In Simons Palast, einem gewaltigen Gebäudekomplex, der um einen Hof herum angelegt war und inmitten eines riesigen ummauerten Gartens lag. In seinen Gemächern gab es ein Römisches Bad, ein gewaltiges Rundbett, das irgendwie in der Luft zu schweben schien, und er hatte seine persönliche Entourage, Diener, Butler. Kurtisanen und Läufer, die alle auf jeden seiner Winke bereitstanden. Doch eben jetzt hatte er eigentlich kaum sehr große Bedürfnisse, denn seit mehr Jahren, als er noch im Gedächtnis behalten hatte, hatte er sich eine umfassende Kargheit und Nüchternheit zur Regel gemacht. Dennoch, es war wohl ganz angenehm zu wissen, daß ihm derlei Annehmlichkeiten zur Verfügung standen.
Herodes stellte sich bei ihm ein, als am frühen Abend die trübe rötliche Sonne die Gärten in tiefviolette Schatten zu tauchen begann. Herodes hockte sich bequem in eine Fensterbank. Er sagte: »Erzähl mir doch ein wenig von deinem Uruk.«
»Was kann ich davon schon erzählen? Es war vor langer Zeit eine Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich lebte und König war — und in der ich starb. Der Fluß Buranunu floß an ihr vorbei. Enlil war der Stadtgott und Inanna die Göttin der Stadt und…«
»Nein. Ich rede von dem neuen Uruk, dem hier in der Nachwelt.«
»Ich weiß nichts von einer solchen Stadt«, sagte Gilgamesch.
Herodes sah ihn eindringlich an. »Aber Simon glaubt, du weißt etwas.«
»Wirklich? Das Wenige, was ich über das neue Uruk weiß, habe ich von Simon erfahren.«
»Ach so. Ich beginne zu begreifen.«
»Zum erstenmal hörte ich etwas davon«, fuhr Gilgamesch fort, »als ich Simon drüben in der Bucht der Hammenden Berge traf. Es gibt in der Nachwelt eine Stadt namens Uruk, sagte er zu mir. Und er sagte, dieses Uruk ist der Stadt aus meinen Lebenstagen ziemlich ähnlich, und es leben dort Menschen meines Volkes. Es ist eine Stadt, sagte er, voll sagenhaften Reichtums und Wohlstand.«
»Aha. Jetzt beginnt sich das wahre Bild abzuzeichnen«, sagte Herodes.
»Er fragte, ob ich mich an einer Expedition nach diesem Uruk beteiligen möchte. Seine Soldaten langweilen sich und brauchen Abenteuer, sagte er.«
»Ja, und er sehnt sich nach Schätzen.«
»Den Schätzen dieses Uruk?«
»Irgendwelchen Schätzen«, sagte Herodes. »Hast du — dir nicht die Mauern und Türme dieser Stadt angesehen? Er hat alles mit Smaragden, Rubinen, Saphiren und Diamanten vollgepflastert. Mit Edelsteinen, deren Namen niemand kennt, weil man sie auf der Erde nie sah, da sie nur hier in der Nachwelt gefunden werden. Seine Gier nach auffallenden Klunkern ist unersättlich. Fünf Alchimisten sind den ganzen Tag hindurch damit beschäftigt, neue Steine für ihn herzuzaubern, und die ganze Nacht dazu, aber natürlich halten ihre Steine nicht lange. Er giert nach dem echten Zeug. Und wenn dieses Uruk große Schätze hat, dann lechzt Simon nach ihnen.«
»Ich hätte ihn für weiser gehalten.«
»Oh, er besitzt große Weisheit. Doch hier ist die Nachwelt, Gilgamesch, und hier verleitet der Zerfall der Zeit auch kluge Männer zur Torheit. Und er liebt nun einmal funkelnde Steine.«
»In Uruk gab es überhaupt keine Steine«, sagte Gilgamesch betont. »Wir errichteten unsere Stadt aus Lehmziegeln. Wir hatten weder Smaragde noch Rubine.«
»Ja, aber das war dein Uruk. Simon dagegen will das Nachwelt-Uruk finden. Und er glaubt, du kennst den Weg dorthin.«
»Ich sagte ihm aber, ich weiß ihn nicht.«
»Er glaubt, du lügst«, sagte Herodes freundlich.
