14

Sabartes fragte: »Was ist es, Pablo, weshalb bist du in der letzten Zeit so aufgeregt? Ist es deine neue Geliebte? Oder weil wir endlich einen Stierkampf veranstalten können?«

»Du findest, ich wirke aufgeregt, Bruder?«

Mit einer schweifenden Handbewegung deutete Sabartes auf die im ganzen Atelier verstreuten Skizzenblätter, die sechs, sieben neuen, halbfertigen Leinwände, die an der Wand lehnten, die leuchtenden Farbflecken überall, wo Picasso Farbbüchsen umgeworfen hatte, ohne sich in seiner Schöpfereile darum zu kümmern, sie aufzuwischen. »Du bist wie einer, der brennt. Du arbeitest ohne Unterbrechung, Pablo.«

»Ach? Und das ist etwas Neues?« Picasso wühlte achtlos in einem Stapel amtlich aussehender Papiere, fand ein Blatt, dessen Rückseite leer war, und zeichnete rasch eine Karikatur seines Freundes, die hohe Stirn, die dicken Brillengläser, den weichen fleischigen Hals. Zu seinem Erstaunen sah er, daß er den alten pedantischen Sabartes der letzten Erdenjahre skizzierte, nicht den absurd jugendlichen Bohemien, der da vor ihm stand. Und dann verwandelten ein paar unbedachte hastige Striche die Zeichnung, und es wurde ein Dämon mit feurigem Rachen und Hauerzähnen daraus. Picasso zerknüllte das Blatt und warf es weg. Er sagte: »Sie wird bald erscheinen. Wolltest du mir etwas sagen?«

»Aha. Dann ist es also die Frau, Pablo.«

»Sie ist grandios, nicht wahr?«

»Sie waren alle grandios. La Belle Chelita war grandios, die aus dem Stripteaselokal. Fernande war grandios. Eva war grandios. Marie-Therese war grandios. Dora Maar war auch…«

»Basta, Sabartes!«

»Ist nicht bös gemeint, Pablo. Mir ist nur eben klar geworden, daß Picasso sich eine neue Frau erwählt hat, eine Frau, die ebenso wundervoll ist wie die vor ihr, und…«

»Du sollst mich Ruiz nennen, Bruder!«

»Es fällt mir schwer«, sagte Sabartes. »Sehr schwer.«

»Ruiz war der Name meines Vaters. Ein durchaus ehrenwerter Name für mich.«

»Die Welt kannte dich als Picasso. Die ganze Nachwelt wird dich auch als Picasso kennen im Laufe der Zeit.«

Picasso schnitt eine Grimasse und begann eine neue Skizze von Sabartes, die sich ohne sein Zutun fast sogleich und ohne daß er etwas dagegen tun konnte, in ein Porträt von El Greco verwandelte, das langgezogene Gesicht, die tiefliegenden sorgenvollen Augen, und dann, zu seinem Ärger, in ein Bocksgesicht. Wieder schleuderte er das Blatt beiseite. Diese Metamorphosen hätten ihn nicht gestört, wenn er sie beabsichtigt hätte. Aber so, das war unerträglich, daß er keine Kontrolle darüber besaß. In seinem vorherigen Leben hatte er gern zu Leuten gesagt: Das Malen ist stärker als ich. Das Bild zwingt mich, zu machen, was es will. Jetzt wurde ihm bewußt, daß er damals nicht die Wahrheit gesagt haben konnte; denn jetzt geschah ihm das wirklich, haargenau das, und es paßte ihm überhaupt nicht.

Er sagte: »Ich ziehe es jetzt vor, hier als Ruiz bekannt zu sein. Damit mich hier keiner meiner Erben ausfindig machen kann. Sie sind sehr zornig auf mich, Bruder, daß ich kein Testament hinterlassen habe, so daß sie jahrelang vor Gerichten herumstreiten müssen. Ich möchte lieber keinen von denen treffen. Auch keine von diesen Weibern, die nach mir suchen. Wir schreiten weiter, Sabartes. Wir dürfen uns nicht von der Vergangenheit verfolgen lassen. Ich bin jetzt Ruiz.«

»Und du glaubst, wenn du dich anders als Picasso nennst, kannst du deiner Vergangenheit entrinnen, obwohl du immer noch aussiehst wie er, dich wie er verhältst und Tag und Nacht malst? Pablo, Pablo, du betrügst dich selber! Du könntest dich Mozart nennen, aber du würdest immer noch Picasso bleiben.«

Das Telefon klingelte.

»Geh du ran!« befahl Picasso scharf.

Sabartes gehorchte. Nach einer Weile legte er die Hand über die Muschel und blickte auf.

