Alles in allem erledigten sie fünf Stiere an diesem Tag. Und jeder Kampf begann in Schweigen, die Zuschauer waren unsicher und beklommen und über den neuen seltsamen Sport wohl ebenso erstaunt, so schien es, wie über den gleichzeitigen Machtwechsel, der sich vor ihren Augen abgespielt hatte. Doch sobald die Banderilleros und Picadores sich an ihr Werk begaben und der gereizte Stier schnaubte und bockte und mit den Hufen scharrte, wuchsen die Erregung und der Lärm gewaltig an, und als die beiden starken Helden zum fünftenmal in die Arena schritten, um die Corrida zum triumphalen Ende zu führen, bebte das Stadion von anhaltendem gewaltigen Gebrüll, von einem wilden Durcheinander von Rufen und Schreien, und es verebbte nicht, bis der letzte Stoß getan war und das groteske Stierungeheuer im Sand der staubigen Arena zusammenbrach.
Picasso zeichnete wie besessen, forderte Gilgamesch durch Gesten immer wieder zu einem neuen Kampf auf und konnte nicht genug kriegen. Und Ninsun, die nun majestätisch in der verwaisten Königsloge thronte, sah mit lächelndem Stolz zu und nickte jedesmal befriedigt, wenn ihr Sohn ein Tier mit dem Schwert tötete.
Nach dem dritten Stier begannen Herodes und Simon Magus unbehaglich dreinzublicken, als fänden sie es unpassend, daß ein König zum Spaß vor seinen Untertanen fremdartige Geschöpfe abschlachtete, oder — wahrscheinlicher — weil sie fürchteten, Gilgamesch könnte sein Leben verlieren, falls er es weiter so in der Arena aufs Spiel setzte, und dann würde die Stadt in ein Chaos versinken, bevor sie selbst sich in Sicherheit bringen konnten. Aber Gilgamesch tat ihre besorgten Gesten ab, und als Herodes ihm einen gefalteten Zettel überbringen ließ, warf er ihn ungelesen weg. Es war eine lustige Arbeit, dieser Kampf mit den Stieren, es kam dem noch am nächsten, was er unter hoher Lust verstand und was er seit mehr Ewigkeiten, als er sich erinnern konnte, nicht mehr erlebt hatte, und er beabsichtigte, dieses Gefühl ganz auszukosten. Sobald er die Arena verlassen würde, war es zu Ende mit der Freude, und die Verantwortung begann, und damit hatte er es gar nicht eilig. Er raffte sich zusammen und verlangte nach dem nächsten Stier.
Doch schließlich waren die Ställe leer, und den Himmel bedeckten die dunklen violetten und roten Streifen der aufziehenden Nacht. Der wundervolle Kampftag war vorbei. Seite an Seite standen Gilgamesch und Enkidu in der blutbeschmierten Arena, schwitzend, selbst ein wenig blutbedeckt, doch unverletzt.
»Komm, Bruder«, sagte Enkidu. »Auf in den Palast.«
»Ja, auf in den Palast«, sagte Gilgamesch.
Nachher, als sie durch die Menschenmasse schritten, schien es ihm, als wären Enkidu und er inmitten der Menge wie eingeschlossen in eine undurchdringliche Kugel aus Stille. Die Soldaten der königlichen Garde, die noch am Morgen die Person König Dumuzis beschützt hatten, zogen vor und hinter ihnen her, schwangen reichgeschmückte Amtsknüppel, doch schien eine derartige Machtdemonstration kaum nötig. Das Volk von Uruk hielt sich scheu und mit ängstlich geweiteten Augen zurück, während sein neuer Herrscher daherkam, und erst als er vorbeigeschritten war, erhoben sich hinter ihnen die Jubelrufe nach »Gilgamesch!« und hie und da »Enkidu!«.
In Dumuzis altem weiten und düsteren Palast hielt Gilgamesch an diesem Abend seine erste Audienz; er saß auf dem pompösen hohen Thron Dumuzis und hatte das wuchtige kostbar gearbeitete goldene Szepter Uruks achtlos auf dem Schoß liegen. Zu seiner Linken stand Enkidu, Ninsun stand rechts, Herodes und Simon Magus im Schatten an der Wand, neben ihnen Vy-otin in seinem drolligen Geschäftsanzug vom Schnitt der Später Toten, als die Minister und Beamten des verstorbenen Königs einzeln vortraten, um ihm zu huldigen. Auch der kleine Picasso war da und kritzelte Skizzen von allem und jedem, so schnell seine Hand zeichnen konnte.
Gilgamesch empfand dies alles, als wäre er in einem Traum, der viel lebhafter und intensiver war als die Wirklichkeit selbst. Es war ihm, als wären Tausende von Jahren in einem Nu zunichte geworden und als befände er sich wieder mitten in seinem Erstleben. Wieder war er ganz frisch aus dem Exil nach Uruk gekommen, nach langer Wanderschaft. Wieder hatte er dem schwachen und verhaßten Dumuzi die Krone entrissen, genau wie damals, als er jung war. Und wieder kam die Prozession der Vizekönige Dumuzis, der Kämmerer, der Oberaufseher und Verwalter, der Steuereintreiber und Gouverneure, um vor dem König Gilgamesch das Knie zu beugen.
