Es war eine lange finstere Nacht, unterbrochen von hastigen, kümmerlichen Sonnenaufgängen und dem Tanz unvertrauter gelber Monde am Himmel. Gilgamesch strich durch die Straßen von Uruk. Es wehte ein beißender, ätzender Wind. Zeitweilig trug er Schauer von etwas Schneeähnlichem heran, das die Dächer mit kurzlebigen weißen Flecken bestäubte; als er eine Handvoll davon aufhob, brannte es auf der Haut wie feine Asche aus dem Schlund eines Vulkans oder wie weicher gemahlener Bimsstein.
Zerbrechliche, aber scheußliche Nachtgeschöpfe, so durchsichtig wie Träume, schwirrten in Schwärmen um ihn und fletschten lange blitzende Zähne, von denen fahles Gift troff. Er scheuchte sie fort, als wären sie Mücken. Ein kurzstämmiger stoppeliger Baum mit Blättern wie lange fettverschmierte Federn schien ihn auszulachen. Mitten in der Luft taten sich Toreingänge vor ihm auf, doch hinter ihnen war nichts. Die gepflasterten Straßen wogten wie die Oberfläche einer stürmischen See.
Während er durch die dunkle Stadt schweifte, beherrschte ihn ein Gedanke, ein einziger.
Du wirst erneut von Enkidu getrennt werden, oder aber du mußt den Thron in Uruk aufgeben. Und wenn du ihn aufgibst, wirst du ihn niemals wiedergewinnen. Und wenn du Enkidu auch diesmal verlierst, wirst du ihn niemals wieder finden können.
Er erinnerte sich an eine Zeit, damals im alten Leben, da Enkidu kränklich geworden war und düster und bedrückt den ganzen Tag lang dasaß, und Gilgamesch ging hin und trat zu ihm und sagte, daß er wüßte, was ihn bedrückte, und dieses sei, daß er unruhig und des verweichlichten bequemen Stadtlebens überdrüssig und es leid sei, müßig in Uruk herumzuhängen, daß er sich nach Abenteuern sehnte, nach Gefahren und gewaltigen Taten, die seinen Namen leuchten lassen würden vor allen Menschen.
»Ja, genau das ist es, Bruder«, sagte Enkidu.
Und Gilgamesch gestand, daß es auch ihm so gehe, daß auch in ihm etwas nicht zur Ruhe komme, das ihn zu immer weiterem Suchen und Fragen antrieb, ein nie zu stillendes Sehnen. Die Götter hatten sich einen Jux mit ihm erlaubt, sagte Gilgamesch, daß sie ihn so schufen, daß er sich unablässig nach einem geruhsamen friedlichen Leben sehnen müsse, aber sobald er es gefunden hatte, niemals davon befriedigt sein durfte.
Da lachte Enkidu und sprach: »Wir sind wie zwei große Jungen, die ständig auf der Suche nach neuem Spaß sind.«
Das war die Zeit, als sie gemeinsam ins Land der Zedern zogen, um das kostbare Holz heimzuführen, daß dort im Wald wuchs, und wo sie dem Dämon Huwawa begegneten, den sie in seiner Feuerhöhle erschlugen, und von wo sie im Triumph nach Uruk heimkehrten, so lustig und froh, als hätten sie sechs Königreiche erobert.
Doch das alles war ja im anderen Leben gewesen, dem alten, vor langer, langer Zeit, vor dem ersten der vielen Tode, die zu sterben ihnen bestimmt war. Und jetzt war Enkidu wieder ruhelos und lechzte nach neuen Abenteuern, und da war er selbst, Gilgamesch, und war König in Uruk und saß in seinen Regierungsgeschäften fest. Was hatte Enkidu gesagt, als er ihn drängte, sich mit ihm auf dieses Abenteuer einzulassen? Oder willst du lieber wieder einmal zehntausend Jahre in Uruk hocken und feist werden? Aber diesmal war sich Gilgamesch seines Weges nicht sicher. Eine Seite in ihm sehnte sich danach, mit Enkidu auf die Suche nach dem Land der Lebenden zu gehen — jener Teil von ihm, der ewig unruhig, unablässig strebend blieb und der noch immer nicht gänzlich in ihm abgestorben war — aber da war auch noch eine andere Seite in ihm, die während seines Aufenthaltes in der Nachwelt herangewachsen war und die zu ihm sagte: Bleib du, bleib! Und herrsche über deine Stadt, erfülle deine Aufgaben, die zu tun dir einzig bestimmt sind. Und diese Stimme tönte in ihm so stark wie die andere, oder doch beinahe so stark.