»Dann ist er ein noch größerer Narr. Ich bin zweimal so lange wie dein Simon hier in der Nachwelt, oder noch länger. Kommt ihm denn nicht der Gedanke, daß ich in dieser ganzen Zeit etwas davon gehört haben müßte, wenn meine Landsleute sich hier ein neues Uruk erbaut hätten?«
Herodes schaukelte auf der Fensterbank langsam vor und zurück und lächelte in sich hinein. »Ihr zwei habt euch gegenseitig ganz schön verarscht, nicht?«
»Was?«
»Der hehre Held Gilgamesch und das schlaue Schlitzohr Simon haben sich gegenseitig bis zum Hintern ausgetrickst. Er glaubt, du kannst Uruk für ihn finden. Du glaubst, er findet es für dich. Und ihr glaubt alle beide, daß der andere das Geheimnis weiß, wo Uruk liegt. Aber in Wahrheit hat keiner von euch eine Ahnung, wo der Ort liegt.«
»Also, ich jedenfalls nicht.«
»Simon ebenfalls nicht, versichere ich dir.«
»Also, wie…?«
»Vor einiger Zeit stellte sich ein betrügerischer Herumtreiber bei Simon ein. Ein gewisser Hanno, ein Karthager, der vorgab, ein Kartograph zu sein. Du weißt, wie zuverlässig Landkarten in der Nachwelt sind, Gilgamesch? Also, dieser Hanno begann Geschichten über die Schätze von Uruk zu erzählen, und Simons Augen begannen zu leuchten wie die Edelsteine, nach denen er so sehr giert. Wo finde ich dieses Uruk? fragte Simon. Und Hanno drehte ihm eine Landkarte an. Dann verschwand er. Also, ich sage es ja immer, wenn Römer anfangen, Landkarten von Karthagern zu kaufen, dann kann dabei nichts Gutes herauskommen. Einen Tag nach dem Verschwinden Hannos aus Brasil brachte mir Simon voller Stolz die Karte an und erzählte mir das Ganze. Wir wollen einen Eroberungszug planen, sagte er. Und er rollte die Karte vor mir auf. Und die Linien liefen alle kreuz und quer durcheinander, so daß man Augenschmerzen bekam, wenn man ihnen zu folgen versuchte, und noch während wir hinsahen, veränderten sie sich und zerflossen. Und fünf Minuten später war die Karte leer, nichts weiter als ein blankes Stück Dämonenhaut. Ich dachte schon, Simon trifft der Schlag. Uruk! Uruk! Mehr konnte er nicht stammeln. Wieder und immer wieder. Und er grunzte dabei wie dieser Haarmensch, den er um sich hat. Und daraufhin segelten wir aufs Festland hinüber, wo aus dem Outback eine Karawane erwartet wurde, irgendwelche Schurken und Gauner, die mit gestohlenen Edelsteinen handeln. Mit ihnen trieb Simon Handel. Er hat seine dicken Finger in — allen möglichen Geschäften dieser Art. Ich darf mich da nicht einmischen. Und was erfahren wir? Daß zwei riesenhafte Sumerer mit dem Zug reisen, und der eine von ihnen ist Gilgamesch, der König von Uruk! Schon wieder Uruk! Die Karawane kommt nicht, man hört, sie ist von Räubern im Paß überfallen worden. Aber Gilgamesch erscheint. Und das kann Simon dem Magier nur recht sein. Was bedeutet ihm schon der Verlust von ein paar Kästchen voller Edelsteine, wenn er die Aussicht bekommt, ganz Uruk zu plündern? Verstehst du, Gilgamesch? Er möchte, daß du ihn nach Uruk führst, damit er es ausrauben kann!«
»Ich wäre besser in der Lage, ihm das Paradies zu zeigen, als das. Hier in der Nachwelt gibt es kein Uruk, Herodes.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Wer könnte hier schon in irgendeinem Ding sicher sein? Aber wieso habe ich noch nie etwas davon gehört, wenn es tatsächlich existiert?«
»Die Nachwelt ist ziemlich groß, Gilgamesch. Keiner kann von sich sagen, er hätte sie gänzlich erforscht. Vielleicht wächst sie ja von Tag zu Tag weiter, so daß niemand jemals alles von ihr sehen kann, auch wenn er keinen Augenblick lang rastete und ruhte. Ich reise seit zweimal tausend Jahren hier umher — und ich habe noch nicht ein Zehntel davon gesehen, vermute ich mal. Und du, der du so viel älter bist als ich — sogar du, möchte ich wetten, bist fremd in vielen Bereichen der Nachwelt. Du selbst hast mir doch gesagt, daß du nie zuvor in Brasil warst.«
