»Ich habe vernommen«, Gilgamesch lehnte sich bequem auf seinem Thron zurück, »daß euch nichts Geringeres in diese Gegend geführt hat als die Suche nach dem Tor zum Land der Lebendigen.«
Über Raleighs Gesicht huschte ein flüchtiger, aber wirklich nur sehr flüchtiger Hauch von Überraschung. Dann sagte er bemerkenswert ruhig: »Man erzählt sich vielerlei seltsame und erfundene Geschichten über mich, Majestät. Ich wünschte, ich besäße einen Shilling für jede.«
»Es sind also alles Lügen?«
»Nicht alles. Ich habe in der Tat einiges von dem vollbracht, was man mir zuschreibt. Aber nicht sehr viel.«
Gilgamesch lachte. »Das kenne ich. Sobald einen die Dichter und Romanschreiberlinge in die Finger bekommen haben, gibt es kein Ende, was?«
»Und die Neider, Majestät. Vergiß nicht die Neider. Diese kleinen kläglichen Nichtse, deren Leben nur aus Lug und Trug besteht und deren Zungen Tag und Nacht schnattern und die sich Taten für Größere, als sie es sind, aus den Fingern saugen, und sich dabei wünschen, sie brächten selber den Mut zur Größe auf — sie münzen alle Wahrheit in Falschgeld um durch ihre bloße Berührung.«
»So ist es«, bestätigte Gilgamesch.
Der Sumerer schwieg eine Weile und betrachtete in dem rauchigen Kerzenschein des Thronsaals diesen kühnen, selbstsicheren Mann, den Enkidu — sonnenverbrannt und ausgetrocknet und mehr als halb verhungert — aus der Wüstenödnis vor einiger Zeit angeschleppt hatte. Hinter Raleigh stand der zweite englische Mann, Hakluyt, der sanfte Bücherwurm, und dahinter stand das dunkle, schlanke Weib Helena, die Griechin, die von sich behauptete, sie sei die Trojanische Helena. Allem Anschein nach hatte sie nur Augen für Enkidu. Und der nur für sie. Zwischen den beiden knisterte eine heiße erotische Spannung in der Luft wie ein gespenstisches Feuer, und man brauchte kein Magier zu sein, um das zu spüren. Die Augen des Weibes waren zu Schlitzen geschlossen, die Nüstern blähten sich, die Zunge zuckte über die Lippen wie die einer Schlange; und was Enkidu anging, der stand steif da, die Hände zu festen Schalen geformt, als lägen ihre Brüste bereits darin. Gilgamesch zwinkerte ihm zu, doch er schien es nicht zu bemerken. Als Enkidu mit der Nachricht gekommen, war, daß der Anführer dieser zerlumpten Wanderer der Engländer Sir Walter Raleigh sei, und als Gilgamesch ihm sagte, daß Raleigh bekanntlich für seine Königin, die englische Elizabeth, nach einem Weg ins Land der Lebenden suchte, brannte Enkidu vor Neugierde, ob er da schon irgendwie Glück gehabt habe. »Befrage ihn, Bruder, frag ihn und bring ihn dazu, es dir preiszugeben«, sagte Enkidu. Doch von dem Augenblick an, da diese Helena ihre Klauen in ihn geschlagen hatte, schienen interessante Fragen wie der Weg ins Land der Lebenden und alles übrige für Enkidu ganz und gar nicht mehr so dringlich zu sein. In seinen Augen sah man jetzt nichts mehr als nur den Abglanz von Helena, Helena, Helena. Und sie glühte und schimmerte und leuchtete nur noch von Enkidu. Gilgamesch dachte: Vielleicht hat Enkidu diesmal endlich eine Frau gefunden, die seinem Appetit gewachsen ist. Es müßte interessant werden, das zu beobachten.
Jedoch, er hatte Enkidu versprochen, Raleigh zu befragen. Also würde er dies tun.
Nach einiger Zeit sagte er zu dem Engländer: »Und das Tor zum Land der Lebenden, Sir Walter, nach dem du, wie man sagt, gesucht hast? Ist dies auch eine von diesen merkwürdigen Lügengeschichten, oder steckt da etwas Wahres dahinter?«
»Oh!« Raleigh lächelte breit. »Dazu kann ich dir etwas Brauchbares sagen: Nach allem, was ich über dieses angebliche Tor wirklich weiß, Majestät, handelt es sich da um etwas ebenso wenig Greifbares wie die Mythen und Fabeln der alten Griechen oder die Geschichten der Table Ronde.«
Auch Gilgamesch lächelte nun. Raleigh hatte der Unterhaltung bewundernswert geschickt eine andere Wendung gegeben. Indem er sagte, er kenne keinen Weg ins Land der Lebenden, habe keinen Beweis, daß es einen solchen gebe, sagte er nämlich nicht aus, daß er nicht nach einem solchen Weg gesucht hatte. Auch nicht, ob er kurz davor gestanden war, ihn zu finden, als ihm der Proviant ausging und seine Kraft ihn verließ. Es war unverkennbar, der Mann hatte lange Zeit in vertrauter Nähe zu Menschen verbracht, die über große Macht verfügten, und beherrschte die Kunst, Informationen — vorzuenthalten, ohne direkt zu lügen. Es kann gefährlich sein, einen König zu belügen. Aber ebenso gefährlich kann es sein, ihm die Wahrheit zu sagen.
Es war offensichtlich, daß Raleigh nicht die Absicht hatte, über den Zweck seiner Expedition zu sprechen, auch nicht über das Land der Lebenden oder irgendwelche Tore, die dahin führen mochten. Nun, also sei es so, dachte Gilgamesch. Die Sache begann ihn zu langweilen. Er hatte keine Lust, den Mann darüber ernstlich zu befragen, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Noch ein bißchen Bohren, ein Versuch, vielleicht, dann wollte er es sein lassen. Das alles hatte weit weniger Bedeutung für ihn selbst als für Enkidu, wenn er es recht bedachte, und Enkidu schien im Moment wirklich ganz andere heftige Interessen zu haben.
