11

Wieder die verwinkelte Kammer in der Stollenhöhle. Die schwelenden Fackeln in den Messinghaltern. Die Trommeln, die Pfeifen, die Masken, die Tänzerinnen. Die langbeinigen schwarzen Männer bei unerklärlichen Riten im Schattendunkel. Der Honigwein, das schimmernde Salböl. Es war Gilgameschs dritter Besuch im Hause des Imbe Calandola. Wieder würde er die Öffnung erfahren, wieder diesen anderen stärkeren, den dicken süßen roten Wein trinken. Wieder würde er über die Trennwände hinwegschauen, die Seele von Seele abgrenzen; und diesmal, vielleicht, würden alle geheimnisvollen Schleier fortgenommen, und er würde erfahren dürfen, was zu erfahren er gekommen war.

»Ich glaube, du bist nun bereit«, erklärte Calandola. »Für das profundere Fest. Für die volle Erkenntnis.«

»Ja, reicht mir den Wein«, bat Gilgamesch.

»Heute wird es nicht nur Wein sein«, erklärte Calandola.

Aus dem Dunkel Gesang und Trommeln. Feuer flackerten hinter dem Thron des Imbe-Jaqqa. Ein Geräusch wie von Wasser, das in einem großen Kessel brodelt.

Ein Zeichen von Calandola.

Der Mundschenk trat vor, ebenso die Schüsselträgerin. Wieder trank der Hund Ajax zuerst, danach Herodes, dann Gilgamesch selbst. Doch diesmal trank auch Calandola und trank tief und gebot immer aufs neue, die Schale zu füllen, bis seine Lippen und die Kehle ganz vom Rot beschmiert waren.

»Belial und Beelzebub«, flüsterte Herodes. »Moloch und Luzifer!«

Gilgamesch spürte wieder, wie ihn das seltsame Gefühl der Öffnung überkam. Er kannte die Anzeichen inzwischen: eine unheimliche Gedämpftheit der Geräusche bei gesteigertem Bewußtsein. Unsichtbares streifte ihn in der Luft. Er vernahm ein tiefes Summen, das wie aus dem Herzen der Welt zu dringen schien. Er konnte die Seele des Hundes Ajax und die des Hebräers Herodes berühren; und nun enthüllte sich ihm auch die schreckliche Gegenwart des schwarzen Calandola. Enthüllte sich und blieb dennoch verschlossen, denn obwohl Gilgamesch Calandolas Inneres sah, war da nur eine riesige schwarze Felswand, die vor ihm aufragte, undurchdringlich, unbezwingbar.

»Nun sollst du teilhaben an unserem Fest«, sagte Calandola. »Und die Erkenntnis wird auf dich niederfahren, König Gilgamesch.«

Er warf den Kopf in den Nacken, lachte und ließ seine mächtigen Arme niedersausen wie zwei dicke Keulen. Die Musikanten vollführten ein schmetterndes Getöse mit Donner und schrillem Kreischen. Der Thron ward zur Seite gerückt, und da stand ein gewaltiger metallener Kessel, in dem etwas über einem Feuer aus Scheiten brodelte.

Die Jünger Calandolas bereiteten offenbar eine dicke kräftige Suppe.

Zwiebeln kamen in den Kessel und Lauch und Pfefferschoten, Bohnen und Gurkenkürbisse, Granatäpfel und alle anderen erdenklichen Gemüse und Früchte. Das dampfende Gefäß schien bodenlos zu sein. Maiskolben, Säcke voll Feigen, dicke knollenartige Wurzeln verschiedener Art, und das meiste darunter Gilgamesch unbekannt. Händevoll Knoblauch und noch größere Mengen Rettich, ganze Ingwerstücke. Ein Faß voll eines dunklen Weins, über dessen Herkunft Gilgamesch lieber nicht nachdenken wollte. Fünfzigerlei Gewürze. Und Fleisch. Gewaltige Stücke bleiches rohes Fleisch, das mitsamt der Knochen ganz in den Kessel geworfen wurde.