»Zugegeben. Aber Uruk — eine von uns Sumerern erbaute Stadt, bewohnt von Sumerern —, nein. Nein, es ist nicht möglich, daß es so etwas gibt, ohne daß ich davon wüßte.«
»Außer du wußtest es einst und hast es vergessen.«
»Ebenfalls unmöglich!«
»Wirklich? Du weißt doch, wie das hier mit dem Erinnerungsvermögen geht.«
»Nun…«
»Du weißt es, Gilgamesch!«
»Aber wie könnte ich denn je meiner eigenen Stadt vergessen! Nein. Nein, es gibt in der Nachwelt kein Uruk«, sagte Gilgamesch mürrisch. »Nimm es als die Wahrheit hin, oder laß es, wie du magst, König Herodes. Ich weiß, was da wahr ist und was falsch.«
»Also ist das Ganze nichts als Erfindung?«
»Völlig! Eine Ausgeburt der Phantasie dieses Hanno.«
»Aber weshalb sollte er sein Phantasieprodukt Uruk nennen? Nach einer Stadt, die von der Zeit selbst vergessen wurde, wenn das, was du behauptest, wahr ist?«
»Wer kann das wissen? Vielleicht ist der Mann mir einst begegnet und ich sagte ihm, woher ich komme, und der Name hakte sich in seinem Gedächtnis fest. Ich bin in der Nachwelt nicht gerade ein Unbekannter, Herodes.«
»Ja, wahrhaftig, das ist so.«
»Es gibt kein neues Uruk. Simon gibt sich da einem Hirngespinst hin. Und wenn er glaubt, ich wüßte den Weg, wie er dorthin gelangen kann, dann täuscht er sich doppelt.«
Herodes schwieg eine ganze Weile.
Dann sagte er: »Dann beantworte mir doch diese Frage, Gilgamesch: Wenn dieses Uruk nicht wirklich existiert, weshalb hast du dann deine Bereitschaft erklärt, dich mit Simon zusammenzutun, um diesen nicht-existierenden Ort mit einer Expedition zu suchen?«
»Weil…«, sagte Gilgamesch ganz zögerlich, »mir der Gedanke kam, daß ich mich möglicherweise irren könnte, daß es vielleicht doch einen Ort namens Uruk gibt und mir das nur aus der Erinnerung entschlüpft ist.«
Herodes Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Was? Es ist keine zwei Augenblicke her, daß du mir genau das Gegenteil sagtest!«
»Hab’ ich das?« sagte Gilgamesch. »Schön, dann sei’s so.«
»Du hast eine sehr kuriose Art zu scherzen, lieber Freund.«
Gilgamesch lächelte. »Herodes, aus ehrlichstem Herzen bin ich davon überzeugt, daß dieses Uruk, das sich Simon da erträumt, ein bloßes Hirngespinst ist, ein Mythos. Aber schließlich sind wir hier in der Nachwelt. Hier ist nichts, wie wir es uns erwarten. Da war dein Simon und sagte mir, er hat wundersame Geschichten über Uruk gehört. Mir kam das recht verrückt vor, aber was, wenn ich mich geirrt haben sollte? Ich muß doch zumindest die Möglichkeit einräumen, daß ich mich geirrt haben könnte. Wie du sagst, die Nachwelt ist so weitläufig und jenseits des menschlichen Begriffsvermögens groß. Was weiß denn ich, vielleicht gibt es ja ein Uruk irgendwo weit hinten an diesem unbegreiflichen Ort, und durch einen üblen Zufall habe ich nichts davon erfahren. Und nun bietet mir der mächtige Herrscher Simon die Chance an, danach zu suchen. Weshalb sollte ich das ablehnen? Was kann ich dabei schon verlieren?«
»Die einzige Information, die Simon über Uruk hat, ist absoluter Unsinn. Er setzt darauf, daß du ihm die Leerstellen auf seiner Karte ausfüllst.«
»Dessen war ich mir nicht bewußt.«
»Er gedenkt dich zu benutzen. Er will sich von dir nach Uruk führen lassen, falls es einen solchen Ort gibt, und er will sich von dir dabei helfen lassen, diese ganzen Schatztruhen voller kostbarer Steine in die Finger zu bekommen, von denen Hanno schwafelte. Und als Gegenleistung will er dich als König von Uruk einsetzen.«
»Du weißt genau, daß ich nicht den Wunsch hege, König über irgendeine Stadt zu sein. Ganz besonders nicht über eine, die gar nicht existiert.«
»Aber das weiß Simon nicht. Er glaubt, du wirst gierig nach dieser Chance greifen.«
»Ich sagte dir bereits, ich will nur Enkidu finden.«
»Deinen verlorenen Freund?«
»Meinen Freund. Meinen Jagdgefährten. Meinen wahren Bruder, der mir näher ist als ein leiblicher Bruder.«
»Und wo könnte er sein?«
