit, sie zu entdecken. Es dürfte nicht schwer sein. Es sind bestimmt keine Sumerer, und sie werden sich durch ihre Nervosität verraten, und außerdem werden sie Gewehre oder sonst irgendwelche von diesen Feiglingswaffen der Später Toten benutzen. Deine Männer werden sie einen nach dem andern festnageln und sie hinabstürzen. Das ist doch kein Problem.«

Vy-otin nickte. »Genau. Bis später dann.«

Picasso schloß die Augen und ließ die Erinnerungen in sich wieder aufquellen: das alte Leben, die thymiangeschwängerte trockene Sommerluft am Mittelmeer, die Hitze, die drängenden Menschenmassen, die Geräusche. Wenn er nicht hinsah, konnte er sich beinahe einbilden, daß er acht, neun Jahre alt sei, wieder neben seinem sandbärtigen Vater in der Arena in Malaga sitze, wo die Kämpfe die feinsten und elegantesten der ganzen Stierkampfwelt waren. Er skizzierte, schon damals zeichnete er unablässig, den Picador auf seinem kleinen dürren Klepper mit den verbundenen Augen; den nobel überheblichen Matador; den Bürgermeister in der Ehrenloge. Oder er konnte sich vorstellen, daß es die Arena von La Corunha sei, oder die in Barcelona, oder die in Arles — eine uralte römische Arena genau wie diese hier, die er jedes Jahr zu besuchen pflegte, als er alt geworden war — mit seiner Frau Jacqueline und mit seinem Sohn Paul, mit Sabartes.

Aber das lag alles weit zurück und in einer anderen Welt. Das hier war die Nachwelt, und der Himmel war neblig-düster und die Luft schwer und stechend, und das Volk um ihn herum schnatterte und kreischte englisch, griechisch, in irgendeinem mesopotamischen Kauderwelsch, in beinahe jeder erdenklichen Sprache, nur nicht in seinem guten alten ehrlichen Spanisch. Reglos saß er mitten in dem Getöse und wartete, die Hände an den Flanken, schweigend, einsam. Es hätte ebenso gut niemand ringsumher sein können. Er war sich bewußt, daß die Priesterfrau Ninsun an seiner Seite saß, prachtvoller als je, in einem dunkelpurpurnen Kleid, das mit Goldfäden durchwirkt war; auch daß ihr riesenhafter Sohn, Gilgamesch, neben ihm saß, und der getreue Sabartes und dieser kleine römische Judäer Herodes, und dieser andere Römer, der feiste alte Diktator Simon. Aber sie alle waren für ihn jetzt zu bloßen Gespenstern verblichen. Während er darauf wartete, daß die Corrida beginne, sah er nur noch die Arena, das Tor, hinter dem die Toros warteten, und die Schatten, die der bevorstehende Wettkampf vorauswarf.

»Es dauert nicht mehr lange, Don Pablo«, murmelte Sabartes. »Man hat nur auf den König gewartet. Aber, siehst du, jetzt sitzt er in seiner Loge. El Rey.« Sabertes deutete nach links zur Königsloge gleich nebenan. Mit einem flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel sah Picasso den blöde wirkenden König, wie er breit lächelnd der Menge zuwinkte, während seine Höflinge durch Handzeichen alle aufforderten, ihm zuzujubeln. Picasso nickte. Sicher, man mußte warten, bis der König erschienen war, ja. Aber er hatte keine Lust, noch länger zu warten. Er hatte sich extra formell gekleidet, trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und sogar eine Krawatte, schließlich war die Corrida eine ernste Angelegenheit und erforderte den gebührenden Respekt. Doch in dieser feuchten Hitze fühlte er sich alles andere als bequem. Wenn der Kampf erst einmal begonnen hatte, würde er das Klima nicht mehr wahrnehmen, nicht den Würgedruck an seinem Hals und auch nicht die klebrige Verschwitztheit auf seinem Rücken. Wenn sie doch endlich beginnen würden, dachte er. Wenn sie endlich anfingen!