Eine leichte Beunruhigung regte sich in Gilgamesch Er sagte zu Herodes: »Was ist das für Fleisch, was denkst du?«

Herodes starrte fest auf den Kessel, ohne zu blinzeln. Er lachte auf seine merkwürdig schartige Art. »Eines, das nicht koscher ist möchte ich wetten.«

»Nicht koscher? Was heißt das?«

Doch Herodes gab keine Antwort. Ein Schauder überlief ihn und ließ ihn am ganzen Leib zittern wie ein vom Herbststurm gepeitschtes Bäumchen. Sein Gesicht glühte wie damals, als er ihn bei dem Vulkanausbruch gesehen hatte. Er sah aus wie einer, den ein starker Zauber gebannt hält.

Dank des gemeinsam getrunkenen Weines sah Gilgamesch in die Seele Herodes’. Und was er sah, ließ ihn erstaunt und entsetzt zurückfahren.

»Solches Fleisch?«

»Es heißt, es gibt kein besseres für diesen Zweck, König Gilgamesch.«

Sein Magen krampfte sich zusammen, und er würgte.

Er hatte in vielen fremden Landen viele seltsame Sachen gegessen. Aber niemals dies. Das Fleisch der eigenen Artgenossen zu verzehren?

Nein. Nein. Nicht einmal hier in der Nachwelt!

Hie und da hatte er Geschichten gehört über bestimmte Rassen in fernen Weltgegenden, die so etwas taten. Nicht aus Hunger, sondern aus religiös-magischen Gründen. Um die Kraft, das Wissen oder die geheimnisvollen Tugenden anderer in sich aufzunehmen. Er hatte das nur schwer glauben können, daß Menschen so etwas taten.

Doch aufgefordert zu werden, das auch noch selbst zu tun…?

»Unvorstellbar. Abscheulich! Verboten!«

»Verboten von wem?« wisperte Herodes.

»Also… von…« Er konnte nicht weitersprechen.

»Wir leben in der Nachwelt, König Gilgamesch. Hier ist nichts verboten. Hast du das vergessen?«

Gilgamesch sah ihn starr an. »Und du hast allen Ernstes vor, diese Scheußlichkeit mitzumachen? Du willst, daß ich es gemeinsam mit dir tue?«

»Ich will gar nichts von dir«, erwiderte Herodes. »Aber du bist hergekommen, weil du Wissen suchst.«

»Und das bekommt man dadurch?«

Herodes lächelte. »So heißt es. Es ist das Tor, der Zugang zur Großen Offenbarung, die zur Erkenntnis führt.«

»Und du glaubst diesen wahnsinnigen Quatsch?«

Der judäische Fürst wandte sich zu ihm und sah ihn mit einem erschreckend glaubensfiebrigen Blick an.

»Tu, wie es dir beliebt, König Gilgamesch. Doch wenn du Erkenntnis willst, dann nimm und iß davon. Nimm und iß!«

»Nimm und iß!« dröhnte Calandolas Stimme. »Nehmt euch und esset!«

Die Kannibalen hüpften und tanzten. Eine Frau, vom Schädel bis zu den Zehen mit weißem Kalk bemalt, trug einen Rock aus Stroh, anscheinend eine Art Kostüm für Hexer. Sie eilte zum Zauberkessel, zog ein Stück Fleisch mit bloßen Händen aus der brodelnden Brühe und hielt es in die Höhe.

»Ayayya! Ayayya!« brüllten die Jaqqa. »Ayayya!«

Die Strohhexe trug das Fleisch zu Calandola und hielt, es ihm zur Begutachtung hin. Er grunzte zustimmend, packte das Fleisch mit beiden Händen und grub die Zähne hinein.

»Ayayya! Ayayya!« brüllten die Jaqqa.