»Er ist verschwunden. Auf rätselhafte Weise. Er hat sich in Luft aufgelöst. Oder er verschwand in den Eingeweiden der Erde. Man muß ihn verschleppt haben.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht. Die Räuber, die van der Heydens Wagenzug überfielen, vermute ich. Aber ich werde ihn suchen.«
»Selbst wenn die Chance ihn zu finden ungefähr so gering ist wie die, Uruk zu entdecken?«
»Immerhin weiß ich, daß Enkidu existiert.«
»Aber er könnte doch überall sein. Millionen Meilen weit weg. Zehn Millionen. Er könnte tot sein. Wer kann es wissen. Du suchst vielleicht tausend Jahre nach ihm und findest ihn doch nie wieder.«
Achselzuckend sagte Gilgamesch: »Ich habe ihn bereits früher verloren und doch wiedergefunden. Ich werde ihn auch diesmal finden, selbst wenn es mich tausend Jahre kosten sollte, Herodes, soll es mir auch recht sein. Was bedeuten mir schon tausend Jahre? Was zehntausend?«
»Und inzwischen?«
»Inzwischen, was?«
»Uruk«, sagte Herodes. »Was gedenkst du in der Sache zu tun, jetzt wo du weißt, daß Simon dich austricksen will? Ziehst du trotzdem mit ihm auf diese verrückte Expedition? Wobei er hofft, du kennst wirklich den Weg oder kannst ihn wenigstens irgendwie finden — und du bist absolut sicher, daß es den Ort nicht gibt, betest aber, daß du ihn trotzdem irgendwie finden wirst?«
Das Wespengesumm von Herodes begann Gilgamesch wieder lästig zu werden. Der kleine Kerl bohrte und nagte und drängte und manövrierte unablässig herum. Was verfolgte er damit?
Gilgamesch trat zu der Fensterbank und baute sich drohend über ihm auf. »Weshalb machst du dir derart große Sorgen wegen dieser Uruk-Expedition, Herodes?«
»Weil das für mich nur einen Berg von Unannehmlichkeiten bedeutet.«
»Unannehmlichkeiten? Für dich? Wieso?«
»Wenn Simon mit dir gottweißwohin auf einen Kreuzzug auszieht, dann sitze ich hier fest und muß mich um den Laden kümmern, bis er wieder da ist. Und das kann ein paar Jahrhunderte dauern. Und dann muß ich versuchen, dieses ganze Irrenhaus hier zu verwalten. Als sein Vizekönig, verstehst du? Als Regent, während er weg ist. Du glaubst doch nicht, daß ich darauf scharf bin? Brasil steckt bis unter die Dachkammern voll von verrückten Militärs, von denen die meisten unterbelichtete Kotzbrocken sind, die mich am liebsten abmurksen möchten, oder dich, oder sich gegenseitig, und wenn die nicht schon genug Ärger bedeuten, dann gibt es da noch alle diese Zauberer, die die Luft mit ihren Anrufungen blau verfärben, und eine ganze Menge von denen sind leider ziemlich wirksame Beschwörungen. Ich würde hier den Verstand verlieren, wenn Simon nicht da ist, um seine Pranke auf allem zu halten.«
»Wenn es dir eine so große Last ist, Regent in Brasil zu sein, König Herodes, könntest du doch leicht mit uns auf die Suche nach Uruk gehen.«
»Na, wunderbar! Was für eine Alternative! Hundert Jahre lang Tag und Nacht durch eine gottverlassene Wildnis zu marschieren und einen Ort zu suchen, den es gar nicht gibt!« Herodes schüttelte den Kopf. »Meschuggene, das ist es, was ihr alle seid. Aber ich bin bei klarem Verstand.«
»Und falls es Uruk doch gibt?«
»Und falls es es nicht gibt?«
Gilgamesch spürte, wie ihm der Rest seiner Geduld zu entgleiten drohte. »Ja, dann zieh doch an einen anderen Ort! Du brauchst doch nicht in Brasil zu bleiben. Besorg dir ein Landhäuschen in Nova Roma, oder laß dich von einem der Fürsten im Outback aufnehmen. Du könntest dich bei den Israelis niederlassen, beispielsweise. Die sind doch auch Juden wie du, oder?«
»Juden, ja«, sagte Herodes verdrießlich. »Aber nicht meinesgleichen. Ich verstehe sie ganz und gar nicht. Nein, Gilgamesch, all das will ich nicht. Mir gefällt es hier. Brasil ist mein Zuhause. Ich habe mich hier ganz hübsch eingerichtet, habe eine angenehme bequeme Position, und ich habe kein Verlangen danach, irgendwo anders zu leben. Aber wenn Simon…«
Auf einmal bebte der Boden unter ihren Füßen, als brächen Ungeheuer durch die Mosaikböden in Simons Palast.