Damals, beim erstenmal, war es ihm als unvermeidlich erschienen, König zu sein. Er war dazu geboren. Doch mit dem hier hatte er nie gerechnet. Wie oft hatte der Gilgamesch der Nachwelt nachdrücklich gegenüber allen, die ihm zuhören wollten, betont, daß er das nicht wolle, diese Grandeur, den Pomp, das Gepränge! Wie würde Caesar jetzt spotten! Wie würde Bismarck lachen, oder Lenin! »Mich verlangt nicht nach dem Königtum«, hatte er so oft behauptet. »Das Streben nach Macht in der Nachwelt ist Torheit und Irrsinn.«
Und nun saß er in der Schlinge. Ein Ding hatte zum nächsten geführt und immer weiter und weiter, und hier saß er wieder auf einem Thron und fühlte, wie die Königswürde über ihn hereinbrach wie ein unaufhaltsamer Sturzbach und wie sie eine Einsamkeit mit sich brachte, die brennender war als je das Gefühl in seinen einsamen Jahren im Outback.
»Der Kammerherr der Schärpe Enlils! Der Proviantmeister! Der Vorsteher des Ubshikkinakku-Heiligtums! Der Pfleger der Königlichen Pracht! Der Gouverneur von…«
Sie defilierten vorbei, endlos, bedrückt-feierliche Gesichter von kleinen Potentaten, gekleidet in Prunkgewänder, und schielten verzweifelt zum König auf, ob dieser sie auch ja in ihrem bisherigen Rang bestätigen mochte. Und er nickte mit glasig starrem Blick und nickte mit seinem bekrönten Haupt diesem zu und jenem und diesem, und ihm schien, als zöge sich die Schlinge des Königseins mit jedem Augenblick fester um seine Kehle zu.
Würde diese Prozession denn nie ein Ende finden?
Enkidu berührte seinen Arm und zwinkerte ihm zu. »Sieh ein bißchen freudiger drein, Bruder Gilgamesch! Zeig, daß du dich freust! Danach kommt das Fest! Und danach…«
Enkidu grinste lüstern, griff sich zwischen die Beine, rollte wollüstig die Hüften und stieß sie drei-, viermal nach vorn.
Trotz seiner wachsenden Umdüsterung rang Gilgamesch sich ein Grinsen ab. Enkidu hatte schon immer die Gabe besessen, ihn aus seiner hervorstechendsten Sündhaftigkeit, dem übermäßigen Ernst, herauszulocken. Er machte eine Handbewegung hinab zu den Honoratioren in der Schlange, sie sollten sich rascher bewegen. Von der dunklen Seitennische her nickte Herodes beifällig und schlug einen kleinen Kreis mit der Hand, wie um anzudeuten, daß Gilgamesch die Prozedur sogar noch mehr beschleunigen könnte. Simon Magus neben ihm schien im Stehen zu schlafen.
Zu Enkidu sprach Gilgamesch: »Wieviele sind’s denn jetzt noch?«
»Die Schlange erstreckt sich aus dem Palasttor und über die halbe Plaza.«
»Da«, sagte Gilgamesch und drückte Enkidu das Szepter in die Hand. »Geh runter zu ihnen, halte ihnen das da über die Köpfe und erkläre ihnen, daß sie alle in ihren Ämtern bestätigt sind, sonst kommen wir nie zu unserm Fest. Wir können die meisten dieser Leute später abservieren, wenn wir herausgefunden haben, wie der Laden hier wirklich läuft.« Und kopfschüttelnd setzte er hinzu: »Ihr Götter! Wozu hat Dumuzi bloß diesen ganzen Haufen von Beamten gebraucht?«
Doch später, als die endlose Zeremonie endlich vorbei war und er sich aus dem Thronsaal in den Festsaal begab, dachte er zu seiner Überraschung, daß möglicherweise die meisten dieser Männer irgendwelche echten Funktionen erfüllten und ihm nützlich sein konnten. So chaotisch die Nachwelt sein mochte, die Städte brauchten trotzdem immer noch Behörden und Verwaltung, und es waren nicht die Könige, die eine Stadt in Gang hielten, sondern jene Leute, die unter dem König die tägliche mühevolle Verwaltungsarbeit leisteten. Soviel erinnerte er sich noch aus den früheren Perioden als Machthaber, sowohl in der anderen Welt als auch an seine ersten Tage der Herrschaft in diesem Uruk der Nachwelt, woran er sich mit wachsender Deutlichkeit nun wieder zu erinnern begann.
»Ist sie dir zu schwer, Bruder, die Krone?« fragte ihn Enkidu.