Gilgamesch merkte, wie der Wein der Wilden von seiner Seele Besitz ergriff. Er schaukelte im Rhythmus der gellenden mißtönenden Musik. Herodes neben ihm schien inzwischen gänzlich entrückt, völlig verloren zu sein in faszinierter Hingabe an die abscheuliche Zeremonie. Als hätte er sein Leben lang und sogar in seinem Leben nach dem Leben darauf gewartet, sich den krankhaften Mysterien Calandolas auszuliefern. Oder aber, als könnte er nicht anders, als sich dem hinzugeben wohin immer es ihn bringen würde.

Und ich selbst spüre es auch, wie es mich mitreißt, dachte Gilgamesch bestürzt und erstaunt.

»Nimm«, sagte Calandola. »Iß!«

Genüßlich hielt er Gilgamesch das dampfende Stück Fleisch hin.

Ihr Götter! Enlil und Enki und Himmelsvater An, was tue ich denn da?

Aber die Götter wohnten weit von hier. Gilgamesch sah starr auf den Klumpen Fleisch.

»Dies ist der Weg zur Erkenntnis«, sagte Calandola.

Dies?

Nein. Nein. Nein und NEIN!

Er schüttelte den Kopf. »Es gibt Dinge, die zu tun ich nicht bereit bin, nicht einmal, um Erkenntnis zu gewinnen.«

Der Duft aus dem Kessel mischte sich mit dem Geruch eines unbekannten Weihrauchs, der in großen Schalen daneben schwelte, und Gilgamesch fühlte, daß er mehr benommen wurde und zu schwanken begann. Er drehte sich um und taumelte drei Schritte auf den Ausgang zu. Die Gläubigen und Ritualdiener wichen beiseite und machten ihm Platz, als er davonstolperte. In seinem Rücken hörte er das kollernde Gelächter Calandolas, der ihn wegen seiner Feigheit verhöhnte.

Dann trat Herodes ihm in den Weg und hielt ihn auf. Der kleine Mann wirkte wie ein Bogen mit gespannter Sehne, er zitterte und bebte.

Heiser rief er: »Geh nicht fort, Gilgamesch!«

»Das hier ist kein Ort für mich.«

»Aber die Erkenntnis — was ist mit der Erkenntnis?«

»Nein.«

»Wenn du versuchst, hier wegzugehen, wirst du ohne mich nie durch diese Stollen hinausfinden.«

»Ich werde es eben darauf ankommen lassen.«

»Ich bitte dich«, sagte Herodes. »Bitte! Bleib. Warte. Empfange mit mir das Sacramentum, die Heiligung!«

»Das Sakrament? Die Heiligung? So nennst du das da?«

»Es ist der Weg zur Erkenntnis. Geh ihn mit mir. Tu es für mich. Weise mich nicht zurück. Weise mich nicht ab. Wir sind schon beinahe dort, Gilgamesch; der Wein ist in unseren Seelen, unser Geist öffnet sich bereits füreinander. Nun folgt die Erkenntnis. Bitte! Bitte!«

Noch nie hatte Gilgamesch im Gesicht eines Menschen einen derart flehentlichen Ausdruck gesehen. Nicht einmal in der Schlacht, wenn er die Streitaxt hob, um einem Feind den Todesstreich zu versetzen. Herodes streckte Gilgamesch die Hände entgegen. Gilgamesch zögerte.

»Auch ich bitte dich«, ertönte eine Stimme links von ihm. »Geh nicht fort von hier. Laß nicht treue Freunde im Stich!«

Es war Ajax.

Der Hund schwankte flackernd wie Schatten, die vom Feuer auf eine Wand geworfen werden: einmal war es der große gescheckte Hund, dann das fremdartige kleine Wespenweib, dann, für einen kurzen Augenblick, flüchtig eine menschliche Gestalt, eine Frau mit traurigen Augen, die scheu und hilflos lächelte.

»Wenn du von dem Fleisch ißt, kannst du mich befreien«, sagte der Hund. »In die Seele vordringen, Hund und Geist trennen. Du hättest die Kraft. Die arme leidende Seele in den nächsten Grad zu senden, den Hund als Hund fortbestehen zu lassen. Ich flehe dich an, mächtiger König.«

Gilgamesch sah den Hund unschlüssig an. Sein jammerndes Flehen rührte ihm tief ans Herz.