Eines war deutlich, dieser englische Mann zeigte Mut, jedenfalls für jemand, der noch vor so kurzer Zeit so scheußlich im Dreck gesteckt hatte. Ein bemerkenswerter Mann, mit Hirn und Höflichkeit, mit einer hohen klugen Stirn, intelligenten Augen, einem sorgsam gestutzten Spitzbart. Er trug feinste Kleidungsstücke, elegante seidene und samtene Gewänder, verziert mit etlichen prächtigen silbern schimmernden Pailletten. Doch zeigten sich am Stoff unübersehbare Flecken und Fehler an dem feinen Gewebe, wo die Mühsal im Outback Spuren hinterlassen hatte, und der Spitzenbesatz hing ihm beklagenswert um den hager gewordenen Körper, das Gesicht war ausgemergelt und sonnengeschwärzt, und in den tiefliegenden Augen hing eine Düsternis und Bitterkeit, die von großem ausgestandenen Ungemach Zeugnis ablegten — und von der heimlichen Befürchtung von Schlimmerem. Gilgamesch fühlte sich zu diesem Mann auf seltsame Weise hingezogen. Raleigh war kein gewöhnlicher Mensch.
»Weißt du, ich habe schon von dir gehört«, sagte Gilgamesch.
»Oh, hast du?«
»Unsere Wege hätten sich einmal fast gekreuzt. Einst war ich am Hof des Priesterkönigs Johannes, und damals ging das Gerücht, daß du mit einem Heer auf einer Forschungsexpedition die südlichen Grenzen seines Reichs überschritten hättest.«
»Aber das war vor sehr langer Zeit, Majestät, als ich im Gebiet des Priesters Johannes war.«
»Ja, das stimmt. Aber es erstaunte mich doch sehr, zu erfahren, daß du und deine Leute seither euren Marsch unbeirrt fortgesetzt habt.«
»Das lag nicht in unserer Absicht«, sagte Raleigh und warf dem kleinen Gelehrten Hakluyt einen eisigen Blick zu, als wollte er zu verstehen geben, daß dieser bei der Expedition als Führer gedient habe und seine Arbeit nicht besonders gut erledigt hätte. »Wir zogen in die Irre und verloren den Weg. Unsere Landkarte erwies sich als unbrauchbar.«
»Tatsächlich? Ja, das ist oft so.«
»Dies war eine schwere Reise für uns. Mir sind beschwerliche Fahrten nichts Fremdes, doch diesmal war es eine ungewöhnlich schwere Bürde für mich. Wir sind euch zu tieferem Dank verpflichtet, als es sich in Worten ausdrücken läßt, für all eure Freundlichkeit. Aber ich versichere euch, wir werden eure Gastfreundschaft nicht ungebührlich lange beanspruchen. Ein paar Tage der Erholung, wenn es uns verstattet ist, und dann…«
»Bleibt, solange ihr wollt«, sagte Gilgamesch mit einer großzügigen Handbewegung. »Es wäre ein recht schäbiges Ding, wollten wir euch wieder weiterschicken, ehe ihr euch von eurer Mühsal erholen konntet.« Hinter sich hörte er Herodes sich räuspern und in sich hineinmurmeln. Er dachte zweifellos an den Schwund in den Kornspeichern. Gilgamesch funkelte ihn zornig an. Und zu Raleigh sprach er — um endlich einen letzten persönlichen Versuch zu machen, wieder auf das Thema zurückzukommen, das Enkidu ihm so ans Herz gelegt hatte: »Als ich am Hofe des Priesters Johannes war, gab es da auch zwei Männer aus dem Lande von König Henry, Gesandte an den Hof von Johannes, die sagten, daß eure Königin — wie war doch noch ihr Name?«
»Elizabeth, Majestät.«
»Richtig, ja. Also, eure Königin Elizabeth, sagten sie, die eine leibliche Tochter des Königs Heinrich sei, und sie sehne sich gewaltig danach, das Tor zum Land der Lebenden zu finden. Und die Gesandten waren überzeugt, daß sie dortselbst eine englische Niederlassung zu errichten trachtete, sofern es den Ort gab, um Zollgebühren von denen einzuziehen, die dort hindurchzuziehen wünschten, in das, was immer dahinter liegen mag.«
»Ja, sie bildeten sich solche Sachen ein, wie?« sagte Raleigh beiläufig, als handelte es sich um bloße wilde Phantastereien.
Um Haltung bemüht, sagte Gilgamesch: »So habe ich es jedenfalls in Erinnerung, allerdings hörte ich es nur zufällig. Am Hof gab es darüber in meiner Gegenwart ein Gespräch zwischen den Gesandten und Priester Johannes. Ihr König Henry hatte von ihm die Aufstellung eines Heeres verlangt, das euch abfangen sollte, ehe ihr finden konntet, wonach ihr suchtet.«
Raleigh blickte zu Hakluyt zurück. »Hast du das gehört, Richard? Dieser heimtückische gemeine alte Schurke!«
»Aber Sir Walter!«
»Ich kann ihn heißen, was immer mir beliebt, Richard. Er war im anderen Leben niemals mein König, und ich schulde ihm hier keine Liebe, denn hier ist nicht England, und wenn hier England wäre, dann wäre es das Elizabethanische England, nicht das Heinrichs VIII. Jedenfalls für mich.« Und zu Gilgamesch sprach er: »Nun, du siehst, der Plan schlug fehl. Wir wurden nie von einem Heer des Priesterkönigs Johannes belästigt.«
»Stimmt«, sagte Gilgamesch. »Priester Johannes hatte damals gerade andere Sorgen, eine Bedrohung von anderer Seite, von einem ihn befehdenden Fürsten des Outback, irgendeinem chinesischen König.«
»Ja. Mao Tse-tung«, sagte Raleigh. »Von der Himmlischen Volksrepublik.«
»Genau der, ja.«
»Ein teuflischer Schlaukopf, dieser Mao. Meine Königin hält große Stücke auf ihn. Er schickt ihr Geschenke, Seidenstoffe und Schnitzereien aus Elfenbein, und Rollen mit seinen Gedichten, und zahlreiche Bände seiner Schrift über die Regierungskunst — ich selbst las einst einen Band davon, konnte aber nichts Sinnvolles darin finden, doch das kann an meiner Dummheit gelegen haben…« Raleigh sagte es kopfschüttelnd. »Nun, hat dann Maos Heer das des Priesters Johannes vernichtet?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich verließ den Hof, als die Schlacht bevorstand, und ich habe seither kein Wort mehr darüber gehört. Mein Weg führte mich weit weg von diesem Ort, bis zur Insel Brasil…«
Als dieser Name fiel, atmete Raleigh hastig ein und hielt die Luft an, als hätte man ihn mit einer Nadel gestochen.
