2

Die Jagd an diesem Tag war bisher recht befriedigend gewesen. Drei Tiere nach langer erfüllender Pirsch erlegt; jeder Schuß gut plaziert; jede Beute waidgerecht ausgenommen und gehäutet, das Fleisch als Köder für andere Dämonenbestien ausgelegt, Decke und Schädel sorgsam seitab versteckt, um sie bei Einbruch der Nacht regelgerecht zu säubern. Ein so gut getanes Werk brachte doch wahrlich echtes Vergnügen.

Und dennoch war in dem allem eine Leere, und er blieb freudlos und bleischwer, wie sauber auch seine Pfeile getroffen hatten. Er erlebte die wahre Erfüllung nicht mehr, dieses saubere Gefühl der Vollendung, die Lust an der Leistung, die letzten Endes alles waren, was er erstrebte.

Wie kam dies? War es — wie manche von den christlichen Toten so trostlos behaupteten —, weil die Nachwelt die ›Hölle‹ war, ein Ort der Bestrafung, an dem es per definitionem keine Freude geben konnte?

Für Gilgamesch war so etwas reine Torheit. Manche Bereiche der Nachwelt waren höchst widerwärtig, gewiß. Viele sogar. Es gab hier Höllisches, das ließ sich nicht bestreiten. Aber zweifellos konnte man auch hier seinen Spaß finden.

Er nahm an, daß das von den eigenen Erwartungen abhängen müsse. Wer hierher kam und damit rechnete, ewige Bestrafung zu finden, der bekam tatsächlich seine ewige Strafe, und die war dann sogar noch weit scheußlicher als alles, was diese Leute sich vorher ausgedacht hatten. Und es geschah ihnen nur recht, diesen Wahren Gläubigen, diesen verführbaren Spät-Toten, diesem Heer von leichtgläubigen Christianern.

Er war erstaunt gewesen, als diese Leute erstmals in Herden in die Nachwelt hereingetrampelt kamen, nur Enki wußte, vor wievielen tausend Jahren das war. Und was die für Unsinn schwatzten! Ströme von siedendem Öl! Seen voller Pech! Dämonen mit Mistgabeln! Das erwarteten diese Leute sich hier, und es gab hier auch clevere Leute, die bereit und willens waren, ihnen zu besorgen, was sie sich erwarteten. Also wurden Folterstädte für jene errichtet, die so etwas haben wollten. Es fiel Gilgamesch schwer zu verstehen, wie jemand sich so etwas wünschen konnte. Keiner unter den Früh-Toten konnte richtig schlau werden aus ihnen, diesen absurden Spät-Toten mit ihrem krankhaften Bestrafungswahn. Wie nannte Imhotep sie? Masochisten, ja, das war das Wort. Bemitleidenswerte Masochisten. Aber dann hatte der kleine schlaue Aristoteles bescheiden seine Einwände angebracht und gesagt: »Nein, Herr, es würde eine Verletzung der Naturgesetze der Nachwelt sein, einen echten Masochisten in die Folter zu senden. Dahin gehen nur die Starken, die Unterdrücker, die Angeber, jene, die in ihrem Innersten Feiglinge sind.« Und dann mußte auch noch Belsazar seinen Senf dazugeben, und dann Tiberius und diese palästinensische Hexe Dalilah mit ihren verwirrenden Augen, und dann hatten alle gleichzeitig durcheinander losgeplappert und einen Sinn in dem Verhalten dieser Später Toten Christianer zu finden versucht. Bis Gilgamesch schließlich — ehe er einfach aus dem Zimmer ging — sagte: »Das Ärgerliche an euch allen ist, daß ihr dauernd weiter versucht, einen Sinn herauszufinden, den dieser Ort hier haben soll. Aber wenn ihr erst einmal so lange hier sein werdet wie ich…«

Schön, vielleicht war ja hier eine Strafkolonie. Es stand außer Frage, daß einiges hier recht unangenehm war. Das Klima war stets scheußlich, zu heiß oder zu kalt, zu naß oder zu trocken. Das Essen war selten zufriedenstellend, und der Wein war dünn und gewöhnlich sauer. Wenn du auf deinem Bett ein Weib umarmtest, konntest du im allgemeinen den ganzen Tag und die ganze Nacht lang herumpumpen, ohne dabei ein besonderes Vergnügen zu finden, jedenfalls nicht die lustige, lustvolle Freude, wie er sie aus uralter Zeit in Erinnerung hatte. Aber er neigte dann immer zu der Überzeugung, daß dies nur die beiläufigen Folgeerscheinungen des Totseins waren: Immerhin, dieser Ort hier war ja nicht das Land der Lebenden, und es wäre unsinnig gewesen zu erwarten, daß hier alles so sein sollte wie damals drüben.