Aber dennoch…
Ausharren? Wozu, fragte er sich. Um wieder und noch einmal all das durchzuspielen, was früher schon geschehen war, in dieser Welt und jener, die ihr vorherging? Bestand seine Existenz denn nur daraus, daß er in unendlichem Kreislauf Macht ausüben und dann auf sie verzichten sollte, herrschen sollte und dann wieder umherwandern, immer und immer wieder? Gab es denn für nichts ein Ende? Hatte nichts einen wirklichen Zweck? Wann würde er sich je einmal einfach nur ausruhen dürfen?
Er hörte das heftige Knattern mächtiger Flügel über sich, doch da war nichts. Er sah den mächtigen Hügel hinter der nördlichen Stadtmauer sich regen und langsam zu erheben wie den Höckerrücken eines erwachenden Drachen. Die Luft wurde blutigrot und sehr schwer, und aus ihr tönte ein aufdringliches massives Summen wie von Abermillionen Fliegen. Eine Stimme, die zu ihm ohne Laut sprach, sagte: »Hier ist dein Königreich, Gilgamesch von Uruk. Wie tief ist deine Liebe dafür?«
Und aus der sirrenden Luft kam das Echo: »Liebst du es? Liebst du? Liebst du?«
Ninsun sagte. »Also wirst du gehen.«
»Ich muß, Mutter! Er läßt mir keine andere Wahl.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich halte es für einen großen Fehler, diese Reise.«
»Und ich auch«, dröhnte Vy-otin mit lauter Stimme vom anderen Ende des Saales herüber. »Wie kannst du behaupten, daß du keine andere Wahl hast? Seid ihr zwei etwa wie Zwillingliche, die am Leib durch ein fleischliches Band verknüpft sind, daß du ihm überall hin folgen mußt, wohin er geht?«
Gilgamesch betrachtete den Eisjäger-Häuptling lange mit stumpfem Ausdruck im Gesicht.
»So ist es, Vy-otin. Genau das sind wir, Zwillinge.«
»Dann sag ihm doch, du willst nicht mitgehen. Er wird die Sache aufgeben müssen.«
»Er würde dennoch gehen«, sagte Gilgamesch.
»Ha«, sagte Herodes. »Dann bist also du der an ihn vernabelte Zwilling, und er ist es nicht? Wie merkwürdig.«
»Nein«, sagte Gilgamesch. »Ins Land der Lebenden zu gelangen, das ersehnt er sich mehr als irgend etwas anderes. Und ein solches Verlangen zerbricht alle Bindungen. Er starb seinen ersten Tod, als er hinabstieg in das Haus des Staubes und der Finsternis, um mir die Trommel wiederzubringen, die ich verloren hatte, die Trommel, die der Kunstmeister Ur-nangar aus dem Holz des Huluppu-Baums gefertigt hatte — erinnerst du dich, Mutter? Es war die Trommel, die ich schlug, um meine Seele frei durch fremde Götter- und Dämonenreiche schweifen zu lassen, und als ich das Instrument verlor, gab Enkidu sein Leben, damit ich es zurückbekäme. Und seit jenem Tag, glaube ich, hat er unablässig danach getrachtet, das wiederzugewinnen, was er damals verlor. Und nun ist er sicher, daß die Zaubermacht des Haarigen Mannes ihm helfen wird, das zu finden.«
»Dann soll er gehen und es suchen«, sagte Vy-otin. »Aber wieso mußt du?«
»Weil ich muß«, erwiderte Gilgamesch.
