Rings um ihn ragten kolossale gezackte Bauwerke, von denen nicht zwei einander glichen, wie mächtige Palisadenpfähle in den Himmel. Sie waren so hoch, daß Gilgamesch nicht begreifen konnte, wie sie aufrecht stehen konnten, ohne umzupurzeln, und während er noch ungläubig zu ihren fernen Spitzen hinaufstarrte, schien ihm, daß sie im nächsten Augenblick krachend einstürzen müßten.
Die Luft war dünn und scharf, schneidend wie eine Messerklinge, und die ersten paar Atemzüge verursachten ihm Übelkeit, bis er sich an den Geschmack gewöhnt hatte. Der Himmel war ein fahles trübes Eisengrau, so wenig man von ihm zwischen den hohen Spitzen der Gebäude sehen konnte. Gilgamesch befand sich auf einem breiten geraden Boulevard, auf dem sich in erstickender Dichte rasch eilende Fahrzeuge drängten. Rechts und links sah er weniger breite Straßen, die rechtwinklig von links und rechts auf den großen Boulevard trafen, abgezirkelt und unnatürlich starr, wie von einem verrückten Mathematiker angelegt. Der Boden bebte, möglicherweise von der Wucht der lauten stinkenden Heerscharen von Fahrzeugen, die unablässig dröhnend vorbeizogen. Gilgamesch trug irgendein Kleidungsstück der Später Toten, es war eng, kniff und war unbequem.
Massen von Leuten in grotesken Spättotenkleidern ähnlich dem seinen drängten an ihm vorbei wie verzweifelte Soldaten, die in eine Schlacht eilen, sie brüllten heiser, fuchtelten wütend mit den Armen, schubsten ihn und stießen ihn und bahnten sich ihren Weg um ihn herum, der wie erstarrt mitten in dem Menschenstrom stand.
Er sah sich um. Das Gebäude direkt hinter ihm, es war eines der höchsten, schien ganz aus den Platten eines weißlichen stumpfen Metalls gemacht und stieg, Turm über Turm sich erhebend, in Stufen nach oben. An und für sich schon seltsam: ein Gebäude aus Metall. Die stumpfen bleichen Platten, welche die Außenhülle des Bauwerks bildeten, wirkten dermaßen dünn, daß er seinen Finger hätte hindurchstoßen können, und sie waren mit ständig sich wiederholenden ornamentalen Basreliefs geschmückt, die ganz und gar und überhaupt nicht ästhetisch angenehm waren, eher eigentlich vulgär wirkten. Und es gab kein richtiges Tor, nur eine gähnende Öffnung in eine weite Halle. Und dort stürzten sich wilde Menschenhorden mit eisigen Augen hindurch und zu kleineren Öffnungen im Innern oder in ebenerdige Ladengeschäfte mit gläsernen Wänden, wo irgendwelche glatte, unbegreifliche Produkte der Spättoten zum Verkauf standen.
Hinter diesem Gebäude standen weitere, aus Metall in jeglicher Tönung, aus Stein, aus Glas. Ein paar Straßen weiter sah er eins, das war breit und nicht so hoch wie die anderen, das ein Tempel hätte sein können, oder ein Palast: Es war aus bleichem grauen Stein und nicht ganz unähnlich dem Bau, den Dumuzi sich im Nachwelt-Uruk hatte errichten lassen, mit großen gewölbten Portalen und Doppeltürmen, die sich über der reichgegliederten Fassade erhoben. Dahinter stand ein weiterer Turm aus mattschimmernder dunkler Bronze, so schien ihm jedenfalls, der so hoch war, daß er gewißlich durch seine Höhe sogar die Götter hätte erzürnen müssen. Und dahinter noch ein Turm, beinahe ebenso gewaltig, und noch einer und mehr und mehr…
In seinem Kopf war ein wildes Brüllen.
Weshalb mußten sie alles so eng bauen und so hoch? Nie hätte er sich eine Stadtlandschaft von derart beeindruckender Brutalität vorstellen können. Kein einziger Flecken Gras in Sicht, nicht ein Baum. Und der Lärm, die wahnsinnige Hektik, die leeren gehetzten Gesichter, die er überall ringsum sah…
War es wirklich denkbar, daß das hier der Ort der Lebenden war? Oder war er getäuscht und betrogen worden, und hier war die Grube, die Tiefe, der Unterste Schlund, in die er geraten war?
- »Jesus! Schau dir den Brocken an!«
- »Kannst du mir sagen, wie spät es ist, Mister? He, Mister? Du da, Mister?«
- »Um Himmels willen, steh doch nicht so blöd da und versperr die ganze verdammte Straße!«
- »Brauchst du ‘nen Walkman? Zum halben Preis? Brandneu, noch in der Originalpackung. Wir haben Armbanduhren, echte Rolex, du glaubst es nicht, wenn du den Preis hörst, gleich zum Mitnehmen — oder viel leicht einen TV-Portable? Sony, Zweizollbildschirm?«
- »Mammi? Mammi?«
- »Eine Kleinigkeit für die Obdachlosen?«
- »Tschuldigung…«
- »Tschuldigung…«
- »He, du Brocken, beweg deinen Arsch!«
- »Koschere Dogs? Krakauer? Falafel?«
- »Bitte nimm es und lies. Das Allerneueste über die Ankunft des Messias, und der HERR segne dich…«
- »Mammiiii?«
- »Ich brauch’ man bloß ‘n paar Kröten für ‘nen U-Bahnfahrschein, könntest du mir vielleicht ‘n bißchen aushelfen?«
- »Jesus Christus! Steh doch nicht so blöd da rum!«
Wenn es ihm möglich gewesen wäre, er hätte nach dem Baum gesucht, der zwischen den Welten wächst, und wäre wieder in den Bereich zurück geklettert, den er so überstürzt hinter sich gelassen hatte. Doch dieser Baum war nirgendwo zu sehen — und ebenso wenig irgendein anderer Baum. Was immer dies für ein Ort war, Gilgamesch sah keine unmittelbare Fluchtmöglichkeit. Und er sah auch keinen seiner beiden Begleiter, mit denen er den Übertritt gemacht hatte.
Er starrte in das wilde Gewühl um sich herum.
»Enkidu?«
Keine Antwort.
»Enkidu? Hörst du mich? — Enkidu? — Enkidu?«
Daß er sich hier in einer anderen Welt befand, daran zweifelte er nicht. Ziemlich wahrscheinlich handelte es sich dabei tatsächlich um das Land der Lebenden, aber in den Tausenden von Jahren seit seinem letzten Besuch zur Unkenntlichkeit verändert, und nicht nur durch eine alptraumhafte Vision, die irgendwie durch die Salbe des Haarmenschen hervorgerufen worden war. Die Sonne war gelb, so wie er sie aus der Welt seiner ersten Geburt in Erinnerung hatte, nicht rötlich. Die Fahrzeuge in den Straßen waren denen der Später Toten aus der Nachwelt recht ähnlich, mit geringfügigen subtilen Formvarianten, womit aber natürlich zu rechnen gewesen war. Alle Leute waren hier mehr oder weniger gleich gekleidet; keine Spur von der breiten Vielfalt von Kleidung, Erscheinungsbild und Gehaben, von der zufälligen ungezwungenen Vermischung aller Zeitstile und Völker, wie man sie in allen großen Städten der Nachwelt sehen konnte. Aber vor allem: Jedes und alles, das sich nicht in Bewegung befand, wirkte starr, fest, bleiern, festgenagelt an seinem Ort. Die Fassaden der Gebäude verschoben sich nicht mit jener traumhaften Beweglichkeit, wie Gilgamesch sie mit der Nachwelt verband, die Straßen vermittelten ihm nicht den Eindruck, sie könnten ihre Richtung ändern, alles war fest, starr, steif und regelmäßig.
Und er sah auch keine Dämonenwesen, weder kleine noch große, wie sie überall in der Nachwelt umherfliegen und
-gleiten und -kriechen und -hüpfen und -tanzen, in den Städten und auf dem Lande. Die einzigen Tiere hier waren anscheinend Hunde — Hunde von seltsamer Rasse, denen gar nicht sehr ähnlich, die er kannte, und sie waren an Leinen gebunden und begleiteten die Passanten in den Straßen. Ein großer dunkler Hund mit steif nach oben ragenden Ohren blieb stehen, knurrte Gilgamesch an und scharrte in plötzlicher grundloser Hast auf dem Pflaster, und es kostete Gilgamesch einige Zurückhaltung, sich nicht auf die Bestie zu stürzen und ihr mit dem Dolch die Kehle aufzuschlitzen.