Auf jeden Fall hatte sich die Wirklichkeit der Nachwelt als völlig anders erwiesen, als es einem die Priester versprochen hatten. Das ›Haus des Staubes und der Finsternis‹ hatten sie das vor langer Zeit in Uruk genannt. Ein Ort, an dem die Toten in ewiger Nacht und Trübsal hausten, gekleidet wie Vögel, mit Vogelschwingen als Kleidung. Wo die Bewohner Staub als Brot zur Nahrung erhielten und Lehm statt Fleisch. Wo die Könige der Erde, die Herren, die hohen Gesetzgeber, erniedrigt und ohne ihre Kronen verweilen mußten und den Dämonen wie Sklaven zu Diensten sein. Es war also nicht erstaunlich, daß er damals den Tod so gefürchtet hatte, solange er glaubte, daß dies ihn für alle künftige Zeit erwartete.

Nun, dann aber hatte sich erwiesen, daß dies alles nichts weiter war als Märchen und Torheit.

An die frühesten Tage in der Nachwelt konnte Gilgamesch sich nicht mehr deutlich erinnern. Sie waren ihm zu nebelhafter Unwirklichkeit verblichen. Erinnerung war hier eine trügerische Sache, so unstet wie die Sande der Wüste: Nur zu oft hatte er immer wieder entdecken müssen, daß er sich an viele Ereignisse aus seiner Nachweltzeit erinnerte, die in Wirklichkeit niemals stattgefunden hatten, und daß er vieles vergessen hatte, was geschehen war. Dennoch bewahrte er sich durch alle Dünste und Unklarheiten seines Geistes einen scharfen Eindruck von der Nachwelt, wie sie gewesen war, als er zum ersten Mal in ihr erwacht war: ein Ort, ganz ähnlich wie Uruk, so schien es, mit niederen Häusern mit flachem Dach aus weißgekalkten Lehmziegeln, und Tempel, die sich über vielgestuften Plattformen erhoben. Dort hatte er die Helden der altvergangenen Zeit gefunden, die lebten, wie sie stets gelebt hatten, Männer, die in seiner Knabenzeit große Krieger waren, und andere, die kaum mehr waren als Legenden im Land seiner Vorväter, in der Frühdämmerung der Zeit. So jedenfalls war es an dem Ort, an dem Gilgamesch sich zum erstenmal befand; später entdeckte er, daß es andere Bereiche gab, die ganz verschieden waren, Orte, wo die Menschen in Höhlen lebten, oder in Gruben in der Erde, oder in flachen Häusern aus Schilfrohr, und aber andere Orte, wo die Behaarten Männer lebten, die gar keine Häuser hatten. Das meiste davon war nun verschwunden, war von jenen stark verwandelt worden, die in späteren Tagen in die Nachwelt kamen, und in der Tat hatten die Später Toten eine ganz beträchtliche Bürde an verrückter Häßlichkeit und törichter spekulativer Theorien mit sich hereingeschleppt. Aber dennoch, die Vorstellung, daß dieses ganze weite Reich — unendlich viel größer als sein eigenes geliebtes Land Zwischen den Zwei Strömen — nur existieren sollte, um die Gestorbenen für ihre Sünden zu bestrafen, erschien Gilgamesch denn doch als zu dümmlich, als daß man ernsthaft darüber nachzudenken brauchte.

Aber wieso war dann die Lust und Freude an der Jagd für ihn so schal und leer geworden? Wieso fand er nicht mehr die alte Begeisterung, wenn er die Beute belauerte, wenn er den großen Bogen spannte, wenn er den Pfeil genau ins Ziel schoß?

Er glaubte zu wissen, weshalb, aber es hatte nichts mit Bestrafung zu tun. In den vielen tausend Jahren seines Lebens in der Nachwelt hatte es reichlich lustvolle Jagden gegeben. Und wenn dies jetzt nicht mehr so war, dann deshalb, weil er in diesen späteren Tagen einsam jagte. Enkidu war nicht an seiner Seite, sein Freund, sein getreuer Bruder, sein anderes Selbst. Dies war es und sonst nichts: Denn er hatte sich ohne Enkidu niemals mehr als vollkommen gefühlt, seit sie einander erstmals begegneten, als sie miteinander rangen und einander lieben lernten, wie Brüder sich lieben… vor langer Zeit… in der Großen Stadt Uruk. Dieser gewaltige ungeschlachte Mann, diese zottige wilde Kreatur von den Berghöhen: Gilgamesch hatte nie einen Menschen so geliebt, wie er Enkidu liebte.

Aber es war das Schicksal Gilgameschs, so schien es, daß er ihn wieder und immer wieder verlieren mußte.