Herodes lachte. »Es geht doch nichts über ein Argumentieren im Kreis, was?«
Gilgamesch fuhr den kleinen Hebräer mit einem derartigen Zorn an, daß dieser erschrocken fünf Schritte zurückhüpfte. »Du begreifst nichts davon! Gar nichts!«
»Vergib mir, Gilgamesch«, bat Herodes zerknirscht. »Aber könntest du es Enkidu nicht einfach verbieten, das zu tun, wenn dir das solch großen Gram bereitet?«
»Ich könnte es wohl.«
»Und er würde dir gehorchen?«
»Er würde gehorchen, ja. Wenn ich ihm erklärte, daß ich wegen meiner Pflichten hierorts nicht mit ihm ziehen kann, es aber auch nicht ertragen könnte, ihn allein gehen zu lassen. Wie könnte ich so etwas von ihm verlangen, Herodes? Daß er auf etwas verzichten soll, wonach er sich so lange gesehnt hat, nur weil ich…«
»Jedoch er verlangt das von dir«, sagte Herodes.
»Nein. Inwiefern täte er das?«
»Indem er dich in eine Lage versetzt, in der du zwischen deinem Freund und deiner Stadt die Wahl treffen mußt, deiner ganzen Welt.«
»Er hat nichts dergleichen getan«, sagte Gilgamesch, doch es klang nicht sehr überzeugt.
»Wenn du aber den Übertritt ins Land der Lebenden tust«, fragte Ninsun, »wirst du danach je wieder in die Nachwelt zurückkehren können?«
»Das kann ich nicht wissen. Vielleicht kann der Behaarte Mann etwas darüber sagen. Aber ich bin bereits einmal von dort hierher gekommen. Es sollte mir wieder möglich sein, wenn ich es wünsche.«
»Indem du wieder dein Leben aufgibst, meinst du?« sagte Ninsun.
»Ja.«
»Doch wenn du zum zweitenmal herkommst, glaubst du, du würdest dann jemals nach Uruk zurückfinden?«
»Ich denke, es wäre möglich. Vielleicht auch nicht. Woher soll ich das sagen können?«
»Also kann man es nicht sicher wissen?« sagte Ninsun. »Wenn du zurückkehrtest, könntest du irgendwo in der Nachwelt landen. Tausend Jahre weit weg von jetzt und tausendmal tausend Meilen fern von diesem Ort. Alle, die du hier vordem gekannt hast, würden in alle sieben Ecken der Welt zerstreut sein. Du wärest allein, Gilgamesch.«
Er betrachtete sie lange und sorgenvoll. Aber als er dann sprach, besaß seine Stimme eine wiedererwachte Bestimmtheit.
»Ich war auch früher schon allein und wurde irgendwie mit denen, die ich liebte, wieder zusammengeführt. Du und ich, Mutter, wir waren Tausende von Jahren getrennt und haben uns doch wiedergefunden, nicht wahr?«
»Und jetzt hast du vor, weiß der Himmel wohin loszuziehen, obwohl du weißt, daß du sie vielleicht niemals wiedersehen wirst!« rief Vy-otin laut. »Deine Mutter verlassen, deine Freunde, alles, was du hier in Uruk aufgebaut hast, alles zurücklassen, was du kennst und liebst — nein, Gilgamesch! Das ist nicht recht!«
»Laß ihn, Vy-otin«, sprach Ninsun. »Er hat seinen Entschluß doch bereits gefaßt, siehst du das nicht?«
»Der Haarmensch«, murmelte Herodes.