»Deine Freunde, gewaltiger Held. Vergiß nicht deiner Freunde in der Stunde der Erlösung. Die lange Versklavung soll enden! Und du allein vermagst die Freiheit zu schenken!«

»Ist dies die Wahrheit?« fragte Gilgamesch Herodes.

»Möglich. Das Ritual verleiht denen große Macht, die bereits Kraft in sich tragen.«

»Vergiß nicht deiner Freunde!« jammerte die Wespenfrau laut, in einem Versuch, das wahnsinnige Getöse um ihn zu durchdringen. Und eine innere Stimme befahl ihm: Tu es. Tu es!

Und warum nicht? Warum nicht? Warum denn nicht?

Dies ist die Nachwelt, und es gibt auch keinen Weg von hier fort.

Er ging zu Calandola hinüber, der ihm noch immer das Fleisch entgegenhielt. Der Kannibalenhäuptling grinste ihn zähnefletschend an, doch er begegnete dem grimmigen Ausdruck mit Gelassenheit und ergriff das Stück Fleisch. Dann wog er es einen Augenblick in der Hand. Es war warm und zart, ein vorzügliches, saftiges Stück. Aus den verschütteten Tiefen seiner Erinnerung kamen ihm Worte in den Sinn, die man ihn vor fünftausend Jahren gelehrt hatte, als er jung war und der neue König und bei der nächtlichen Zeremonie der Heiligen Hochzeit vor den Priestern Uruks kniete:


Was gut dir selbst erscheint

Verbrechen ist es vor dem Gott.

Was deinem Herzen böse scheint

Gut ist es vor deinem Gott.

Wer könnte begreifen, was die Götter sinnen

In den Tiefen ihres Himmels?


»Nimm es schon«, keuchte Herodes. »Iß!«

Ja, dachte Gilgamesch. Das ist der Weg. Er hob den Fleischbrocken an die Lippen. »Ayayya! Ayayya! Ayayya!«

Er biß kräftig hinein, schmeckte und schluckte, und von dem nahen Vulkan erklang ein schreckliches Getöse, und die Erde erbebte, und als er das verbotene Fleisch kostete, drang im gleichen Augenblick die Erkenntnis in ihn.

Es war, als werde er zum Gott. Alle Dinge lagen offen vor ihm da, oder so kam es ihm jedenfalls vor. Nichts war mehr verborgen. Seine Seele wurde emporgetragen, und er blickte hinab auf allen Raum und alle Zeit.

»Deine Freunde, Gilgamesch«, flüsterte eine Stimme von hoch oben. »Vergiß nicht — deine Freunde!«

Nein, er wollte sie nicht vergessen.

Er schickte seine Seele hinüber in den Hund, der das Wespenweib war, das einst eine Sünderin und ein Mensch gewesen war. Ohne Schwierigkeit unterschied er die menschliche Seele von der des Hundes und des Insekts und trennte sie von ihnen, hielt sie einen Augenblick lang fest und entließ sie dann wie einen Vogel, den man von der Hand in den Himmel fliegen läßt. Es kam ein langes dankbares Seufzen, dann war die verirrte Seele verschwunden, und Ajax lag zusammengerollt zu Gilgameschs Füßen und schlief, und von dem Wespenwesen war nichts mehr zu sehen.

Sodann wandte er sich Herodes zu. Schaute die Traurigkeit in ihm, die Schwäche, das Verlangen. Sah auch den raschen beweglichen Geist, die Wärme, die sich danach sehnte, anderen angenehm zu sein. Und er berührte Herodes tief innerlich, nur einen Augenblick lang, und ließ etwas von sich über die kleine Entfernung von Seele zu Seele hinüberfließen. Einen Hauch von Stärke; einen Hauch von Unverwüstlichkeit. Hier, dachte er, nimm das von mir; und behalte etwas von mir in dir, für die Zeiten, wenn es dir nicht genügt, du selbst zu sein.