»Du weißt von Brasil?« fragte Gilgamesch.
»Ich habe davon gehört«, antwortete Raleigh, merkwürdig unbestimmt und ausweichend. »Ein Ort voll Zauberei und Hexenkunst und allem möglichen anderen in der Art, habe ich gehört.«
»Ja, ziemlich. Und ein seltsamer Anblick für die Augen, wie ich noch keine andere Stadt gesehen habe.«
»Ich hoffe, sie eines Tages zu besuchen«, sagte Raleigh. »Vielleicht nach meinem Aufbruch von hier. Sie hat mich schon lange sehr stark interessiert, diese Insel Brasil.«
»Der Haarmensch, mein Chefmagier, lebte dort viele Jahre lang«, sagte Gilgamesch. »Ebenso mein Erzkanzler hier, Herodes von Judäa. Vielleicht, können sie dir behilflich sein, den Weg zu finden.«
»Dafür wäre ich wahrlich äußerst dankbar«, versicherte Raleigh.
Als die Audienz endete und das wartende Volk sich aus dem Saal zu zerstreuen begann, fühlte Enkidu, wie das Weib Helena seinen Arm packte und ihm scharf die Nägel ihrer Finger ins Fleisch trieb. Leise und heiser keuchte sie ihm zu: »Komm mit mir!«
»Aber der König…«
»Der König kann warten. Komm!«
Er nickte nur. Ihr gegenüber war er willenlos. Seine Kehle war wie ausgedörrt, sein Herz hämmerte ihm wild in der Brust. Weit weg sah er in einer Düsternis Gilgamesch, der noch auf seinem Thron saß, im Gespräch mit Vy-otin und Herodes, und war es nicht vielleicht seine Pflicht, ebenfalls dort zu sein. Doch er war machtlos gegen Helena. Ihr Gesicht glühte in hitziger Lust, und Enkidu sah, wie sich die Spitzen ihrer Brüste unter dem dünnen Stoff ihres Gewandes aufrichteten.
Gilgamesch würde ihm vergeben. Sie zerrte heftig an seinem Arm, und obschon sie ihm nur knapp bis ans Brustbein reichte und nicht mehr zu wiegen schien als ein Federmantel, ließ er sich von ihr abschleppen und in den Strom der Leute ziehen, die den Audienzsaal verließen.
Draußen zog sie ihn hastig in einen dunklen leeren Gang, der mit glattem Mosaikpflaster und einem Spitzbogengewölbe versehen war, und drückte ihn gegen die Wand. Ihre Augen glitzerten wie Edelsteine. Ihr Atem war süß und heiß. Sollte er sie jetzt gleich nehmen, fragte er sich. Gleich hier in diesem Gang, ihr das Kleid heben, die Glätte ihres Unterleibes streicheln, sie unter den Schenkeln packen und sie einfach so über sich stülpen? Er zögerte, obwohl es ihn stark danach drängte. In früheren Tagen hätte er nicht gezaudert, an der Wand, auf den Steinen des Bodens, auf einem Fenstersims, oder wo immer sonst, er hätte sich genommen, was ihm geboten wurde, und ohne Zögern und schnell. Doch man hatte ihn im Lauf der Jahrhunderte zu sehr mit Zivilisiertheit vollgepumpt. Aber war es nicht dennoch dumm und töricht, wenn er nicht auf sie einging? Da war sie, heiß und hitzig bereit.
Und wenn das so war…
Doch nein, er hatte sie mißverstanden, sie schien es darauf angelegt zu haben, mit ihm zu sprechen. Sobald seine Hände sie zu greifen versuchten, verwandelte sich etwas an der Frau: Der Glanz glühte immer verführerisch, aber es war keine Wärme mehr da, als könnte sie die Glut ihres Ofens an- und abstellen, wie es ihr gerade gefiel, und als wäre das nun nicht der Augenblick der Glut. Das Weib verwirrte ihn. Er kam sich klobig-unbeholfen vor, unmöglich und plump und verwirrt, als hätte die Frau ihn in Schlaftrunkenheit versetzt.
»Bist du des Königs Bruder?« fragte sie.
»Nein, nur sein Freund.«
»Und doch nennt ihr einander Bruder.«
»Das ist, weil unsere Freundschaft so eng ist.«
»Ach so«, sagte sie.
Das Funkeln in ihren Augen trieb ihn zum Wahnsinn. Die Aufforderung in ihnen war unmißverständlich, aber zugleich las er etwas darin, das ihn auf Distanz halten wollte, jedenfalls noch ein Weilchen. Seine Finger bewegten sich zitternd um ihre Gestalt, doch noch immer wagte er es nicht, sie zu berühren. Und es wäre so leicht gewesen, sie zu packen und zu nehmen. Nein, begriff er, es war gar nicht leicht: Sie zwang ihn mit einem Blick, mit einem Lächeln, Abstand zu wahren. Sie zwang ihn zu warten. Das war neu für ihn, dieses Wartenmüssen, dieses Hinausschieben, bis zum richtigen Augenblick. Aber er hatte auch noch nie zuvor ein Weib wie sie getroffen.
Es muß Zauberei dabei sein, dachte Enkidu. Wie sonst konnte sie eine solche Macht über ihn haben? Sie mußte ihn verhext haben.
Sie sagte: »Ich war einst die Gemahlin eines Königs, dessen Bruder ein noch mächtigerer König war, und daraus erwuchs ein unendlicher Ärger. Aber das ist schon recht lange her. Weißt du, wer ich bin?«
»Dein Name ist Helena.«
»Ja. Die Helena von Troja.«
»Ich bitte um Vergebung. Vielleicht müßte ich deinen Namen kennen, aber ich muß gestehen…«
»Ah, du bist einer von den Frühen Toten?«
»Selbstverständlich.«
»Aus Ägypten? Assyrien?«
»Aus Sumer-dem-Land, Herrin. Zwischen den Strömen Idigna und Buranunun gelegen.«
»Sprichst du die griechische Sprache?«
»Ich konnte es einst, glaube ich. Aber es ist lange her seitdem.«
»Macht nichts«, sagte sie. »Du mußt schon sehr alt sein. Du weißt vom Trojanischen Krieg, ja?«
Enkidu überlegte kurz. »Alles weht so durcheinander.