Doch er trug ja gar keinen Dolch bei sich. Und er hatte auch seinen Bogen nicht. Er war gänzlich waffenlos, merkte er, und das war ein Gefühl, schlimmer als nackt zu sein.
Es war leichter geworden, als sie erwartet hätte, auf diesen großen merkwürdigen Baum zu steigen. Als sie nach oben blickte, dachte Helena, es werde ihre Kräfte übersteigen, von einem der riesigen Äste zum anderen zu klettern, doch sobald sie damit begonnen hatte, erschien es ihr beinahe so mühelos wie sich im Wasser treiben zu lassen.
Sehr merkwürdig, höher und höher zu schweben und dabei scheinbar wie in einem gewaltigen Treppenhaus abwärts zu steigen.
Nun, das war getan. Hier war sie. Kein Enkidu, kein Gilgamesch — nur Horden von häßlichen kleinen Später Toten, die wie besessen durch die überfüllte Straße drängten. Und die Luft war kalt, und es blies ein schneidender Wind. Es war hier sogar noch windiger als in Troja, und außerdem stank die Luft, war schwerbeladen von Staub und Rauch, so daß sie fürchtete, es würde ihr die Haut wundscheuern, wenn sie noch länger in dieser Luft verweilte. Die hohen Häuser waren allerdings wirklich beeindruckend, mächtige schimmernde Türme, die aussahen, als wohnten dort Götter. Aber sie fand den Ort erregend, sein Tempo, den harten heftigen Pulsschlag. Sie wußte, sie würde hier zurechtkommen.
Doch zunächst mußte sie irgendwie Enkidu finden…
Das Haus gleich vor ihr schien eine Art Regierungsgebäude zu sein, oder vielleicht ein sakraler Ort. Es erhob sich als breiter niedriger Bau aus grauem Stein an der Kreuzung zweier großer Durchgangsstraßen auf einem hohen platzähnlichen Postament mit breiten Stufen. Auf der Treppe saßen, trotz der Kälte, Menschen und lasen oder redeten, oder sie begafften einfach nur die anderen, die drunten auf der Straße vorübergingen. An den Flanken der erhöhten Plaza sah sie die steinernen Bilder zweier Idole, Löwengottheiten, die auf eigenen niedrigen Piedestalen ruhten.
Dort drin fand sie vielleicht zuständige Ortsbeamte, konnte ihre Bedrängnis erklären, sich eine Unterkunft besorgen lassen…
Von den Stufen her rief sie jemand an.
»He, Baby! Meinste nicht, du brauchst ‘nen Mantel bei dem Wetter?«
Sie streifte den Mann mit einem raschen Blick. Schlecht gekleidet, noch jung, strähnige gelbe Haare, blasse blaue Augen, traurig hängender Schnurrbart. Ein Niemand. Doch er wirkte wenigstens freundlich.
Sie sagte: »Könntest du mir sagen — wie heißt dieses Gebäude hier?«
»Du machst wohl Witze! Du kennst die Bibliothek an der Zweiundvierzigsten nicht?« Er stand auf und kam langsam auf sie zu. »Von welchem Planeten kommst denn du?«
Helena lächelte. »Ich bin gerade erst angekommen — hier in dieser Stadt…«
»Na, dann laß dir mal von dem ollen Georgie weiterhelfen.« Der junge Mann starrte sie lüstern an. Die Augen waren eisig und blitzten. Er pfiff leise durch die Zähne und murmelte: »He, du bist ‘ne richtige Superbiene. Mann. Du solltest beim Film sein, weißt du? Wie heißt’n du?«
»Helena, ich…«
»Helena. Fein. Komm doch her, ja? Ich will dir bloß meine Jacke leihen, okay? Komm schon, wir gehen wohin, wo’s warm ist und wo wir uns ein bißchen näher kennenlernen können.«
Er umfaßte ihre Hüfte. Niemand ringsum schien ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
»Laß mich in Ruhe!« sagte sie mit jener Stimme, die sie benutzt hatte, als sie noch Königin in Sparta war.
Der Mann starrte sie an. »Ah! Feuer, was? Das mag ich. Komm schon, Komm mit!«
»Bleib mir vom Leib!«
Er umfaßte sie, zog sie an sich, sein Arm glitt um ihre Schultern und dann zu ihrer Brust. In der anderen Hand hielt er ein Messer, dessen Spitze kaum sichtbar war. Die Menschen, die auf den Stufen saßen, wandten einfach nur die Köpfe weg. Das konnte sie nicht verstehen, daß es sie so gleichgültig ließ, was ihr geschah.
»Laß — mich — los!«
»Ah, Baby. Baby, Baby, Baby!«
Nach einiger Zeit wurde Gilgamesch es leid, sich von den Massen anrempeln zu lassen, während er da so vor dem metallverkleideten Gebäude stand, und er setzte sich in Bewegung. Vor sich hatte er sichtbar die Sonne, eine bleiche Sonne tief über dem Horizont in der Schneise, welche die Straße durch die Häuser schnitt. Dies und die eisige Luft verrieten ihm, daß es Spätherbst sein müsse oder Winter, und so bewegte er sich also gewißlich in südlicher Richtung, doch davon abgesehen wußte er nicht, wohin er ging, noch weshalb.
So voll die Straße war, die Leute wichen ihm aus, sobald er sich ihnen näherte. Vielleicht weil ich so groß bin, dachte er. Oder vielleicht weil ich für sie ebenso fremdartig und beunruhigend wirke wie sie in ihrer andersartigen wilden Hektik auf ihn.
Nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß er Hunger hatte. Auf den Straßen standen immer wieder Metallwägeichen, und er blieb bei einem stehen und zeigte auf einen Behälter aus Metall, in dem über einem Rost Würste dampften.
»Eine davon«, sagte er.
»Mit Senf und Sauerkraut?«
»Ich verstehe nicht?«
»Welche Sprache soll ich denn reden? Senf, Sauerkraut, Zwiebeln, sag mir einfach was du haben willst, okay?«
»Gib es mir einfach«, bat Gilgamesch.
»Aber klar, mein Freund. Was du willst.« Der Verkäufer steckte die Wurst in ein zusammengeklapptes längliches Brot und reichte dies dem Sumerer, der sofort zu essen begann. Nach vier Bissen war er damit fertig.
»Noch eins«, sagte er.
»Das macht einsfünfundneunzig«, sagte der Mann.
»Ja. Noch eins«, sagte Gilgamesch.
Der Verkäufer sah ihn starr an. »Hörst du nicht? Einsfünfundneunzig!«
»Das verstehe ich nicht. Aber ich bin sehr hungrig.«
»Ist mir klar, Freundchen. Aber erst mal zahlst du für die eine.«
»Bezahlen — dich?«
»Mich bezahlen, genau. Du verstehen? Du schpiekie die Ihnglisch recht gut.« Und er streckte ihm die Hand hin. »Rück schon rüber damit, du Schwanz! Eins-fünf-undneunzig, und hör auf, so rumzufurzen, oder ich rufe ‘nen Bullen!«
Und nun begann Gilgamesch zu begreifen.
»Ach? Du willst Bezahlung? Aber ich habe kein Geld!«
»Jesus-Hilfmir-Christus! Was bist’n du für einer? Aus dem Zirkus davongelaufen? He, Polizei! Der Kerl da will nicht für seinen Hotdog bezahlen!«
Es war nicht zu verkennen, hier drohte Ärger. Gilgamesch sah einen Mann mit einem spitzen Kopfhut, in einem grob wirkenden dunkelblauen Bekleidungsstück, das anders aussah als alle die Kleider, die sonst jemand in der Nähe trug, von weiter oben in der Straße zu ihnen hersehen. Höchstwahrscheinlich so eine Art Straßenwärter. Er begann sich mit ruhigen gleichmäßigen Schritten zu entfernen, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Der Wursthändler aber schrie weiter laut, und der Wachmann rief ebenfalls etwas. Manche der Menschen starrten her. Nach zwanzig Schritten warf Gilgamesch über die Schulter einen Blick über die dichten Menschenmassen hinter sich und sah, daß der blaugekleidete Mann hinten irgendwie eine winkende heftige Handbewegung machte, dann die Faust wider ihn hob und schüttelte, und sich mit einem Achselzucken abwandte. Dann hörte er das wütende Schreien des Wurstverkäufers noch eine Weile, dann nicht mehr.