»Es ist deine Sumer-Priesterin.«

Picasso beugte sich vor, gespannt, besorgt und bereits grimmig. »Sie sagt die Sitzung ab?«

»Nein, nichts dergleichen. Sie wird in Kürze hier sein. Doch sie sagt, König Dumuzi hat sie für heute abend zu seinem Bankett im Königssaal befohlen und du bist als ihr Tischherr geladen.«

»Was habe ich mit König Dumuzi zu schaffen?«

»Sie bittet dich, sie zu begleiten.«

»Ich habe zu arbeiten. Ihr wißt doch, daß ich kein Mann bin, der sich auf den Festen von Königen herumtreibt.«

»Soll ich ihr das sagen, Pablo?«

»Sag ihr — nein, warte! Warte! Laß mich überlegen. Rede mit ihr, Sabartes. Sag ihr — bitte sie — nein, sag ihr, der König und sein Fest interessierten mich nicht, und ich will, daß sie sofort hier erscheint, daß… daß…«

Sabartes hob die Hand und bedeutete ihm zu schweigen. Dann sprach er ins Telefon, lauschte und blickte wieder auf.

»Sie sagt, das Fest findet zu Ehren ihres Sohnes statt, der heute in Uruk eingetroffen ist.«

»Ihr Sohn? Was für ein Sohn?« Picassos Augen loderten. »Sie hat kein Wort von einem Sohn gesagt! Wie alt ist er? Wie heißt dieser Sohn? Wer ist sein Vater? Frag sie das, Sabartes! Frag sie schon!«

Wieder sprach Sabartes in den Apparat. »Er heißt Gilgamesch«, berichtete er dann. »Sie hat ihn seit ihrem irdischen Leben nicht mehr gesehen, also vor sehr langer Zeit. Ich finde, du solltest sie nicht bitten, die Einladung des Königs abzulehnen, Pablo. Und ich denke, auch du selbst solltest hingehen.«

»Gilgamesch?« fragte Picasso verwundert. »Gilgamesch?«



Buntbemalte Motorkutschen beförderten sie das kurze Stück Weg von der Herberge zum königlichen Festsaal am anderen Ende des Tempelplatzes. Der Bau verwirrte Gilgamesch, denn er war keineswegs im sumerischen Stil; es war ein großes hochragendes Ding aus aschgrauem Stein, mit zwei schmalen Spitzen, die sich höher in den Himmel reckten als irgendeiner der üppigen skurrilen Türme auf Brasil, und mit Spitzbögen über den schweren Bronzetüren und riesenhaften Fenstern aus Buntglas in allen Regenbogenfarben und ein paar mehr dazu. Die Fassade war von dämonischen Steinungeheuern geschmückt. Und manche davon schienen sich langsam zu bewegen. Der Palast war sehr beeindruckend und riesig und kompakt, aber zugleich wirkte er irgendwie merkwürdig zerbrechlich, und Gilgamesch überlegte sich, was ihn vor dem Einstürzen bewahrte, bis er die gewaltigen Strebepfeiler an den Seiten sah. Es paßte so recht zu Dumuzi, sich einen Palast bauen zu lassen, der solche verzweifelten improvisierten Stützen nötig hatte, dachte Gilgamesch. Er fand den Anblick scheußlich. Das Gebäude brach schrill aus der urukanischen Klassik der umliegenden Bauten aus. Sollte ich in dieser Stadt je wieder König werden, schwor er sich, wird meine erste Amtshandlung der Befehl zum Abbruch dieses scheußlichen Steinhaufens sein.

Herodes schien den Bau zu bewundern. »Die vollendete Nachbildung einer gotischen Kathedrale«, erklärte er, als sie hineingingen. »Vielleicht nach der Notre Dame, oder der in Chartres, ich bin nicht sicher. Ich beginne allmählich manches zu vergessen, was ich einst über Baukunst lernte. Ich genoß da einigen Unterricht, mußt du wissen, von einem Mann namens Speer, einem Germanen, der vor einiger Zeit durch Brasil kam und ein paar Sachen für Simon entwarf — ein merkwürdiger Kerl, er fragte mich immer wieder, ob er mir nicht eine Synagoge bauen könnte — wozu hätten wir in der Nachwelt eine Synagoge brauchen können? Aber er verstand etwas von der Sache, und er brachte mir allerlei über die baulichen Stilrichtungen der Später Toten bei. Du wärest erstaunt, Gilgamesch, was für Bauten diese Leute…«

»Kannst du mal eine Weile den Mund halten?« fragte Gilgamesch.