»Frieden und Freude, König von Uruk«, sagte der Uralte, der eben den Thronsaal betrat. Er vollzog eine hastige beiläufige Ehrbezeugung. »Ich habe die benötigten Dinge aus Brasil kommen lassen«, sagte er. »Hast du dich entschieden?«
»Du hast alles bereits zusammen?«
»Ja, alles, was ich brauche.«
Gilgamesch sah ihn mit offenem Mund an. »Wie kannst du von dort so rasch etwas besorgen? In einem, in zwei Tagen? Es dauert Wochen, Monate, um nach Brasil zu gelangen und zurück…«
»Manchmal geht es schneller, König Gilgamesch. Ich sage dir, ich habe alles, was nötig ist.«
Noch mehr Zauberkraft, dachte Gilgamesch. Dieses Geschöpf aus der Zeitendämmerung entzog sich seinem Begreifen.
»Also, so sei es denn«, sprach er achselzuckend.
»Du willst die Reise unternehmen?«
»Ich will. Und Enkidu. Und das Weib, Helena von Troja.«
»Auch Helena?«
»Es ist Enkidus Wunsch.«
Der Behaarte Mensch schwieg einen Moment lang.
»Simon der Magier hat Kenntnis davon, daß sie sich hier befindet«, sagte er dann. »Und es ist sein Wunsch, daß Helena von Troja ihm zugeführt werde, o König.«
»Ach? Wahrhaftig?«
»Ja, sein starker Wunsch.«
»Ja, glaubt denn Simon, sie gehörte mir und ich könnte sie nach Belieben verschenken — wie einen Sack voll Rubine?«
»Sie waren einst ein Liebespaar. Und er will sie wiedersehen.«
»Wenn man Helena zu jedem zurückschaffen müßte, der jemals ihr Geliebter war, dann müßte sie durch die Nachwelt sausen wie ein Komet«, sagte Herodes lachend.
Gilgamesch gab ihm ärgerlich ein Zeichen, den Mund zu halten. Und zu dem Behaarten sprach er: »Ich bedaure sehr, daß ich einem so bedeutenden Magier und Weisen wie Simon eine Enttäuschung bereiten muß.«
»Du wirst sie ihm also nicht senden?«
»Nein!« sagte Gilgamesch. »Sie wünscht mit Enkidu zu gehen. Und Enkidu wünscht, daß sie mit ihm geht. Weshalb sollte ich die beiden trennen? Simon hat seine Edelsteine von mir erhalten. Das sollte ihm doch genügen.«
Der Behaarte Mensch wirkte unbeeindruckt. »Wie du wünschst, o König. Doch sollst du wissen, daß keiner von hier ins Land der Lebenden mit einem anderen zusammen gelangen kann. Wer dorthin geht, der geht allein.«
»Was soll das heißen?«
»Was es sagt.«
»Es kann nur einer von uns gehen?«
»Ihr alle könnt gehen. Aber jeder geht allein und kommt allein an. Es ist der einzige Weg.«
»Und Enkidu und ich werden nicht beieinander sein, wenn wir dahin gehen?«
»Ihr macht die Reise allein, und ihr werdet allein ankommen.«
»Doch sobald wir dort sind, werden wir uns wiederfinden können?«
»Vielleicht.«
Gilgamesch atmete lange und schwer. »Aber du bist da nicht sicher?«
»Ich war nicht mehr im Land der Lebenden, König Gilgamesch, seit mehr Jahren, als du Haare auf dem Kopf hast. Wie soll ich sagen können, was dort geschehen wird? Doch jetzt komm, komm! Alles ist für die Reise bereit.«
»Einen Augenblick noch!« Gilgamesch spähte in dem weiten dunklen Saal umher. »Wo ist Enkidu?«
»Ich gehe ihn holen«, sagte Herodes und verschwand aus dem Raum.
Kurz darauf kehrte er zurück, mit Enkidu im Schlepptau wie ein Felsen auf Beinen und einer strahlenden Helena neben Enkidu. Gilgamesch sagte sofort: »Der Haarmann war bereits in Brasil und ist wieder zurück, aber fragt mich nicht, wie. Er hat die Sachen, die nötig sind, den Weg ins Land der Lebenden zu öffnen.«
Enkidu lächelte breit, doch rasch wurde sein Gesicht sehr ernst. »Und du wirst mit uns kommen auf die Überfahrt, Bruder?«
Auf einmal war es sehr still im Saal.