Doch was war das? Eine erneute Verzögerung, eine Unterbrechung, eine Störung nebenan?

Der gewaltige Sumerer war aufgesprungen, tanzte herum und brüllte wie ein Wahnsinniger: »Enkidu! Enkidu!«

»Gilgamesch!« brüllte einer, der gerade in die Loge gekommen war, ein Kerl, genauso gigantisch groß, aber doppelt so erschreckend wie Gilgamesch, hatte sich hereingedrängt. »Mein geliebter wahrer Bruder! Mein Freund!«

Auch dieser Mann war ein Sumerer seinem Aussehen nach. Aber er wirkte fremdartig, zottig, fast wie ein wildes Tier, hatte etwas Loderndes an sich, schwarze Haare, die ihm über die Augen fielen und einen so dichten Bart, daß er fast das ganze Gesicht verdeckte. Noch ein Minotauros, dachte Picasso, und noch echter als der erste. Und jetzt stürzten die zwei sich aufeinander wie zwei Berge, Gilgamesch und dieser Enkidu. Und Gilgamesch war wie ein Kind in seiner Erregtheit. Er schlug Enkidu so kräftig auf den Rücken, daß es einen Drachen zu Boden gestreckt hätte, und dann zog er ihn hinüber und stellte ihn Ninsun vor, und Enkidu fiel wie anbetend vor ihr auf die Knie und küßte den Saum ihres Kleides, und dann wies Gilgamesch mit dem Kinn zu Dumuzis Loge, und die beiden Männer brachen in ein Lachen aus. »Und dies«, sagte dann Gilgamesch, »ist der Maler Picasso der ein gewaltiges Genie ist. Er malt wie ein Dämon. Vielleicht ist er auch ein Dämon. Aber er ist ein sehr großer Mann. Das heute ist sein Stierkampf.«

»Der kleine Mann? Er wird mit Stieren kämpfen?«

»Nein, er wird zuschauen«, sagte Gilgamesch. »Das liebt er mehr als alles andere, glaube ich, außer zu malen, dabei zu sein, wie sie mit den Stieren kämpfen. So, wie sie das in seiner Heimat taten.«

»Aber morgen«, sagte Picasso, »werde ich dich malen, Wilder Mann. Aber das ist morgen. Jetzt kommen erst die Stiere.« Und aus dem Mundwinkel fragte er Sabartes: »Also? Wann fangen die endlich an?«

»Ja, wahrhaftig, Don Pablo. Sofort. Jetzt, jetzt!« Es erfolgte ein grelles Trompetenschmettern. Und dann begann die große Einmarschparade: Die Cuadrillas kamen, angeführt von zwei Alguaciles zu Pferd und in augenbetörenden Kostümen. Alle durchquerten die weite Arena, die Banderilleros, die Picadores auf Dämonenpferden, die beinahe so aussahen wie die Pferde in der anderen Welt, nur daß sie hier rotglitzernde Augen und steife eidechsenhafte Schweife hatten. Und dann kam endlich der Matador, dieser Blasco y Velez, dieser Spanier aus den Tagen des Vierten Karls.

Er hat alles recht gut organisiert, der Sabartes, dachte Picasso. Es sah alles so aus, wie es sich gehört. Die Leute, das Staffagepersonal, bewegten sich mit Würde und Eleganz. Sie begriffen, was für ein grandioses Ereignis dies war. Auch der Matador sah vielversprechend aus. Er besaß Allüre. War zwar um die Leibesmitte etwas fülliger, als Picasso gehofft hatte — vielleicht war er ein bißchen außer Form geraten, oder vielleicht war der Stil unter dem Vierten Carlos ja anders und die Matadores waren da nicht ganz so schlank —, aber sein Kostüm stimmte, die hautengen Seidenhosen, die reichbestickte Jacke und die Seidenweste mit Gold- und Silberstickerei, die Kopfbedeckung, der Umhang, das spitzenbesetzte leinene Vorhemd.