»Was ist denn das?« fragte Gilgamesch.
»Der Vesuv!« rief Herodes. Er fuhr zum Fenster herum und starrte in die Dämmerung hinaus. Wieder wankte der Boden, heftiger als zuvor, und dann erklang ein schreckliches Grollen. Gilgamesch schob den Kleinen beiseite und beugte sich aus dem Fenster. Ein roter Flammenspeer durchschnitt sinnverwirrend die Dunkelheit. Und dann ein erneutes Brüllen und noch eins und noch eins, zornig wie das Röhren eines gewaltigen Tiers, das ausbrechen will. Vom Rand des mächtigen Vulkans in der Mitte der Inselstadt stürzten Bäche brodelnder Lava herab, Schauer von Bimsstein hagelten nieder, erstickende dicke schwarze Rauchwolken wälzten sich herab, und durch all dies hindurch stach diese scharlachrote Feuerlanze höher und immer höher hinauf. Und so furchtlos Gilgamesch war, er mußte den instinktiven Wunsch unterdrücken, fortzulaufen und sich zu verkriechen.
Verkriechen? Aber wo? Hier an den Abhängen des gräßlichen Feuerberges gab es nirgends Sicherheit und Schutz.
»Laß mich mal sehen!« Herodes zerrte an Gilgameschs Arm. Er keuchte. Das Gesicht war von Schweißbächen überströmt. Er zwängte sich an Gilgameschs Ellbogen vorbei und streckte den Kopf vor, um besser sehen zu können. Wieder erbebte der Boden unter ihren Füßen. »Grandios!« flüsterte Herodes. »Unglaublich! Der beste Ausbruch, den es je gab!« In seiner Stimme schwangen gleichermaßen Furcht und Ehrfurcht mit. Langsam begann Gilgamesch zu begreifen, daß dieser besondere Vulkanausbruch Herodes einen außerordentlichen Lustgewinn bereitete. Er sah völlig umgewandelt aus. Seine Augen glühten und funkelten, ja es war, als pulsierten in ihm eine Art sexueller Erregung. Er war beinahe außer sich vor Wonne. »Zweimal in zwei Nächten! Es ist phantastisch! Grandios! Begreifst du, warum ich nie von hier fortgehen möchte, Gilgamesch? Ich könnte es nicht! Du mußt es Simon ausreden, diesen Kreuzzug und die Suche nach Uruk. Ich flehe dich an!«
Im trübroten Licht der umwölkten Sonne zog Gilgamesch am Tag danach durch die Straßen von Brasil. Bei Enlil, hatte es in der Welt jemals solch eine Stadt gegeben? Hexerei und Teufelswerk an allen Ecken und Enden!
Straßen, die sich in engen Spiralen wieder in sich selbst zurückwanden, wie die Schleimspur einer betrunkenen Schnecke. Schmale hochgewölbte Gebäude, die ihrerseits ebenfalls wie Schnecken aussahen, die sich gleich anschicken würden fortzukriechen. Schwarzbelaubte Bäume mit trauertriefenden Zweigen, von denen seltsame Seufzer kamen, wenn man ihnen nahekam. Und allüberall der Staubgeruch von der Vulkaneruption der verflossenen Nacht, flockige Staubteilchen tanzten dunkel in der Luft und knisternde feurige Funken, die flüchtig brannten, wenn sie die Haut berührten.
Hände zupften an ihm, während er rasch seiner Wege ging. Aus Türen und Toreingängen winkten ihm Augen unter halbgesenkten Lidern zu. Einmal rief jemand seinen Namen, doch er sah den Menschen nicht. Ajax, der hinter ihm dreintrottete, hielt immer wieder an und knurrte und jaulte und sträubte sogar das Rückenfell und spuckte, als wäre er kein Hund, sondern eine Katze, aber die Feinde, die Ajax sich einbildete, blieben für Gilgamesch unsichtbar.
Ab und zu schweiften über den Dächern feueräugige Flugdämonen durch die Stadt, aber niemand schenkte ihnen Beachtung. Häufig ließen sie sich irgendwo nieder, ruhten, putzten sich das Gefieder wie lebendig gewordene Wasserspeier, schlugen mit den starken Schwingen die Luft und fächelten den unter ihnen Vorbeigehenden dumpfen Aasgeruch zu. Gilgamesch sah, wie eines der aufgebäumten Flugwesen plötzlich schwankte und abstürzte, als hätte eine plötzliche tödliche Starre es befallen. Kleine wieselnde schimmernde Tierchen tauchten aus irgendwelchen Spalten in den Abflußrinnen der Straße auf und stürzten sich darauf. Sie fraßen es auf, noch ehe Gilgamesch ans Ende der Straße gelangt war, und ließen nur Fetzchen ledriger Sehnen zurück.