Im Innern besaß das Gebäude tatsächlich eine gewisse Schönheit, fand er. Zu dieser Stunde glühte die Sonne noch rötlich am Himmel, und ihr weiches Licht fiel durch die farbigen Glasfenster und tauchte die hallenhaft weiten offenen Räume des Palasts in ein feierlich-geheimnisvolles Dämmerlicht. In der Höhe schwangen sich, atemberaubend in ihrer Erhabenheit, Reihen von Galerien zu der kaum sichtbaren Spitzbogendecke hinauf. Dennoch besaß das Ganze etwas Bedrückendes, etwas Unheimliches. Gilgamesch zog den Tempel, den er zu Ehren Enlils erbauen ließ, bei weitem vor. Er konnte sich noch gut an ihn erinnern, wie er sich über der Weißen Plattform im Zentrum des alten Uruk erhob. Dieser Bau hatte Grandeur besessen und Würde! Diese Später Toten verstanden nichts von Schönheit.

Dumuzis Diener geleiteten sie ans andere Ende des Palastes, wo am Ende eine weite abgerundete Kammer sich auftat, die an einer Seite Buntglasfenster hatte, an der anderen offen war. Dort war eine festliche Tafel aufgestellt, und Dutzende von Gästen waren bereits versammelt.

Gilgamesch erblickte Dumuzi sogleich. Er stand in prachtvoller Kleidung am Kopfende der gewaltigen Steintafel.

Er hatte sich überhaupt nicht verändert. Er sah gut aus, richtig königlich in seiner Haltung, ein lebensvoll wirkender Mann mit vollem, schwerem Bart und dichtem, welligem Haar, das so dunkel war, daß es beinahe blau wirkte. Doch die Lippen seines Mundes waren zu voll, die Wangen zu weich; die Augen waren zu klein und sahen gleichzeitig verschlagen und stumpf aus. Er wirkte weichlich, unangenehm, unzuverlässig, von niederer Gesinnung.

Doch als er Gilgamesch erspähte, trat er von seinem erhabenen Platz herab, als wäre nicht er, sondern Gilgamesch der König, trat neben ihn und sah mit gebogener Kehle zu ihm auf, schief und ohne das Unbehagen zu verhehlen, das ihm Gilgameschs Körpergröße verursachte, und er grüßte ihn freudig mit lauter Stimme wie einen Bruder, der nach langer Abwesenheit aus der Ferne zurückgekehrt ist.

»Gilgamesch — endlich! Hier bei Uns in Unserem Uruk! Heil dir, Gilgamesch! Heil!«

»Dumuzi, Heil«, antwortete dieser mit so großer Begeisterung, wie er über sich brachte, was nicht übermäßig viel war, und vollzog eine Geste der Ehrerbietung wie man sie im alten Land Sumer wohl gegenüber einem König bezeugt hätte. »Großer König, König der Könige…« Er entdeckte flüchtiges Erstaunen bei Dumuzi. Aber Dumuzi war König in dieser Stadt, und einem König stand die gebührende Höflichkeit zu; jedem König. Auch Dumuzi.

»Komm, mach mich mit deinen Freunden bekannt, Gilgamesch. Und dann mußt du neben mir auf dem Ehrenplatz sitzen und mir alles berichten, was dir in der Nachwelt begegnete und widerfuhr, und von den Städten, die du besuchtest, den Königen, die du trafst, den Taten, die du vollbrachtest. Ich will alle deine Neuigkeiten hören — wir sind hier dermaßen isoliert zwischen der Wüste und dem Meer —, doch einen Augenblick, da sind Leute, die du kennenlernen mußt…«

Dumuzi schob den Arm unter den Gilgameschs, wandte Simon und Herodes den Rücken, die mit offenem Mund verärgert dastanden, und schleppte ihn mit beinahe krankhafter Hast an die Tafel. Gilgamesch hatte Mühe, den Mann nicht mit einem Hieb für diese unverschämte Übervertraulichkeit zu Boden zu strecken. Aber er ist ein König, mahnte er sich selbst. Er ist König.

Es war allzu leicht, hinter diese verzweifelte Großspurigkeit des Mannes zu schauen. Der Mann bebte vor Furcht. Der Mann zappelte sich heftig ab, um die Kontrolle über eine Situation zu erlangen, die ihm als unendlich bedrohlich erscheinen mußte.

Tausende von Jahren in der Nachwelt hatte er Zeit und Muße gehabt, um über die beschämende Wahrheit nachzudenken, daß er in seinem früheren Leben nichts weiter gewesen war als der kraftlose, entscheidungsunfähige Lückenbüßer zwischen dem Auftreten zweier großer Heroen, Lugalbanda und Gilgamesch, weiter nichts als ein historischer Gedankenstrich. Und nun war er erneut König, war dank eines rätselhaften Gesetzes des Unvermögens erneut zu seiner vormaligen Höhe emporgekommen. Und da war jetzt erneut dieser bedrohliche Brocken Gilgamesch, zu dessen Gunsten er bereits einmal früher verworfen worden war, und kam hierher nach New Uruk wie ein ungebetenes Gespenst und verlangte Gastfreundschaft.