Aber ja, richtig, der Krieg Homers, meinst du den damals? Achilles, Agamemnon…«
»Ich war die Frau von Agamemnons Bruder, Menelaos. Und der Anlaß zum Krieg war ich. Jedenfalls behaupten das die Leute oft genug, aber andere sagen, es ging dabei um Handelsinteressen und Handelswege. Aber ich weiß, daß es natürlich meinetwegen war, weil ich meinen Mann, den König, sitzen gelassen hatte, um im Land der Trojaner zu leben, wohin mich Paris, der damals mein Geliebter war, entführt hatte, und Menelaos wollte diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen, und sein Bruder, Agamemnon, ebenfalls nicht.«
»Ach wirklich? Hm«, sagte Enkidu.
O ja, das konnte er schon verstehen, daß einer wegen der Frau da einen Krieg anzettelte. Diese Augen, diese Haut, das Haar, schwarz wie eine mondlose Nacht, ihr Glühen, das er so dicht an seinem Leib fühlte — aber ja, die Frau konnte einen Mann zum Wahnsinn treiben! Zum Wahnsinn! Da stand sie, dicht vor ihm, fast in seinen Armen. In seinem Griff, wenn er es wollte. Und eben doch nicht. Er glaubte noch immer zu spüren, daß das gleiche Verlangen sie erfüllte wie ihn, doch schien sie irgendwie dieses Verlangen in Schach halten zu können und ihn ebenfalls.
Er dachte an all die Weiber, die er in all den Jahren in dieser und in der anderen Welt gekannt hatte, und versuchte sich zu erinnern, ob eine darunter so duftiges Haar gehabt hatte wie Helena, so weiße verführerische Glieder — doch er merkte, daß er, sich an keine von diesen Frauen besonders erinnern konnte; sie waren nur noch ein verwehter Rauch und ein dunkler verschwommener Fleck in seiner Erinnerung. Und diese Frau da, so nahe und doch so weit aus seiner zufassenden Sehnsucht gerückt, war hell und leuchtend und heiß brennend wie ein feuriger Diamant, klar und glitzernd und vollkommen.
»Und nun bist du die Frau von diesem Raleigh?« fragte Enkidu.
Sie lachte. Es klang wie das gefährliche, amüsierte Schnurren einer Löwin. »Der? Aber nein, obwohl es Schlimmeres gäbe! Nein, wir reisen nur gemeinsam. Er hält mich für unkeusch, für unrein. Für noch Übleres. Er nennt mich einen weiblichen Sukkubus. Die Babylonische Hure nennt er mich, dabei war ich nie in meinem ganzen Leben in Babylon. Ich bin eben leider nicht englisch, das ist das ganze Problem. Er mag eben nur englische Frauen, dieser Raleigh.«
»Und dennoch läßt er dich mit ihm ziehen?«
»Ich war eine Maid in Bedrängnis. Er fand mich verlassen im Outback — ich zog damals mit einem anderen Engländer herum, einem Lord, recht süß, aber ein bißchen seltsam — Byron hieß er, ein Dichter, der schrieb gerade an einer neuen Mas über mich, sagte er, aber eine Bande von Derwischen hat ihn niedergemetzelt. Unsere ganze Gruppe wurde ermordet. Nur ich entkam, und Raleigh fand mich und nahm sich meiner an, weil er ein dermaßen galanter Mann ist, auch wenn er mich verachtet. Und dann bin ich eben bei ihm geblieben, weil ich hoffte, daß er den Weg ins Land der Lebenden finden würde, den er sucht.«
»Das Land der Lebenden?«
»Ich habe diese Nachwelt satt, Enkidu! Ich möchte so gern wieder wirklich sein.«
»Aber wir sind doch hier und wirklich, Herrin.«
»Ach, du weißt schon, was ich meine. Ich möchte an einem Ort leben, wo alles einen gewissen Sinn hat, wo die Flüsse nicht bergauf fließen, wenn ihnen gerade danach zumute ist, und wo die Städte nicht herumziehen wie Kähne auf einem See.«
»Ja, ich weiß, was du meinst«, sagte Enkidu. »Und ich habe ebenfalls diesen Wunsch. Ich würde selbst ins Land der Lebenden ziehen, wenn ich den Weg finden könnte.«
»Wir könnten ihn gemeinsam finden, Enkidu.«
»Was? Wie?«
»Weißt du, wo Brasil liegt? Die Zauberinsel?«
Er nickte nicht ganz überzeugt. »Eine ziemliche Strecke die Küste abwärts, glaube ich.«
»Ah, du warst nicht dort?«
»Ich selbst nicht, obschon ich einmal dort ganz in der Nähe war. Aber Gilgamesch war da.«
»Der Weg ins Land der Lebenden ist in Brasil.«
Enkidu starrte sie an. »Weißt du das bestimmt?«
»Jemand hat es Raleigh glaubwürdig versichert. Ein Mann, der es zu wissen schien. Ich habe es auf seiner Landkarte mit einem flammenden Zeichen eingezeichnet gesehen. Und er zog in diese Richtung, als uns die Vorräte ausgingen. Und nun ist ihm das Verlangen abhanden gekommen, dort hinzugehen. Mir aber nicht. Du und ich, Enkidu, du und ich, wir könnten Brasil erreichen, wir könnten das Geheimnis durchdringen, wir könnten durch dieses Tor gehen…«
»Das glaubst du?«
»Ich weiß es.« Sie bog sich zu ihm herauf und züngelte verführerisch über ihre Lippen, und sie lachte, und diesmal war es nicht das Knurren eines Löwenweibchens, sondern eher ein Schnurren. »Wir könnten hinfinden, du und ich, das weiß ich.« Wieder fühlte er ihre Hitzigkeit. Sie hatte den Glutofen wieder entzündet. »Nun, Enkidu?«
Und diesmal zauderte er nicht. Seine Hände legten sich auf ihre Brust. Und sie bedeckte sie mit ihren eigenen Händen. Das gurrende Schnurren wurde stärker in seinen Ohren, bis es ihm wie ein Dröhnen war, und dann brach sie über ihn herein wie ein Strom feuriger Lava.