Wenn er in die Ferne blickte, glaubte er dort am Himmel jenseits der Stadt eine durchscheinende Wand zu sehen, die Brasil von der übrigen Nachwelt trennte. Sie schimmerte in weißbläulicher kühler Schärfe, und ihm schien, als befänden sich außerhalb von ihr monströse Geschöpfe, nicht die gewöhnlichen Tierdämonen, sondern andere, noch scheußlichere, ganz rote Schnäbel und Schlangenhälse und weite Schwingen, mit denen sie gegen die Mauer schlugen, die sie fernhielt. Doch wenn Gilgamesch dann blinzelte und erneut hinsah, war da nichts Ungewöhnliches mehr, außer den schweren Wolken und dem düsteren Schimmer des Sonnenlichts, das durch sie hindurchzudringen versuchte.
Dann vernahm er einen Ton, einen Klang wie von einer Glocke. Aber der Klang war irgendwie verkehrt. Zuerst kam das ersterbende Verklingen, dann das Anschwellen des Volumens, dann der erste dröhnende Anschlag des Klöppels, dann Stille, dann erneut das Verhallen bis zurück zum Aufprall des Klöppels und dem anschwellenden Getöse:
mmmmmmmmmuuuuu-MMMMMMNGB!
mmmmmmmmuuuuuMMMMMMM-MNGB!
Der Lärm war betäubend. Gilgamesch stand ganz still da und überließ sich dem Gefühl der Zeit, die wie eine ungeheure Bürde davonglitt, bei jedem schweren Glockenschlag schälten sich Jahrhunderte von ihm ab. Und wie auf einem Wandschirm in der Luft vor sich sah er sein ganzes Leben in der Nachwelt in umgekehrter Abfolge verlaufen, die vieltausendjährigen ziellosen Wanderungen verkürzten sich zu einer wilden, rasend schnellen verrückten Bilderflucht, alles überstürzt, verschwommen, ineinander geschoben, als wäre es an ein und demselben Tag geschehen: Gilgamesch hier, Gilgamesch da, sein Schwert schwingend, den Bogen spannend, diese und jene Teufelsbestie erschlagend, unmögliche Felsberge ersteigend, glitzernde Seen durchschwimmend, durch glutheiße Sandwüsten trabend, in Orte und Städte tretend, die schief und krumm und verdreht waren wie die Orte, an die man in Träumen gerät, wie er in die fernsten Regionen voller Fremdartigkeit vordrang, im Norden, wo gewaltige elfenbeinfarbene walzenförmige Riesentiere einer unbekannten Art rätselhafte Dinge trieben. Gerade rang er fröhlich mit Enkidu, gleich darauf beobachtete er die hereinbrandenden lauten Horden der Später Toten, die alles mit ihren gräßlichen lauten Maschinen und ihren Waffen und ihren ekelhaft stinkenden Fahrzeugen überschwemmten. Und dann war er in Lenins Villa in Nova Roma, mitten unter seine wenig appetitliche Gruppe von eisäugigen Verschwörern und boshaften, zickigen Königinnen. Und dann saß er in der Festhalle des Königs der Eisjäger Vy-otin, grölend und saufend, und Enkidu an seiner Seite lachte und scherzte, und Agamemnon war da und Amenhotep und der Minos aus Kreta und Varuna, der Melukkerkönig, alle seine Gefährten aus den frühen Tagen der Nachwelt. Wie lange war das schon her! Und nun…
»Sei gegrüßt!« kreischte ein Weib, stürzte sich auf ihn und umklammerte sein Handgelenk. »Errette uns vom Untergang, großer König!«
Gilgamesch starrte die Frau verblüfft an. Eigentlich noch keine Frau, ein Mädchen war sie. Und er kannte sie. Er hatte sie einst gekannt. Hatte sie sogar geliebt. In einem anderen Leben und weiter Zeitenferne, auf der anderen Seite der großen Grenze von Leben und Tod. Denn es war das Gesicht der mädchenhaften Priesterin Inanna, die er so hastig und so leidenschaftlich im alten Uruk umarmt hatte, in jenem Leben vor diesem Leben! In den vielen Jahren in der Nachwelt hatte er mehr als einmal an eine Wiederbegegnung mit der Inanna gedacht, ja sogar erwogen, sie zu suchen, doch er hatte das nie in die Tat umgesetzt. Aber daß er jetzt hier in Brasil ihr so einfach zufällig wieder begegnen sollte…
Aber war er überhaupt noch auf der Insel? Noch in der Nachwelt?