Wahrscheinlich war es eine zu große Mühe für den Mann, ihn in der Menschenmenge wegen der Summe für ein Würstchen zu verfolgen. Aber während Gilgamesch rasch weiter die Straße hinunterschritt, begriff er, daß er vorsichtig sein mußte. Selbstverständlich mußten die Menschen hier Geld für Nahrung fordern. Aber in seinem Beutel befand sich nichts, was aussah, als wäre es ein ortsübliches Zahlungsmittel. Anscheinend hatte ihn der Behaarte Mann hierher geschickt, ohne ihn ausreichend vorzubereiten, wie man sich in dieser anderen Welt zu verhalten hatte, und ihn so gezwungen, auf alle Reste von persönlichem Einfallsreichtum zurückzugreifen, über die er verfügte.
Er überlegte sich, ob er eine Chance hatte, mit diesem verwirrenden, komplizierten Ort zurechtzukommen. Er hatte zu lange abgesondert gelebt, war seinen einsamen Pfad durch die Wildnis gezogen, und als er sich wieder zwischen die anderen Menschen, die Männer und Weiber, begeben hatte, war er König gewesen. Von einem König wurde nicht verlangt, daß er die Kunst beherrschte, wie man auf der Straße Würstchen kauft. Sein Enkidu, ungeschliffen, direkt und ungehemmt, wie er war, Enkidu war wahrscheinlich weit besser darauf vorbereitet, sich hier zurechtzufinden, als er.
Doch wo sollte er in diesen Massen von Fremden Enkidu finden können?
Er wanderte weiter. An jeder Straßenecke standen Signalmaste mit Lampen, die angaben, zu welcher Zeit die Fahrzeuge sich bewegen durften und wann die Fußgänger. Rotes Licht — Warten. Grünes Licht — Gehen. Eine vernünftige Einrichtung, jedenfalls für hier. Doch Gilgamesch bezweifelte stark, daß so etwas in dem Zufallsdurcheinander der Nachwelt funktionieren würde, wo die Signale höchstwahrscheinlich gleichzeitig rot und grün leuchten würden, oder grün für alle, oder in einer gänzlich anderen Farbzusammenstellung.
Überall standen Verkäufer, die auf Wagen Essen feilboten. Die Düfte, die davon aufstiegen, lösten in ihm einen qualvollen Hunger aus. Ihm war ganz schwach vor Hunger, doch er zwang sich weiterzugehen. Bis er herausfand, wie man hier auf anständige Weise an Nahrung kam, wollte er mit diesem schwierigen Volk mit der ordinären Sprechweise nichts zu schaffen haben.
Vor ihm lag nun eine bedeutende Kreuzung, wo eine zweite breite Straße jene kreuzte, die er entlangging. Auf der anderen Seite erblickte er ein beeindruckendes Bauwerk, das dem recht ähnlich sah, das er ungefähr ein Dutzend Straßen weiter hinten gesehen hatte, ein Stück von der Straße abgesetzt, steinern grau, von weit geringerer Höhe als die es umgebenden Bauten, jedoch ebenfalls groß in Masse und Weite, und man gelangte von einer Plaza aus über eine weite Steintreppe hinauf. Das Gebäude hatte keine Türme, und seine Fassade war nicht mit so reichen Steinschnitzereien versehen wie die des anderen Hauses, das, wie er sich überlegte, ein heiliges Haus gewesen sein mußte, eine — wie hatte Herodes das genannt? — eine Kathedrale. Davor befanden sich zwei Statuen von Löwen, nicht besonders furchteinflößende Löwen, vielleicht Symbolfiguren für die Kraft und Güte des Ortskönigs.
Hier konnte recht gut der Regierungspalast sein, dachte Gilgamesch. Dann war es wohl angebracht, dort einzutreten, einem der Wesire zu bedeuten, daß er der König eines fernen Landes sei, durch plötzlichen Zauber hierher versetzt, und daß er seinen Bruder, den Herrscher dieses Ortes, um Gastfreundschaft bitte. Zweifellos würden sie hier nichts von Uruk gehört haben, dennoch war er zuversichtlich, daß die Beamten des Hofes ihn freundlich empfangen würden. Sie würden ihn ganz sicher ernstnehmen müssen, so königlich wie seine Haltung und sein Gehaben waren, so selbstsicher. Und gewiß würden sie ihn auch mit wärmerer Kleidung ausstatten, ihn mit einigen Münzen aus der königlichen Schatulle versehen, und der König würde ihm bei der Suche nach Enkidu helfen…
Ja. So mußte es sein. Ja.
Er begann die Treppe hinaufzusteigen.
Auf noch nicht halber Höhe fiel ihm etwas Ungewöhnliches nur ein paar Stufen weiter oben auf. Eine dunkelhaarige Frau, die für einen derart kalten Tag viel zu dünn bekleidet war, rang dort mit einem schäbig angezogenen Mann, der sie mit sich fortzuzerren versuchte, wie es aussah. Das Gewand der Frau war zerrissen, und sie fluchte und kreischte. Mit dem einen freien Arm schlug sie wütend auf den Mann ein, doch es nutzte wenig, denn dieser lachte nur und redete die ganze Zeit weiter, während er sie über die Stufen zerrte.
Am seltsamsten fand Gilgamesch, daß da zwar zahllose Leute auf den Stufen saßen, davon einige ganz in der Nähe des Mannes und der Frau, daß aber keiner dem Kampf die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Vielleicht war es Brauch in diesem Land, daß Männer den Frauen auf den Stufen vor öffentlichen Gebäuden Gewalt antun mußten. Aber verlangte dieser Brauch auch, daß niemand dem Opfer zu Hilfe kommen durfte? Seltsam, seltsam. Gilgamesch zögerte kurz, sah empört hin, wußte aber nicht, wie er angemessen reagieren sollte.
Doch dann hörte er das Weib laut schreien: »Enkidu! Wo immer du bist, hilf mir! Hilfe, Enkidu!«
Bei allen Göttern! Die Frau war Helena!
Gilgamesch setzte sich sofort in Bewegung, war im Nu die Stufen hinaufgeeilt, packte den Mann am Arm, hebelte ihn herum und verdrehte ihn ihm und zerrte ihn mit einem raschen Ruck von Helena fort.
Der Mann wirbelte herum und fauchte Gilgamesch wütend an: »He, Mann, was soll’n der Scheiß?«
»Gilgamesch! Er hat ein Messer!«
»Ich habe es gesehen.«
Die Klinge blitzte. Gilgamesch sah den Stoß kommen, der aufwärts zur Mitte seiner Brust zielte, und faßte das Handgelenk des Mannes, bevor die Waffe ihn treffen konnte. Er bog die Hand des Angreifers nach hintern Es gab ein scharfes knackendes Geräusch, und das Messer entfiel seinen Fingern. Helena hob es auf und schleuderte es die Treppe hinab. Der Mann führte vor Gilgamesch einen grotesken Tanz auf, er brabbelte und zischte vor Schmerz und Verblüffung und stieß einen Strom unverständlicher Obszönitäten aus. Voll Verachtung schlug Gilgamesch ihn, wie man nach einem lästigen Insekt schlägt. Die Ohrfeige riß den Kerl in die Luft und schickte ihn taumelnd und mit Armen und Beinen wedelnd die gesamte Treppe bis zur untersten Stufe hinab. Vor dem linken Löwenstandbild schlug er mit dem Kopf gegen die Stufenkante und landete wie ein Haufen fortgeworfener Lumpen am Sockel des Bildnisses. Er wimmerte noch ein Weilchen, dann wurde er still.
Gilgamesch wandte sich zu Helena, die mit bleichem Antlitz, geweiteten Augen und zitternd dastand.