Keiner war noch bei Gilgamesch im Audienzsaal, außer Vy-otin und Herodes und einigen Wachen. Er hätte gern Enkidu ebenfalls bei sich behalten, doch dieser war an der Seite von Helena davongeeilt, ehe Gilgamesch ihm ein Zeichen hatte geben können, und er war nicht herzlos genug, ihn zurückzurufen. Aber er ließ nach Magalhaes senden und nach dem Haarmenschen.
»Also?« fragte er, während er darauf wartete, bis sie kamen. »Was haltet ihr von diesem Raleigh?«
»Ein außergewöhnlicher Mann«, sagte Herodes. »Gescheit und voll von Ränken. Ein großer Führer und ein großer Verführer und Schwindler, das ist es, was ich glaube.«
»Er lügt nicht mehr, als er unbedingt muß«, sagte Vy-otin. »Ich sprach mit ihm, ehe er hier hereinkam. Es lag in der Natur seines Landes, daß große Männer Gefahr liefen, außer wenn sie eine glatte sanfte Zunge führten. Diese Elizabeth, die er so zu verehren scheint, war in ihrem Erstleben ein gefährliches Weib und ließ andauernd ihren bevorzugtesten Höflingen die Köpfe abschneiden, aber diesem Raleigh gelang es, den seinen zu behalten. Doch der König, der nach dieser Frau auf den Thron kam, steckte ihn für ein Dutzend Jahre oder so ins Gefängnis und ließ ihn dann schließlich trotzdem umbringen.«
Gilgamesch runzelte die Stirn. »Weshalb tat er das? Mir erscheint das ein schrecklich unnötiger Aufwand zu sein.«
»Der Grund war irgendeine Expedition, die fehlschlug und die Nation teuer zu stehen kam, und Gerüchte, daß er mit dem König eines anderen Landes konspiriert haben soll, was dieser Raleigh mir gegenüber bestritt. Aber in Wahrheit, glaube ich, hat der König ihn aus purer Ranküne beseitigen lassen, weil er ein zu gescheiter und zu aufmüpfiger Kopf war.«
»Aber einen Mann von solchen Qualitäten deswegen ermorden zu lassen — sie müssen ein recht barbarischer Volksstamm gewesen sein, diese Englischen«, sagte Gilgamesch.
»Wir Leute aus dem Pleistozän«, sagte Vy-otin mit einem schiefen Grinsen, »waren wirklich die echten letzten Zivilisierten. Wir aus dem Aurignac, wir Archetypen. Es hat etwas recht Positives, zwischen Gletschern in einer Eiszeit zu leben und zwischen den wollzottigen Mammuts, die aus dir einen anständigen Menschen machen und dich mit Kleidung versorgen. Aber seit damals ging es die ganze Zeit nur bergab mit dem Menschengeschlecht. Die Menschenrasse begann zu verderben wie eine Frucht, die zu faulen beginnt, als die Welt sich erwärmte, versteht ihr?«
Herodes lachte. »Wie könnten wir dir da etwas dagegen halten? Du verfügst über eine Perspektive von zwanzigtausend Jahren. Aber vielleicht könnte uns unser Freund, der Haarige Mann, sagen, daß sein Volk den Gipfel der Schöpfung darstellt, und das deinige war nur ein Haufen von zottelfellbedeckten, Hackbeile schwingenden Kerlen mit verrotzten Nasen. Was sagst du dazu, Henry Smith? Heh, was sagst du dazu?«
Vy-otin nickte ihm höflich zu. »Natürlich waren sie zivilisiert, die Haarigen. Genau wie wir. Beim Stoßzahn und den Hörnern Gottes, es seid doch ihr Spätlinge allesamt, ihr Sumerer und Babylonier und Griechen und Römer, die es nicht verdienen, daß man sie…«
»Und Juden«, sagte Herodes. »Vergiß mir nicht die Juden. Wir sind die allerschlimmsten Missetäter. Wir sind so üble Barbaren, daß du uns nie hättest dazu bringen können, Mammutfleisch zu essen.«
»Weshalb nicht? Hast du es je versucht?«
»Buddha behüte mich!« rief Herodes und bekreuzigte sich. »Mammutfleisch? Das ist nicht koscher! Unser Gott verbietet uns, dieses Zeug jemals zu berühren!«
»Nun, dann erklärt das, weshalb ich im Pleistozän keinen Juden begegnet bin«, sagte Vy-otin. »Die müssen alle im Zustand großer Heiligkeit verhungert sein. Es gab damals nämlich sonst nichts zu essen, mußt du wissen. Hin und wieder einen seltenen Säbelzahntiger oder ein vereinzeltes Nashorn, aber das Mammut, das war unser Ding, mein Junge, die prachtvollen alten kollernden Kerle mit ihrem roten wolligen Fell…« Er lachte und sah zu Gilgamesch hinüber. »Was hast du mit diesem Raleigh vor? Willst du ihn hierbehalten?«
»Für ein Weilchen. Um Enkidus willen.«
»Wegen Enkidu?«
»Das Tor zum Land der Lebenden, das dieser Raleigh angeblich sucht, fasziniert Enkidu tief, dieser Zugang. Vielleicht kann Raleigh uns etwas darüber sagen.«
»Gibt es denn sowas?« fragte Vy-otin. »Seit hundert etlichen Jahren habe ich hier immer wieder Geschichten davon gehört. Aber keinem schien es je gelungen zu sein, es zu finden, dieses Tor, und ich habe auch nie einen getroffen, der einen klaren Begriff gehabt hätte, wo es sein könnte.«
»Ich auch nicht«, sagte Gilgamesch. »Doch will ich wenigstens versuchen, in Erfahrung zu bringen, was Raleigh möglicherweise weiß. Allerdings wird es nicht gerade leicht werden, etwas aus ihm herauszuholen.«
»Ist das wirklich die Helena aus Troja, mit der er herumzieht, was meinst du?« fragte Vy-otin.
