Wir betraten eine Kneipe auf der Sechsundsiebzigsten Straße, die Weihnachten eröffnet worden war. Einer aus Timothys Verbindung war dort gewesen und hatte berichtet, die Stimmung im Laden sei super, also wollte Timothy auch dahin. Wir machten Witze darüber. Der Laden hieß ‚Zur Geschmacklosigkeit’, und diese sechs Silben sagen eigentlich schon, wie langweilig es dort war. Die Einrichtung war in frühem Jockstrap gehalten, und das Publikum war auf zehn Meilen als High-School-Footballspieler-Clique aus den Vororten zu erkennen. Die Mädchen waren hoffnungslos in der Minderheit, so etwa im Verhältnis von eins zu drei. Der Geräuschpegel lag sehr hoch, das Gelächter von Schwachsinnigen herrschte vor. Wir vier marschierten in einer Phalanx hinein, aber kaum waren wir drin, brach unsere Formation auseinander. Voller Begierde stieß sich Timothy wie ein Kampfbulle in der Brunft zur Bar vor. Nach dem fünften Schritt verlangsamte sich die Bewegung seines massigen Körpers, als ihm bewußt wurde, daß das Publikum nicht seinen Erwartungen entsprach. Oliver, irgendwie der anspruchsvollste unter uns, kam gar nicht erst herein; er hatte sofort bemerkt, daß dieser Laden nichts für ihn war, und ließ sich direkt am Eingang nieder, um darauf zu warten, daß wir herauskamen. Ich wagte mich bis zur Mitte vor. Eine Woge von Heiterkeit befiel mich, ich konnte sie mit jedem einzelnen Nerv spüren. Total behämmert zog ich mich in eine Nische beim Checkroom zurück. Ned zog es direkt zur Toilette. Ich war naiv genug zu glauben, er müsse dringend. Einen Augenblick später kam Timothy zu mir mit einem Glas Bier in der Hand und sagte: „Dann laß uns mal das Glas mit Luft füllen. Wo steckt Ned?“
„Für kleine Jungs“, erklärte ich ihm.
„Gequirlte Scheiße.“ Timothy verschwand, um ihn zu holen. Wenige Momente später erschien er mit einem schmollenden Ned, der seinerseits von einer Zwei-Meter-Ausgabe Olivers begleitet wurde. Ein junger Apoll, vielleicht sechzehn Jahre alt, mit schulterlangen Locken und einem Lavendelhaarband. Fixer Junge, dieser Ned. Fünf Sekunden, um die Lage zu überblicken, und dreißig weitere, um das schönste Stück zu finden und mit ihm einig zu werden. Timothy war ihm jetzt in die Parade gefahren und hatte den Wunschtraum einer exquisiten Zweisamkeit in einem Hinterzimmer in East Village zerstört. Natürlich hatten wir jetzt keine Zeit, um Ned seinen Launen frönen zu lassen. Timothy barschte Neds Fundstück an, und Ned murrte Timothy an; der Apoll stampfte von dannen, und wir vier zogen nach draußen. Einen Block weiter zu einem hoffentlich zuverlässigeren Laden, dem ‚Plastikkäfig’, wo Timothy und Oliver im letzten Jahr oft verkehrt hatten: ein futuristisches Dekor, überall gewellte Platten aus dickem, glänzendem, grauem Plastik, die Kellner in auffällig bunten Science-Fiction-Kostümen, periodisch grelle Lichtausbrüche, ungefähr alle zehn Minuten das betäubende, hämmernde Geschmetter eines Hard-Rock-Fetzers aus fünfzig Boxen. Eigentlich mehr eine Diskothek als ein Single-Bar, aber der Laden erfüllte beide Zwecke. Treffpunkt der Typen vom Columbia und Barnard und Sammelpunkt der Mädchen vom Hunter. High-School-Leute läßt man spüren, daß sie unerwünscht sind. Auf mich wirkte die Umgebung sehr fremd; ich habe kein Gespür für aktuelle Trends. Ich sitze lieber in einem Café, schlürfe Cappucino und rede über weltbewegende Dinge, als mich in Single-Bars oder Diskotheken herumzutreiben. Rilke statt Rock, Platin statt Plastik. „Mann, du bist wohl der letzte Rest aus den fünfziger Jahren“, hatte Timothy mir mal gesagt. Timothy mit seiner republikanischen Korea-Nahkampf-Frisur.