Selbstverständlich würde Dumuzi Herzlichkeit demonstrieren, überschwengliche Herzlichkeit. Dennoch, dachte Gilgamesch, war es vielleicht keine schlechte Idee, sich, solange man in Dumuzis Stadt war, den Rücken bedeckt zu halten. Feiglinge sind gefährlicher als Helden, denn sie greifen ohne faire Warnung an; ein Dumuzi in seiner Ängstlichkeit und seinem Groll konnte eventuell mehr Schaden anrichten, als Achilles in seinem rasenden Zorn es je zuwege brachte.

Einen Augenblick später verflogen diese trübseligen Überlegungen aber vollkommen, denn eine Stimme, die er seit mehr Jahrhunderten, als er noch zählen konnte, nicht mehr gehört hatte, die aber so anders war als die irgendeines anderen Mannes, daß man sie nicht einmal hier je hätte vergessen können, drang von der anderen Seite des Raumes zu ihm und rief ihn bei seinem Namen.

»Gilgamesch! Gilgamesch! Bei der Mutter, du bist es wirklich? Beim Reißzahn! Bei den Hörnern Gottes! Gilgamesch! Hier!«

Gilgamesch spähte. Nahe dem oberen Ende der Tafel war ein Mann aufgestanden und breitete ihm weit die Arme zur Begrüßung entgegen.

Zuerst dachte er, das müsse ein Später Toter sein, denn in der ganzen weiten Halle trug dieser Mann als einziger die befremdliche offizielle Abendkleidung der zuletzt hier eingetroffenen Zugezogenen, eine Kleidungsart, die als ›Geschäftsanzug‹ bezeichnet wurde: Enge graue Beinkleider, die sich dicht an die Schenkel schmiegten, und ein steif wirkender breitschulteriger halblanger Mantel, nicht regelrecht eine Tunika aus dem gleichen dichtgewobenen grauen Wollstoff, darunter ein weißes Kleidungsstück und ein schmaler blauer Stoffstreifen, den er um den Hals geknotet hatte und der ihm auf die Brust herabhing. Und der Mann war außerdem groß, wie dies bei den Später Toten oft der Fall war — weit größer als irgendeiner der Sumerer im Saal, außer Gilgamesch selbst.

Doch diese Stimme war unverkennbar. Es war eine Stimme, die aus der grauen Dämmerung der Zeit heraufkam, aus der verschwundenen Welt vor der Großen Flut, und die Stimme drang scharf und klar durch den weiten Saal wie eine Messingtrompete. Keiner der Später Toten hatte je über eine solche Stimme verfügt.

Auch das magere Gesicht, obschon glattrasiert, war nicht das eines Später Toten. Die Haut hatte jenen polierten Ton, den man in einer Welt voll Wind und Schnee ohne Wärme bekommt. Die Wangenknochen waren breit und kräftig, die Lippen voll, die Nase gerade und stark vortretend, der Mund ungewöhnlich breit. Auch die Augen saßen weit auseinander, und eine Augenhöhle war leer: Eine alte Narbe bedeckte kreuzweise die linke Gesichtshälfte.

Der Mann war König des in Höhlen lebenden Eisjägervolkes gewesen, in der Zeit vor der Zeit, da sogar die Götter noch jung waren; und einst in der Nachwelt hatte Gilgamesch ihn gut gekannt.

Gilgamesch spürte ein fröstelndes Erstaunen. Wie lange lag das zurück, daß sie höchst vergnüglich in der weiten zugigen Festhalle der Eismänner droben im Norden der Nachwelt geschmaust — der weiten Höhle, die von wolligen Tierfellen behangen war und wo die riesigen krummen Stoßzähne der behaarten Elefanten wie Stroh auf dem Boden lagen, wo der dicke Met in Strömen floß und die rauchenden Feuer hoch brannten? Tausend Nachweltjahre? Dreitausend? Es war in seiner frühen Zeit, jener schlichteren, einfacheren Zeit, die nun für immer verloren schien.

»Vy-otin!« rief Gilgamesch laut. Mit einem Jubelschrei stürzte er vor, sprang auf das Podium, auf dem die Festtafel stand, und breitete die Arme zu einer herzlichen Umarmung aus.