Zum erstenmal war ihm Enkidu vor langer, langer Zeit entrissen worden, als sie beide noch gemeinsam in Uruk lebten, in der fröhlich-frechen prahlerischen Fülle kräftiger königlicher Männlichkeit. An einem Tag der Düsternis nahmen die Götter Rache an Gilgamesch und Enkidu für deren stolze Überheblichkeit und ihre Befriedigung über die eigenen zügellosen Großtaten und sandten ein Fieber, das Enkidu aus dem Leben riß und Gilgamesch in die schreckliche Einsamkeit des Alleinherrschers versetzte.

Und als die Zeit da war, war auch Gilgamesch dem Tod anheimgefallen, um viele Jahre später und um große Weisheitserfahrung reicher, und war in diese Nachwelt gebracht worden; und er suchte nach seinem Enkidu, und an einem herrlichen Tag der Wunder fand er ihn wieder. Die Nachwelt war zu jener Zeit noch viel kleiner, und jeder Mann schien den anderen zu kennen; aber dennoch hatte Gilgamesch eine Ewigkeit gebraucht, ihn aufzuspüren. Ach, was war das für ein wonnevoller Tag! Und wie sie sangen und tanzten bei dem gewaltigen Fest, das kein Ende nehmen wollte! In jenen Zeiten herrschte unter den Bewohnern der Nachwelt eine große Freundlichkeit, und so freuten sich alle und jeglicher, daß Gilgamesch und Enkidu einander wiedergegeben waren. Minos von Kreta schmiß die erste große Party zu Ehren ihres Wiederfindens, danach war Amenhotep an der Reihe, dann Agamemnon. Und am vierten Tag war der Gastgeber der dunkle schlanke Varuna, der Meluhhan-König, und dann, am fünften Tag, versammelten sich die Helden in der uralten Festhalle des Eisjägervolks, wo Vy-otin-der-Einäugige Häuptling war und der Boden bedeckt von Mammutstoßzähnen, und danach…

Also, so ging es ziemlich sehr lange weiter mit den Festivitäten anläßlich ihrer Wiedervereinigung.

Unzählige Jahre, erinnerte sich Gilgamesch, lebte er dann mit Enkidu in seinem, Gilgameschs, Palast in der Nachwelt, ganz wie sie dies in den alten Tagen im Land der Zwei Flüsse getan hatten. Und alles stand wohl bei ihnen, und sie jagten viel und feierten Feste. Die Nachwelt war ein fröhlicher, glücklicher Ort. Damals.

Dann begannen die Scharen der Später Toten einzutreffen, alle diese kleinen schmuddeligen unheldenhaften Leute aus unheldischen Zeiten, und sie brachten ihre ganzen abscheulichen Veränderungen mit sich.

Sie waren einfach schäbig, diese Später Toten, verwirrt in ihren Seelen und von schwächlicher Einsicht, und ihre erbärmlichen unwichtigen Rivalitäten und Eitelkeitsposen waren ein rechtes Ärgernis. Aber Gilgamesch und Enkidu hielten sich von ihnen fern, während diese Leute alle die Torheiten ihres Lebens neu auflegten, ihre unsinnigen Kreuzzüge und ihre hirnlosen Handelskriege und ihre empörenden theologischen Zänkereien.

Das wirklich Ärgerliche war, daß sie nicht nur ihre mondsüchtigen absurden Ideen mit in die Nachwelt brachten, sondern auch ihre verfluchten teuflischen modernen Spielzeuge, und darunter waren die übelsten die Dinge, die sie als Schußwaffen bezeichneten. Die auf höchst feige, schamlos unwaidmännische Art mit viel Getöse aus der Ferne die Jagdbeute abschlachten. Ein Held hat gelernt, den Hieb eines Schlachtbeils zu parieren, oder den Stoß eines Schwertes, aber was kann sogar ein Held tun gegen eine Kugel aus der Ferne? Und Enkidu hatte das Mißgeschick, zwischen zwei verfeindete Banden dieser Kanonenschwengel zu geraten: eine Schar schnatternder Spanier und einen miesen Haufen arroganter Englischer, und er versuchte zwischen beiden Frieden zu stiften. Natürlich wollten die keinen Frieden, und bald flogen die Kugeln, und Gilgamesch traf gerade in dem Augenblick auf dem Kampffeld ein, als der Bolzen aus einer Arkebuse seinem geliebten Enkidu das Herz zerriß.