Unser hauptsächliches Anliegen an diesem Abend war, einen Schlafplatz zu finden, ein Mädchen anzumachen, das eine Wohnung mit Platz für vier männliche Gäste hat. Timothy würde das übernehmen; falls er Scheiß baute, hatten wir immer noch Oliver in Reserve. Dies war die Welt der beiden. Ich würde mich im Hochamt von St. Patrick weniger fehl am Platze fühlen. Für mich war das hier Sansibar, und ich vermute, für Ned war es Timbuktu, obwohl er sich mit seiner Chamäleonhaftigkeit überall anpassen konnte. Von seiner natürlichen Leidenschaft durch Timothy abgebracht, wählte er jetzt die Hetero-Flagge zum Weitersegeln aus. In seiner angeborenen perversen Art hatte er sich gleich an das häßlichste Mädchen weit und breit herangemacht: ein Breigesicht mit wuchernden kanonenkugelähnlichen Brüsten unter einem ausgeweiteten roten Sweater. Er zog seine beste Show bei ihr ab, benahm sich ihr gegenüber wie ein schwuler Raskolnikow, der sie darum anfleht, ihn vor einem verruchten Leben voller Unzucht zu bewahren. Als er ihr ins Ohr flüsterte, befeuchtete sie beständig die Lippen, schlug die Augen auf und nieder und befingerte ihr Kruzifix, ja, sie hatte ein Kruzifix zwischen den Jumbobällen hängen. Sie wirkte wie die Sally McNally direkt aus Mother Gabrini High, die den Kinderschuhen noch nicht lange entwachsen war; was kostete es doch für eine Anstrengung, diese loszuwerden. Und jetzt, dem Himmel sei Dank, war wirklich einer gekommen, der sie anmachen wollte! Zweifellos würde Ned bald seine Verdorbener-Priester-Show abziehen, die Nummer vom gefallenen Jesuiten, und seine Aura von Dekadenz und romantischer, katholischer Angst verbreiten. Würde Ned das durchhalten? Ja, er würde es schaffen. Mit dem Anspruch eines Poeten, der Erfahrungen sucht, verführte er immer die Nichtse und Nullen, die Spreu statt den Weizen: ein Mädchen mit nur einem Arm, ein Mädchen mit einem verkrüppelten Mund, eine Störchin, die ihn an Länge beträchtlich überragte etc. etc. — Neds Verständnis von schwarzem Humor. Aber damit legte er mehr Mädchen flach als ich, schwul wie er war. Doch seine Eroberungen waren keine wirklichen Errungenschaften, sondern Tölpel. Er behauptete, am eigentlichen Akt kein Vergnügen zu haben, nur an dem grausamen Spiel des Anmachens. Nun gut, sagte er, heute abend laßt ihr mich nicht Alkibiades haben, also nehme ich Xanthippe. Er verarschte die ganze normale Welt mit seiner Jagd nach dem Deformierten und Unansehnlichen.
Eine Zeitlang beobachtete ich sein Treiben. Ich verschwende zuviel Zeit damit, alles zu beobachten. Ich sollte viel mehr ausgehen und herumtigern. Wenn Größe und Intellekt hier die geläufigen Umgangsformen waren, warum sollte ich dann nicht damit hausieren gehen und sehen, was es mir einbringen würde? Stehst du denn so über den fleischlichen Dingen, Eli? Schmink dir das mal rasch wieder ab; du bist Mädchen gegenüber einfach zu unbeholfen. Ich kaufte mir einen Whisky sour (Schon wieder die Fünfziger! Wer trinkt heute noch Mix-Getränke?) und wandte mich von der Bar ab. Man ist nur so unbeholfen, wie man sich fühlt. Ich stieß mit einem kleinen dunkelhaarigen Mädchen zusammen und verschüttete die Hälfte meine Drinks. „Oh, das tut mir aber leid“, sagten wir beide gleichzeitig. Sie sah erschrocken aus, wie ein furchtsames Reh: schlank, zarte Glieder, mochte ein Meter fünfzig groß sein, leuchtende, feierliche Augen und eine hervorstehende Nase (scheines Maidele, ein Mitglied meiner Rasse!). Eine türkisfarbene, halbdurchsichtige Bluse enthüllte den darunterliegenden rosafarbenen BH und deutete damit auf die Ambivalenz herrschender Sitten hin. Unsere Schüchternheit entzündete einen Funken. Ich spürte Hitze im Unterleib, fühlte die Hitze der Wangen und empfing von ihr die angenehme Wärme gegenseitiger Verbrennung. Manchmal erwischt es einen so total, daß man sich fragt, warum alle Umstehenden nicht applaudieren. Wir fanden einen kleinen Buchstabentisch und stellten uns murmelnd und mit heiserer Stimme vor. Mickey Bernstein, angenehm, Eli Steinfeld. Eli, Mickey. Was macht ein hübsches Mädchen wie du in so einem Lokal?