»Bist du verletzt?« fragte er. »Hat er dir etwas getan?«
»Nein, er hat mir nur einen Schrecken eingejagt. Der dreckige anmaßende Tölpel wagte es, mich anzufassen, mich, die einst eine Königin war, deretwegen der größte Krieg aller Zeiten angezettelt wurde…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was er mit mir vorhatte. Mich in seine Hütte zerren, nehme ich an. Glaubst du, du hast ihn umgebracht?«
»Ich bezweifle es. Nicht daß es besonders schade wäre um ihn. Ist Enkidu mit dir da?«
»Nein. Ich dachte, vielleicht ist er mit dir zusammen.« Plötzlich schien die ganze königliche Empörung von ihr abzufallen, und sie war nur noch eine zierliche fröstelnde Frau in einem zerknitterten und zerrissenen Kleid. »Wo sind wir hier gelandet, Gilgamesch? Was sollen wir tun?«
»Wir sind im Land der Lebenden. Und Enkidu muß sich hier irgendwo ganz in der Nähe aufhalten. Wenn wir einfach hier stehenbleiben und warten, vielleicht kommt er dann vorbei. Und sobald wir wieder zu dritt sind, können wir…«
»Oh. Schau mal, Gilgamesch! Da unten.«
Am Fuß der Treppe, wo Helenas Angreifer immer noch lag, begann sich eine Gruppe von Menschen zu sammeln. Gilgamesch sah, daß einer von diesen blaugewandeten Straßenwächtern neben dem Mann kniete, und daß ein zweiter mit den dort versammelten Leuten sprach. Sie zeigten zu ihnen herauf. Einer der Wächter winkte Gilgamesch zu.
»Was willst du jetzt machen?« fragte Helena.
»Ich denke, ich gehe hinunter und spreche mit ihm. Ich habe nichts Übles getan. Und diese Staatsbediensteten können uns vielleicht helfen, eine Bleibe und etwas zu essen zu finden.«
»Er hat eine Schußwaffe, Gilgamesch!«
Der Sumererkönig nickte. »Ich sehe es. Aber ich will ihm ja nichts tun. Ich bin unbewaffnet, das kann er kaum übersehen.«
»Sei vorsichtig, sei; vorsichtig!«
Gilgamesch nickte.
Als er ihm nahe gekommen war, deutete der Wächter auf den dort liegenden Mann und sprach: »Hast du ihn die Treppe runtergeschmissen?«
»Der Mann hat mich angegriffen!« sagte Helena wild. »Ich bin fremd in dieser Stadt und bat um Auskunft, da packte mich plötzlich dieser Mann — seht doch, wie er mir das Kleid zerrissen hat! — Und wenn nicht mein Freund im rechten Moment vorbeigekommen wäre…«
»Mal ruhig, Lady, nur Ruhe! Lassen wir erst mal den da sprechen. Du kannst dann gleich hinterher deine Aussage machen.« Und zu Gilgamesch sprach der Wächter: »Also? Hast du den da runtergeworfen?«
Gilgamesch mühte sich um Gelassenheit. Die schneidenden schrillen Stimmen dieser unkultivierten kleinen Spättoten, ihre Überheblichkeit und Unverschämtheit, ja selbst die Art, wie sie Worte aussprachen, reizten ihn arg. Sie hingen um ihn herum, nölend und näselnd, ohne Ehrerbietung, belästigten ihn mit ihrem unverständlichen Brei von Kauderwelsch. »Ich gab ihm eine Ohrfeige, ja, als er anfing, mich anzuschreien, und er stürzte die Stufen hinab. Ich hatte nicht die Absicht — es lag mir völlig fern —, ihr müßt mir das glauben, daß ich nicht wollte — bei Enlil, der Kerl ist doch Abschaum! Einfach ein Dreckskerl! Laßt mich zufrieden. Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich habe doch nur…«
»He, Mann! He! Bleib cool, du Brocken!«
»Cool?« sagte Gilgamesch. »Cool?«
Der Wächter nickte. »Genau! Bleib cool, dann geht das alles für dich schon okay. Wir werden dich nicht einbuchten. Wir haben hier ‘ne Menge Augenzeugen für den Vorfall, und die sagen alle aus, daß du der Lady geholfen hast und daß er dich mit dem Messer bedrohte. Trotzdem müssen wir nach Protokoll vorgehen, verstehst du?«
Gilgamesch runzelte die Stirn. »Protokoll?«
»Also, zuerst brauche ich mal deinen Namen, okay?«
»Aber selbstverständlich«, sagte Gilgamesch großmütig. Er richtete sich zu seiner ganzen hohen Heldenhaftigkeit auf. »So wisset also, ich bin Gilgamesch, Sohn des Lugalbanda, König von Uruk. Das Weib mit mir ist Helena, Königin von Sparta, ehemals Gemahlin von Menelaos, die überall in dieser Welt und der anderen unter dem Namen Helena von Troja berühmt ist…«
»Hinky?« rief Gallagher. »He, Hinky! Da ist jemand für dich. Telefon.«
»Ich komme«, sagte Enkidu.
Er entrollte sich auf dem schmalen Sofa, auf dem er erfolglos ein Nickerchen zu machen versucht hatte, und ging zur Tür des Umkleideraums auf der Hinterseite des Clubs, wo Gallagher ihn untergebracht hatte. Draußen im Gang lehnte Gallagher, mit einem Drink in der Hand, direkt gegenüber der Tür.
»Der Apparat ist gleich da unten«, sagte er.
»Ist es die Polizei?«
»Wer weiß sonst noch, daß du hier bist?«
»Niemand«, antwortete Enkidu.
»Dann muß es die Polizei sein.«
»Haben sie meine Freunde gefunden?«
»Hör mal«, sagte Gallagher, »ich weiß das nicht. Der Anruf ist für dich. Also geh und rede mit den Leuten, dann erfährste schon, was los ist.«
»Genau«, sagte Enkidu. »Genau.« Und er begann den Flur hinunter zu gehen. Doch nach ein paar Schritten zögerte er und sagte: »Willst du vielleicht an den anderen Apparat gehen, so wie vorher, Bill? Wenn mir nicht die richtigen Wörter einfallen, die ich sagen muß. Du könntest dich einschalten, du könntest verhindern, daß ich blöd wirke.«
»Ja«, sagte Gallagher. »Ja, das mach ich dann wohl besser.«
Zusammen gingen sie den Gang hinunter ans Telefon.
Es war der dritte Tag, den Enkidu hier verbracht hatte; in der kleinen Kammer hinten im Club Ultra Ultra in der West 54th Street. Gallagher hatte ihn auf einem Platz entdeckt, wo er umherirrte, den sie Times Square nannten, wo er nach Helena und Gilgamesch suchte. Gallagher war ein kleiner betriebsam wirkender Mensch mit dichtem, krausem sandfarbenen Haar, das dicht an seiner Schädeldecke klebte, und er besaß die härtesten und kältesten blauen Augen, die Enkidu je gesehen hatte. Er hatte nicht lange gebraucht, Enkidu in ein Gespräch zu ziehen.
»Fremd in der Stadt, was?«
Enkidu hatte ihn angelächelt. »Wie kannst du das wissen?«
»Ach, gar nicht so schwer, das zu sehen. Bist du ‘n Ringer? Vielleicht ein Ex-Footballspieler? Du suchst nicht zufällig ‘nen Job?« Die eisigen Augen glitzerten wie geschliffene Marmorkugeln. »Ein toller Brocken wie du. Ich hätte da vielleicht Arbeit für dich, wenn’s dich interessiert.«
Etwas in der direkten Art von Gallagher sprach Enkidu an. Außerdem, er war allein und viel stärker durcheinander, als er sogar sich selber gern eingestanden hätte, in dieser unvertrauten wirbelnden großen Stadt.
Vorsichtig fragte er: »Was wäre das für Arbeit?«
»Portier. Nachtclub. Rausschmeißer, meine ich.«
»Rausschmeißer«, wiederholte Enkidu, der nichts verstand. »Nachtclub. Aha.«
»Sechsfuffzig die Woche. Bar, wenn du das vorziehst. Sonntag- und Montagnacht frei. Getränke kostenlos, in gewissen Grenzen. Bei deinem Schwengel kannste dir wahrscheinlich soviel Weiberärsche schnappen, wie du magst, wenn du darauf stehst.« Gallagher grinste. »Das interessiert dich, was? Ja, ich seh’ schon, da biste echt interessiert. Wie heißt’n du?«
»Enkidu.«
»Hinkadoo? Was issen das für ‘n Name? Pakistanisch? Israel? Nee, wart mal, ich hab’s; du bist aussem Iran. Stimmt’s? Die dichten schwarzen Haare, der dichte schwarze Bart. Jesus! Ich hab’ gar nicht gewußt, daß sie bei euch im Iran Leute von deinem Kaliber produzieren. Wie groß bist’n du? Sechs Fuß sieben, sechs-acht? Sowas in der Preislage bestimmt. Also, jetzt komm, gehen wir rüber zum Club, okay? Zehn Blocks weit, aber verdammt, wer kriegt schon in der Gegend hier um diese Zeit ‘n Taxi? Aber du kannst ja laufen. Ich weiß, du kannst laufen. Also komm! Ich heiße Gallagher, Bill Gallagher. Bloß halb irisch, aber es ist die Hälfte, die was man sieht. Der Rest ist polnisch, ob du’s glaubst oder nicht, ‘ne tolle Mischung, was? Ein Mick und ein Polacke. Ich hab’ mal einen Iranier gekannt, Khalili hieß der, Aziz Khalili. Vielleicht kennst du den ja auch, ‘n kleiner Kerl, halb so groß wie du, dichter Bart, ganz traurige Augen, handelte mit gefälschten Antiquitäten, hatte ‘nen Laden drüben in der Siebenundfünfzigsten, und der sagte immer ›Ich bin kein Iraner, ich bin Perser‹ — ich glaub’, den haben sie dann zurückgeschickt, irgend so ein Trabbel mit seinem Visum…«
Enkidu starrte stumm vor sich hin.