Keiner stirbt in der Nachwelt auf immer, doch manche bleiben lange Zeit tot, und so kam es mit Enkidu. Es gefiel den unbekannten Mächten, die in diesem Lande herrschten, dem Land der nicht mehr Lebenden, ihn etliche hundert Jahre in den Limbus zu verbannen, ins Abseits zu stellen, dachte Gilgamesch, sofern man die Schwierigkeiten in Erwägung zieht, die derlei Buchführungssachen in der Nachwelt mit sich bringen. Auf jeden Fall aber war es eine schrecklich lange Zeit, und wieder einmal fühlte Gilgamesch, wie diese entsetzliche Vereinsamung über ihn hereinbrach, für die einzig Enkidus Nähe Heilung bringen konnte.

Indessen veränderte sich die Nachwelt immer weiter, und inzwischen traten diese Veränderungen bestürzend immer rascher auf. Es schien in der Welt weitaus mehr Menschen zu geben als jemals in den alten Tagen, und jeden Tag kamen gewaltige Heerscharen von ihnen in die Nachwelt gezogen, eine wimmelnde Masse von ungeschliffenen Fremdlingen, die sich, nach einer kurzen Zwischenzeit der Verblüffung und Desorientiertheit, rasch anschickten, den gesamten Ort zu etwas ebenso Mißlichem und Abstoßendem umzugestalten wie es die Welt gewesen war, die sie hinter sich gelassen hatten. Es kam die Dampfmaschine, mit ihrem Gestöhne und Getöse und Gestampfe, dann etwas namens Dynamo, dann diese scharfen glitzernden elektrischen Leuchten, die in allen Straßen grell erstrahlten, wo früher die freundlichen goldenen Lampen geglüht hatten, und Fabriken wuchsen aus dem Boden und begannen alle möglichen seltsamen Dinge auszuspucken. Und immer mehr und mehr und mehr, erbarmungslos und ohne Unterlaß. Schienenbahnen. Fernsprechgeräte. Selbstfahrende Wagen. Lärm, Gestank, Ruß überall, und nirgends konnte man dem entrinnen. Sie nannten es die Industrielle Revolution. Aber es war weiter nichts als ein unendlicher Angriff der Abscheulichkeiten. Seltsamerweise aber schien jedermann diese neuen Dinge und diese neue Art zu bewundern, ja sogar zu lieben — außer Gilgamesch und einigen wenigen anderen kaputten Konservativen. »Was haben die vor?« fragte Rabelais eines Tages. »Wollen sie das hier zur Hölle machen?« Die Später Toten brachten Maschinen wie Radios und Fernseher und Computer in die Nachwelt, und alle quäkten englisch, so daß Gilgamesch, der vor langer Zeit dieses neumodische Latein erlernt hatte, als Caesar und seine Leute darauf bestanden hatten, nun schon wieder gezwungen war, sich einer neuen zungenbrecherischen Sprache zu bemächtigen. Es war eine schlimme, eine betrübliche Zeit für ihn. Und dann tauchte endlich Enkidu wieder auf, weit droben in einer der kalten nördlichen Regionen; und er kam südwärts gezogen, und für eine Weile waren sie wieder vereint, und zum zweitenmal stand alles gut für Gilgamesch von Uruk in der Nachwelt.

Doch nun waren Enkidu und er schon wieder getrennt, und diesmal durch etwas, das kälter war und grausamer als selbst der Tod. Was zwischen sie getreten war, überstieg jegliches Vorstellungsvermögen: Sie hatten sich zerstritten. Es hatte zwischen ihnen Worte gegeben, häßliche Worte von beiden Seiten. Ein Streit, wie sie ihn in tausend Jahren nicht zwischen sich gehabt hatten, nicht im Land der Lebenden und nicht im Land der Nachwelt, und am Ende hatte Enkidu zu ihm das gesagt, was Gilgamesch nie von ihm zu hören erwartet hatte, und das war: »Ich will mit dir weiter nichts zu schaffen haben, du König von Uruk. Wenn sich unsere Pfade je wieder kreuzen, werde ich dich töten.« Konnte dies Enkidu sein, der dieses sagte, fragte sich Gilgamesch, oder sprach da einer der Dämonen der Nachwelt in der Gestalt von Enkidu?

Jedenfalls, Enkidu war fort. Er verschwand in dem Durcheinander und der unendlichen Kompliziertheit der Nachwelt und entzog sich den Möglichkeiten Gilgameschs, ihn zu finden, und als Gilgamesch ausschickte, um Nachforschungen anzustellen, brachte man ihm nur diesen Bericht zurück: »Er will nicht mehr mit dir sprechen. Er hat keine Liebe mehr für dich, Gilgamesch.«

Das konnte nicht sein. Es mußte ein böser Zauber sein, dachte Gilgamesch. Bestimmt irgendeine finstere Machenschaft der Später Toten, nur dies konnte den Bruder gegen den Bruder erzürnen und Enkidu dazu bewegen, in seinem Grimm zu verharren. Mit der Zeit, da war er sicher, würde Enkidu den bösen Bann triumphierend durchbrechen, der sein Herz gefangen hielt, und er würde es der Liebe Gilgameschs wieder öffnen. Aber die Zeit verstrich auf die seltsam umschweifige Weise der Nachwelt, und Enkidu kehrte nicht zurück in seines Bruders Arme.