»Sie behauptet es. Ich bin geneigt, ihr zu glauben.«
»Sie ist unerträglich schön«, sagte Herodes. »Sie sieht einfach nicht echt aus.«
Vy-otin lachte. »Enkidu hält sie für echt genug.«
»Er ist von ihr besessen, ja«, sagte Gilgamesch. »Ich habe es in Tausenden von Jahren nicht erlebt, daß er sich wegen eines Weibes so aufführt. Doch es wird ihm guttun. Er ist immer so voll Unruhe, wenn er ohne eine Frau ist, und wenn Enkidu unruhig ist, führt das oft zu Schwierigkeiten. Vielleicht kann diese Helena ihn für ein Weilchen besänftigen.«
»Eher das genaue Gegenteil, möchte ich vermuten«, bemerkte Herodes trocken. »Doch du kennst ihn ja besser.«
Am anderen Ende des Saales öffnete sich eine Tür. »Da kommt Magalhaes«, sagte Vy-otin.
Der Seefahrer trat hinkend vor den Thron. »Du hast nach mir verlangt, Majestät?«
»Ja. So ist es. Du kennst doch sämtliche Abenteurer und Seefahrer, Magalhaes. Was kannst du mir über diesen Walter Raleigh berichten, der nun unter uns weilt? Hattest du in der anderen Welt je mit ihm zu tun?«
»Nach meiner Zeit kam der. Fünfzig Jahre oder mehr.«
Gilgamesch lachte. »Fünfzig Jahre? Was ist das schon?«
»In der anderen Welt, Majestät, bedeutet es alles. Ich war längst dahin, ehe er geboren wurde. Doch ich habe hier von ihm gehört. Draco hat mir Geschichten über ihn erzählt.«
»Draco?«
»Francisco Draco, der Seeräuber. Ebenfalls ein Engländer, ein guter Bekannter von Raleigh in der anderen Welt.«
»Er meint Sir Francis Drake«, erklärte Vy-otin.
Gilgamesch nickte. »Danke. Was bist du doch für ein Experte für die Einzelheiten dieser Spät-Totenwelt, alter Freund.« Und zu Magalhaes: »Schön also. Und was hat dein Drake, dein Draco, dir über Raleigh erzählt?«
»Ein Genie, sagte er. Aber unstet und unzuverlässig, wie eben die meisten Genies. Stets voller wunderbarer Vorhaben, die er nie ganz zur Vollendung bringen konnte.«
»Wie etwa einen Weg ins Land der Lebenden zu suchen?«
»Ja, das würde durchaus zur Art dieses Raleigh passen.«
Gilgamesch beugte sich zu dem kleinen Portugiesen nieder und fragte leise: »Und was weißt du von diesem Plan? Glaubst du, es gibt einen solchen Durchgang, ein solches Tor?«
»Es ist nur ein Märchen«, sagte Magalhaes sofort. »Das Land der Lebenden kann niemand erreichen. Ich bin davon überzeugt, und Draco ist davon überzeugt, und Cook ebenfalls, der auch ein bedeutender Seefahrer ist. Und das sind Männer, die ich kenne und denen ich vertraue, Draco und Cook, sie haben beide die Welt umsegelt, genau wie ich, und wer einmal eine solche Reise getan hat, der kann nie wieder sein wie gewöhnliche Menschen. Was er sieht, das sieht er mit wachen Augen und in Wahrheit.«
»Möglich.«
»Draco hat danach gesucht, so sagte er mir. Und Cook auch. Sie sind zu den fernsten Winkeln der Nachwelt gefahren, sogar hinein in die Große Unendliche See. Würden sie denn noch hier sein, wenn sie das Tor zum Land der Lebenden gefunden hätten? Aber ich habe Draco erst letzten Monat getroffen und Cook vor knapp fünf Jahren, und sie sagten nichts zu mir über Tore oder andere Welten, obwohl sie mir bestimmt etwas darüber gesagt hätten. Wenn sie es nicht gefunden haben, dann deshalb, weil es nicht existiert. Du kannst dich auf mein Wort verlassen.«
»In diesem Fall…« Doch Gilgamesch wurde von einem Lärm im Gang vor dem Thronsaal gestört; ein Stampfen, lautes mißtönendes Singen, herzhaftes Gelächter, schallendes Händeklatschen — die gewöhnlichen Signale, die Enkidus Nahen verkündeten —, und dann kam Enkidu selbst voll Übermut hereingetollt, ganz erhitzt und schweißtriefend, das lange feuchte Haar hing in zerzausten Zotteln herab, das Kleid war zerknittert. Der Geruch von Helenas Parfüm wehte mit ihm herein.
»Gilgamesch!« brüllte er. »Ich hab’ es! Das große Geheimnis — ich habe es herausgefunden!«
»Ach du liebe Zeit, ich hätte es ihm sagen können«, murmelte Herodes, »dabei habe ich noch kein Wort mit dem Weib gewechselt. Es ist ganz einfach: auf jeder Seite eine Brustkugel, so ist sie gebaut, und weiter unten ein Pölsterchen von dunklen Haaren, wo sich die Beine treffen, und sie stößt kleine sanfte Laute aus, wenn man sie da berührt…«
Gilgamesch gebot ihm mit einem scharfen Zischen, er solle schweigen.
»Was für ein Geheimnis ist es denn, Bruder?« rief er, während Enkidu schwankend wie ein Matrose auf Deck herankam.
»Der Weg ins Land der Lebenden! Ich weiß, wie man ihn finden kann!«
Gilgamesch blickte stirnrunzelnd zu Magalhaes, der nur die Achseln zuckte.