»Ich gehe mit«, sagte Gilgamesch ruhig.
»Bei Enlil! Beim Himmelsvater An! Ich wußte doch, du wirst es tun! Immer habe ich es gewußt…«
»Warte«, unterbrach ihn Gilgamesch. »Eins wisse, Enkidu. Der Mann sagt, Simon wünscht, daß wir ihm Helena als Geschenk senden.«
»Er sagt was?« brüllte Enkidu. Und aus seiner Brust drang ein Grollen, und er wollte sich auf den Haarigen Mann stürzen.
Aber Helena beschwichtigte ihn mit einer ganz leichten flüchtigen Berührung an seinem Handgelenk und sagte leichthin: »Bleib ganz ruhig. Es wird nicht geschehen.«
»Besser nicht!« knurrte Enkidu.
Sie lächelte. »Simon ist ein lieber Kerl, auf seine Weise. Doch wenn er wirklich an mir interessiert gewesen wäre, dann hätte er seine Chance nützen sollen, als wir uns vor langer Zeit in der Abtei von Theleme begegneten.« Und zu dem Haarmenschen sprach sie: »Sag ihm, er kommt tausend Jahre zu spät. Ich gehe, wohin immer Enkidu geht.«
Gilgamesch sprach weiter: »Dann wisse auch dies: Der Behaarte Mann sagte, daß wir getrennt werden, wenn wir den Übergang beschreiten, und daß wir uns möglicherweise danach nicht unbedingt wiederfinden könnten.«
Enkidus Augen loderten. »Was soll das heißen?« brüllte er. »Bist du sicher, du hast ihn richtig verstanden?«
»Ohne Zweifel hat er das jedenfalls gesagt.«
Enkidu fuhr herum und ging auf den Behaarten Mann los, der die Handgelenke in einer Bewegung überkreuz legte, die seltsam unbeteiligt wirkte, und in eine ferne Leere starrte.
Helena wandte sich an Enkidu: »Ist das wahr? Daß wir einander verlieren beim Übergang?«
»Gedenkt ihr euch anders zu entscheiden, was diesen Übergangsversuch betrifft?« fragte der Behaarte Mensch sanft. »Wenn das so ist, sagt es mir jetzt gleich, damit ich die Zubereitungen anhalten kann, ehe…«
»Nein!« rief Enkidu. »Das ist nur ein trügerischer Trick, weiter nichts. Etwas, das Simon ihm zu sagen befohlen hat, um uns abzuschrecken, falls Helena sich weigert, zu ihm zu gehen. Der Mann war in Simons Diensten, Bruder, bevor er dir diente. Und er ist immer noch Simons Mann.«
»Was sagst du dazu?« fragte Gilgamesch.
Völlig unbeeindruckt und ruhig sagte der Uralte: »Die Reise wird so sein, wie die Reise sein muß. Die Bedingungen sind so. Ich besitze nicht die Kraft, sie zu ändern.«
»Aber das ist doch überhaupt keine Antwort«, sagte Gilgamesch.
Helena sagte bebend, und sie wirkte auf einmal sehr klein: »Das macht mir Angst! So ins Unbekannte zu gehen, ohne zu wissen, ob wir uns auch bestimmt drüben wiedersehen werden…«
»Wir werden uns wiedersehen«, versprach Enkidu trotzig. »Irgendwie werden wir es, das weiß ich! Du mußt es nur glauben!« Er schaute auf sie hinab. »Wir sind uns einmal begegnet, und wir werden uns immer nahe sein. Das mußt du glauben. Du mußt einfach!« Und er zog sie dicht an sich. »Sag etwas, ja?«
»Ja«, murmelte Helena, Ihre Augen strahlten wieder, ihr Gesicht strahlte wieder. »Ja, ich glaube, das werden wir. Ganz gewiß, Enkidu.«
»Und du, Bruder? Was meinst du? Kommst du mit uns?«
Gilgamesch blickte umher. Enkidu, Helena, der Behaarte Mann. Hinter ihnen Herodes. Weiter weg Vy-otin und Ninsun. Alle stumm. Ihr Schweigen brandete ihm entgegen wie die Wogen einer wütenden See. Eine seltsame Entschlußunfähigkeit bemächtigte sich seiner und lähmte ihn, so daß er wie erstarrt vor Kälte war.