Der Zug hielt vor den zwei Ehrenlogen. Der Matador salutierte vor dem König, dann vor Picasso, der an diesem Tag das Präsidium für den Stierkampf innehatte. Der König, der den plötzlich erschienenen Enkidu angestarrt hatte, als wäre dieser irgendein Spukdämon, der sich plötzlich in Picassos Loge materialisiert hatte, und dessen Gesicht nun verkniffen war und wie giftige Galle aussah, erwiderte die Ehrbezeigung mit einer beiläufigen Handbewegung, deren würdelose Unhöflichkeit Picasso in Wut versetzte. Er knirschte zwischen den Zähnen: »Puerco! Hijo de puta!«

Dann stand Picasso auf. Als Präsident der Corrida hielt er die Schlüssel zu den Ställen der Stiere in Händen. Und mit großer Geste warf er sie zu einem der Alguaciles hinab, der sie geschickt auffing und hinüberritt, um den ersten Stier in die Arena zu lassen.

»Also fangen wir an«, sagte Picasso leise zu Sabartes. »Alfin! Endlich geht es los!«

Er fühlte, wie er sich in jenen unverletzbaren Kokon von Konzentriertheit verschloß, der ihn stets bei der Corrida umgab. Gleich würde er das Gefühl haben, daß er ganz allein sei im Stadion.

Der Stier kam herangaloppiert.

Madre de dios! Was für eine Scheußlichkeit! Das war kein Stier, es war ein Ungeheuer!

Sabartes hatte ihm zwar gesagt, was er zu erwarten hatte, aber anscheinend war ihm das nie so ganz klar geworden. Das Her hätte aus einem seiner Bilder entsprungen sein können. Es besaß sechs Beine mit mehreren Gelenken wie ein Rieseninsekt, eine Doppelreihe schrecklicher Rückenwirbel, aus denen eine üble Flüssigkeit abgesondert wurde, und große Schlappohren. Die Haut war grün, mit purpurnen Flecken, und dick wie bei einem Reptil. Es hatte Hörner, kurz, gekrümmt, scharf, denen eines Stiers recht ähnlich, aber davon abgesehen, war es eine echte Ausgeburt der Hölle.

Picasso warf Sabartes einen Giftblick zu. »Was hast du da angerichtet? Sowas nennst du einen Stier?«

»Wir sind hier in der Nachwelt, Pablo«, sagte Sabartes schleppend. »Sie schicken keine Stiere in die Nachwelt, nur Menschen. Aber der da wird’s schon tun. In seiner Weise ist er ja so ziemlich wie ein Stier.«

»Chingada!« Picasso spuckte aus.

Aber drunten in der Arena unternahmen sie jetzt einen kühnen Versuch. Die Banderilleros umtanzten den ›Stier‹ und versuchten, ihre bändergeschmückten Lanzetten in seinen Nacken zu stoßen. Und ab und zu hatten sie Glück dabei. Der Höllenstier wurde nun gereizt und griff da und dort an, fuhr auf die Pferde der Picadores los; die Reiter wehrten ihn mit Stößen ihrer Spieße ab. Picasso erkannte, daß dies da unten Leute mit Erfahrung waren, die wußten, was sie taten und taten es möglichst gut, obwohl der Höllenstier sie sichtlich verwirrte. Sie versuchten ihn zu ermüden und für die Stunde der Wahrheit bereit zu machen, und im großen und ganzen gelang ihnen dies auch. Picasso fühlte, wie sich der Stierkampf um ihn schloß wie ein Mantel. Er war jetzt völlig davon vereinnahmt; er sah nichts als den Stier und die Männer in der Arena.

Dann schaute er zu dem Matador hin, der auf der Seite auf seinen Einsatz wartete, und plötzlich wurde alles schal und sauer.