»Du hast also nicht vergessen«, sagte der Eisjäger. »Ich glaubte für einen Moment, du kennst mich nicht mehr.«

»Nein, bei den Brüsten der Inanna, wie könnte ich dich jemals vergessen! Die alten Erinnerungen sind heller als alle späteren. Das verflossene Jahr ist mir ganz verschwommen im Gedächtnis, aber diese alten Tage, Vy-otin, du und ich und Enkidu und Minos und Agamemnon…«

»Ach ja. Aber einen Augenblick lang sahst du zweifelnd drein, Gilgamesch.«

»Deine Kleidung, dieses Zeug der Später Toten, hat mich verwirrt«, sagte Gilgamesch vorwurfsvoll. »Du, der lebte, als die Welt jung war und die gewaltigen Zotteltiere umherzogen, als sogar Sumer nichts weiter war als sumpfiges Marschland — du bedeckst deinen Leib mit der geschmacklosen Kleidung der Kreaturen des zwanzigsten Jahrhunderts, wie einer von diesen Typen — wie bezeichnen sie das? — A. D.?« Er sprach es aus, als wäre es ein Schimpfwort. »Ich erinnere mich an einen Mann in Pelzkleidern, Vy-otin, mit einer Halskette aus Eberhauern und mit Armreifen von schimmernden Knochen, nicht aber an dies — an diese Verkleidung als Businessman!«

Vy-otin lachte. »Das ist eine lange Geschichte, Gilgamesch. Außerdem heiße ich jetzt nicht mehr Vy-otin, sondern Smith. Hier im Saal kannst du mich bei meinem wirklichen Namen nennen. Aber in den Straßen von Uruk heiße ich Smith.«

»Smith?«

»Ja, Henry Smith.«

»Ist das ein Name bei den Später Toten? Wie häßlich er klingt!«

»Es ist ein Name, den sich keiner länger als fünf Minuten lang merken kann, nicht einmal ich selber. Henry Smith. Setz dich her zu mir, und wir trinken zusammen ein paar Fläschchen von Dumuzis Wein, und ich erzähle dir, weshalb ich mich so verkleide und mich Smith nenne.«

»Ich ersuche dich, Vy-otin, mit deiner Geschichte noch ein Weilchen zu warten«, sagte Dumuzi, der neben sie getreten war. »Da ist noch jemand, den Gilgamesch zuerst begrüßen muß.«

Er faßte Gilgamesch am Ellbogen und deutete zur anderen Seite der Tafel. Dort hatte sich eine Frau von ihrem Sitz erhoben, eine wunderschöne dunkelhaarige Frau von prachtvoller Gestalt und königlicher Haltung, die ihnen ruhig entgegenlächelte.

Ein wunderbares Geschöpf, strahlend, schön, mit leuchtenden Augen und dem Gehabe einer Göttin. Es war, als verströmte sie Licht um sich. Sie war eindeutig sumerisch, ihr Gesicht und auch ihre Kleidung verrieten es. Sie trug das Gewand einer Priesterin des Himmelsvaters An. Sie war etwa in Gilgameschs Alter, schien es, vielleicht ein, zwei Jahre jünger als er. Ihr Gesicht kam ihm vertraut vor, doch er vermochte es nicht unterzubringen. Nach ihrer Größe und majestätischen Haltung war sie sicherlich von königlichem Blut, und ihr Gesichtsschnitt sagte ihm, daß sie sogar eine Verwandte von ihm selbst sein konnte. Vielleicht eine seiner leiblichen Töchter? Aber er hatte so viele davon gezeugt. Oder die Enkeltochter einer Urenkeltochter aus der zehnten Generation? Denn hier im Uruk der Nachwelt lebten wie überall hier Leute der unterschiedlichsten Zeitabschnitte ganz durcheinander, und man konnte an jeder Wegbiegung auf irgendwelche entfernte Verwandte stoßen, uralte Ahnen, die hier nur wie kleine Knaben wirkten, und Enkelkinder, die aussahen, als verdämmerten sie in ihrer Senilität.

Dumuzi sagte: »Magst du nicht zu ihr gehen und ihr deine Aufwartung machen, Gilgamesch?«

»Aber gewiß doch. Nur…«

»Du zauderst?«

»Ich kenne sie irgendwie, Dumuzi. Aber ihr Name fällt meiner Zunge nicht ein, und es beschämt mich, daß ich mich nicht an ihn erinnere.«

»Und mit Recht schämst du dich, Gilgamesch, daß du deiner eigenen Mutter vergessen hast!«

»Meine Mutter?« Gilgamesch flüsterte es heiser.

»Die große Königin Ninsun. Sie ist es, keine andere. Bist du nicht bei Sinnen, Mann? Geh zu ihr! So geh doch zu ihr!«

Gilgamesch sah benommen und ehrfürchtig zu der Frau hin. Und natürlich war es jetzt klar. Natürlich. Die Jahre zerfielen und verschwanden, als wären sie nie gewesen, und er erblickte das Gesicht seiner Mutter — unverkennbar das Gesicht der göttingleichen Gattin Lugalbandas, des Königs von Uruk — das Antlitz dieser großartigen Frau, die den Helden Gilgamesch in die Welt geboren hatte.