Was blieb also, außer der Jagd? Und dem Warten und der Hoffnung?


So jagte an diesem Tage Gilgamesch im Outback, der verdorrten Buschwildnis der Nachwelt. Er tötete und tötete und tötete wieder, und nun, so spät am Tag, hatte er seinen Pfeil einem Tier durch die Wamme geschossen, das ein noch übleres Ungeheuer war, als man sie gewöhnlich unter den Geschöpfen der Nachwelt fand, aber die Bestie besaß eine erschreckende Vitalität, und sie donnerte davon, und das schwarze Blut troff ihr aus dem durchbohrten Hals.

Gilgamesch machte sich an die Verfolgung. Es ist sündhaft, zu schießen und zu verwunden und die angeschossene Beute nicht zu töten. Eine lange mühsame Stunde lang rannte er kreuz und quer durch dieses rauhe Land. Dornenpflanzen peitschten mit koboldhafter Bosheit auf ihn ein, der scharfe Wind geißelte ihn mit peitschenden scharfen Staubwolken. Doch die scheußliche Bestie war ihm stets voraus, obschon ihr Blut in Strömen in die ausgetrocknete Erde rann.

Gilgamesch erlaubte sich keine Müdigkeit, denn in ihm war Götterstärke, dank seiner Abstammung von dem göttlichen Lugalbanda, seinem großen Vater, der König und Gott zugleich gewesen. Dennoch bereitete es ihm große Mühe, nicht aufzugeben. Dreimal verlor er seine Beute aus den Augen und spürte sie nur durch die blutige Fährte wieder auf. Das fahle rote Auge der Sonne der Nachwelt schien ihn zu verhöhnen, denn es hing unablässig vor ihm, als wollte es ihn zwingen, ohne Unterlaß weiter zu laufen.

Dann sah er das Tier, das noch immer stark wirkte, jedoch bereits sichtlich schwankte, um den Rand eines Dickichts von kleinen verkrüppelten fettblätterigen Bäumen schwanken. Ohne zu zögern lief er darauf zu. Die Bäume streichelten ihn lüstern, bedeckten ihn mit ihrem Schleim, versuchten wie ungezogene Höflinge ihn mit ihren Blättern zwischen den Beinen zu kitzeln; doch er schlug sie beiseite und kam schließlich auf eine Lichtung, wo er seine Beute stellen konnte.

Doch auf deren Nacken klammerte sich eine abstoßende kleine Bestie von Tierdämon, riß blutige Fleischfetzen heraus und ruinierte so die Haut. Daneben hielt ein Landrover, und durch das Fenster spähte ein blasser fremd aussehender Mann mit langen Kinnbacken. Ein zweiter Mann, rot im Gesicht, massig, stand dicht neben der röhrenden, schnaubenden Beute Gilgameschs.

Das Wichtige zuerst. Gilgamesch packte zu, riß den fauchenden kleinen Aasfresser vom Rücken des größeren Tieres und schleuderte ihn weit fort. Dann rammte er mit aller Kraft den Dolch an die Stelle, wo sich hoffentlich das Herz des waidwunden Tieres befand. Und im gleichen Augenblick fühlte Gilgamesch ein heftiges Zucken in der Brust des Ungeheuers, und der faulige Lebensatem entwich sofort aus ihm.

Das Werk war getan. Aber wiederum — kein Hochgefühl, keine Erfüllung, sondern nur eine Art trübe aschene Erleichterung, daß etwas Unbeendetes erledigt war. Gilgamesch holte Luft und blickte sich um.

Was war denn das? Der rotgesichtige Mann schien von einem Wahnsinnsanfall gepackt zu sein. Zitternd und bebend, schweißgebadet sank er auf die Knie — und seine Augen blitzten irre…

»Lord Conan?« rief der Mann, »Großer König?«

»Conan gehört nicht zu meinen Titeln«, erwiderte Gilgamesch verwirrt. »Und ich war einst König in Uruk, doch an diesem Ort hier herrsche ich über niemanden. Also, Mann, komm und erhebe dich von deinen Knien!«

»Aber du bist Conan, wie er leibt und lebt!« stöhnte der Rotgesichtige heiser. »Absolut leibhaftig!«