»Sie sitzt ziemlich eng. Aber, nein, nein, ich will sie einigermaßen fröhlich tragen.«
»Ich hätte nie gedacht, daß ich dich wieder auf dem Thron sehen würde.«
»Ich auch nicht. Ich hatte geglaubt, ich hätte davon für ein ganzes Leben lang genug, vielleicht sogar für zwei Leben. Aber ich kann anscheinend den Kronen nicht auf Dauer entrinnen, dann finden sie mich wieder, was?«
»Scheint so, Bruder. Du mußt eben einfach ein König sein«, rief Enkidu. »Aber ich glaube, es ist nicht so übel. Soviel Wein, wie wir trinken können, und die Weiber, die wir besteigen werden, und gute Kleider, und ein warmes Fleckchen zum Schlafen — nicht so übel, Bruder gar nicht so übel!« Und er schlug Gilgamesch ausgelassen auf die Schulter und lachend zogen sie nebeneinander in die weite Festhalle ein, wo feiste Fässer voll Wein bereitstanden und an einem halben Dutzend Spießen gewaltige Fleischstücke brieten. »Gar nicht so übel!«
Nein, nicht so übel. Doch Gilgamesch begann sich nun ebenfalls zu erinnern, daß König sein mehr bedeutete als Pracht und Pomp und Prassen. Einst — in jenem kurzen Augenblick seines ersten Lebens — hatte er in einer Zeit der Bedrängnis Heil in dem Wissen gefunden, daß in der klugen Ausübung von Verantwortung die wahre Befriedigung für den Herrscher liege. Was sonst mit dem Königtum einherging, die schönen Paläste und die willfährigen Frauen und feinen Kleider und guten Weine und blitzenden Juwelen und derlei, das war weiter nichts als bedeutungsloser Zierat, flüchtig wie ein Lufthauch. Nur Narren strebten nach Macht, um so etwas zu bekommen, und solche Narren, auch wenn sie gekrönt sein und auf einem Thron sitzen mochten, besaßen keine königlichen Qualitäten. Ein Tor konnte eine dreifache Krone auf dem Kopf tragen, er blieb trotzdem ein Tor. Königtum lag in etwas anderem begründet als in äußerem Gepränge und privatem Vergnügen. Das wußte Gilgamesch. Die Sicherheit und Stabilität des Landes zu erhalten und zu mehren, das war die eigentliche Aufgabe für den König und seine höchste Befriedigung und sein ganzes Heil.
Vielleicht, dachte er, konnte er ja dieses Heil wieder erlangen, selbst in dieser verrückten Nachwelt.
Und unter solchen Gedanken fühlte er sich von der königlichen Größe nicht mehr so stark bedrängt, die auf scheinbar so zufällige Weise ihn überrumpelt hatte. Denn ein Zufall, ein Mißgeschick war es nicht gewesen, daß er wieder König sein mußte. Es gibt keine Zufälle, das wußte er. Es war sein Schicksal, und wie könnte der Mensch sein Schicksal als Falle oder als einen Zufall oder Unfall ansehen, da es doch der Wille der Götter ist? Obschon er sich bemüht hatte, diesem Geschick zu entkommen, es gab kein Entrinnen, also sei es denn! Dies war seine Bestimmung: zu herrschen — und klug und weise zu herrschen. Indem er sich dieser Aufgabe in der Nachwelt zu entziehen versucht hatte, hatte er sich die ganze Zeit um die Verwirklichung seiner wahren Natur gedrückt. Aber nun hatte er sich selbst wiedergefunden.
Im Morgengrauen, als das Festgelage zu Ende ging und überall im Festsaal satte und des Weines volle schlafende Gäste umherlagen wie achtlos hingeworfene Mäntel, durchstreiften Gilgamesch und Enkidu, die noch immer keine Ruhe fanden, zusammen die dunklen Gänge von Dumuzis Palast. Die ganze Länge des Palastes schritten sie ab, spähten in etliche der vielen Gemächer, die sich seitlich auftaten — die meisten davon waren leer, doch einige enthielten kleine Statuen und andere Ritualgegenstände —, dann stiegen sie über eine schmale steinerne Wendeltreppe zu den oberen Galerien, wo sie in den durchbrochenen Wänden des gewaltigen Gebäudes weitere Kammern wie die Zellen in einer Honigwabe entdeckten.
»Das ist ein wundervoll häßlicher Ort«, sagte Enkidu nach einiger Zeit. »Wieso drängte es ihn, eine solche Scheußlichkeit zu bauen?«
»Es gibt manche, die das schön finden«, entgegnete Gilgamesch. »Der Judäer Herodes erklärte mir, daß es sich um die Kopie eines Doms, eines berühmten heiligen Tempels der Spät-Toten handelt.«
Enkidu schüttelte sich. »Das hier? Ein Tempel? Die Götter mögen uns bewahren!«
»Als ich das zum erstenmal sah, sagte ich mir, wenn ich je wieder König in dieser Stadt werden sollte, dann würde es meine erste Regierungshandlung sein, das Ding abreißen zu lassen. Doch jetzt, wo ich die Königschaft wieder trage, fange ich an, darüber anders zu denken.«
»Du willst das Ding behalten?«
»Das Licht ist sehr schön, wenn es durch diese Buntglasfenster fällt. Und die hohen Decken — die merkwürdigen Spitzbögen — die Skulpturen an der Fassade — die mächtigen äußeren Stützbögen, die das Mauerwerk halten…« Gilgamesch schüttelte den Kopf. »Nach und nach beginne ich zu bewundern, was ich beim ersten Anblick scheußlich fand. Ja, ich glaube, ich werde es behalten. Vielleicht baue ich mir einen eigenen Palast, etwas, das mehr dem gemäß wird, was wir gewöhnt waren, doch ich glaube, es wäre falsch, den hier zu zerstören.«
Enkidu lachte. »Kannst du dich erinnern, Gilgamesch. Als ich damals nach Uruk kam — in das andere, das alte Uruk — und du mich zum Enmerkar-Tempel führtest, den dein Großvater errichten ließ, und du glaubtest, daß ich ehrfürchtig und erschüttert sein würde? Und ich hatte noch nie irgendeinen Tempel gesehen und war also ganz und gar nicht beeindruckt, weil ich mir weit mehr davon erwartet hatte…«
»Ja — aber ja.«
»…also habe ich mir das angeschaut, die Achseln gezuckt und gesagt: Ziemlich klein und ziemlich häßlich, nicht? Und du warst ganz schön beleidigt. Aber dann hast du das Ding abbrechen lassen und an seiner Stelle deinen eigenen Großen Tempel gebaut.«
»Der Tempel Enmerkars war alt und stark restaurationsbedürftig. Aber das erkannte ich erst, als du das sagtest.«
»Aber der Tempel, den du dann bautest, Bruder, der war wunderbar.«
»Willst du damit sagen, ich sollte das hier niederreißen lassen wie den Enmerkar-Tempel damals, nur weil es dir nicht gefällt?«
»Ganz und gar nicht«, antwortete Enkidu. »Ich sage nur, daß ich möglicherweise diesen Ort hier durch deine Augen sehen lernen werde und ihn vielleicht bewundern werde wie du, genau wie du einst den Tempel Enmerkars durch meine Augen sahst und erkanntest, wie er in Wirklichkeit war.«
»Ja«, sagte Gilgamesch. »Jetzt verstehe ich dich.«
Sie gingen weiter, bis sie die oberste Galerie erreicht hatten. Gilgamesch blickte über die Brüstung und sah den Boden der Festhalle weit unten, wo sich ein paar der betäubten Schläfer endlich zu regen begannen, als das heraufsteigende Morgenlicht durch die Palastfenster drang.