Dieser Matador hatte Angst! Man konnte es an seinen Nasenflügeln erkennen, an der Stellung des Kinns. Vielleicht war er ja früher, zur Zeit des Vierten Karls, ein Meister in seiner Kunst gewesen, aber er hatte bestimmt nie mit so einer Bestie gekämpft, und deshalb würde er seine Sache verpatzen. Das war klar. Er würde es versauen.

Die Trompeten schmetterten. Der Augenblick war da.

Blasco y Velez trat vor, die muleta, das kleine rote Seidencape, und den capote, den weiten Arbeitsmantel, vor sich haltend. Doch er bewegte sich steif, und es war die falsche steife Gestelztheit der Furcht, nicht die abgezirkelte spröde Eleganz mutiger Kampfbereitschaft. Die Picadores und Banderilleros erkannten es, und anstatt die Arena zu verlassen, zogen sie sich auf die eine Seite zurück und tauschten besorgte Blicke miteinander. Und Picasso sah es. Und der Höllenstier erkannte es auch. Der Matador bewegte sich linkisch und zögernd. Er schien nicht zu wissen, wie er mit seinen Gapas umgehen mußte — war denn zu Zeiten des Vierten Karl die Kunst noch nicht so weit gediehen gewesen? Und dem Mann fehlte es an Grazie, er bewegte sich mit kurzen trippelnden Schrittchen. Er führte den Stier im Bogen um sich herum, ließ ihn näher und näher an sich herankommen, aber das hätte in Schönheit geschehen sollen. So wie jetzt war es nur einfach deprimierend.

»Nein!« zischte Picasso zwischen den Zähnen. »Schafft den Kerl raus!«

»Aber, Pablo, er ist unser einziger Matador«, sagte Sabartes.

»Er wird sterben. Dumm und unwürdig.«

»Gestern, als ich ihn sah, hat er sich besser gehalten. Aber das war mit einem noveno, einem Jungtier.«

Picasso stöhnte. »Er stirbt jetzt. Schau!«

In der Arena hatten sich die Gewichtungen verändert. Blasco y Velez tanzte nicht mehr mit dem Stier, der Stier führte ihn. Herum und herum, herum und herum — und der Stier wirkte nun überhaupt nicht mehr wütend, sondern belustigt, spielte mit dem Mann, umtanzte ihn, immer schneller — die Picadores versuchten einzugreifen, Blasco y Velez wich zurück, versuchte aber endlich, sich tapfer zu zeigen, versuchte es mit einer verzweifelten veronica, einem farol, einer mariposa, einer serpentina, einer media-veronica — doch ja, ja, der Mann verstand etwas von seiner Kunst, abgesehen davon, daß er alles gleichzeitig zu bringen versuchte, und wo blieb seine Kontrolle, wo blieb das Moment der Stille, wo seine Kunst? Der Stier schoß schnaubend an ihm vorbei und schlitzte ihm die Schulter auf. Blut floß. Blasco y Velez sprang zurück und griff nach seinem Degen — es war regelwidrig, diesen zur bloßen Selbstverteidigung einzusetzen —, doch der Stier wirbelte ihn ihm mit einem verächtlichen Drehen des Kopfes aus der Hand, schoß an ihm vorbei, rammte einem Picador das Pferd unterm Sattel zu Boden, rammte die Hörner hinein und raste dann wieder auf den Matador zu…

»Nein!« brüllte der zottige Gilgamesch-Freund, der riesenhafte Enkidu.

Und dann schwang er sich von der Steinbank über die Brüstung in die Arena.

»Enkidu!« schrie Gilgamesch.

Picasso keuchte erregt. Jetzt wurde es irre. Die Sache schlug um und wurde ein Schreckenstraum. Der große Sumerer hob den glücklosen Matador wie eine Puppe hoch und warf ihn beiseite und in Sicherheit. Dann ging er den Stier an, faßte ihn an den Doppelknorpeln des Rückgrats, schwang sich auf den Nacken der Bestie und begann sie zu würgen.