Gilgamesch verspürte plötzlich eine heftige Abneigung gegen diesen Kerl in sich aufsteigen. Im nächsten Augenblick würde der zu sabbern beginnen. Conan? Conan? Der Name sagte ihm überhaupt nichts. Nein, warte — er hatte einst einen Conan gekannt, einen kleinen keltischen Burschen, dem er in einer Kneipe begegnet war, ein Kerl mit stumpfer Nase und breiten Wangenknochen und dunklen Haaren, die ihm ins Gesicht hingen, ein betrunkenes zappeliges Kerlchen, das unentwegt vergessene bedeutungslose Kleingötter anrief — ja, das Männchen hatte gesagt, sein Name sei Conan. Jetzt erinnerte sich Gilgamesch wieder. Er trank zu viel, machte der Bardame Ärger, hob sogar die Hand gegen sie, das war — dieser Typ. Gilgamesch hatte ihn in eine offene Jauchegrube geworfen, um ihm Manieren beizubringen. Aber wie kommt der aufgeregte Blasebalg hier dazu, mich mit dem zu verwechseln? Und der brabbelte auch immer noch weiter, etwas von Ländern, deren Namen Gilgamesch nichts sagten: Cimmeria, Aquilonia, Hyrkania, Zamora. Völliger Unsinn. Solche Orte gab es nicht.

Und dieses Glühen in den Augen des Burschen — was bedeutete dieser Ausdruck? Dieser Ausdruck von Anbetung, beinahe wie im Gesicht einer Frau einem Mann gegenüber, wenn sie entschlossen ist, sich völlig seinem Willen preiszugeben.

Zu seiner Zeit hatte Gilgamesch diesen Ausdruck oft genug erlebt, von Weibern wie von Männern, und er war ihm willkommen gewesen — zumindest von den Frauen. Er verzog finster das Gesicht. Wofür hält der mich? Glaubt er, wie so viele das fälschlich taten, daß ich, da ich Enkidu mit solch großer Liebe liebte, einer bin, der einem Mann beiliegt wie einer Frau? Denn dem ist nicht so. Nicht einmal hier in der Nachwelt ist es so, sagte sich Gilgamesch.

»Sag mir alles!« flehte der rotgesichtige Mensch. »Alle diese Großtaten, Conan, die ich mir in deinem Namen erträumt habe, sag mir, wie sie in Wirklichkeit waren! Das Abenteuer in den Schneefeldern, als du die Tochter des Frostriesen trafst — und als du auf der Tigress mit der Königen der Schwarzen Küste segeltest — und dann das andere Abenteuer, als du die Hauptstadt Aquiloniens erstürmtest und den König Numedides auf seinem Thron erschlugst…«

Gilgamesch starrte den Mann zu seinen Füßen angewidert an.

»Also, Mann, jetzt hör auf mit diesem verrückten Gequatsche«, sagte er scharf. »Hoch mit dir! Du irrst dich gewaltig. Verwechselst mich mit jemand, glaube ich.«

Der andere Mann war inzwischen aus dem Landrover gestiegen und kam zu ihnen herüber. Auch dieser war eine sonderbare Gestalt, knochendürr und leichenblaß, mit einem Hals wie ein Watvogel, der kaum kräftig genug aussah, den langen Schädel mit dem breiten Kinn zu tragen. Auch sein Anzug war seltsam, gänzlich schwarz und mehrere Schichten übereinander, als ängstigte er sich vor dem leisesten Windhauch. Aber es umgab ihn eine nachdenkliche Sanftheit, die ganz im Gegensatz stand zu dem wildäugigen fieberhaften Gehabe seines Freundes. Er könnte ein Schriftkundiger sein, dachte Gilgamesch, oder ein Priester, aber was der andere sein mochte, das wußten wohl nur die Götter allein.

Der hagere Mann berührte den anderen an der Schulter und sagte: »Reiß dich zusammen, Mann. Der da ist ganz bestimmt nicht dein Conan.«

»Er ist’s leibhaftig! Ganz und gar sein Ebenbild! Seine Größe — seine Erhabenheit — wie er dieses Tier getötet hat…«

»Bob! Bob — Conan ist eine Kunstfigur! Eine Phantasiegestalt! Du selber hast ihn dir aus festem Material zusammengesponnen. Komm jetzt. Hoch mit dir!« Und zu Gilgamesch sagte er: »Tausendmal Entschuldigung, guter Herr. Mein Freund da ist manchmal — leicht übererregbar…«

Gilgamesch zuckte die Achseln und wandte sich ab. Er besah sich sein Wild. Ihn verlangte nicht danach, sich weiter mit den beiden zu beschäftigen. Das gewaltige Tier abzuhäuten, wie es sich gehört, konnte den restlichen Tag beanspruchen; danach mußte er die mächtige Decke in sein Lager zurück schleppen, und dann mußte er entscheiden, was davon er als Trophäe behalten wollte…

In seinem Rücken hörte er die dröhnende Stimme des Rotgesichtigen. »Eine erfundene Kunstfigur, H. P.? Wie kannst du dir da sicher sein? Ich habe auch immer geglaubt, daß ich Conan erfunden hätte, aber was ist, wenn er wirklich gelebt hat, wenn ich einen urtümlichen mächtigen Archetypus angezapft habe und der authentische Conan jetzt in diesem Augenblick hier vor uns steht…«

»Lieber Bob, dein Conan hatte blaue Augen, nicht? Und die Augen dieses Mannes da sind schwarz wie die Nacht.«

»Also…« Es klang widerborstig.