Und dennoch… dennoch…

Was uns doch die Nachwelt für Tricks zu bieten hat, dachte er. In den hundert Lebensperioden seines Zweiten Lebens hatten sich ihrer beider Wege nie gekreuzt. Soweit er sich zu erinnern vermochte, hatte er seine Mutter seit jener Zeit in jener langvergangenen anderen Welt nicht mehr gesehen; und er erinnerte sich an sie, wie sie in ihren späten Jahren war, immer noch majestätisch, königlich, doch die Haare weiß wie der Sand, das Gesicht gezeichnet und voller Falten, und hier war sie nun wieder in ganzer kraftvoller Schönheit, nicht jugendlich, aber durchaus nicht alt, sondern eine Frau in voller Lebensreife. Als er sie zuletzt so sah, war er noch ein Kind gewesen. Kein Wunder, daß er sie nicht erkannte.

Aber nun eilte er zu ihr und sank vor ihr auf die Knie, und es kümmerte ihn nicht, was die anderen sahen oder denken mochten. Er hob den Saum ihres Kleides und preßte die Lippen darauf. Die Tausende Jahre seiner Wanderungen durch dieses miserable grausame Land schrumpften ihm zu einem Nichts, und er war wieder der Knabe, der aus seinem ersten Leben, und die Mutter-Göttin war ihm zurückgeschenkt und stand vor ihm, strahlend und voll Wärme und Liebe.

Weich und leise sprach sie seinen geheimen Namen, seinen Geburtsnamen, den niemand außer ihr sagen durfte. Dann befahl sie ihm, sich zu erheben, und er ragte in seiner ganzen Länge auf und schlang die Arme um sie und drückte sie an seine Brust, denn so groß gewachsen sie war, neben ihm wirkte sie wie ein Kind. Nach einiger Zeit gab er sie frei, und sie trat zurück und betrachtete ihn.

»Ich war schon fast verzweifelt, daß ich dich nie wiedersehen würde«, sagte sie. »An jedem Ort, an dem ich in der Nachwelt gelebt habe, hörte ich Geschichten über den großen Gilgamesch, doch nie, niemals, kein einzigmal war ich gerade dort, wo du warst, es sei denn daß mich mein Bewußtsein trog, und in diesem Augenblick glaube ich nicht, daß dem so war. Einmal habe ich Enkidu gesehen, aus der Ferne, in einer gewaltigen tobenden Menschenmenge, ich glaube es war in New Albion, oder im Reich Logres, oder vielleicht der Ort namens Phlegethon, glaube ich. Ich habe es vergessen. Doch wir wurden getrennt, bevor ich ihn rufen konnte. Und als ich mich nach Gilgamesch erkundigte, wußte dort keiner etwas über ihn.«

»Mutter…«

»Und dann kam ich hierher in dieses Neue Uruk, da ich wußte, du warst hier König und säßest vielleicht auf dem Thron. Aber sie sagten mir, du hättest das alte Uruk vor langem verlassen und seiest mit Enkidu auf die Jagd gezogen und niemals zurückgekehrt. Vor mehr Jahren, als irgendeiner sich erinnern konnte. Und ich dachte bei mir, die Götter wünschen offenbar nicht, daß ich meinen Sohn wiedersehen soll, denn hier ist die Nachwelt, und hier gehen nur wenige Wünsche in Erfüllung. Aber dann kam das Gerücht auf, daß du dich der Stadt nähertest. Ach, Gilgamesch! Welche Wonne, dich wieder anschauen zu dürfen!«

»Und mein Vater?« fragte er. »Was ist mit dem göttlichen Lugalbanda? Er kann ja unmöglich auch hier sein, da er ein Gott ist, und wie könnte es in der Nachwelt Götter geben? Aber weißt du etwas von ihm?«

Ninsuns Augen überwölkten sich flüchtig. »Auch er ist hier, dessen bin ich gewiß. Denn jene, die in Sumer nach ihrem Leben vergöttlicht wurden, sind nicht länger Götter und hausen hier wie alle anderen. Mich hast du einst zur Göttin gemacht, erinnerst du dich nicht?«

»Ja.« Es war nur ein Murmeln.