»Nein, nein, nein!« brummte Picasso. »Tölpel! Metzger! Sabartes, sorg dafür, daß dieser Blödsinn ein Ende hat! Was treibt der denn? Reitet auf dem Stier? Erwürgt den Stier?« Tränen der Wut trübten ihm die Augen. Seine erste Corrida seit unendlich langer Zeit, wer weiß, seit wann, und sie war von Beginn an eine gräßliche Scheußlichkeit gewesen und nun verwandelte sie sich zu einem irren Chaos! Er war aufgesprungen, auf seinen Sitz gestiegen und brüllte: »Metzelei! Wahnsinn! Eine Schande! Eine Schande!«

Enkidu steckte in Schwierigkeiten. Er ritt auf dem Stier und hatte zunächst auch recht kühn zu kämpfen begonnen, doch jetzt wallte die Wut des Tieres wieder hoch und seine Kräfte spannten sich mehr und mehr, und in der nächsten Sekunde konnte sich die Bestie zu Boden wälzen und ihn mit ihrer Masse erdrücken, oder sie konnte ihn abschütteln und mit den Hufen zertrampeln. Enkidu war in großer und unmittelbarer Gefahr. Und das erkannte Gilgamesch, und nichts sonst zählte für ihn. Nachdem er ihn endlich wiedergefunden hatte, sollte er ihn so schnell wieder verlieren, bei einem aberwitzigen Stierkampf — nein, das durfte nicht geschehen!

Es war wieder wie damals in jenem anderen Leben, als der Himmelsstier wild durch das alte Uruk raste, und Enkidu hatte das Tier bestiegen und sein Gehörn gepackt und es zu Boden zu ringen versucht. Damals waren ihrer beider Kräfte nötig gewesen, den Stier zu töten. Und hier würde es wieder so sein.

Gilgamesch griff nach seinem Schwert. Herodes sah es und faßte ihn am Arm und jammerte: »Nein! Gilgamesch, geh nicht da hin!« Aber dieser schob ihn weg und kletterte über die Logenbrüstung. Enkidu, der sich nun nur noch mühsam auf dem tobenden bockenden Ungetüm halten konnte, grinste ihm entgegen.

Das ganze Stadion schien wahnsinnig zu werden.

Die Leute waren aufgesprungen, viele brüllten, andere schubsten und drängten sich nur einfach durcheinander vor Erregung. Da und dort brachen Faustkämpfe aus. Dumuzi war aufgestanden, seine Augen rollten wild, das Gesicht war blau angelaufen, er fuchtelte heftig mit den Armen. Gilgamesch warf einen raschen Blick in die Höhe und sah kämpfende Gestalten auf der obersten Galerie. Dumuzis Scharfschützen und Vy-otins Männer? Und noch weiter oben kreiste ein Schwarm von Flugdämonen im Himmel, gräßliche Bestien mit weit aufgerissenen Schnäbeln und langen glitzernden Flügeln.

Der Stier warf sich von einer Seite zur anderen, um Enkidu abzuschütteln. Gilgamesch stürzte vorwärts und bekam eine Ladung vom schaumigen Schweiß des Stiers mitten ins Gesicht. Es ätzte wie Säure. Er zog das Schwert, aber der Stier wich außer Reichweite und bäumte sich so gewaltig, daß er Enkidu beinahe abgeworfen hätte.

Aber der ließ sich nicht die geringste Furcht anmerken. Er hielt sich, seine Schenkel umklammerten den Nacken des Stieres, knapp vor den Rückenwirbelzacken, und er umklammerte die teuflischen Hörner mit festem Griff. Und mit seiner ganzen großen Stärke rang er, um den Stierschädel nach unten zu drücken.

»Stoß zu, Bruder, stoß zu!« rief Enkidu.