Er hatte vor langer Zeit und in einer völlig anderen Welt gelernt, je weniger man sagte, desto besser an einem unbekannten Ort, wo man sowieso kaum verstand, wovon die Leute redeten. Hier redeten sie Englisch, oder so etwas in der Art, aber mit einem Akzent, der sich drastisch von allem unterschied, woran er sich aus der Nachwelt erinnerte, und sie schnatterten und quäkten so rasch, daß es fast unmöglich war, ihren Worten zu folgen. Doch auch wenn er sie verstand, verstand er sie doch nicht, nicht wirklich. Es hätte ebenso gut eine ganz fremde Sprache sein können. Dieser Gallagher hatte innerhalb zweier Minuten fünfzig oder hundert Sachen gesagt, die für Enkidu keinen Sinn ergaben. Es war also klug, den Mund zu halten, viel zu nicken, die Achseln zu zucken, und Gallagher die ganze Rederei zu überlassen.
Der ›Club Ultra Ultra‹ erwies sich als ein düsterer verrauchter Ort, an dem sich Menschen einfanden, um zu trinken und zu tanzen, und wo in etwa stündlichen Abständen Weiber erschienen, die zu Musik ihre Kleider auszogen. Es war Enkidus Aufgabe, an der Tür zu stehen und dafür zu sorgen, daß keine betrunkene oder unordentlich gekleidete Person ins Innere Eintritt erhielt, und wenn jemand betrunken oder unordentlich wurde, nachdem er oder sie bereits Einlaß gefunden hatte, mußte Enkidu zu der Person gehen und sie ermuntern, den Ort ohne Aufsehen zu verlassen. Als Arbeit schien dies nicht übermäßig schwer zu sein. Und er hatte eine Bleibe gefunden und einen nützlichen Verbündeten, der sich in dieser rätselhaften Welt auskannte, in der Enkidu gelandet war.
Ehe er an seinem ersten Abend seinen Dienst antrat, kam Gallagher zu ihm mit einen Stoß von Papieren, die es auszufüllen galt. Es seien Formulare, sagte er, für das Finanzamt, das Arbeitsamt und andere offizielle Sachen, der übliche Kram bei Neueinstellungen, eben der reine Vorschriftenkram. Doch als er Enkidu fragte, wo er wohnte, antwortete dieser, daß er derzeit nirgendwo wohnte; und als Gallagher ihn nach seinem Familiennamen fragte, schwieg Enkidu lange und sagte schließlich, sein Name sei Enkidu. Gallagher sah ihn merkwürdig an. »Hinkadoo Hinkadoo, so heißt du? Und du wohnst nirgendwo. Und natürlich bist du auch nicht amerikanischer Staatsbürger, nein, also hast du auch keinen amerikanischen Führerschein oder ‘ne Versicherungskarte oder ‘nen Paß — oder sonst irgendwie ‘n verdammtes offizielles Ausweispapier, stimmt’s? Hab’ ich mir doch irgendwie fast gedacht. Eine Grüne Karte? Ach, das kann ich mir sparen, dich danach zu fragen. Und auch keinerlei andere Papiere, aus dem Land, wo du herkommst, wo immer das sein mag. Stimmt’s?«
»Stimmt.«
Und er schüttelte den Kopf. »Weißt du, Hinky, ich könnte mich in die tiefste Scheiße reinreiten — beim Gewerbeamt, bei der Einwanderungsbehörde, bei der Steuer, und Jesus allein weiß, wo sonst noch! Ein Kerl fällt da vom Mars runter, und ich gable ihn so ganz einfach auf der Straße auf und heure ihn als Türsteher an, einfach so, ganz ohne Papiere, mit nicht dem winzigsten Fetzen von Ausweis. Und er will mir nicht mal seinen verdammten Familiennamen sagen, was?« Enkidu starrte ihn nur an, denn er begriff nahezu nichts von dem Ganzen. Und Gallagher redete auch gleich weiter. »Die könnten mir glatt den Laden dichtmachen. Ich muß verrückt geworden sein. Aber du gefällst mir. Du gefällst mir echt. Und ich brauche jemand, der die verdammten Besoffenen unter Kontrolle halten kann. Ich hab dich an Land gezogen, also kann ich dich jetzt auch genausogut gleich behalten. Also, du kriegst den Job, aber ohne offiziellen Vertrag, klar? Sobald irgendwer, der offiziell aussieht, hier auftaucht und dich fragt, ob du hier arbeitest, sagst du dem, nein, nein, du bist bloß zu ‘nem kurzen Besuch vorbeigekommen. Und du schaust besser, daß du nicht in irgendwelchen Trabbel kommst, ja? Und wenn doch, schön, dann hab’ ich dich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Capisce? Farstehn? Haste mich?« Gallagher holte tief Luft. »Mich muß ‘n wahnsinniger Affe gebissen haben, daß ich sowas mache. Aber sag mir eins, nur ein ganz kleines Bißchen, Hinky, ja? Machst du das? Sag mir bloß, was willste eigentlich überhaupt hier in New York?«
»Ich versuche, meine Freunde zu finden«, antwortete Enkidu. »Gilgamesch, der mir wie ein Bruder ist. Und Helena. Sie sind irgendwo hier in dieser Stadt. Irgendwo.«
»Irgendwo? Aber das ist ‘ne ziemlich große Stadt. Weißt du denn nicht, wo?«
»Wir wurden getrennt, als wir herkamen. Das war gestern, glaube ich. Er ist sehr groß, genau wie ich. Sie ist sehr schön und hat dunkles Haar. Ich muß sie finden.«
»Hast du’s schon bei der Polizei versucht?« Dann lachte Gallagher. »Nein, bestimmt nicht bei der Polizei. Schön, hör mal, wir versuchen es jetzt einfach mal. Wie heißt dein Freund?«
»Gilgamesch.«
»Ist der auch aus dem Iran?«
Achselzuckend sagte Enkidu: »Wir sind Sumerer.«
»Ist mir neu. Sumerer. Aber schön. Versuchen wir’s mal. Wir brauchen eine Auskunft von der Stelle für vermißte Personen über einen großen männlichen Sumerer namens Gilgamesch. Du kennst dich mit dem Telefon aus?«
»Ich weiß nicht so recht. Da, wo ich herkomme, sind sie anders.«
»Gut. Ich werd’s dir zeigen. Du rufst da an, fragst nach der Vermißtenabteilung, vielleicht funktioniert’s ja — jedenfalls machen sie’s im Fernsehen immer so. Und da wirst du erst mal rumgeschaltet, bis du in der richtigen Abteilung landest. Denen sagst du, du bist sein Bruder — Freund reicht nicht, das interessiert die keinen Furz, aber ein Bruder, vielleicht —, und was das Mädchen angeht, da sagst du, sie ist deine Verlobte, klar? Hast du kapiert, was ich sagte? Du kannst die Typen nicht einfach auffordern, irgendein Weib für dich zu suchen, das du finden willst, aber wenn’s deine Anverlobte ist, da werden sie dir helfen, besonders wenn du so ausländisch klingst, wie du das tust, und wenn du ein bißchen durcheinander wirkst, was du ja ebenfalls bist. Also, komm. Machen wir den Anruf, okay? Okay?«
Dies war vor zwei Tagen geschehen, und Enkidu hatte der Polizei gegenüber gesagt, daß er von seinem Bruder und seiner Verlobten getrennt worden sei, am Tag ihrer Ankunft in New York — und Gallagher hörte am Nebenapparat mit und soufflierte ihm, wenn er das richtige Wort nicht fand… und hier war Enkidu nun zwei Tage später, hing wieder an diesem Telefon und hörte einer verquälten New Yorker Stimme zu, die ihm entgegenkrächzte: »Hörst du? Grad kommt der Bericht über deinen Bruder rüber, ja? Laut Bericht aus dem Bellevue, männliche Person, die ihren Namen als Gilgamesch angibt, paßt zu der Suchbeschreibung, Bart, extrem groß und kräftig, fremdländischer Akzent, zur Beobachtung eingeliefert; junge Frau namens Helena; beide ohne jeden Identitätsausweis; verwickelt in einen Zwischenfall auf der Treppe zur Bibliothek in der Zweiundvierzigsten — nichtidentifizierter Stadtstreicher, schwere Verletzung, Vergewaltigungsversuch an der Frau, Gil verhinderte das und verletzte den Typ, keine offizielle Anklage, sieht aber so aus, als wäre es ein Psycho-Fall, sagen sie…«