»Dieser Seefahrer hier hat uns gerade erklärt, daß es in der ganzen Nachwelt kein derartiges Tor gibt.«
»Dieser Seefahrer irrt sich. Ich habe es aus vertrauenswürdiger Quelle, und wenn ein Mann das bestreitet, so will ich ihn dafür zur Rechenschaft ziehen, daß er mich einen Lügner heißt.«
Magalhaes blickte unbeeindruckt zu Enkidu empor, der fast doppelt so groß wie er über ihm aufragte. »Ich erklärte nur, daß ich glaube, dieses Tor gehört in das Reich der Fabeln, bevor du hier hereingekommen bist. Wer dennoch an seine Existenz glauben möchte, kann dies gern weiterhin tun, es wird mich nicht stören, auch werde ich sie nicht der Lüge bezichtigen. Es gibt Menschen, die behaupten, daß die Welt flach ist, und die sind ebenfalls keine Lügner. Sie sagen nur die Wahrheit, an die sie glauben. Man braucht nicht zu lügen, um etwas zu sagen, was nicht wahr ist.«
»Wer ist dieser kleine Kerl?« brüllte Enkidu und hob beide geballten Fäuste. »Wieso ist er hier, und wieso erlaubst du ihm, mich zu verspotten? Bei Enlil, ich werde…«
»Frieden, ihr beiden«, gebot Gilgamesch und gab Vy-otin ein Zeichen, zwischen die beiden zu treten. Er wartete ein wenig, bis Enkidu sich etwas beruhigt hatte, dann sprach er: »Also, Bruder, berichte uns, was du erfahren hast.«
Enkidu schaute sich mürrisch um. »Vor diesen…«
»Vor Herodes, Vy-otin, ja. Weshalb nicht?«
»Und dem da?« Er wies auf Magalhaes.
»Er ist ein großer Seefahrer, ein Mann mit großem Wissen von den Straßen dieser Welt und der anderen. Er steht jetzt in unseren Diensten. Wir vertrauen ihm. Du kannst vor ihm sprechen, Enkidu.«
»Also…« Enkidu schüttelte den Kopf. »Es war die Frau, Helena, die mir das gesagt hat, sie, die mit Raleigh herkam.«
Herodes kicherte.
»Werden sie mich heute alle verspotten?« rief Enkidu.
»Sei still, Herodes! Weiter, was hat Helena dir gesagt über…«
»Sie und Raleigh zogen, wie wir wissen, durch das Outback im Auftrag von Raleighs Königin, die Elizabeth heißt und die den Weg ins Land der Lebenden sucht. Raleigh hat eine Landkarte, oder vielmehr der kleine Kerl Hakluyt hat eine, der ihm als Führer dient, und Helena hat sie gesehen. Da steht ganz deutlich, wo die Öffnung in die andere Welt sich befindet.«
»Und wo ist dieser Ort?« fragte Gilgamesch.
Erneut zögerte Enkidu und schaute Magalhaes düster an.
»Raus damit, Enkidu! Wo ist es?«
»Auf Brasil«, sagte Enkidu.
»Brasil?«
»Ja, die Insel Brasil. Simons Stadt, in der dir die Erkenntnis zuteil wurde, die dich hierher geführt hat, Bruder.«
Gilgamesch war verblüfft. »Ja, ich fand wirklich, daß Raleigh erstaunt aussah, als ich erwähnte, daß ich früher einmal in Brasil gewesen bin. Ich erwähnte den Namen kaum, da wurde er kurzatmig und riß die Augen weit auf. Aber nein, Enkidu, nein, wie könnte so etwas sein? Ich war doch dort. Ich hätte doch gewiß etwas davon gehört.«
»Hast du danach gefragt?«
»Wieso hätte ich so etwas fragen sollen? Solange ich in Brasil weilte, kam mir kaum je ein Gedanke an ein Land der Lebenden.«
»Siehst du? Siehst du?«
Gilgamesch sah Herodes an. »Du hast viele Jahre in Brasil gelebt. Was kannst du dazu sagen? Gibt es dort diesen Weg, oder nicht?«
»Also, ja, es gab da so Geschichten«, sagte Herodes ausweichend. »Daß die Tunnelgänge unter der Stadt dorthin führten, vielleicht, und allerlei ähnliche Märchen. Ich habe nie besonders darauf geachtet. Ich habe nie auch nur ein Zehntel von den phantastisch klingenden Sachen geglaubt, die man sich in dieser Stadt herumerzählte. Vielleicht nicht einmal den hundertsten Teil.«
Gilgameschs Blick verlor sich in der Ferne. Bei den Worten Herodes’ erwachte wieder das Bild der dunklen Schächte im Bauch der Insel Brasil, in denen Calandola und seine Menschenfresserhorde lauerten. Ja doch, auch er hatte es vernommen, mehr als nur einmal, daß sich irgendwo in diesen Tunnelgängen der Weg ins Land der Lebenden finden lasse. Nun fiel es ihm wieder ein. Doch es gab uralte Gänge unter vielen der Städte der Nachwelt, unter Nova Roma, unter Elektrograd, unter Nibelheim, vielleicht gar unter Uruk, wer konnte das schon wissen. Und in diesen Städten hörte man oft hinter vorgehaltener Hand flüstern, daß man durch einen der unterirdischen Gänge aus der Nachwelt entrinnen könne. Aber geflüsterte Gerüchte bedeuten schließlich nicht, daß sie wahr sind. Niemand wußte mehr, wer diese Gänge gegraben hatte und aus welchem Grund. Es waren nichts weiter als dumpfe Höhlungen, staubig, unheimlich, widerlich, vor langer Zeit bereits verlassen. Gilgamesch sah keinen Grund, ihnen eine besondere magische Bedeutung zuzuschreiben. Es hat immer schon Leute gegeben, die das Licht das Tages scheuten, dachte er, und sich lieber in den Eingeweiden der Erde vergruben. Aber weshalb sollte er dann glauben, daß diese Irrgänge, die von vergessenen Mineuren vor langer Zeit in der Nachwelt gegraben wurden, irgendwohin führen sollten als nutzlos im Kreise?
Er sagte, nach geraumer Zeit: »Wo ist mein Haariger Mann? Wir wollen ihn dazu befragen.«
»Er wartet in der Vorhalle«, berichtete Herodes.