»Und du selbst — einst wurdest auch du zu den Göttern gezählt. Es ist unwichtig. Wer als Sterblicher lebt, der stirbt wie die Sterblichen und kommt an diesen Ort.«

»Dann weißt du also mit Sicherheit, daß Lugalbanda hier ist?«

»Nicht mit Sicherheit, nein. Aber ich glaube es. Von ihm habe ich in all der Zeit hier kein Wort gehört. Doch eines Tages werden wir uns wiederfinden, dessen bin ich mir ganz sicher.«

»Ja«, sagte Gilgamesch wieder nur und nickte. Der Gedanke war ihm niemals gekommen, daß auch sein Vater hier irgendwo in der Nachwelt sein könnte, doch die Möglichkeit erregte ihm freudig-überrascht die Brust. »In der Nachwelt geschieht alles mögliche, früher oder später. Du wirst mit deinem königlichen Gemahl wieder vereint werden und an seiner Seite leben, wie der Himmelsvater es bestimmte, denn ihr wurdet einander für alle Zeit verbunden, und dieser zeitliche Abschnitt in der Nachwelt bedeutet nur eine kurze Trennung, und ich…«

Ninsuns Gesicht bekam einen seltsamen Ausdruck. Sie schlug kurz die Augen nieder, als schämte sie sich. Die königliche Würde, der Göttinnenglanz wichen von ihr, und sie war kurz nur eine gewöhnliche sterbliche Frau.

»Hab’ ich was Falsches gesagt?« fragte er.

Und sie antwortete: »Du hast nichts gesagt, was nicht richtig wäre. Doch ich möchte dich mit meinem Freund bekannt machen, Gilgamesch.«

»Deinem — Freund?«

Auf seltsam mädchenhafte Weise errötete sie, und Gilgamesch konnte das nicht mit seinen Erinnerungen an die königliche Haltung seiner Mutter in Übereinstimmung bringen. Sie wies mit dem Kopf zu einem Mann von beträchtlichen Jahren, der auf dem Platz neben dem ihren saß und sich nun erhob.

Er reichte Gilgamesch nicht einmal bis zur Brust. Ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann, sehr klein, einen halben Kopf kleiner als Ninsun selbst; und dennoch — als Gilgamesch ihn genauer betrachtete, erkannte er, daß der Mann, trotz seines hohen Alters, eine seltsame ursprüngliche elementare Kraft ausstrahlte, eine ungewöhnliche beherrschende Stärke und Macht, und so sah er bei weitem nicht so klein und alt aus, wie er war, sondern wahrhaftig von königlichem Kaliber und königlicher Haltung und Würde. Es war sein breiter massiver Oberkörper, der dieses Gefühl von Kraft vermittelt, dachte Gilgamesch. Dies und seine Augen, und diese Augen waren die bohrendsten, intensivsten Augen, die ihn jemals angeblickt hatten. Sogar noch durchdringender, als es die Augen des Zauberers Imbe Calandola gewesen waren. Bestürzende Augen waren das, dunkel, funkelnd, die Augen eines Habichts, eines Adlers — nein, es waren die Augen eines Gottes, mitleidlose, alles sehende Augen, die wie schwarze Edelsteine aus dem Gesicht lohten.

Mit Bestürzung begriff Gilgamesch, daß dieser seltsame kleine mächtige Mann der Geliebte seiner Mutter sein mußte; eine wahrlich beunruhigende Vorstellung.

Es war schon schwer genug gewesen, daß er sie als eine jugendliche, wunderschöne und, soweit er sah, fröhliche Frau wiedersah; noch tiefer traf es ihn, daß er in ihr nun eine Frau mit ganz irdischer Natur akzeptieren sollte, die mit Männern ins Bett stieg, mit diesem Mann, diesem alten kahlköpfigen Mann, der sie in die Arme nehmen durfte und dessen Hände die geheimen Stellen ihres Leibes erforschen durften, die nur Lugalbanda, der König, gekannt hatte…

Du Tor, schalt er sich. Sie ist deine Mutter, aber sie ist auch ein Weib, und sie war Weib, bevor sie deine Mutter wurde. Sie war seit fünftausend Jahren nicht mehr mit Lugalbanda zusammen. Und hier an diesem Ort sind sowieso sämtliche Gelöbnisse obsolet. Hast du etwa erwartet, daß sie die ganzen fünftausend Jahre, die sie bisher hier zugebracht hat, keusch wie eine Nonne geblieben ist? Und glaubst du, sie hätte dies tun müssen?

Dennoch. Warum ausgerechnet dieser Mann? Dieser alte Mann, so klein, kaum noch ein Haar auf dem Schädel, mit einer Haut wie tief gefurchtes altes Leder…

»Man nennt mich Ruiz«, sagte der kleine Mann. »Sie ist deine Mutter? Gut. Du paßt zu ihr. Sie muß die Mutter von Giganten sein, diese Frau. Die Mutter von Göttern, was? Und du bist also der berühmte Gilgamesch. Mucho gusto en conocerlo, Senhor Gilgamesch.« Ruiz lächelte ihn breit und offen an und streckte ihm ungeniert die Hand hin, als wären sie von gleichem Rang, als stünden sie einander Auge in Auge wie zwei Giganten gegenüber. Der Mann war der gewaltigste kleine Mann, dem Gilgamesch jemals begegnet war.