Herodes schien zu glühen. Er lächelte, er weinte, er neigte den Kopf. Und er fiel auf die Knie und sprach ein Dankgebet.

Gilgamesch fühlte die Gegenwart Calandolas, der furchtbar auf ihn eindrang wie ein Titan. Wie ein Gott. Aber dennoch nicht länger bösartig. Kühl, leidenschaftslos, erhaben, diente er nun nur noch als Brennpunkt für das fremdartige Ritual der Seelenverschmelzung.

»Suche du nun nach dem, was du wissen willst, Gilgamesch«, sagte der Jaqqa. »Die Zeit ist gekommen.«

Ja. Ja. Die Zeit ist da. Also — Enkidu?

Wo?

Ah, da. Da war er, in der engen hochwandigen Schlucht, unter den Karawanenleuten, die gestohlene Juwelen transportierten. Da war der umgestürzte Wagen, und jetzt stand er wieder. Van der Heyden fuchtelte Befehle gebend herum. Und dann — dann verdunkelten plötzlich zwei von diesen knatternden wirbelnden Flugmaschinen der Später Toten, Helikopter, Schraubflieger, hießen sie, den Himmel, stiegen aus dem Nichts herab und fügten sich mit gespenstischer Genauigkeit zwischen die Wände der Schlucht. Die Leute im Treck brüllten, rannten, um Waffen zu holen. Die Flugmaschinen schwebten in doppelter Mannshöhe über dem Boden — aus den Seiten ragten Waffenläufe — das brutale Knallen von Geschoßsalven aus Maschinengewehren — rennende, schreiende, zu Boden stürzende Menschen…

Geduckt hinter einem der Wagen, Enkidu, der irgendwoher eine Automatikwaffe mit beiden Händen hielt und zurückfeuerte.

Eine Gestalt, die sich aus dem näheren Schmetterflieger beugte, warf etwas hinunter — es war eine Splitterbombe — schwarzer Qualm, Schreie, überall lagen scheußlich verstümmelte Menschen.

Und Enkidu schoß immer noch weiter…

»Nein!« brüllte Gilgamesch. »Enkidu! Nicht!«

Aber es war, als schrie er in einem Traum. Er war machtlos. Er war kein Gott; und er wußte, daß seine Vision bereits heillos und unrettbar in der Vergangenheit verkapselt war. Enkidu stürzte wie rasend auf den näheren Flugkörper zu, als wollte er ihn mit den Händen in Stücke brechen — einer der Später Toten, ein Mann mit kurzgeschorenen blonden Haaren und kalten blauen Augen, sah verblüfft heraus, griff nach hinten, brachte eine Granate zum Vorschein und entschärfte sie und warf sie — ein plötzlicher greller Feuerschein wie von einer kleinen Sonne — Enkidu mitten darin, kurz sichtbar, taumelnd, niederstürzend…

Niederstürzend…

Und dann war da, wo Enkidu gewesen war, nichts mehr. Wieder einmal war sein Geist fortgerissen worden an jenen rätselhaften Ort des Totentodes, wohin die gesandt werden, die in der Nachwelt zugrunde gegangen waren. Und dort würde er bleiben und warten, im Limbus, ein Jahr vielleicht, eintausend Jahre, vielleicht eine halbe Ewigkeit, man konnte es nie vorhersagen, bis es wieder soweit war, daß er einen atmenden Körper zugeteilt erhielt und in das nachweltliche Totenleben entlassen wurde.

»Wo soll ich ihn suchen? Ihn finden?« fragte Gilgamesch, ganz benommen von Trennungsweh.

Und eine Stimme gab Antwort: »Du mußt ihn suchen in Uruk, der an Schätzen reichen Stadt!«

Gilgamesch schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt kein Uruk!«

»Nein? Bist du sicher, König Gilgamesch? Wurde dir das an Wissen offenbart?«

»Aber…«

Er schaute. Und sah. Und die Schleier über seiner Erinnerung verzogen sich.

Uruk!