Er hatte sich für diese Fahrt entschieden, so gefahrvoll und voller Geheimnisse sie sein mochte, einzig um an Enkidus Seite bleiben zu können. Der Behaarte aber bot ihm dafür keine Sicherheit. Und wenn Enkidu wahr sprach und der Behaarte in Simons Auftrag Unheil wider sie wirken sollte, um dessen Zorn über die Weigerung, Helena auszuliefern, zu verdeutlichen — aber nein, das paßte einfach nicht zu Simon, und auch der Behaarte hatte noch nie ein Zeichen von Arglist erkennen lassen.
»Nun, Bruder?« fragte Enkidu.
Gilgamesch blickte den Haarigen Mann fest an. Aber das eisgraue Zottelgesicht verriet nichts. Er blickte zu Herodes hin, doch der zuckte nur die Achseln und wandte die Augen ab. Er blickte zu Vy-otin und bekam auch von dessen einem brennenden Eisjägerauge keine Antwort. Und dann sah er zu Ninsun, und sie lächelte.
Sie nickte.
»Mutter?« sagte er.
»Wann wärest du je vor einer Gefahr zurückgeschreckt, mein Sohn?«
»Du willst, daß ich mitgehe?«
»Du willst es«, sagte Ninsun. »Also, was zögerst du?«
»Aber du sagtest doch…«
»Natürlich möchte ich, daß du hierbleibst. Ich würde lügen, wenn ich dir etwas anderes sagte. Aber ich sehe auch, daß du dich für diesen Weg entschieden hast, und niemand könnte dich aufhalten, noch sollte das einer. Du bist Gilgamesch, und du wirst tun, was Gilgamesch will. Außerdem, Enkidu hat recht. Ihr werdet einander finden. Irgendwie.«
»Ja«, sagte Gilgamesch, und ihm war, als bräche ein Damm in seinem Herzen. »Du hast mir stets nur die Wahrheit gesagt, Mutter. Wie sollte ich jetzt an dir zweifeln?«
Der Behaarte Mann sagte: »Hier ist die Salbe. Reibt euch damit die Wangen ein und den Hals und über den Augen. Dann laßt Stille in euer Herz einziehen und wartet.«
»So ist es also eine Zauberdroge, die uns hinbringt?« fragte Gilgamesch. »Die gleiche, die Calandola benutzte bei der Offenbarung der Erkenntnis?«
»Nichts dergleichen«, antwortete der Behaarte.
Er setzte drei Schalen aus weißem Porzellan vor sie hin. Sie befanden sich in einem der obersten Räume des Palasts, einem kahlen leeren Gemach mit schmalen Schlitzen als Fenstern, durch die nur ein höchst schwacher Lichtschimmer drang und ein Hauch glutheißer Luft. Gilgamesch warf einen Blick zu Enkidu hinüber, der bereits die Schale genommen hatte und sich das Zeug eifrig ins Gesicht rieb. Auch Helena begann sich damit einzureiben. Doch er selbst zögerte, nach seinem Salbentigel zu greifen. Es überraschte ihn, daß er in einem so späten Augenblick noch zaudern sollte. Er wußte, das hing mit den Veränderungen zusammen, die sein Geist in seinem jüngsten Leben durchgemacht hatte: Er, der einstmals vor nichts gezögert hatte, starrte nun beklommen auf den kleinen weißen Porzellantigel, als enthielte er ein scharfes Gift, das ihm das Fleisch von den Knochen brennen würde.