Sie studierte im zweiten Jahr am Hunter, hauptsächlich Verwaltung, ihre Familie war aus Kew Garden; sie teilte sich mit vier anderen Mädchen ein Apartment an der Kreuzung Dritte und Siebzigste Straße. Ich glaubte schon, ich hätte unser Nachtquartier gefunden — man stelle sich einmal vor, Eli, der Schmendrick, trifft ins Schwarze! —, aber rasch gewann ich den Eindruck, daß es sich bei dem Apartment in Wahrheit um zwei Schlafzimmer und eine Kochnische handelte und es kaum so viele Leute aufnehmen konnte. Gleich vorab erklärte sie mir, daß sie nicht sehr oft zu Single-Plätzen ginge, eigentlich nie. Aber ihre Zimmergenossin hatte sie heute abend hinauskomplimentiert, um den Beginn der Osterferien zu feiern — diesen Wink hatte ihr die Zimmergenossin gegeben, eine lange, dürre, pickelgesichtige und einfältige Person, die ganz ernsthaft einem herumziehenden zottigen Barttypen ihre Gunst schenkte, der sich wie ein Hippie von 1968 kleidete und deshalb sei sie hier, fühlte sich unbehaglich, vom Krach taub gemacht, und ob ich ihr bitte einen Cherry-Cola bestellen würde. Eli Steinfeld, der galante Mann von Welt, hielt einen vorübereilenden Kellner an und gab die Bestellung weiter. Einen Dollar, bitte. Verdammt, Mickey fragte, was ich studierte. Hereingefallen. Also, Herr Pedant, enthüllen Sie sich! „Frühe mittelalterliche Philologie“, sagte ich. „Die Desintegration des Lateinischen in den romanischen Sprachen. Ich könnte dir obszöne Balladen in Provençalisch vorsingen, wenn ich singen könnte.“ Sie lachte etwas zu laut. „Oh, meine Stimme klingt auch schrecklich“, rief sie. „Aber du kannst ja etwas rezitieren, falls du möchtest.“ Schon griff sie nach meiner Hand, nachdem ich zu paukerhaft gewesen war, nur daran zu denken, ihre zu nehmen. Ich sprach die Worte halb brüllend gegen den Lärm:
Can rei la luzeta mover
De joi sas alas contral rei,
Que s.oblid. es laissa chazer
Per la doussor c.al cor li vai …
Und so weiter. Ich beeindruckte sie völlig. „War das sehr schlüpfrig?“ fragte sie, als ich fertig war.
„Überhaupt nicht. Es war ein zärtliches Liebeslied. Von Bernart de Ventadorn, zwölftes Jahrhundert.“
„Du hast es wunderbar rezitiert.“ Ich übersetzte das Lied und spürte, wie ich mich in einen Schmeichelrausch hineinsteigerte. Nimm mich, besorg es mir, schienen ihre Gedanken zu senden. Ich rechnete mir aus, daß sie neunmal mit zwei verschiedenen Männern Beischlaf gehabt hatte und immer noch ganz aufgeregt ihren ersten Orgasmus erwartete, während sie auf der anderen Seite sicher ordentlich mit der Sorge beschäftigt war, ob sie ihren Körper zu zwanglos anbot. Ich hatte den festen Willen, mein Bestes zu geben. Ich flüsterte ihr ins Ohr und gab kleine provençalische Kostbarkeiten von mir. Aber wie sollten wir hier herauskommen? Und wo wollten wir hin? Verzweifelt sah ich mich um. Timothy hatte den Arm um eine aufregende Schöne mit wallenden Kaskaden von leuchtendem rotbraunem Haar gelegt. Oliver waren zwei Puppen ins Netz gegangen, eine Brünette und eine Blondine — der Charme des Landjungen war wieder voll zugange. Ned machte noch immer seinem fetten Vögelchen den Hof. Vielleicht hatte einer von ihnen schon Erfolg gehabt: ein Apartment ganz in der Nähe, mit einem Schlafzimmer für jeden. Ich wandte mich wieder Mickey zu, und sie sagte: „Wir wollen am Samstag eine kleine Party geben. Ein paar wirklich tolle Musiker kommen auch, ich meine natürlich klassische, und falls du Zeit und Lust hast, könntest du …“
„Am Samstag bin ich längst in Arizona.“
„Arizona! Kommst du da her?“
„Ich bin aus Manhattan.“
„Aber warum — ich meine, ich habe noch nie davon gehört, daß jemand zu Ostern nach Arizona fährt. Ist das ein neuer Trend?“ Ein dämliches Lächeln auf ihren Lippen. „Verzeihung. Du hast wahrscheinlich eine Freundin da?“
„Nein, was ganz anderes.“