Da lag es, schimmernd über einer weiten dunklen Ebene, eine weiße Stadt, strahlend wie ein Juwel. Da war die Stufenplattform mit den Tempeln, die heiligen Gebäude, die Prozessionsstraßen. Uruk. Nicht das Uruk, in dem er geboren wurde, König war und starb, sondern jenes zweite Uruk, Neu-Uruk, das der Nachwelt, dieses große Uruk, das er…

- gegründet hatte…

- hundert Jahre lang regierte, oder waren es tausend…

- er — er, ein König in der Nachwelt…

Er erblickte sich selbst auf dem Thron. Umringt von Hofbeamten, Bittsteller mit Gesuchen, Abgesandte aus anderen Fürstentümern der Nachwelt. Er sah sich Edikte erlassen, Pläne begutachten, die Feldherrn seiner siegreichen Armeen begrüßen. Sah sich als König in der Nachwelt wie in der Welt vor dieser. Sah und erkannte, daß es eine wahre Vision sei.

Die Erkenntnis brach über ihn herein wie ein Sturzbach und wusch alle eingebildeten Gewißheiten fort, nach denen er sein Leben so lange eingerichtet hatte. Wie hatte er glauben können, er sei ausgenommen von der allgemeinen Regel, daß in der Nachwelt die Helden die Mühsal und Kämpfe ihres Lebens wiederholen müssen? Wie konnte er sich so täuschen und glauben, er und Enkidu hätten während ihrer vielen tausend Jahre in der Nachwelt weiter nichts getan, als umherzustreifen, zu jagen, weiterzuwandern und sich hochnäsig einen Dreck um die Ehrsucht zu kümmern, die in allen anderen glutheiß zu brennen schien? Natürlich hatte er auch in der Nachwelt nach Herrschaft gestrebt. Natürlich hatte er auch hier einst Anhänger um sich geschart, hatte eine Stadt erbaut und sie prächtig gemacht und gut gesichert gegen alle Angreifer. Wie hätte es auch anders sein können? War er denn nicht der König Gilgamesch?

Und dann… dann…

Dann das alles zu vergessen…

Er verstand nun. In der Nachwelt war niemals Verlaß auf Erinnerung. Wie oft hatte er das schon gesehen! Ganze Jahrhunderte konnten in einem flüchtigen Augenblick zusammenfallen und waren vergessen. Ganze Reiche konnten entstehen und blühen und ohne Erinnerung untergehen. Hier gab es keine Geschichte. Es gab auch wirklich keine Vergangenheit, sondern nur einen Brei aus zusammenhanglosen Ereignissen, und es gab auch keine Zukunft; und auch kaum eine Gegenwart.

In der Nachwelt war alles Fluktuation und Veränderung, obgleich sich unter dem oberflächlichen Schein nie etwas wirklich veränderte. Gilgamesch hatte ehrlichen Herzens geglaubt, die Zeit hätte die Lust an der Macht in ihm erlöschen lassen. Vielleicht war es ja so. Aber es war ihm jetzt nicht mehr möglich, all das zu leugnen, was er so lange auch vor sich selber hatte verbergen können. Nun wußte er, warum alle diese kleinen Leute hier in der Nachwelt so versessen waren auf Verschwörungen und Revolutionen und die sonstigen Machttrips. Was außer solchem Streben konnte einen sonst davor bewahren, in dieser Ewigkeit verrückt zu werden? Aber er hatte das hinter sich gelassen, hatte er jedenfalls geglaubt. Vielleicht. Vielleicht. Doch vielleicht war er auch noch nicht völlig darüber hinausgewachsen.

Und so stand er, benommen und staunend, mitten im Wirbel von Calandolas Orgie. In ihm loderte die verbotene Speise, die ihm die Augen geöffnet hatte.

Enkidu war erneut gestorben. Uruk Wirklichkeit geworden. Er selbst noch nicht gänzlich gefeit gegen die Gier nach Macht.

Nun habe ich also die Erkenntnis, dachte Gilgamesch.