Doch es war noch zu früh. Der Stier hatte noch gewaltige Kampfreserven. Er schoß wild umher und im Kreis, und die scharfe Schuppenhaut seiner Flanke streifte Gilgameschs Rippen, so daß er zu bluten begann. Der Stier sprang und bockte, wieder und wieder, hämmerte die Hufe in den Boden. Und Enkidu taumelte obenauf wie eine Fahne im Sturm. Er schien fast den Halt zu verlieren, dann rief er laut mit seiner stärksten selbstsicheren Stimme und saß wieder obenauf und schwankte hoch über dem messerscharfen Rücken der Bestie. Er packte die Hörner erneut und drehte dem Tier den Kopf herum, und der Stier gab nach, wurde schwächer, senkte das Haupt zur Seite, so daß der Nacken Gilgamesch zugewandt war.

»Stoß zu!« rief Enkidu wieder.

Und diesmal stieß Gilgamesch die Klinge hinein.

Er fühlte ein Beben, ein Schaudern, eine heftige Bewegung im Körper des Tieres. Es wehrte sich sichtlich lange gegen den Tod, doch der Stoß hatte genau gesessen, und plötzlich knickten die Beine ein. Gilgamesch reichte Enkidu die Hand, und dieser sprang von dem Tier und stand neben ihm.

»Ach, Bruder«, sagte Enkidu. »Ganz wie in den alten Tagen, nicht?«

Gilgamesch nickte. Er blickte nach oben. Auf sämtlichen Rängen tobten die Zuschauer jetzt. Verblüfft sah er, daß Dumuzi aus der Königsloge in die von Picasso geklettert war. Als bangte er um seine Sicherheit, hatte der König einen Arm fest um Ninsuns Hüfte, die andere um Picassos Hals geklammert, zerrte sie aus der Loge und zwang die sich wehrenden Geiseln auf den Ausgang zu.

»Deine Mutter«, sagte Enkidu. »Und dein kleiner Maler.«

»Ja. Los. Komm!«

Sie stürzten zu den Tribünen zurück. Dort hatte Ninsun sich aus Dumuzis Griff entwunden, nach einem der Wächter in der Nebenloge gegriffen, und als sie wieder herumfuhr, schwang sie einen Dolch in der Hand. Verzweifelt versuchte Dumuzi, Picasso gegen die Waffe zu schleudern, doch während Gilgamesch noch erschrocken hinschaute, wirbelte seine Mutter mit der Geschicklichkeit eines Kämpfers herum und rammte den Dolch tief in Dumuzis Flanke. Im gleichen Augenblick kam Simon von hinten und stieß dem König sein Schwert in den Leib. Dumuzi stürzte zu Boden. Picasso stand reglos, die Augen in die Ferne gerichtet, wie in einem Traum verloren. Ninsun blickte auf die Hand, die den Dolch geführt hatte, als hätte sie diese Hand noch nie gesehen.

»Hier herauf!« brüllte Vy-otin Gilgamesch zu; nicht aus Picassos Loge, sondern aus der Königsloge. »Rasch!«

Der Eisjäger streckte ihm die Hand hin. Gilgamesch sprang hinauf neben ihn. Vy-otin machte eine Geste mit dem Arm.

»Auf den königlichen Sessel. Schnell!«

»Was?«

»Dumuzi ist tot. Er verlor die Nerven, als seine Scharfschützen nicht das Feuer eröffneten, und versuchte, mit deiner Mutter und Picasso als Geiseln zu fliehen, und…«

»Ja. Ich hab’ es gesehen.«

»Du bist jetzt hier König. Also steig da rauf und benimm dich wie ein König!«

»König?« Gilgamesch schien nur mühsam zu begreifen.

Vy-otin schob ihn, und Gilgamesch ergriff die Kante des Königssitzes, zog sich hinauf und wandte sich um und blickte über die vielen Ränge des Stadions hinauf. Der Himmel hatte sich verdüstert und wimmelte von kreischenden geflügelten Dämonen. Überall kochte und brodelte es in der Menge der Zuschauer. Alle schienen außer Rand und Band zu sein.