Enkidu begriff überhaupt nichts und fuchtelte heftig mit der Hand. Gallagher schaltete sich ein: »Ich bin ein Freund von Mister Hinkadoo und vertrete ihn. William Gallagher. Wie wollen wir verfahren, damit wir Mr. Hinkadoos Bruder und seine Verlobte in unsere Obhut übernehmen könnten?«
»Also, zuerst solltet ihr mal versuchen, runter zum Bellevue zu kommen.«
»Unter welcher Fall-Nummer können wir nachfragen?«
Es kam ein Klicken in der Leitung. Gallagher kniff die Brauen zusammen und legte den Hörer auf. Zu Enkidu sagte er: »Hast du irgendwas davon mitgekriegt?«
»Man hat sie gefunden, ja?«
»Ja. Irgendwie ein Knatsch vor der Bibliothek, die Bullen, die Polizei haben sie im Bellevue eingelagert, weil sie keine Personalausweise hatten, und wegen allgemein exzentrischer Verhaltensweise, nehme ich mal an.«
»Was ist denn das, dieser Persönlichkeitsnachweis, von dem ihr alle redet, die wir nicht haben?«
»Es bedeutet den Nachweis, daß du existierst.«
»Ach. Und Bellevue?«
»Das ist die hiesige Klapsmühle.«
»Klapsmühle?«
»Du weißt schon. Wo sie die Spinner einbuchten.«
»Was? Ein Haus voll Spinnen? Aber wieso wollen sie Gilgamesch in ein Haus voll Spinnen bringen?«
»Weil…« Gallagher preßte sich die Hände auf die Augen. »Mich sollten sie ins Spinnerhaus stecken, weißt du? Aber das würdest du nicht kapieren. Natürlich nicht.« Er sah durch die Finger Enkidu an. »Es ist eine Anstalt für Psychos, für Irre, für Geisteskranke. Kannst du irgendwas davon verstehen? Ja? Nein. Macht nichts. Wir gehen da eben einfach hin und holen sie da raus, klar? Vergiß nicht, er ist dein Bruder, und nicht etwa dein Freund. Und dein Name ist Hinkadoo Khalili, und du kommst aus dem Iran, und er ebenfalls, und auch das Mädchen, und falls sie dich danach fragen, seid ihr hierher gekommen, um politisches Asyl zu bekommen, aber hoffen wir, daß sie danach nicht fragen, und deinen Paß hast du in deinem Hotel gelassen, und wenn sie dich fragen, in welchem Hotel, dann überlaß es mir zu antworten, und überhaupt sagst du am besten nicht mehr, als unbedingt nötig, ja?«
»Sie ist Griechin«, sagte Enkidu.
»Also, jetzt hör mir mal zu: Für heute ist sie aus dem Iran, okay? Es vereinfacht die Sache, wenn ihr alle drei aus dem gleichen Land kommen würdet, auch wenn’s nicht stimmt.« Er rieb sich nachdenklich und behutsam den Schädel. »Ich sollte mir wirklich mal meinen Kopf untersuchen lassen. Ich müßte wirklich mal zu ‘nem Psychiater und meinen Kopf durchchecken lassen! Ach, komm, zieh deine Latschen an. Ziehen wir rüber.«
Gilgamesch blickte erstaunt von Enkidu zu Helena und zu dem kleinen Mann mit dem harten Gesicht und den blauen Augen und danach wieder zu Enkidu zurück.
Dieser gab ihm ein rasches, kaum sichtbares Zeichen, das bedeutete: Bleib einfach still und laß den Mann da alles erledigen.
Schön, dachte Gilgamesch. In der Nachwelt war er ja wohl ein Held unter Helden, doch in diesem üblen erbärmlichen Sumpfloch von Welt hier war er ganz verloren und hilflos. Dieser Mann, den Enkidu irgendwo gefunden hatte, schien zu wissen, wie man es hier richtig machte und was man sagen mußte. Schön. Gut so. Nur bringt mich raus von hier, mehr will ich nicht.
Der andere kleine Mann, der in dem schmuddeligen weißen Mantel, der ihm während der letzten zwei Tage so viele absurde Fragen gestellt hatte, sagte gerade zu dem anderen Mann, der mit Enkidu gekommen war: »William Gallagher?«
»Richtig, Doktor.«
»In welcher Beziehung stehst du zu diesen Leuten?«
»Also eigentlich ist es ja meine Schwester Marie. Sie arbeitet für die Iranian-American Friendship League, wissen Sie, die mit dem Büro droben in Morningside Heights, und sie hat mich gebeten, diese drei Leute in Empfang zu nehmen und sie zu einer Adresse irgendwo in der Hundertzwölften West abzuliefern, wo man sich um sie kümmern wird. Es sind politische Flüchtlinge. Unglücklicherweise passierte am Flughafen eine Panne, und sie wurden getrennt, als sie in den Bus stiegen, der sie zum Westside Terminal bringen sollte, wo ich auf sie wartete, um sie aufzunehmen, und dann…«
»Allright«, sagte der Mann in dem weißen Mantel. »Ich nehme an, du bist von deiner Schwester ermächtigt, in ihrem Namen für die Entlassung zu unterschreiben, oder muß sie selber dafür noch vorbeikommen?«
»Ich kann unterschreiben. Mein Gott, sie wird so froh sein, wenn die endlich auftauchen! Sie war praktisch außer sich, seitdem Gil und Helen verschwunden waren. Marie ist eine so wundervoll mitfühlende Frau, wissen Sie.
Dermaßen hingebungsvoll in ihrer Hilfe für die Unglücklichen…«
Der Arzt kritzelte etwas in ein Notizbuch. Dann blickte er auf und wies mit dem Kinn zu Gilgamesch. »Da wir von Hilfe sprechen, gibt es bei eurer Iranischen Freundschaftsliga psychotherapeutische Einrichtungen, Programme? Dieser Mann da hat dringend eine Therapie nötig.«
»Im Ernst, Doktor?« sagte der Mann Gallagher mit ernster Stimme. »Meine Schwester wird das genauer wissen wollen. Könnten wir was Genaueres erfahren, Doktor?«
»Ich gebe euch sein Printout mit. Aber es wird euch alles ganz klar, nachdem ihr nur ein paar Minuten lang zugehört habt, wenn er redet, wie tief gestört er ist. Diese Trojanische-Helena-Phantasien, der Gilgamesch-Wahn, ganz massiv und in wahrhaft zwanghaften Einzelheiten ausgearbeitet… Heißt er tatsächlich Gilgamesch, übrigens? Ja? Nun, das spielte offenbar dann eine gewisse Rolle für die Art seiner Störung. Im Grunde handelt es sich um eine Psychose mit Wahnvorstellungen, ein geradezu klassischer Fall, sehr tief verwurzelt. Er scheint ganz in einer fremden Welt zu leben, die er sich — soweit ich das in den zwei Tagen feststellen konnte, die ich ihn hier unter Beobachtung hatte — anscheinend ungewöhnlich tief und überzeugend entwickelt hat. Wenn ich nicht so höllisch überlastet wäre, würde ich gern eine Fallstudie über ihn schreiben. Aber natürlich, der alltägliche Arbeitsdruck hier, die Routine…« Er lutschte kurz an seinem Schreibstift. »Eigentlich frage ich mich schon auch, wie er überhaupt ins Land gekommen ist, so schwer gestört, wie der Mann ist. Flüchtling oder nicht, man müßte doch annehmen, daß er gewisse Schwierigkeiten gehabt haben müßte, überhaupt ein Visum zu bekommen, wenn man an die Vorschriften des Einwanderungsgesetzes von…«
»Man machte aus Mitgefühl eine Ausnahme«, sagte Gallagher rasch. »Soweit ich informiert bin, waren diese Männer bedeutende Helden des Widerstands im Untergrund und in Anerkennung ihrer außergewöhnlichen Verdienste erhielten beide die Einreisebewilligung. Hier in Gil sehen Sie einen Mann, der die schlimmsten Folterungen durchgemacht hat, die die Henkersknechte des Ayatollah sich für ihn ausdenken konnten, und da haben wir das unvermeidliche tragische Ergebnis. Eigentlich soll er ständig in der Obhut seines Bruders Hinkadoo bleiben, verstehen Sie? Aber weil es diese blöde Verzögerung am John-Eff-Ka gab…«
»Ich verstehe, verstehe.« Der Arzt kritzelte wieder in sein Papier.