Enkidu sagte: »Wäre es nicht großartig, das Land der Lebenden zu sehen, Bruder? Du und ich — und Helena?«
»Aha, und Helena, ja?«
»Ja, sie würde mit uns kommen. Sie wird uns führen auf dem Weg, und alle Hindernisse werden vor ihr zunichte werden.« Enkidus Augen leuchteten. »Ach, Gilgamesch, mein Bruder, du hast nie ein Weib wie sie gesehen! Sie ist ein Wunder! Eine Göttin!«
»Ich habe Göttinnen in meinen Armen gehalten, Bruder«, erklärte Gilgamesch trocken; er erinnerte sich an sein erstes Leben, als er König gewesen war im echten, wirklichen Uruk und jedes Jahr mit der göttlichen Inanna pflichtgemäß die rituelle Heilige Hochzeit zu vollziehen hatte. Es war eine recht heftige Sache gewesen, das mit der Inanna, deren mißgünstiger Eifer und Machtgier ihn beinahe vorzeitig das Leben gekostet hatten. »Sie sind nicht immer sehr angenehme Bettgefährtinnen, wenn ich dir das warnend in Erinnerung rufen darf. Aber sieh, schau, da kommt mein Haariger Mann.«
»Du hast mich herbefohlen, hier bin ich, König Gilgamesch«, sagte das uralte Geschöpf.
»Wir reden gerade über den Pfad ins Land der Lebenden«, sagte Gilgamesch.
»Ach.« Die Bernsteinaugen des Behaarten glommen wie Laternen in dem unergründlichen fellbedeckten Gesicht.
Gilgamesch sprach weiter: »Gerade erreichte uns eine Information, daß der Zugang zu diesem Land bekannt ist und daß er sich auf der Insel Brasil befindet.«
»Warum sagst du das zu mir?« fragte der Behaarte ruhig mit seiner pelzigen schwerfälligen Stimme, die Gilgamesch zwang, sich vornüber zu neigen, um jedes Wort zu verstehen.
»Weil alles, was es in Brasil gibt, droben in der Stadt und in den Erdgängen darunter, dir bekannt ist, glaube ich. Also solltest du in der Lage sein, uns zu sagen, ob das so ist, daß es in dieser Stadt das Tor zum Land der Lebenden gibt.«
Der Haarmensch schwieg geraume Zeit.
»Nein«, sagte er dann. »Nein, einen solchen Durchgang kann man da nicht finden. Nicht in der Stadt. Nicht in den Gängen darunter.«
Enkidu stieß ein wütendes Zischen der Enttäuschung aus.
»Und du bist dir da ganz sicher?« fragte Gilgamesch.
»Dieser dein Palast hier, König Gilgamesch, ist ein Haus aus Steinen, und um ihn zu betreten, mußt du durch ein Tor gehen. Diese Stadt Uruk ist umgürtet von einer Wallmauer aus Ziegelsteinen, und um nach Uruk zu gelangen, mußt du ebenfalls durch ein Tor gehen. Doch das Land der Lebenden betritt man nicht, wie man in deinen Palast gelangt, oder in die Stadt Uruk, also nicht durch eine Öffnung, durch die du hindurchgehen kannst, von dem einen Ort an einen anderen, von außen nach innen, von einer Seite zur anderen. Du kannst über die ganze Weite der Nachwelt wandern, aufwärts und hinab, aber du wirst kein solches Tor finden.«
Wieder zischte Enkidu zwischen den Zähnen, lauter als zuvor, dann wandte er sich weg, verkrampfte seine mächtigen Fäuste und schlug sie wieder und wieder gegeneinander.
Gilgamesch sprach: »Dann ist es also nur ein dummes Ammenmärchen, daß wir von dieser Welt aus ins Land der Lebenden gelangen können? Ein Traum, eine Erfindung, leere Phantasie?«
Wieder schwieg der Haarmensch lange, und dann sprach er so undeutlich, daß Gilgamesch nur die eine oder andere abgerissene Silbe verstand, der Rest der Rede ging im Bart des Behaarten verloren.
»Was sagtest du da?« bat Gilgamesch. »Sag es mir noch einmal, sei so gut.«
»Ich sagte, o König, daß man das Land der Lebenden wirklich erreichen kann. Doch der Weg dahin ist kein Pfad, wie du ihn verstehst, und man gelangt auf ihn nicht durch ein Tor. Der Pfad ist nirgendwo und überall, in Brasil und nicht in Brasil, in Uruk und nicht in Uruk, in der Wüste und nicht in der Wüste.«
Stirnrunzelnd sagte Gilgamesch: »Solche Worte sind für mich ohne Sinn. Ein Ding ist entweder da oder es ist nicht da. Man kann an einen Ort gelangen — oder nicht. Und du sagst, nein. Du sagst, es gibt einen Weg dorthin, tatsächlich, aber man muß einen Weg einschlagen, der kein Weg ist, und der Weg ist da und auch wieder nicht da, und…« Gilgamesch schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich ganz und gar nicht.«
Der Behaarte Mann sagte: »Diese Dinge sind auch nicht leicht zu verstehen. Und es ist nicht leicht, den Weg zu finden. Ohne die Hilfe eines Wegkundigen findest du ihn nie.«
»Und wo finde ich einen, der den Weg kennt?«
»Du hast ihn bereits gefunden, o König. Ich kann dir den Weg weisen, den du suchst.«
»Du? Wie kannst du das?«
»Wenn du aufrichtig dieses Land zu besuchen begehrst, kann ich dich hinsenden. Du glaubst mir nicht? Es gibt eine Möglichkeit, den Weg aufzutun, und ich kenne sie.«
Enkidu stieß ein Keuchen aus und wandte sich plötzlich wieder um. Er schien auf einmal doppelt so groß wie sonst. Seine Augen loderten wild.
»Da, hörst du es?« fuhr er Magalhaes wütend an. »Hörst du es?« Und zu Gilgamesch sagte er mit bebender Stimme: »Bruder, bewege ihn dazu, uns das Geheimnis sogleich zu sagen! Wir müssen dort hingehen, du und ich! Wir müssen den Weg finden und ihn bis zu seinem Ende gehen! Oder willst du lieber noch einmal zehntausend Jahre in Uruk herumsitzen und feist werden? Was, Bruder? Heh?«
Gilgamesch starrte den Behaarten Mann verwirrt an. »Du hast mir nie ein Wort über dies gesagt. Wie kommt es, daß du nie davon gesprochen hast?«
Über das tierhafte Gesicht huschte beinahe so etwas wie ein Lächeln.
»Ach, König Gilgamesch! Du hast mich nie gefragt!«