Um ihn herum wirbelte alles. Dichter Nebeldunst sammelte sich um ihn. Die Erde dampfte ihre Feuchte aus. Ihm war, als sähe er die Wallmauern von Uruk am Ende der Straße auftauchen, die gewaltige weiße Treppenplattform der Tempel, die ehrfurchtgebietenden Statuen der Götter. Und tausendmal tausend Zungen, die seinen Namen brüllten. Gilgamesch! Gilgamesch! Und am Firmament strahlte statt der trüben roten Glut die helle gelbe Sonne des LANDES, die er so unvorstellbar lange nicht mehr gesehen hatte, und verströmte ihre ganze mittsommerliche Kraft.
Was bedeutete dies? Hatte ihn die Glocke ganz aus dieser Welt hinausgehoben und in jene andere zurückversetzt, in die Welt seiner Geburt und seines Todes? Oder erfuhr er hier nur einen Wachtraum?
»Inanna?« fragte er verwundert. Wie schlank und schmal sie war! Wie jung! Blaue Perlenschnüre umschlangen ihre Mitte, rosafarbene Muschelamulette waren in die Spitzen ihrer Haare geflochten. Ihr Körper war nackt, an den Flanken und vorn mit dem Schlangenmuster bemalt. Und die dunkel gefärbten Spitzen der Brüste… ihr scharfes aufreizendes Parfüm…
Dann sprach sie erneut, diesmal rief sie ihn beim Namen seiner Namen, dem geheimen persönlichen Namen, mit dem ihn niemand seit Tausenden von Jahren angesprochen hatte, seit der Zeit, da er selbst noch ein halber Knabe gewesen war und ihm der Mantel der Königswürde auf die Schultern gelegt wurde und er zum ersten Mal seinen Königsnamen, brausend wie einen Fluß, in den Ohren vernahm: Gilgamesch, Gilgamesch, Gilgamesch. Den anderen Namen hatte er selbst schon lange vergessen, seinen Geburtsnamen, aber als sie ihn nun aussprach, barst ein Damm in seiner Seele und die Erinnerung flutete über ihn hinweg. Was war dies für Zauberei, daß er sich auf einmal wieder dem Mädchen Inanna gegenüber sah?
»Ich bin Ninpa, die Herrin des Zepters«, murmelte sie. »Ich bin Ninmenna, die Herrin der Krone.«
Sie streckte ihm die Hand entgegen. Und als er sie berührte, veränderte sie sich. Sie war nun älter, ihr Leib voller. Die dunklen Augen glitzerten buhldirnenhaft wissend. Die dunkle Haut schimmerte ölig. »Komm«, flüsterte sie. »Ich bin Inanna. Du mußt mit mir gehen. Du bist der einzige, der uns retten kann.«
Vor ihm ein dunkler unterirdischer Gang — ein Surren in seinen Ohren wie von tausend Wespen, die um sein Haupt schwirren — vor seinen Augen ein helles purpurnes Licht, das aufflammt —, ein gewaltiges Brüllen, als hätte Enlil, der Herr der Stürme, alle seine Winde auf die Nachwelt losgelassen…
Und dann ein beißender Schmerz in seinem Unterschenkel. Der Hund Ajax hatte seine Fänge tief in sein Bein vergraben! Verblüfft sah er zu dem Hund hinab.
»Vorsicht, Gilgamesch!« bellte Ajax. »Das Verhexung!«
»Wie? Was?«
Die Frau hielt ihn an der Hand fest. Hitze floß zu ihm herüber, überwältigend wie aus einem Backofen. Und schon wieder veränderte sie sich: Nun trug sie das Gesicht seiner Mutter. Und gleich darauf war sie die rundbrüstige Hierodoule Abisimti, die ihm im Tempel seine erste Lektion in den Liebeskünsten erteilt hatte. Und dann war sie wieder die kindhafte Inanna. Und dann wieder die reife Frau. Und dann etwas mit hundert Köpfen und tausend Augen und suchte ihn in die tiefen Suhlgruben der Nachwelt hinabzuzerren, in die gähnende Schwärze tief unter dem glutlodernden Kern des Vulkans Vesuv.