Er sank auf die Knie, bedeckte das Gesicht mit den Händen, und schwere Seufzer der Trauer und Bekümmernis schossen ihm durch den Leib. Aber ob er um Enkidu trauerte — oder um sich selbst, das hätte er nicht sagen können.


»So bald schon?« fragte Simon. »Wozu deine Eile? Wir benötigen Zeit, um alles richtig zu planen.«

»Ich gedenke, in spätestens fünf Tagen, oder eher, nach Uruk aufzubrechen«, sagte Gilgamesch. »Du magst mit mir ziehen oder nicht, wie es dir gefällt. Ich habe meinen Bogen. Ich habe meinen Hund. Ich bin es durchaus gewohnt, allein durch die Wildnis zu ziehen.«

Simon wirkte verwundert. »Noch vor ein, zwei Tagen hatte ich den Eindruck, es sei höchst zweifelhaft, ob du überhaupt nach Uruk ziehen willst. Es sah nicht einmal so aus, als glaubtest du daran, daß es diese Stadt gibt. Und nun — nun kannst du es kaum erwarten aufzubrechen. Was hat dich denn so plötzlich umgestimmt?«

»Spielt das eine Rolle?« fragte Gilgamesch.

»Es ist wegen deinem Freund, wegen Enkidu, ja? Irgendeiner von unseren Zauberern hat dir geweissagt, daß er in Uruk auf dich wartet. Habe ich recht?«

»Enkidu ist tot.«

»Aber seine Wiedererweckung findet in Uruk statt. Und bis du dort ankommst, ist er dort und wartet auf dich? Richtig?«

»Es könnte so sein.«

»Dann besteht kein Grund zur Eile. Er wird dort warten, bis du kommst. Wann immer das sein mag. Entspanne dich, Gilgamesch. Wir wollen die Sache doch anständig organisieren. Mit ausgesuchten Männern, vernünftiger Ausrüstung, die Landrover müssen gründlich durchgecheckt werden…«

»Dann mach du das alles, bitte. Ich habe nicht vor, hier länger herumzuwarten.«

Simon seufzte. »Hast. Überstürzung. Einfach lospreschen, ohne es vorher einen Moment lang zu durchdenken! Das ist nicht meine Art. Und ich hätte es auch nicht von dir gedacht. Ich glaubte, du bist anders als alle die übrigen hirnlosen Helden.«

»Das glaubte ich auch«, entgegnete Gilgamesch.

»Zehn Tage?« sagte Simon.

»Fünf!«

»Hab Erbarmen, Gilgamesch! Frühestens in acht Tagen. Ich habe hier Verpflichtungen. Ich muß einen Geschäftsplan für meinen Vizekönig aufstellen. Und es gibt Erlasse zu unterzeichnen. Requirierungen anzuordnen…«

»Also gut, acht Tage«, sagte Gilgamesch. »Keine neun!«

»Acht Tage«, sagte Simon.

Gilgamesch nickte und ging. An der Tür im Vorzimmer kauerte Herodes, der wahrscheinlich gelauscht hatte. Nein, der ziemlich sicher gelauscht hatte. Er hob den Blick, schaute aber Gilgamesch nicht in die Augen. Seit ihrem letzten Besuch in Calandolas Höhle war Herodes zurückhaltender geworden, scheu, in sich gekehrt, als könne er die Erinnerung an das erschreckende Ritual nicht ertragen, in das er Gilgamesch verführt hatte.

»Du hast es gehört?« fragte Gilgamesch.

»Was gehört?«

»In acht Tagen brechen wir nach Uruk auf, Simon und ich.«

»Ja. Ich weiß.«

»Und du wirst Vizekönig, glaube ich. Das tut mir leid für dich.«

»Nicht nötig.«

»Aber du wolltest doch das nicht.«

»Nein, ich wollte nicht Vizekönig werden. Aber das werde ich auch gar nicht. Es gibt also kein Problem.«

»Ja, wenn nicht du, wer denn dann?«

Herodes zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Von mir aus Calandola.« Zögernd streckte er die Hand nach Gilgamesch aus, unsicher, berührte ihn beinahe am Arm. »Laß mich mit dir gehen!« sagte er hastig.