Sie wand sich, weil sie nicht neugierig sein wollte, auf der anderen Seite aber nicht wußte, wie sie dieses Verhör beenden sollte. Dann purzelte der unvermeidliche Satz heraus: „Warum fährst du dann dorthin?“ Und ich wußte nicht mehr weiter. Was sollte ich sagen? Eine Viertelstunde lang hatte ich noch die übliche Rolle gespielt: ein scharfes älteres Semester auf der Jagd in einer East-Side-Single-Bar, ein ängstliches, aber letztlich williges Mädchen, macht sie mit einer Prise esoterischer Poesie an, die Blicke treffen sich über dem Tisch, wann kann ich dich wiedersehen, eine kurzlebige Oster-Romanze, Danke für alles, auf Wiedersehen. Der übliche studentische Ablauf der Dinge. Aber ihre Frage hatte unter meinen Füßen eine Falltür geöffnet und mich in eine andere Welt fallen lassen, eine Welt der Phantasie, eine Traumwelt, in der junge Männer ernsthaft mit der Möglichkeit spekulieren, ihren Tod für immer zu bannen, wo gerade erst flügge gewordene Schüler dusselig genug waren, sich selbst dazu zu bringen, daran zu glauben, sie hätten merkwürdige Manuskripte gefunden, die die Geheimnisse alter, mystischer Kulte enthüllten. Jawohl, könnte ich sagen, wir gehen auf die Suche nach dem geheimnisvollen Hauptquartier der Bruderschaft der Schädel, weißt du, wir hoffen, wir können die Hüter davon überzeugen, daß wir als Kandidaten für ihre Prüfung geeignet sind. Und wenn wir dann aufgenommen werden, muß natürlich einer von uns fröhlich zum Wohl der übrigen aus dem Leben scheiden, und ein anderer wird ermordet. Aber wir sind darauf vorbereitet, denn zwei Glückliche werden niemals sterben. Schönen Dank, Baron Münchhausen, genauso. Wieder spürte ich den herben Geschmack der Ungereimtheit, der Verwirrung, als ich beides gegenüberstellte: unsere momentane Manhattan-Umgebung und meinen unglaubwürdigen Traum von Arizona. Sieh mal, könnte ich sagen, manchmal erweist es sich als notwendig zu glauben, das Mystische zu akzeptieren, sich selbst zuzugestehen, daß das Leben nicht nur aus Diskotheken, U-Bahnen, Boutiquen und Klassenzimmern besteht. Du mußt daran glauben, daß metaphysische Mächte existieren. Hast du dich schon einmal mit Astrologie befaßt? Natürlich hast du das; und du weißt auch, was die New York Times von solchen Dingen hält. Also versuche doch einmal, dein Zugeständnis etwas weiter auszudehnen, so wie wir das gemacht haben. Lege deine hausgemachte, dem Trend der Zeit entsprechende Verleugnung des Unmöglichen ab und erlaube dir selbst, die Möglichkeit einzuräumen, daß eine Bruderschaft existieren könnte, daß eine Prüfung stattfinden könnte, daß das Leben ewig andauern könnte. Wie kann man etwas leugnen, ohne sich vorher damit beschäftigt zu haben? Kannst du das Risiko auf dich nehmen, falsch zu liegen? Also, wir fahren nach Arizona, wir vier, der große Fleischkloß mit dem Armee-Haarschnitt und der griechische Gott dort drüben, der begierig aussehende Bursche dort drüben, der mit dem fetten Mädchen spricht, und ich: Und obwohl einige von uns stärker glauben als andere, gibt es keinen unter uns, der nicht zumindest teilweise an das Buch der Schädel glaubt. Pascal entschied sich für den Glauben, weil damals die Verhältnisse für den Ungläubigen schlecht waren; er könnte ja vielleicht für sich das Paradies verschlossen haben, in seiner Weigerung, auf seiten der Kirche zu stehen, so ähnlich ergeht es uns auch: Wir sind gewillt, eine Woche lang alles mit uns machen zu lassen, weil wir zumindest die Hoffnung haben, etwas dafür zu gewinnen, das den Einsatz mehr als wettmacht; und das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, unnötig Geld für Benzin ausgegeben zu haben. Aber nichts davon sagte ich Mickey Bernstein. Die Musik war zu laut, und davon abgesehen, hatten wir vier einen entsetzlichen studentischen Eid geschworen, niemandem ein Sterbenswörtchen darüber zu erzählen. Statt dessen sagte ich also: „Warum Arizona? Wahrscheinlich, weil wir Kakteen-Narren sind. Und außerdem ist es im März dort schön warm.“
„In Florida gibt es auch viel Sonnenschein.“
„Aber keine Kakteen“, sagte ich.