Also sprach er zu dem Behaarten: »Sag du mir nur eines noch…«
»Sag mir, sag mir, immer nur sag mir! Genug der Fragen, König Gilgamesch! Tu es einfach! Geh!«
»Genau, Bruder!« rief Enkidu. »Wir müssen alle gemeinsam aufbrechen!«
»Ja«, stammelte Gilgamesch. »Das müssen wir.«
Und er nahm den Salbtopf. Dieser war warm, und aus ihm stieg ein starker Duft auf, der war wie Honig und Wein und Rosenöl, aber dazu auch noch scharfe brennende Gewürze, die ihm in die Nase stachen, und noch etwas anderes, ein schweres, beklemmendes Aroma, dunkel, dumpf und fremdartig. Die beiden anderen hatten ihre Salbung inzwischen beinahe beendet. Gilgamesch tauchte die Finger in den Topf und hob die Salbe an sein Gesicht. Kurz dachte er an jene andere Salbung, die Calandola mit jenem seltsamen Öl an ihm vorgenommen hatte, als er ihm einen fremdartigen Wein zu trinken gab und dann ein gräßliches Fleisch zu essen, und er erinnerte sich wieder an alles, was aus diesem unheimlichen Ritual entstanden war. Nun, so sei es denn, und komme, was da wolle: Er hatte sich auf dieses Abenteuer eingelassen, also wollte er nicht länger zaudern. Er rieb sich die Salbe auf die Wangen und fühlte ein Brennen, jedoch es war nicht schmerzhaft, und er rieb sich davon den Hals ein und die Stirn, bis das Töpfchen leer war, und der Duft der Salbe stieg ihm in die Nüstern und zog tief hinab in seine Lunge.
Beinahe sogleich fühlte er sich benommen, spürte, daß ihm die Kehle eng wurde. Er wankte, fing sich wieder, wankte erneut. Die Stille ringsum war gewaltig. Er hatte mit Rascheln, Zischen und Brummen gerechnet, mit Traumgeräuschen, Hexenlärm, mit unheimlicher Musik in der Luft, dem Klatschen von Fledermausflügeln, dem Kreischen und Heulen von Ungeheuern. Aber da war nichts. Nichts. Nur bestürzend klare Wahrnehmung und eine gewaltige Stille, die das Schweigen des Mondes hätte sein können.
Er sah zu Enkidu und Helena hinüber. Sie standen entfernt voneinander und hatten starre Augen, als schauten sie in ein endloses Nichts. Der Behaarte Mensch war nirgendwo zu sehen.
»Bruder!« rief Gilgamesch. »Ich spüre, daß ich fortgehe, Bruder. Wirst du mitgehen?«
Doch er konnte nicht einmal den Klang der eigenen Stimme hören, und von Enkidu kam keine Antwort.
Und dann sah er plötzlich die beiden nicht mehr. Er befand sich allein und auf einer großen kahlen Fläche unter einem leeren Himmel. Hinter ihm ragte ein vereinzelter gewaltiger Felsen auf, hoch wie ein Gebirge. Vor ihm gähnte der Abgrund, der gewaltige Riß, der zwischen den Welten liegt. Und am Rand dieses Abgrunds ragte ein ungeheuer hoher Baum unermeßlich weit empor, ein blattloser Baum, nur mit kahlen starren Ästen, die ihrerseits gleichfalls so dick waren wie gewaltige Bäume, die wie Leitersprossen von ihm ausgingen.
Und er wußte, was für ein Baum das war. Es war die Axis Mundi, die Spindel der Welt, der Baum des Lebens, um den alles andere sich dreht, dessen Wurzel im Kern der Schöpfung ankert, und seine Zweige ragen über das Dach des Himmels hinaus. Und er mußte da hinaufsteigen, um das Land der Lebenden zu erreichen.
Er griff nach dem untersten Ast und schwang sich hinauf.
Anfangs ging das ziemlich leicht. Greif nach oben, pack dir den nächsthöheren Ast, zieh dich hinauf, mach eine kurze Pause, klammere dich mit beiden Armen fest, dann recke dich hoch, stemm dich, ein Bein hinauf, dann das andere, mach eine Pause, und dann mach weiter. Aufwärts, aufwärts und weiter aufwärts. Steige auf und klettere und krieche nach oben, bis du aus dieser Welt hinausgeklettert bist und die erreicht hast, die direkt an sie grenzt.