Gilgamesch schaute mit gerunzelter Stirn zu Helena hinüber, die sich an Enkidu schmiegte. Sie schien Mühe zu haben, ein Lachen zu unterdrücken. Er spürte, wie der Ärger in ihm wuchs. Erst hatte er stundenlang die Befragungen durch diese Zwerge über sich ergehen lassen müssen, diese kleinen ärgerlichen summenden Insekten — und jetzt auch noch dies, alle diese Lügen und Schwindeleien, diese langwierige und langweilige Diskussion über seine Person, als wäre er nichts weiter als ein erbarmenswürdiger Verrückter…
Natürlich, das Ganze war weiter nichts als ein Manöver, um ihn hier herauszuholen, das sah er ganz klar, aber dennoch — dennoch — wie entwürdigend, dabeisitzen zu müssen wie ein geduldiges Schaf, während dieser ganze dünne Quark über ihn verrührt wurde…
Bleib still! befahl er sich. Laß diesen Gallagher sagen, was hier nötig ist.
Doch es war einfach zuviel. Weshalb sollte er gezwungen sein, den Verrückten zu spielen, um seine Freiheit wiederzugewinnen? Er konnte nicht länger schweigen. So sehr er sich bemühte, die Worte brachen einfach aus ihm heraus: »Dieses Geschnatter beginnt mein Ohr zu beleidigen. Ich wünsche, daß das aufhört, und daß man uns sofort und ohne weitere Torheiten entläßt!«
»Aber, Bruder, Bruder!« sagte Enkidu mit einer honigsüßen Stimme, wie man sie Kindern gegenüber benutzt. »Es ist schon alles in Ordnung, Bruder! Du kannst schon sehr bald von hier fort.« Und Gilgamesch verspürte einen kurzen heftigen Kick gegen seinen Fußknöchel. »Es geht nur noch um ein paar unbedeutende Formalitäten, um die sich Mister Gallagher kümmern wird — und danach bringen wir dich hier weg und an einen höchst angenehmen Ort, wo es dir richtig gutgehen wird, und Mister Gallaghers Schwester wird dir dort alles geben, was du nötig brauchst, und wo du Hilfe erhalten wirst für alles, was dich quält — und ein weiches Bett, ein ruhiges Zimmer und Medizin, die dein verwirrtes Gemüt besänftigen wird…«
Du verdammter schäbiger Hund! dachte Gilgamesch rasend vor Zorn. Das werde ich dir heimzahlen!
Doch dann sah er das lustige Funkeln in Enkidus Augen, und sein Zorn schmolz dahin, und sein Herz floß über vor Liebe für seinen Freund, der zu ihm hierher geeilt war, um ihn zu retten, und in ihm stieg ein Lachen mit solcher Heftigkeit auf, daß er zu kämpfen hatte, es zu unterdrücken.
Die Nacht begann schon hereinzubrechen, als sie endlich aus diesem Haus waren. Vom Fluß hinter ihnen blies ein kalter Wind herüber, und Lichter blitzten wie Millionen von kleinen Sonnen an den turmhohen Gebäuden ringsum. Lärm dröhnte von allen Seiten, eine unglaubliche Kakophonie, ein Mißgetön und Brüllen und Kreischen und Hupen. Gilgamesch fühlte ein wildes Pochen hinter der Stirn. Diese Welt, in die Enkidu ihn gebracht hatte, war ihm wie ein Witz, ein sehr schlechter Witz, der sich fort und weiterspinnt und kein Ende zu finden droht.
Wenn dies hier das Land der Lebenden ist, dachte Gilgamesch, dann ist mir doch sogar die Nachwelt lieber. Er überlegte sich, was geschehen würde, wenn er sich vor eines dieser heranbrausenden Fahrzeuge stürzte. Vielleicht würde er sofort sterben und an den Ort zurückkehren, an den er gehörte. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht konnte einer nie wieder zurück, sobald er die Nachwelt einmal verlassen hatte, und er war wegen seines Frevels dazu verdammt, die restliche Ewigkeit hier an diesem Ort zuzubringen. Aber das würde wirklich die Hölle sein. Sie würden ihn zusammenflicken und ihn erneut hinausstoßen in dieses abscheuliche Lebendenland, und wieder und wieder und noch einmal und immer wieder in dieses endlose Leben.
Ist es denn mein Schicksal, dachte er, immer und allerwege ruhelos zu sein und unbefriedigt, in welcher Welt ich auch landen mag? Werde ich denn nie wieder Ruhe und Frieden finden?
Gallagher sagte dann: »Also, schön, da sind wir, frei wie die Vögel des Himmels, vogelfrei. Allerdings hat es leider fünfmal länger gedauert, als nötig gewesen wäre, um euch Burschen loszueisen.« Er schüttelte den Kopf. »Verdammt, schon halb fünf, und wir sind hier am Arsch des Teufels in der First Avenue, und ich muß bald den Club aufmachen…«
Wer ist dieser Mensch, überlegte Gilgamesch, den Enkidu gefunden hat?
Gallagher redete die ganze Zeit weiter, und es schien ihn nicht zu kümmern, ob sie ihm zuhörten oder irgend etwas verstanden. »Ach, dann machen wir eben heute ‘n bißchen später auf. Wenigstens haben wir deine Freunde losgeeist, Hinky, und das ist erst mal am wichtigsten. Ich hab mich fast vollgepißt, als dieser Psychiaterbubi am Ende, als ich schon dachte, wir hätten’s geschafft, nach der Telefonnummer meiner Schwester und der Adresse der Iranian-American Friendship League fragte…«
»Aber du hast ihm doch die Telefonnummer genannt«, sagte Enkidu.
»Meine Schwester lebt in Los Angeles. Die Nummer, die ich ihm gab, ist die von ‘nem Mädchen, das ich mal kannte, hat an der Columbia Examen gemacht.«
»Und die Adresse, die du ihm genannt hast?«
»Von der Iranisch-Amerikanischen Freundschaftsliga? Jesus! Ich weiß nicht mal, ob es sowas überhaupt gibt. Ich hab’ mir das einfach ausgedacht. Aber, was soll’s, Gil, du bist da raus, und das zählt.« Gallagher streckte Gilgamesch die Hand hin. »Es freut mich, daß ich helfen konnte. Jeder Freund von Hinkadoo ist auch mein Freund. Ich bin Bill Gallagher, Manager vom Club Ultra Ultra in der Vierundfünfzig-West.«
Gilgamesch ergriff die Hand und schüttelte sie.