»Ich bin Ereshkigal aus der Hölle«, flüsterte sie, »und ich will deine bräutliche Geliebte sein.«
Und hinab und hinunter — tiefer über eine Lichterleiter — ringsum blendend weiße Helligkeit, und im Wind wehte aus der Grube ein leuchtend kupferroter Mantel empor und drunten tanzten Dämonen. Auf allen Seiten — Löwen. Aus großer Höhe ergoß sich aus zwei umgedrehten Weinschalen ein goldener Wein, und er war dick und feurig und brannte ihn auf der Haut, wo ihn die Tropfen berührten.
Er hörte, wie sein Hund wütend heulte. Er fühlte den schrecklichen Sog aus der schwarzen Tiefe.
»Es ist Verhexung, Gilgamesch«, sagte sein Hund Ajax noch einmal. »Wehr dich — kämpfe — ich hole Hilfe.«
Der Hund rannte mit einem gräßlichen Wolfsgeheul fort.
Gilgamesch wich nicht von der Stelle. Verwirrt schüttelte er den Kopf, langsam, benommen wie ein verwundeter Stier. Wäre doch nur Enkidu bei ihm! Enkidu würde ihn von dem Abgrund zurückreißen, genau wie vor langer Zeit Gilgamesch versucht hatte, Enkidu aus diesem Stollen voller alter vertrockneter Gebeine herauszuholen, der ins Totenland führte. Ihm war es mißlungen, damals, und Enkidu war zugrunde gegangen und unter die Erde gefahren. Aber mittlerweile waren sie ja beide ein Stückchen älter geworden, und auch klüger, sie wußten, wie sie mit den Dämonen umgehen mußten, die einen hier von allen Seiten umgaben…
Enkidu! Ach, Enkidu!
»Du hättest nicht allein in diese Straße kommen sollen«, sagte eine andere Stimme. »Es könnte hier gefährlich werden.«
Ja, Enkidu! Endlich! Der Hund Ajax war zurückgekehrt und hatte Enkidu an Gilgameschs Seite geholt. Gilgamesch fühlte, wie seiner Seele Flügel wuchsen. Er war gerettet! War gerettet!
Mit getrübtem Blick erkannte er die mächtige Gestalt seines Freundes: die massiven Muskeln, den dichten dunklen Haarpelz, die dunkel brennenden Augen. Enkidu rang nun mit der Ereshkigal-Inanna. Er zerrte ihre kalten Finger von Gilgameschs Handgelenk weg und stieß die Höllengöttin zurück zu ihrer Grube. Gilgamesch zitterte. Er konnte sich nicht rühren. Er war unfähig, sich selbst zu helfen. In allen seinen Jahren in der Nachwelt war er keiner vergleichbaren Gefahr begegnet, war er noch nie so tief in die Gewalt der Dunkelwesen aus der Welt des Unsichtbaren geraten. Doch Enkidu war bei ihm — Enkidu würde ihn erretten.
Und Enkidu befreite ihn. Ja. Die furchtbare Kälte des Abgrunds, die ihn erfaßt hatte, begann zu weichen. Die blendende Höllenhelle begann zu schwinden. Die Tempel und die Straßen und die Sonne Uruks waren nicht länger vor seinen Augen. Gilgamesch trat einen Schritt zurück. Er blinzelte. Ihn fröstelte. Sein Herz pochte schwer und in dumpfen Schlägen, fast wie das Schlagen jener umgekehrt tönenden Glocke. Tränen strömten ihm über die Wangen. Er blickte suchend nach seinem Freund.
»Enkidu?«
Durch die tränengetrübten Augen erblickte er die zottige Gestalt. Enkidu? Nein. Das war nicht Enkidu. Das dichte Fell war wie das eines Tieres. Rötlich, dicht und rauh, und es schimmerte keine Haut hindurch. Und das Gesicht — das zurückweichende Kinn und diese starken tiefhängenden Brauenwülste über den Augen — nein, das war ganz und gar nicht Enkidu, das war viel eher schon dieser Haarmensch, Simons weiser Mann. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht ein ganz anderer aus diesem Volk — es war so schwer, diese Behaarten voneinander zu unterscheiden.
Aber die Häßlichkeit des Haarigen Mannes allein wirkte bereits tröstlich. Die massige untersetzte Gestalt. Dieses Geschöpf, das gelebt hatte, als selbst die Götter noch jung waren, das lange vor der Großen Flut über die Erde geschritten war, das fünfzigtausend oder hunderttausend oder hundertmal hunderttausend Jahre, bevor Gilgamesch von Uruk hier erschienen war, in der Nachwelt gelebt hatte. Uraltes Wissen floß tief verborgen in ihm. Daneben fühlte Gilgamesch sich beinahe wieder wie ein Kind.
»Komm mit«, sagte der Behaarte mit gutturaler rauher Stimme. »Hier hinein. Hier bist du sicher. Hier bist du beschützt.«