Beim Klang der Stimme und als er die Hand des Mannes berührte, begann Gilgamesch zu verstehen, weshalb seine Mutter diesen Mann erwählt hatte, oder genauer, warum sie sich von ihm hatte erwählen lassen. Die Wahl schien dabei von keinerlei Bedeutung zu sein. Der Mann war unwiderstehlich, eine Naturkraft, ein Fluß, der unaufhaltsam der See zuströmte.

»Pablo ist Künstler«, sagte Ninsun. »Maler, ein Bildermacher. Er macht gerade ein Bild von mir.« Sie lachte leise. »Er will es mich nicht ansehen lassen. Aber ich weiß, es wird ein sehr bedeutendes Bild.«

»Es gibt Schwierigkeiten«, sagte Ruiz. »Aber ich werde mit ihnen fertig werden. Deine Mutter ist etwas Außergewöhnliches — ihr Gesicht, ihre Ausstrahlung… Ich will ein Bild von ihr malen, das so gut ist, daß es der Teufel höchstpersönlich wird kaufen wollen. Aber ich werde es ihm nicht verkaufen! Und nach ihrem Bild — das deine, was meinst du dazu, Gilgamesch?«

»Mein Bild?«

»Ich möchte dich als Modell. Ich werde dir eine Maske aufsetzen, einen Stierkopf, und du wirst mein Minotauros sein. Der grandioseste Minotauros aller Zeiten, das authentische echte Menschentier, das Geschöpf im Labyrinth. Nun? Was sagst du dazu, Gilgamesch Na? Du gefällst mir. Weißt du was, am kommenden Sonntag, el domingo que viene, haben wir hier in Uruk einen Stierkampf, ja? La corrida. Ja? Du weißt, was das ist, ein Stierkampf?«

»Ja, ich weiß, was das ist«, sagte Gilgamesch.

»Schön. Natürlich weißt du es. Du sollst an dem Tag neben mir sitzen. Wir zwei werden uns die Feinheiten anschauen. Wie findest du das? Ein Ehrenplatz an meiner Seite.« Die Augen des erstaunlichen kleinen Mannes funkelten. »Und morgen kommst du in mein Atelier, und wir fangen mit den Stellungen an, ja? Wir müssen sofort beginnen. Mein Bild wird dich berühmt machen.«

»Er ist auch jetzt schon berühmt und groß«, sagte Ninsun gelassen.

»Por supuesto! Selbstverständlich. Er ist ein König, er ist eine Legende, wir alle wissen das. Doch es gibt Größe und Größe, nicht wahr, Gilgamesch? Du wirst mein Minotauros. Ja? Der Sohn des Minos, aber nicht wirklich sein Sohn, sondern en realidad, in Wahrheit, der Sohn des Stieres aus der See, der — denke ich — der Poseidon war. Na? Wirst du mir Modell stehen?«

Es war kaum eine Bitte. Gilgamesch begriff, daß dieser Mann eine Bitte nicht als solche auffaßte, sondern als einen Befehl. Die eigenartige Dringlichkeit, dieses Verlangen, ihn zu malen, war amüsant und in ihrer Art geradezu unwiderstehlich. Bloß ein Maler, ein Handwerker, ein Wändedekorierer, mehr war der Mann nicht, und dennoch glaubte er, daß es von höchster Wichtigkeit sei, daß er ein Bild von Gilgamesch in einer Stiermaske anfertigte. Nun, möglicherweise war das ja so. Es war jedenfalls ebenso wichtig wie alles andere, das hier geschah. Verblüfft stellte Gilgamesch fest, daß er den kleinen Mann mochte, daß er sogar Achtung für ihn empfand. Er spürte in sich nicht einmal Groll gegen ihn, weil er sich Ninsans bemächtigt hatte, wie dies offenbar der Fall war. Er fühlte in sich eine innerliche Verwandtschaft zu ihm, eine Nähe, wie er sie zu kaum sonst jemandem unter den Später Toten verspürt hatte. Dieser Ruiz war jemand aus einer älteren Zeit, sogar noch vor der Zeit von Gilgamesch selbst, einer Zeit, in der die Abstände und Unterschiede zwischen Göttern und Menschen noch nicht so gewaltig waren, wie sie es später wurden. Der Mann besaß unbedingt die Qualitäten eines Halbgottes. So etwas sah man auf den ersten Blick.

»Ja«, sagte Gilgamesch also. »Ich werde dir Modell sein, Ruiz. Ich komme morgen zu dir, ja?«

Und dann sagte Dumuzi: »So, jetzt setzt euch alle! Jetzt wollen wir den Wein trinken und essen!«

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