»Gilgamesch, Sohn des Lugalbanda«, sagte er. »Ehemals König von Uruk.«
»Freut mich enorm, dich kennenzulernen, Gil. Und das ist Helena von Troja?«
»Ich heiße Helena, ja.«
»Ich bin wirklich entzückt, Helena. So, jetzt biegen wir westlich ab in die Vierunddreißigste. Um die Zeit kriegen wir bestimmt nie ein Taxi, aber vielleicht sind die Chancen hier besser als in den kleinen Straßen.« Gallagher lachte. »Bloß so’n illegaler Fremder, das hat mir nicht gereicht, nehm’ ich an. Ach, was soll’s, zum Teufel. Hört mal, ihr könnt alle drei für ‘ne Weile im Club bleiben, wenn ihr das wollt, aber ich habe da bloß das eine Zimmer für euch alle, also müßt ihr euch verdammt schnell um ein Hotel kümmern oder sonstwas, okay? Und um irgend sowas wie ‘nen Job. Im Club brauchen wir eigentlich keine zwei Rausschmeißer, aber vielleicht könnt ihr zwei beiden euch ja abwechseln, einen Tag Hinky, dann Gil, und der andre kann vielleicht hinten aushelfen. Bei zwei solchen Brocken, wie ihr es seid, kommt bestimmt kein Kunde auf dumme Gedanken. Paßt dir das, Gil, he? Nummer Zwei Rausschmeißer im Ultra Ultra?«
»Spricht der Mann zu mir?« fragte Gilgamesch.
»Sie reden alle sehr hastig hier«, erklärte Enkidu.
»Doch ich beginne zu verstehen, was sie sagen.« Er wandte sich zu Gallagher. »Er freut sich über den Job, Bill. Ja. Sehr.«
»Fein. Und du, Helen? Du brauchst auch ‘ne Art Arbeit. Meinst du, du könntest oben-ohne?«
»Oben ohne…?«
»Du weißt schon. Strippen. Haut zeigen. Die Kugeln kullern lassen.«
Helena blickte ihn fest an. »Habe ich das richtig verstanden? Du meinst, ich soll mich vor anderen Leuten ausziehen? Meinst du das mit ›oben-ohne‹?« Sie lachte. »In dem Gedicht, das sie über mich schrieben, waren die Türme oben ohne, nicht ich.«
»Was?«
»Die Türme. Die nackten Türme Ilions.«
Gallagher sagte: »Hilf mir auf die Sprünge, Hinkadoo. Was redet sie da?«
Helena antwortete: »Aber du weißt doch: Das Angesicht, das tausend Schiffe in Bewegung setzte…«
»Aha. Ein Gedicht«, sagte Gallagher zweifelnd. »Über dich, meinst du?« Er überlegte. ›»War dies das Angesicht, das tausend Schiffe in Bewegung setzte‹ — Und das handelt von Helena von Troja?«
»Ja.«
»Und du bist…?«
»Es ist ein Witz«, mischte Enkidu sich ein. »Sie tut gern so, als wäre sie die Trojanische Helena. Genau wie mein Gilgamesch gern so tut, als ob er Gilgamesch ist, der König, der vor langer Zeit in Sumer herrschte. Ein Witz, ein Scherz, verstehst du, Bill? Bloß ein Witz.«
»In Ordnung«, sagte Gallagher.
Wie leicht Enkidu die Ortssprache angenommen hat, dachte Gilgamesch. Wie glatt ihm die Lügen von der Zunge gehen!
Es ist bloßer Lärm, dachte er. Alles in dieser Welt Gesagte und Getane ist sinnleerer Lärm, gewichtloses Getöse ohne Bedeutung. Und der Lärm wurde von Augenblick zu Augenblick unerträglicher. Das Brüllen, das Dröhnen, das Hupen, das Geschrei — er glaubte, das Herz müßte ihm vor soviel Wahnsinn zerspringen. Und doch kümmerte Enkidu sich gar nicht darum, und Helena ebenfalls nicht. Sie plauderten fröhlich immer weiter, redeten so rasch mit diesem Mann Gallagher für Gilgamesch unverständliche Worte, so daß es ihm vorkam, als wären auch ihre Worte ein verschwommener Lärm. Er blickte Enkidu verzweifelt an, doch Enkidu lächelte nur und plapperte weiter. Gilgamesch zitterte. Er hatte jetzt ein Dröhnen in den Ohren, in seinem Kopf, in der Brust. Die Lichter der großen Häuser blinkten irre, wie außer Kontrolle geratene Leuchtfeuer. Überall um ihn herum stiegen Stimmen auf und erloschen wieder, bald donnernd wie Wasserfälle, bald ersterbend zu einem unheimlichen Flüstern. Völlig fremde Menschen auf der Straße zeigten auf ihn, stießen sich mit den Ellbogen an und lachten.
Ich werde verrückt, dachte Gilgamesch.
Götter, gibt es keinen Weg, um von hier zu verschwinden? Ich bin es überdrüssig! Es ist Zeit, weiterzuziehen, ich muß von diesem Ort entkommen, oder ich gehe zugrunde. Ich will mich niederwerfen, mich unterwerfen — ja, ich will um Erlösung flehen…
Einst hatte er sich gewünscht, ewig zu leben, und das war ihm versagt worden, denn am Ende seiner Tage im ersten Uruk war er gestorben, hoch an Jahren und geliebt von seinem Volk; aber dieser Tod hatte nur zu einer neuen Geburt geführt, in einer Welt, in der es den Anschein hatte, als werde er wirklich ewig leben; aber als er das so heftig ersehnte Ewige Leben erlangt hatte, schien es ihm ohne Saft und Geschmack, und er konnte sich nicht damit zufriedengeben. Und darauf beschloß er, in das Land der Lebenden zurückzukehren. Und hier war er nun. Ach, dachte er, wenn ich doch nur von meiner Fahrt entbunden werden könnte, ich würde nicht länger ruhelos sein, ich würde mich mit Freuden zur Ruhe setzen und ablassen von meinem Fragen und Suchen. Ja! Ja, das würde ich!
Und nun schwoll ein Gebet in ihm an wie ein Fluß. Er, der in den Tausenden Jahren seines Lebens nach dem Leben nicht mehr gebetet hatte, demütigte sich nun vor den Göttern, die er einst verehrt hatte.
Enki, verschone mich! Enlil, Gewaltiger, befreie mich! Lugalbanda, Vater — gewähre mir Frieden!
Aber als Antwort kam ihm nur das mißtönende Getöse der Straße entgegen und die üblen Dünste, die erstickend in der Luft hingen, und das summende Geschnatter von Gallagher und Enkidu und Helena.
Und wieder schloß er die Augen und richtete sein Flehen zu den Großen Göttern Sumers und zu seinem Göttlichen Vater Lugalbanda. Und er öffnete die Augen wieder und schaute ohne Hoffnung wieder hinaus in den häßlichen Haufen von Schmutz und Unflat, der das ›Land der Lebenden‹ hieß.
Aber dann erblickte er etwas vor sich, das in seinem Innern eine große Fremdheit bewirkte, als wollte die Erde aufbrechen und explodieren, und um ihn herum begann alles wirbelnd zu kreisen. Er blinzelte heftig. Er hielt die Luft an. Und während er mit dem Arm die Straße hinab deutete, sagte er. »Enkidu? Siehst du den Mann dort?«
»Welchen, Bruder? Da sind so viele.«
»Den dort mit dem roten Gesicht und der breiten Brust, da drüben. Gewiß haben wir den schon einmal getroffen — in der Nachwelt…«
»Ich bin nicht sicher, welchen du…«
»Da! Dort drüben! Er war am Hof des Priesterkönigs Johannes, erinnerst du dich nicht? Er war der Gesandte von König Heinrich. Er und der andere Mann, der mit dem merkwürdigen langen Gesicht — der trug den Namen Howard, ich erinnere mich nun, Robert Howard…«
»Hier an diesem Ort? Wie wäre das möglich? Hier ist das Land der Lebenden, Bruder.«
»Aber ich sage dir, es ist der Mann!« beharrte Gilgamesch. »Oder sein Zwillingsbruder.«
Erschüttert schaute er in die wachsende Dämmerung. War es möglich? Vielleicht spielten ihm seine Augen einen Streich. Wie konnte der Mann Robert Howard denn an diesem Ort sein, wie sollte es möglich sein, daß er sich genau in der selben Straße befand wie er, in dieser einen unter den Tausenden chaotisch vollgestopften Straßen dieser Stadt in dieser chaotischen übervölkerten Welt? Es muß ein Trugbild der anbrechenden Nacht sein, dachte er. Oder mein Erinnerungsvermögen täuscht mich.
Aber nein — nein! — auch der rotgesichtige Mann wies mit dem Arm auf ihn, auch er starrte, wie vom Schlag gerührt, zu Gilgamesch herüber — dann kam er wild auf Gilgamesch zugerannt, stieß die anderen Passanten beiseite…
»Conan!« schrie der Mann. »Bei Crom! Du bist es, Lord Conan! Hier bin ich — ich komme, ich komme!«