»Was?«

»Nach Uruk. Ich kann nicht länger hier bleiben. Ich gehe mit dir. Überallhin.«

»Sprichst du im Ernst?«

»Es ist mir so ernst wie noch nichts in meinem Leben.«

Gilgamesch betrachtete den kleinen Mann eindringlich und lange. Ja, er schien es wirklich ehrlich zu meinen. War anscheinend ehrlich willens, die Annehmlichkeiten und schalen Gruselschauder in Brasil aufzugeben, um auf gut Glück durch das Hinterland der Nachwelt zu streifen? Doch, ja, er schien es wirklich und wahrhaftig zu wünschen. Vielleicht hatte ihn das Erlebnis in der Höhle tief unter der Stadt verändert. Es war ja auch schwer vorstellbar, daß einer so etwas mitmachte und unverändert daraus hervorging. Doch vielleicht lag die Wahrheit ganz woanders, und der klägliche kleine Herodes hatte sich bloß wieder in eine neue Klammerbindung verstiegen, die er nicht durchbrechen konnte.

»Nimm mich mit dir«, sagte Herodes noch einmal.

»Es wird eine anstrengende Tour, Herodes. Du hast dich hier an ein leichtes bequemes Leben gewöhnt.«

»Ich kann mich auch an etwas anderes gewöhnen. Laß mich mit dir gehen.«

»Ich halte das nicht für gut.«

»Du brauchst mich, Gilgamesch.«

Gilgamesch hatte Mühe, darüber nicht laut zu lachen. »Ich brauche dich?«

»Du wirst wieder König sein, wenn du in Uruk ankommst, nicht? Du wirst es sein wollen. Du kannst es vor mir nicht verheimlichen, Gilgamesch. Ich war bei dir, als du die Erkenntnis empfingst. Und ich habe sie ebenfalls empfangen.«

»Und falls ich wirklich wieder König werde?«

»Dann brauchst du einen Narren«, sagte Herodes. »Jeder König braucht einen Hofnarren. Auch ich hatte einen, als ich ein König war. Doch irgendwie finde ich, daß ich mich für die Rolle des Narren besser eigne. Nimm mich mit. Ich mag nicht hier in Brasil bleiben. Und ich will nicht noch einmal in Calandolas Höhle hinabsteigen. Es wäre möglich, dort noch einmal an einem Festschmaus teilzunehmen. Oder ich würde vielleicht selbst als Essen im Kessel landen dort unten. Willst du mich nicht mit dir gehen lassen, Gilgamesch?«

Gilgamesch zögerte, zog die Brauen zusammen. Schwieg.

»Warum nicht?« drängte Herodes. »Warum?«

»Tja«, sagte Gilgamesch. »Warum nicht?« Sein eigener Lieblingsausspruch wehte ihn hier wieder an. Dieses große Warum nicht? der nicht endenwollenden Nachwelt.

»Und? Wirst du?« fragte Herodes.

»Tja«, sagte Gilgamesch noch einmal. Die Vorstellung war nicht ganz ohne Reiz, fand er. Seit dem Aufenthalt in Calandolas Höhle hatte er den kleinen Hebräerkönig eigentlich irgendwie liebgewonnen. Sicher, er steckte voll Schwächen, aber da war auch diese starke Menschlichkeit und Toleranz. Und Herodes war intelligent und zugleich klug, eine gute, nicht übermäßig verbreitete Mischung. Er konnte ein anregender Gefährte werden, wenn er nicht gerade säuselte und quasselte. Höchstwahrscheinlich ein besserer Weggefährte als dieser alte Weinsäufer Simon. Und möglicherweise würde Herodes ja nicht dermaßen viel schnattern und summen und quatschen, wenn sie erst einmal draußen im Outback durch die rauhe Wildnis zögen. Es war eigentlich gar nicht so unsinnig. Doch. Ja. Gilgamesch lächelte und nickte zustimmend.

»Warum nicht, Herodes? Warum nicht?«

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