»Du warst dermaßen aufgeregt, daß es dir nicht aufgefallen ist, mir schon. Dieser da ist irgendein kriegerischer Barbar, sicher, über allen Zweifel hinaus ein gewaltiger Jäger, ein Nimrod, ein Ajax. Aber bestimmt kein Conan, Bob! Gestatte ihm seine eigene Identität. Er ist keine von deinen Erfindungen.« Der Mann mit dem langen Gesicht trat zu Gilgamesch und sprach gemessen und höflich: »Guter Herr, ich heiße Howard Phillips Lovecraft, ehemals aus Providence, Rhode Island, und mein Begleiter ist Robert E. Howard aus Texas, dessen anderes Leben wie das meine im zwanzigsten Jahrhundert nach Christus gelebt wurde. In jener Zeit betrieben wir das Gewerbe des Geschichtenerzählers, und ich fürchte, er verwechselt dich mit einem Helden, den er selbst geschaffen hat. Beruhige sein Gemüt, ich bitte dich, und laß uns auch deinen Namen wissen.«

Gilgamesch richtete sich auf. Er fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn, um einen Streifen gerinnenden Blutes von seiner Beute fortzuwischen, und blickte den zweiten Mann gelassen an. Dieser war jedenfalls kein Wahnsinniger, so sonderbar er auch aussah.

Ruhig sagte Gilgamesch: »Ich glaube, sein Gemüt ist so gestört, daß es nicht zu beruhigen sein wird. Aber wisse, man nennt mich Gilgamesch, Sohn des Lugalbanda.«

»Gilgamesch aus Sumer?« flüsterte Lovecraft. »Gilgamesch, der das Ewige Leben suchte?«

»Ja, Gilgamesch bin ich und war König in Uruk, als es die Größte der Städte war im Land der Zwei Ströme, und der sich in seiner Torheit dazu verstieg zu glauben, es könnte einen Weg geben, den Tod zu betrügen.«

»Hörst du das, Bob?«

»Unglaublich. Nicht zu fassen!« stammelte der andere.

Gilgamesch richtete sich nun auf, bis er beide turmhoch überragte, holte tief Luft und sprach mit furchterregender dröhnender Stimme: »Ich bin Gilgamesch, dem alle Dinge kundgetan wurden, die verborgenen Dinge, die Wahrheiten über Leben und Tod, ganz besonders jene des Todes. Ich vermählte mich mit Inanna, der Göttin, auf dem Lager der Heiligen Hochzeit. Ich habe Dämonen zerschmettert und mit den Göttern gesprochen. Ich bin zu zwei Teilen selber göttlich und nur zu einem Teil sterblich.« Er starrte sie an und ließ die Worte in sie sinken, die er so oft und unter ähnlichen Umständen wie jetzt aufgesagt hatte. Dann sprach er leiser weiter: »Als mich der Tod ereilte, gelangte ich in dieses Untere Reich, das sie die Nachwelt nennen, und hier verbringe ich meine Zeit und jage, und nun bitte ich euch, mich zu entschuldigen, denn, wie ihr seht, habe ich zu tun.«

Wieder wandte er sich ab.

»Gilgamesch!« wiederholte Lovecraft erstaunt. Und der andere sagte: »Also, wenn ich hier bis ans Ende der Zeit leben muß, H. P. daran werde ich mich nie gewöhnen. Das ist ja noch unglaublicher, als meinem Conan zu begegnen! Stell dir das vor: Gilgamesch! Gilgamesch!«

Was für eine eklig-öde Sache, dachte Gilgamesch, diese ganze Ehrerbietung, diese Anbetung.