Nach einer Weile fragte er: »Sag mir, wie war das damals an jenem Tag in der Schlucht, als ich auf der Jagd war und die Karawane angegriffen wurde?«
»Ich wurde erschlagen«, sagte Enkidu.
»Das weiß ich. Ich hatte eine Vision davon, die ein schwarzer Zauberer in der Stadt Brasil für mich heraufbeschworen hat — durch Praktiken, über die ich selbst mit dir nur ungern sprechen möchte. Der Angriff durch die Hubschraubflieger, die Räuber, die Granate…«
»Dann weißt du ja Bescheid«, sagte Enkidu barsch.
»Ich weiß, was geschah. Aber willst du mir etwas über den Augenblick deines Sterbens sagen, Bruder? Denn das ist etwas, das zu erfahren mich große Neugier plagt.«
Enkidu blickte Gilgamesch seltsam an. Er wirkte mit einemmal düster und bedrückt, so wie er es selten, ja eigentlich nie an ihm gesehen hatte; denn Enkidu war ein unkomplizierter, ein erdgebundener Mensch, stets bereit zu lachen, von keinerlei Anflügen seelischer Verdüsterung geplagt, und dies war eine der Eigenschaften, deretwegen Gilgamesch ihn so liebte. Aber jetzt… jetzt…
»Es war weiter nichts«, sagte Enkidu schließlich. »Wie immer, wenn wir hier sterben. Ein Ende, und dann irgendwann später ein neues Beginnen. Es gab viel Lärm und, glaube ich, einen kurzen heftigen Schmerz und dann war alles vorbei. Und das nächste, was ich wahrnahm, ich war wieder ganz und heil und in dieser Stadt Uruk hier, die ich seit unzähligen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nun, es war nicht das Schlimmste, was mir hätte passieren können, hier in Uruk aufzuwachen, also ließ ich es mir gern gefallen. Ich dachte mir, vielleicht bist auch du hier, und so zog ich los und fragte nach dir, bis Dumuzi nervös wurde und mich einlochen ließ. Und dann bist du gekommen. Und das übrige weißt du ja.«
Gilgamesch starrte ihn an. »Also wußtest du von diesem Uruk in der Nachwelt?«
»Aber sicher doch.«
»Ich meine dieses hier, nicht das Uruk aus unserem ersten Leben.«
»Das da, klar. Das Nachwelt-Uruk, das du selbst vor langer Zeit gegründet hast, über das du, ich weiß nicht wieviele hundert Jahre, geherrscht hast. Und ich war genau hier, an diesem Ort die ganze Zeit bei dir, Gilgamesch.«
Gilgamesch fühlte ein Brausen im Kopf. »Die ganze Zeit, in der wir zusammen durchs Outback streiften, konntest du dich daran erinnern, daß wir einmal hier gelebt haben und daß ich hier König war?«
»Aber natürlich doch. Sicher.«
»Und hast nie ein Wort darüber zu mir gesagt?«
Enkidu sah ihn verwirrt an. »Aber das habe ich doch. Oft. Wie oft haben wir uns gegenseitig von den guten alten Tagen im Nachwelt-Uruk erzählt, Gilgamesch, wenn wir nach einer langen Jagd spät am Lagerfeuer saßen. Oft und oft.«
»Wäre das möglich? Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern.«
»Willst du damit sagen, wir hätten nie so miteinander gesprochen?«
»Ich sage nur, ich habe keine Erinnerung daran.«
»Aber das bedeutet nicht, daß es nicht so war, Bruder.«
»Vielleicht hast du aber nie mit mir darüber geredet.«
»Aber das habe ich! Ich habe es!« In Enkidus Augen glomm nun Verärgerung auf. »Was sollen diese ganzen Fragen bedeuten, Gilgamesch? Was beunruhigt dich? Ich sage dir, wir haben oft über das Nachwelt-Uruk gesprochen und uns gefragt, wer dort an der Macht sein mochte, und ob er ein gerechter Herrscher sein würde, und vielerlei in dieser Richtung.«
»Ich habe das alles vergessen.«
»Was?«
»Ich sage es dir doch. Ich konnte mich an nichts aus diesem Uruk hier erinnern, oder daran, daß ich hier König war, bis vor einer ganz kleinen Weile«, sagte Gilgamesch und drückte die Hand seitlich gegen den Kopf, wo er auf einmal Schmerzen verspürte. »Auch nicht daran, daß wir jemals in unseren Jahren im Outback darüber gesprochen hätten. Simon Magus in Brasil forderte mich auf, mit ihm nach Uruk zu suchen, und ich fragte, was für ein Uruk, es gibt kein Uruk in der Nachwelt! Und nach einiger Zeit bekam ich einige Beweise, daß ich mich da geirrt hatte, aber ich zweifelte immer noch daran, und ich zweifelte, bis ich tatsächlich hier eintraf. Und nun kehrt mir alles mehr und mehr zurück. Ja. Aber in all den Jahren fern von hier war mir das alles aus der Erinnerung entschwunden.«
»Aus deiner Erinnerung entschwunden, Bruder? Nun ja, so geht das eben oft zu in der Nachwelt«, sagte Enkidu und zuckte die Achseln. »Es ist ein Ort voll höllischer Tricks.«
»Ja, wahrhaftig.«
»Ich stelle mir vor, daß es dich enorm beunruhigt haben muß, nicht, als dieser Simon dir gegenüber anfing, von dieser Stadt zu sprechen, und du hattest gar keine Ahnung.« Enkidu sah ihn eindringlicher an. »Bruder, könnte das der Grund sein, weshalb du mich fragtest, wie das bei meinem Tod war? Hast du denn auch vergessen, wie der Tod hier an diesem Ort ist?«
»Wie könnte ich etwas vergessen, das ich nicht erfahren habe? Ich bin nie — «
Er sah das Funkeln in Enkidus dunklen Augen und brach ab.