Er breitete die Arme weit aus. »Volk von Uruk!« dröhnte er mit einer Stimme wie ein ausbrechender Vulkan. »Hört mich! Ich bin Gilgamesch! Hört meine Stimme!«

Und »Gilgamesch!« antwortete sofort ein tosendes Gebrüll. »Gilgamesch! Der König! Gilgamesch! Gilgamesch!«

»Du machst deine Sache gut«, sagte Vy-otin.

Er fühlte andere Gestalten um sich herum. Herodes, Simon Magus. Vy-otin — Enkidu — Ninsun — Picasso…

Er wandte sich zu ihnen.

»Bei Enlil, ich schwöre euch, ich bin nicht hergekommen, um mich zum König zu machen«, sagte er verärgert.

»Aber das verstehen wir doch«, besänftigte Herodes.

»Selbstverständlich«, sagte Simon.

»Schwing weiter die Arme«, sagte Vy-otin. »Sie beruhigen sich schon ein bißchen. Befiehl ihnen einfach, sie sollen sich wieder setzen und ruhig bleiben.«

Und wieder ertönte das gewaltige Volksgebrüll. »Gilgamesch! Der König Gilgamesch!«

»Siehst du?« sagte Vy-otin. »Du machst deine Sache ganz großartig, Majestät! Ganz hervorragend!«

Und ja. Ja. Gegen seinen Willen verspürte er jetzt das Anschwellen der Macht in sich, dieses Gefühl der Kraft und gerechten Stärke, wie sie in dem Wort ›Majestät‹ enthalten sind. Er war vielleicht nicht in der Absicht hierher gekommen, sich zum König zu machen, doch nun war er dennoch der König, Uruks König in der Nachwelt, so wie er einst der König von Uruk in Sumer, dem Land, gewesen war. Er gestikulierte, und er fühlte, wie sich die Menge in seinen Griff schmiegte. »Volk von Uruk! Ich bin euer König! So setzt euch wieder hin! Ihr alle, setzt euch!«

Und nun gehorchten sie ihm. Erst standen sie wie erstarrt da, dann begannen sie wieder zu ihren Plätzen zurückzukehren. Das Schreien und Tosen schwoll ab und wurde zu einem dumpfen Gemurmel und verstummte dann ganz. Im Stadion herrschte eine unheimliche Stille.

Enkidu sagte: »Befiehl ihnen, sie sollen noch einen von diesen Stieren hereinlassen. Und wir zwei werden mit ihm kämpfen, Gilgamesch. Wir werden sämtliche Stiere besiegen, die sie uns entgegenschmeißen können. Ja? Ja?«

Gilgamesch warf Picasso einen Blick zu. »Was sagst du dazu? Sollen wir die Corrida fortsetzen?«

»Ah, Companero, das ist kein Stierkampf, wie ihr zwei das anstellt. Ich bin nicht hergekommen, mir sowas anzusehen, dieses Herümgehüpfe auf dem Rücken des Tom.« Doch dann lachte er. »Aber es ist ja auch kein Stier, was, König Gilgamesch, nicht wahr? Also, weshalb sollte man dann nach dem spanischen Reglement mit ihm kämpfen? Geht! Geht nur! Beginne deine neue Herrschaft mit einer Corrida à la Uruk! Zeig uns, was du drauf hast, Freund! Ich werde zeichnen, während du am Werk bist.«

Gilgamesch nickte. Leise sagte er zu Herodes:

»Schafft den toten König von hier fort, ja? Und laßt den Erzkanzler und auch die anderen Höheren Hofchargen festnehmen!« Und mit einer auffordernden Handbewegung zu Enkidu sprang er wieder in die Stierkampfarena hinab. Er rief den Aguaciles auf der anderen Seite der Arena Befehle zu, und das Tor wurde geöffnet und heraus stürmte ein zweiter Höllenstier. Und gelassen erwartete ihn der neue König von Uruk. Und Enkidu stand an seiner Seite.

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