Schuld daran war dieses verdammte Epos, natürlich! Er verstand jetzt, weshalb Caesar so gereizt wurde, wenn sich Leute an ihn heranzuschmeißen versuchten, indem sie ihm Shakespearezitate entgegensäuselten. »Mann, er besteigt die enge Welt wie ein Koloß«, und derlei Zeug. Caesar wurde bei der dritten Silbe fuchsteufelswild. Sobald sie einen erst einmal dichterisch verarbeiten, das hatte Gilgamesch herausgefunden, wie dies nach ihm dem Odysseus und dem Achilles und Caesar passiert war und manch einem anderen, konnte es passieren, daß das eigene Selbst immer mehr zu schwinden begann und die Gestalt des Dichtwerks einen mehr und mehr gänzlich aufzusaugen begann, bis man zu einem wandelnden Gemeinplatz geworden war. Und dieser Shakespeare war in dieser Hinsicht besonders schurkisch verfahren, fand Gilgamesch. Man brauchte nur Richard III. zu fragen, oder Macbeth, oder Owen Glendower. Man sah sie in der Nachwelt herumschleichen, andauernd komplexbeladen, weil jedesmal, wenn sie das Maul aufmachten, die Leute von ihnen bedeutende Sätze erwarteten, wie: »Mein Königreich für ein Pferd!« oder »Ist dies ein Dolch, den ich da vor mir sehe?« oder »Ich kann die Geister aus den wüsten Tiefen rufen.« Damit hatte Gilgamesch leben müssen, beinahe vom ersten Tag seines ersten Aufenthalts in der Nachwelt; denn sie hatten diese Gedichte über ihn bald danach verfaßt, dieses ganze pompös-tiefsinnige Zeug, eine ganze Latte von Gilgameschgeschichten, von denen manche wahre Erfährnisse und Taten berichteten, andere nur abenteuerliche Erfindungen waren, und dann hatten die Babylonier und die Assyrer und diese stinkenden Knoblauch verschlingenden Hethiter sich daran gemacht und das alles noch einmal tausend Jahre lang weiter übersetzt und ausgeschmückt, bis jeder in der bekannten Welt von einem Ende bis zum anderen die Geschichten auswendig konnte, und sogar als diese ganzen Völker dahingegangen waren und ihre Sprachen vergessen, gab es kein Erbarmen, denn die Leute im zwanzigsten Jahrhundert hatten das alles aufgefunden und den Text irgendwie entziffert und wieder berühmt gemacht. Und über die Jahrhunderte hinweg hatte man ihn zum Allzweckhelden für alle gemacht, was eine verdammt schwere Last war: Da gab es Fetzelchen von ihm in den Prometheuslegenden und in dem ganzen Zeug über Herkules und in dieser Geschichte über die Irrfahrten des Odysseus, und sogar in den Mythen der Kelten, und das mochte vielleicht der Grund sein, weshalb dieser schauerliche Kerl Howard ihn so hartnäckig Conan nannte. Aber dieser andere Conan, dieser kleine, miese, besoffene Kotzbrocken, war ein Kelte gewesen. Bei Enlil, aber es war schon ermüdend, wenn alle von einem erwarteten, daß man den mythologischen Erwartungen an die Großtaten von zwanzig, dreißig verschiedenen Heroen der Menschenkultur gerecht werden sollte! Herkules und Odysseus und ein paar von den anderen nicht-mythischen Helden hausten höchstpersönlich im Original peinlicherweise ebenfalls hier, und sie hatten die Neigung, ziemlich besitzträchtig auf den Mythen zu beharren, die irgend jemand ihnen zugeschrieben hatte, auch wenn diese Mythen nichts weiter waren als Ab- und Umwandlungen seiner eigenen, viel älteren.

Gewiß, die Erzählungen über ihn, Gilgamesch, hatten einen wahren Kern, besonders die Teile über ihn und Enkidu, aber der Dichter hatte die Geschichte mit reichlich hochgestochenen, zusätzlichen, künstlerisch unnötigen, dummen Schnörkeln hochgewürzt, wie das die Poeten eben stets so tun, und auf jeden Fall wurde man es doch sehr leid zu sehen, daß alle und jeder einem das eigene lange und vielfältige Leben zu den stets gleichen zwölf Hauptstücken mit stets den gleichen kleinen Phrasen zusammenköchelte. Es war sogar dahin gekommen, daß Gilgamesch sich dabei ertappte, wie er selbst aus dem zentralen Teil des Gilgamesch-Epos zitierte, dem über seine Suche nach dem Ewigen Leben — nun, dieser Gesang entfernte sich nicht allzu weit von der Wahrheit — obwohl sie viele Einzelheiten durch kleine ›köstliche‹ Erfindungseinfälle verkorkst hatten —, indem er sich anderen vorstellte: »Ich bin der Mann, dem alle Dinge kundgetan wurden… die Wahrheiten über Leben und Tod…« Direkt aus dem Munde des Dichters, diese Zeilen. Es war ärgerlich. Es war langweilig. Grimmig stieß er sein Messer unter die Haut des toten Ungeheuers und machte sich daran, die Decke abzulösen, während die beiden kleinen Männer hinter seinem Rücken weiter erstaunt miteinander brabbelten.

Загрузка...