Hinauf! Hinauf! Nach oben…
Doch während er hinaufstieg, merkte er, daß er zugleich nach unten geriet. Der Baum schien gleichzeitig in beide Richtungen zu wachsen, so daß jeder Fortschritt nach oben — und jetzt sah er bereits weit über seinem Kopf den Nordstern in kaltem Licht funkeln — ihn ebenfalls nach unten brachte, in den finsteren luftlosen Abgrund, in die große Mutterhöhle des Kosmos. Er versuchte nicht, das zu verstehen. Am Angelpunkt, an der Achse der Welt, wer konnte da schon irgend etwas verstehen? Wenn der Weg nach außen auch gleichzeitig der nach innen war, nun gut. Nun gut so. Er stieg weiter, Sprosse um Sprosse um Sprosse auf der Baumleiter. Das Holz fühlte sich glatt und kalt unter seinen Händen an. Und dann wußte er nicht mehr in welche Richtung er sich bewegte, er steckte in einer Erdkluft, einem gewundenen unterirdischen Durchgang, aber ebenso war er zugleich weit über dem Boden, weit droben in einem von Sternenfunken wimmelnden Bereich mit eisigen Winden und ewiger Nacht. Es war eine Zeit jenseits der Zeit, ein Raum außerhalb allen Raums. Er befand sich tief im Mutterschoß der Welt. Dem Dach des Himmels nahe.
Und nun wußte er, daß er den Übergang von einer Welt in eine andere machte.
Vor ihm erhellte es sich. Der Baum war hier nicht länger blattlos und kahl: Er stand in wilder Blüte, barst vor blutroten Blüten, und als Gilgamesch nach hinten blickte, sah er, daß der Boden rings um den Baum von einem Teppich roter Blütenblätter bedeckt war, wie wenn dort ein Blutopfer stattgefunden hätte. Er stieg hier rascher durch diesen Teil des Baumes, da hier die Äste nicht mehr so dick waren, sondern er sie leicht mit einer Hand umspannen konnte, überall um ihn her rieselten scharlachrote Blütenblätter, fingen sich in seinen Haaren, klebten an seinem Gesicht, an seinen Schultern, bedeckten ihn wie ein Mantel.
Und nun konnte er nicht höher steigen. Er konnte nicht tiefer hinabtauchen.
Für einen kurzen Augenblick, der sich dehnte, bis er die ganze Ewigkeit umfaßte, erstarrte die Welt in einem Zustand der Stasis, der das Nichts-Sein des Todes selbst übertraf.
Da plötzlich brach die Stille auf, und um ihn tobte ein Sturm aus Lärm und Licht und Bewegung und Schwingung. Von der Wucht des Ganzen war er dermaßen betäubt, nachdem er aus dieser unheimlichen Stille gekommen war, daß seine erste Regung war, sich zusammenzukauern, sich Ohren und Augen zu bedecken und abzuwarten, bis der Ansturm von Sinneswahrnehmungen über ihn hinweg und vorbeigezogen wäre. Doch er zwang sich, aufrecht dazustehen, und er sah und schaute starr und in blödem Erstaunen.
Zuerst, noch ganz benommen, glaubte er, daß er irgendwie in Nova Roma gelandet wäre, der hektischen Stadt der Verrückten, die für ihn die Verkörperung aller schlimmsten Übel war, welche die Später Gestorbenen in die Nachwelt mitgebracht hatten. Aber nein. Nein, dieser Ort war weit gräßlicher als sogar Nova Roma. Im Vergleich zu dem hier war Nova Roma eine Insel des Friedens. Er war in einem Land der Alpträume gelandet. Er hatte die Pforte zwischen Welten durchquert, nur um an einen Ort voller entsetzlicher Hektik und scheußlichen lärmenden Wirrwarrs zu gelangen, über alle Maßen unbegreiflich häßlich, ein Höllenort wie keine andere Stätte, die er je gesehen hatte.