»Du meinst, daß auch ich in der Nachwelt gestorben bin?« fragte Gilgamesch nach einer langen gewichtigen Pause.
»Da du fragst, kennst du die Antwort nicht.«
Scharf und fest sagte Gilgamesch: »Ich bin nur einmal gestorben, Bruder, und das war in der anderen Welt, als ich alt war und schwer an Jahren und mein Königtum um mich herum groß, und da kam die Dunkelheit zu mir in meinem Schlaf. Aber hier — nein, Enkidu, hier nicht, niemals, nicht ein einziges Mal.«
Enkidu sah belustigt drein. »Nicht ein einziges Mal? In Tausenden von Jahren, die du inmitten all der Gefahren hier zugebracht hast?«
»Willst du sagen, ich bin gestorben?«
Gilgamesch zitterte jetzt.
»Ja, Bruder«, sagte Enkidu leise.
»Wann?«
»Wann? Wie sollte ich das wissen? Wer könnte hier schon die Jahre zählen? Aber laß mich mal nachdenken. Da war die Sache damals in Santo Domingo, als die Erde um dich herum zu Treibsand wurde und dich verschlang, das war das eine Mal. Und das andere Mal, als der Berg aus Eis einstürzte in der Großen Borealis. Und auf der Estotiland-Insel, als das Ungeheuer aus dem Meer auftauchte…«
Gilgamesch schwindelte es. Die Bodenplatten schienen ihm unter den Füßen zu schmelzen. Es gab nichts Festes in dieser Welt, keine Realität, auf die man sich verlassen konnte.
»Götter! Was sagst du mir da? Wie oft hat mich hier schon der Tod geholt?«
Enkidu hob die Handflächen nach oben, »Kann ich nur schwer sagen. Fünfmal? Zehnmal? Ich konnte es nicht zählen. Ich konnte noch nie gut zählen, Bruder. Aber oft genug war es. Du weißt doch, es geschieht uns allen immer wieder und wieder.«
»Ich erinnere mich nicht an derlei«, sagte Gilgamesch mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war.
»Auch ich muß wohl vieles vergessen haben, Bruder. Da kann es keinen Zweifel geben. Die Tafel wird immer wieder saubergewischt. Und was macht das schon? Wir leben, wir sterben, wir leben und sterben wieder — so geht das hier nun einmal. Wenn wir alle unsere Erinnerungen gleichzeitig im Gedächtnis behalten müßten, wir würden verrückt werden. Allerdings glaube ich manchmal sowieso, daß wir alle verrückt sind.«
»Tode — so viele Tode zu sterben…« murmelte Gilgamesch.
Er starrte blicklos geradeaus und sah sich dabei selbst stürzen und immer wieder stürzen, wie einen großen Baum, der irgendwie immer erneut gefällt werden konnte. Er sah sich leblos auf einer kahlen Ebene liegen, sah sich am Rand einer stürmischen See, auf dem Kamm eines von Wölfen durchheulten Berges. Und jedesmal erwachte er wieder und begann neu und erinnerte sich an nichts mehr. Daß er so viel vergessen konnte, daß die trügerische Nachwelt ihn so umfassend beeinflussen konnte, das traf ihn hart. Sein Gesicht brannte vor Scham. Und auch vor Selbstverachtung wegen seines erbärmlichen Stolzes, der ihn veranlaßt hatte, so zu tun, als sei er hierorts unangreifbar und unverletzlich, und weil er selbst an seine Angeberei geglaubt hatte.
»Gilgamesch?« fragte Enkidu.
»Einen Augenblick, bitte. Das verwirrt mich alles.«
»Nicht, Bruder! Laß es leicht von dir abgleiten.«
»Wenn ich das nur könnte!«
»Ach ja. Die Vorstellung vom Sterben bedrückte dich schon immer. Immer noch?« sagte Enkidu. »Aber der Tod kommt doch so leicht. Und man sollte ihn ebenso leicht nehmen.«
»Ja. Da sagst du was Wahres.«
»Dann streife die Gedanken daran ab. Laß los!«
Gilgamesch nickte und wandte das Gesicht ab.
Aber es gelang ihm nicht, die Düsternis abzuschütteln, in die ihn Enkidus Erklärung eingesponnen hatte. Eine Illusion nach der anderen war ihm fortgerissen worden, seit jenen unschuldsvollen Tagen, als er im Outback umherzog, und es fiel ihm schmerzlich schwer, dies auszuhalten. Er stand reglos da und klammerte sich an die steinerne Brüstung der hohen Galerie, als fürchtete er, auf den Boden hinabzustürzen, wenn er den Griff lockerte. Verzweifelt mühte er sich um Fassung.
»Ach, komm schon, Bruder!« Enkidu neigte sich zu ihm und knuffte ihr lachend sanft mit den Fäusten, als wollte er ihn so aus seiner brütenden Trübsal locken. »Was bedeutet schon ein kleiner Tod oder zwei? Das passiert uns doch allen. Aber jetzt leben wir, oder leben wir etwa nicht, und du bist wieder ein König, und alles steht gut, Bruder. Alles steht bestens!«
Einige Tage später fand sich Simon der Magier vor Gilgamesch in dessen Audienzzimmer ein; er roch nach Wein und sah mitgenommener aus denn je. Er sagte: »Ich gedenke in Kürze wieder nach Brasil aufzubrechen.«
»Du weißt, du bist mir als Gast herzlich willkommen, solange du bleiben möchtest, Simon.«
»Ich danke dir für deine Großzügigkeit. Doch ich war lange genug von meiner eigenen Stadt weg. Wer weiß, was sich dort alles getan hat, während ich hier in Uruk weile?«
»Gewiß haben doch deine Weisen und Zauberer in Brasil alles sorgfältig unter Kontrolle«, sagte Gilgamesch.
»Ja. Hoffe ich jedenfalls.«
Es folgte ein unbehagliches Schweigen. Gilgamesch hatte den Eindruck, daß Simon mehr auf dem Herzen hatte, als nur sich zu verabschieden, etwas von beträchtlicher Wichtigkeit, doch Simon wartete einfach stumm, mit kalten zusammengekniffenen Äuglein, und die Flecken und Verfärbungen in dem weichen Schwabbelgesicht traten feuriger hervor als gewöhnlich.
»Möchtest du einen Becher Wein?« fragte Gilgamesch schließlich.
»Wein ist mir stets willkommen. Ja, danke.«
Gilgamesch winkte. Ein Diener brachte einen Krug voll des schweren dunklen Uruk-Weins.
Simon trank kräftig, verschüttete ein wenig davon auf seine bereits von dunkelpurpurnen Flecken besudelte Toga und sagte: »Nun hast du also dein Königtum zurück, Gilgamesch.«
»So ist es.«
»Die Königsherrschaft, die du so hartnäckig nicht hast haben wollen.«
»Sie ist mir zugefallen. Es wäre falsch gewesen, sie abzulehnen.«
»Ja, wahrlich falsch«, sagte Simon. »Es gibt so etwas wie eine fundamentale Richtigkeit, der man sich fügen muß, und wir erkennen sie, wenn wir auf sie stoßen. Es ist eine Kraft, geteilt zwischen Oben und Unten, sich selber erschaffend, selbst vergrößernd, eigensüchtig, selbstzufrieden, sie ist ihre eigene Mutter, ihr eigener Vater, ihre eigene Schwester, ihr eigener Gemahl, ihr eigner Sohn, Mutter, Vater, der Ursprung aller Dinge.«
Gilgamesch blinzelte, zog die Brauen zusammen und sah ihn starr an.
»Was du da sagst, ist schwer zu verstehen, Simon.«
»Ich finde es recht klar.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte Gilgamesch. »Aber du bist ein Weiser und ein Zauberer. Du steckst voll solch seltsamen Weisheiten und Rätselworten. Ich aber bin nur ein einfacher Krieger.«
»Und ein König.«
»Ja, und ein König.«
»Ein sehr großzügiger König.«
Gilgamesch winkte, daß Simons Glas erneut gefüllt werde. Ungeduld stieg in ihm auf.
»Genug von dem Getänzle, Simon. Was möchtest du von mir erbitten?«
»Ich erinnere dich daran, daß wir als Partner hierher gekommen sind. Du, um dein Uruk und deinen Enkidu wiederzufinden, und ich…«
»… um die Schätze Uruks zu plündern, ja.«
»Ja.«
Gilgamesch lächelte. »Aber es gibt hier keine Edelsteine, Simon.«
»Wie willst du das wissen?«
»Es sind in den Wänden deines Palastes in Brasil auf einer Elle mehr Edelsteine angebracht, als ich in ganz Uruk gesehen habe.«
»Ah. Aber da irrst du dich.«
»Irre ich mich? Dann klär mich auf.«
Simon kam näher und sagte mit gedämpfter Stimme: »Hier gibt es Schätze im Überfluß. Ich habe meine Methoden, Informationen zu bekommen. Ich habe nicht mein ganzes Zauberhandwerk vergessen, Gilgamesch. Rufe deine Hofbeamten zusammen und befrage sie, was sie von Dumuzis Schatz wissen, und du wirst höchst erstaunt sein.«
»Ich gewöhne mich allmählich an große Überraschungen«, sagte Gilgamesch.
»Nun, du wirst eine weitere erleben. Es gibt hier Schätze, genau wie es die Erzählungen behaupten.« Seine Gesichtsfarbe wurde dunkler. Die Lippen und Kiefer mahlten lüstern wie die eines hungrigen Vielfraßes. »Wir hatten eine Abmachung, Gilgamesch! Wir kamen als Partner hierher. Ich erinnere dich daran, Gilgamesch — ich erinnere dich daran, daß…«
Der Sumerer hob die Hand und nickte. Doch Simon gab sich damit nicht zufrieden.
»Ich will meinen Anteil! Ohne mich hättest du nie auch nur eine Ahnung von diesem Ort hier gehabt! Ich mahne dich, Gilgamesch — ich flehe dich an, verweigere mir nicht, was ich suche. Ich bitte dich sehr.«
»Du brauchst keine Befürchtungen zu haben, Simon«, sagte Gilgamesch ruhig. »Ich schlage dir nichts ab, soweit es im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt, es dir zu gewähren. Aber erst laß mich mal diesen Schatz finden, den es, wie du behauptest, hier gibt. Bisher habe ich nur deine Behauptung, daß er existiert, deshalb kann auch ich dir heute nur Worte geben. Aber wenn ich die Schätze habe, ach, Simon, dann sollst du deinen vollen Anteil davon haben. Das schwöre ich dir hiermit.«
»Ehrlich?«
»Bei der Seele meiner Mutter schwöre ich es.«
»Sehr gut, Gilgamesch. Aber bald, ja? Bald.«
»Ja. Bald.«
Dann ging Simon, scheinbar beruhigt, nach einem weiteren Schluck Wein und einem eindringlichen fragenden Blick, den er Gilgamesch zuwarf. Dieser schaute ihm nach, verwundert darüber, daß Simon von einer so tiefen Gier beherrscht war. Und wonach? Nach lächerlichen Glitzersteinen? Das erschien Gilgamesch als noch sinnloser als Gier nach Macht, von der so viele Männer und nicht wenige Frauen in wüste und fruchtlose Mühen getrieben worden waren. Da war dieser Simon, ein gescheiter Mensch, sogar ein Philosoph, und der gierte und geiferte mit kindischer Sucht nach hübschen Klunkern, was so abstoßend wirkte bei einer Person, die so weit über das Kindesalter hinaus war. So vor ihm herumzuhängen, Andeutungen zu machen, sich zu winden und am Ende einfach um die Kinkerlitzchen zu betteln, nach denen er gierte.
Schön, sollte es hier für Simon Edelsteine geben, so sollte er sie bekommen. Gilgamesch hatte keine Verwendung für so etwas. Er ließ den Oberaufseher der Königlichen Truhen rufen, einen eunuchenhaft feisten sumerischen Glatzkopf namens Akurgal, und sagte: »Gehört die Pflege des Reichsschatzes zu deinem Aufgabenbereich?«
»Dem ist nicht so, Majestät.«
»Gehört der Reichsschatz nicht zur Königlichen Truhe?«
»Meiner Fürsorge sind die Kleider und persönlichen Gegenstände der Majestät, Euer Majestät…«
»Aber es gibt hier doch einen Reichsschatz? Juwelen und dergleichen?«
»So ist es, Majestät.«
»Wer besorgt den?«
Akurgal überdachte das. »Der Hüter des Ereshkigal-Tempels vielleicht. Nein, möglicherweise ist es der Waffenmeister der Inanna. Aber nein, nein — das ergibt ja kaum einen Sinn — etwas von solcher Wichtigkeit würde man bestimmt nicht dem anvertrauen — erlaube, daß ich noch einen Augenblick nachdenke, Majestät, nur noch ein Augenblickchen…«
»Von einem Wurstkranz bekäme ich rascher Antwort«, sagte Gilgamesch, und sein Gesicht verfinsterte sich.
»Ich denke nach, Euer Majestät, ich denke…«
»Du wirst bald selber ein Strang von Würsten sein, wenn du mir nicht sofort sagst, was ich wissen will.«
»Der Kammerherr der Enlil-Schärpe!« keuchte Akurgal verzweifelt.
»Ach ja?«
»Ja, der Kammerherr der Enlil-Schärpe. Ja, wahrhaftig, Majestät. Er ist der Mann!«
»Bring ihn her zu mir!«
»Sofort, Majestät. Sogleich.«
Mit rudernden Armen und flatternden Kleidern trabte Akurgal davon. Gilgamesch lachte. Wenige Minuten später erschien ein weiterer Funktionär vor ihm, ein hagerer Mann mit einem Gesicht wie ein Hackmesser, deutlich assyrischem Aussehens, trotz des sumerischen Namens: Ur-Namhani. Als Gilgamesch ihm seinen Willen kundtat, sah ihn Ur-Namhani lange fest an, als disputierte er innerlich, ob er dem Befehl gehorchen sollte. Nach geraumer Zeit sprach er mit großer Würde und einer unverhohlenen Verärgerung: »Der Schatz befindet sich im Tempel Enlils. Soll ich ihn herbeischaffen lassen, oder wollt Ihr mich hinbegleiten?«
»Wir begeben uns dorthin.«
Keine von Simons wilden Wunschphantasien hatte ihn angemessen auf das vorbereitet, was ihn in den dunklen, dumpfkalten Gewölben unter dem Tempel des Göttervaters erwartete. Ur-Namhani holte einen Schlüsselring hervor und schloß gewichtig Tor um Tor auf, während sie durch eine Reihe enger Gänge schritten, bis sie die innerste Kammer erreichten, und als dort Licht gemacht worden war, sah Gilgamesch vor sich ein Übermaß an Reichtum, das jegliche Vorstellung überstieg. Wo immer sein Auge hinfiel, waren Säcke, Truhen, Kästen, Beutel, Kassetten, die von allen erdenklichen Kostbarkeiten überflossen, und im Schatten dahinter deuteten sich weitere Schätze an und so weiter und so fort in ein unausmeßbares Gewirr von Höhlen.
Über Mannshöhe waren da Goldziegel gestapelt, fässerweise Schmuckstücke, Halsketten, Armreifen, Ringe, Spangen, Broschen, Manschetten, alles von feinstem Goldschimmer. Da gab es Lavallieren, Halsringe, Gehänge, Ketten, Anstecknadeln, Diademe, Solitäre. Säcke voll Perlen. Es gab große Haufen Goldmünzen. Gilgamesch hob eine Handvoll auf und sah die Köpfe von Kaisern und Königen und auf der Rückseite wilde Greife und Drachen. Er sah Hufeisen aus Gold und Dolche und Gürtelschnallen und Zierat in Gestalt von Brücken, Karossen und Burgen. Es gab goldene Zahnstocher und Goldkästchen, die funkelnde Diamanten enthielten, und auf Goldschnüre aufgezogene Diamantenketten. Aus übervollen geborstenen Leinensäcken ergossen sich Edelsteine; sie leuchteten in allen Farben, rot und grün und gelb und blau und strahlend weiß und noch einem Dutzend weiterer Färbungen, und Gilgamesch tauchte die Hände hinein und ließ funkelnde Ströme durch die Finger rieseln: Rubine, Smaragde, Saphire, Opale, Amethyste, Jaspis, Karneole, Chrysoberylle und Mondsteine, Türkise, Bernstein, Korallen, Jade. Es nahm kein Ende. Kein Wunder, daß Simon Magus so gierig darauf war, die Stadt zu erobern. Lange durchforschte Gilgamesch schweigend diese Wunderkammern. Dann wandte er sich dem wartenden Ur-Namhani zu.
»Sind diese Dinge wirklich? Echt?«
»Echt?«
»Zauberschwindel oder echte Juwelen?«
»Oh, sie sind echt, Euer Majestät, höchst definitiv echt«, sagte Ur-Namhani in hochnäsig-herablassendem Ton. »Zusammengetragen von Dumuzi aus jedem Winkel der Welt — zum Ruhme Enlils. Es verging nicht ein Jahr, ohne daß in diesen Verliesen ein weiteres Vermögen an Schätzen eingelagert wurde, das gereicht hätte, um das Lösegeld für jeden König zu bezahlen.«
Gilgamesch nickte. »Ich hätte mir nicht gedacht, daß es in dieser Stadt genügend Gauner gibt, um eine solche Menge Plunder zusammenzustehlen, nicht einmal in tausend Jahren. Eine sehr beeindruckende Ausbeute. Sehr beeindruckend.« Er erhob sich und warf zwei Handvoll blitzender Kostbarkeiten zurück in das nächste Faß. In seinem Kopf hämmerte es. Das Ausmaß der gehorteten Schätze war betäubend, sogar für ihn, dem derart plumper grober Reichtum wahrlich kein Vergnügen bereitete. Allein schon das Übermaß war bedrückend, und dennoch ließ sich nicht leugnen, daß die Masse Macht ausübte. »Also schön. Ich werde dir Simon Magus schicken — meinen Gast, den fetten zechfreudigen Alleinherrscher der Insel Brasil. Du weißt, welchen ich meine?«
Ur-Namhani neigte kurz bejahend den Kopf.
»Du gibst ihm alles aus dieser Kammer hier, was er haben möchte«, sagte Gilgamesch.
Der Kämmerer der Schärpe Enlils keuchte: »Alles?«
»Laß ihn sich vollstopfen.«
Die Augen des Schatzhüters quollen bestürzend vor. »Aber — Euer Majestät — verstehe ich Euch richtig? — Ich ersuche Euch zu bedenken…« Ur-Namhani holte tief Luft. »Was, wenn er alles fordert?«
»Dann wird seine Rückreise nach Brasil ziemlich langsam vonstatten gehen, wenn er mit nur fünf Wagen so viel und sein sonstiges Gepäck transportieren will.«
»Majestät… Majestät…«
Gilgamesch lächelte. »Ich bezweifle irgendwie, daß sogar Simon soviel Frechheit besitzt, alles zu verlangen. Aber händige ihm aus, was er haben will. Wahrscheinlich werden ihn nur die Edelsteine interessieren, denke ich mir. Er kann auch das Gold haben, wenn ihn danach gelüstet. Wir brauchen derlei Zeug hier nicht.«
»Aber Euer Majestät, das sind heilige Dinge! Es ist der Schatz Enlils!«
»Und Enlil ist unser aller Vater«, erwiderte Gilgamesch. »Wenn er die Welt erschaffen kann und die Nachwelt dazu, dann kann er sich doch bestimmt sechs weitere Schatzhäuser erschaffen, die ebenso reich wie dies hier sind. Hier unten im Keller eingeschlossen, tut das ganze Zeug keinem etwas Gutes. Simon liebt immerhin diese Steine wenigstens und wird seinen Palast damit schmücken, oder vielleicht seine ganze Stadt. Mich kümmert das nicht. Gib ihm, soviel er will, Ur-Namhani, Hast du verstanden? Gib ihm reichlich!«