Ich wußte nicht mehr, wer ich war und wo ich war. Ich war in Trance, in einer Wolke, in einem Koma. Wie mein eigener Geist irrte ich durch die Gänge des Schädelhauses, trieb mich durch die kühlen, nachtdunklen Korridore. Die Schädel-Steinbilder starrten von den Wänden, grinsten mich an. Ich grinste zurück. Ich zwinkerte, warf ihnen Kußhändchen zu. Ich blickte auf die Reihe massiver Eichentüren, die in die Unendlichkeit verschwand. Jede Tür fest verschlossen. Seltsame Namen kommen mir in den Sinn: Das ist Timothys Zimmer, das Neds, das Olivers. Wer sind sie? Und das ist das Zimmer von Eli Steinfeld. Wer? Eli Steinfeld. Wer? E. Li. Stein. Feld. Eine Ansammlung unverständlicher Geräusche. Eine Anhäufung bedeutungsloser Silben. E. Li. Stein. Feld. Wir wollen weitermachen. Dieses Zimmer gehört Bruder Antony, und hier trifft man vielleicht auf Bruder Bernard, hier Bruder Javier, hier Bruder Claude, Bruder Miklos, Bruder Maurice, Bruder Leon und Bruder Hinz und Bruder Kunz. Wer sind diese Brüder, was bedeuten ihre Namen? Hier befinden sich noch mehr Türen. Da müssen die Frauen schlafen. Aufs Geratewohl öffnete ich eine Tür. Vier Betten, vier gutgewachsene Frauen, nackt, ausgebreitet in einem Haufen zerknüllter Laken. Nichts verbirgt sich dem Blick: Hüften, Po, Brüste, Lenden. Die Gesichter von Schlafenden mit offenen Mündern. Ich könnte hineingehen, zwischen ihre Beine eindringen, sie besitzen, alle vier, eine nach der anderen. Aber nein. Weiter, zu einem Ort, wo es kein Dach gibt, wo die glitzernden Sterne durch die Balken scheinen. Hier war es kälter. Totenschädel an der Wand. Ein sprudelnder Springbrunnen. Ich schritt durch die Versammlungsräume. Hier werden wir in den Achtzehn Mysterien unterrichtet. Hier machen wir unsere heiligen Gymnastikübungen. Und dort essen wir unsere Diät. Und da — diese Öffnung im Fußboden, dieser Schildbuckel, der Nabel des Universums, das Tor zur Hölle. Ich muß dort hinunter; hinunter also. Der Geruch nach Moos. Keine Beleuchtung. Der Abstieg flacht ab; dies ist kein Schlund, sondern nur ein Tunnel, und ich erinnere mich daran. In dieser Richtung bin ich noch nie hier durchgekommen, sondern aus der anderen Richtung. Ein Hindernis, ein Steinbrocken. Er bewegt sich! Er bewegt sich! Der Tunnel läuft weiter. Vorwärts, vorwärts, vorwärts. Posaunen und Baßhörner, ein Baß-Chor, die Worte des Requiems zucken nach oben: Rex tremendae majestatis, qui salvandos salvas gratis, salva me, fons pietatis. Draußen! Ich kam auf der freien Fläche heraus, von der aus ich beim erstenmal ins Haus der Schädel gestiegen war. Vor mir das triste Ödland, die stachelige Wüste. Hinter mir das Haus der Schädel. Über mir die Sterne, der Vollmond, das Gewölbe des Himmels. Was nun? Unschlüssig lief ich über die freie Fläche, kam an der Reihe basketballgroßer Steinschädel vorbei, die dies alles begrenzten, und runter auf den schmalen Pfad, der durch die Wüste lief. Ein richtiges Ziel hatte ich nicht. Meine Füße trugen mich einfach davon. Stundenlang oder tagelang oder wochenlang lief ich einfach. Dann sah ich zu meiner Rechten einen großen, schweren Fels: verwitterte Oberfläche, dunkle Farbe, der Meilenstein, der gigantische Stein-Totenschädel. Im Mondlicht waren die tiefeingeschnittenen Züge deutlich zu erkennen, und scharfrandige schwarze Löcher voller Nacht. Brüder, hier wollen wir meditieren. Laßt uns den Schädel unter unserem Gesicht betrachten. Und so kniete ich nieder. Und mittels der Techniken, die der fromme Bruder Antony mir beigebracht hatte, sandte ich meine Seele aus, strömte auf den großen Steinschädel ein und reinigte mich von aller Verwundbarkeit des Todes. Schädel, ich kenne dich! Schädel, ich fürchte dich nicht! Schädel, ich trage deinen Bruder unter meiner Haut! Und ich lachte den Schädel aus und amüsierte mich dabei, seine Form zu ändern: zuerst in ein weiches, weißes Ei, dann in einen Globus aus rosafarbenem Alabaster, von gelben Venen und Adern durchzogen, dann in eine Kristallkugel, deren Tiefe ich erkundete. Die Kugel zeigte mir die goldenen Türme des verlorenen Atlantis; die zottigen Männer in wolligen Fellen, die im Schein der Fackel in einer verrauchten Höhle vor den aufgemalten Ochsen an der Wand tanzten. Die Kugel zeigte mir Oliver, der müde und erschöpft in Neds Armen lag. Ich verwandelte die Kugel in einen rauhen, grob bearbeiteten Schädel aus schwarzem Stein zurück und ging befriedigt den dornigen Pfad zum Haus der Schädel zurück. Ich stieg nicht in den unterirdischen Gang hinunter, sondern lief statt dessen am Gebäude entlang, am langgezogenen Flügel, in dem wir von den Brüdern unterrichtet werden; bis ich an das Ende des Gebäudes gelangte, wo der Weg begann, der zu den kultivierten Feldern führte. Im Mondlicht suchte ich nach Unkraut und fand keins. Ich liebkoste die kleinen Pfefferpflanzen; ich segnete die Beeren und Wurzeln. Das ist die heilige Nahrung, die reine Nahrung, die Nahrung für die Ewigkeit. Ich kniete mich zwischen den Reihen nieder, auf den kalten, nassen Boden, und betete darum, daß mir meine Sünden vergeben würden. Als nächstes ging ich zu dem kleinen Hügel westlich vom Schädelhaus. Ich bestieg ihn, zog meine Shorts aus, zeigte mich nackt der Nacht und vollführte die heiligen Atemübungen; ich kauerte mich hin, saugte die Dunkelheit ein und vermischte sie mit dem inneren Atem, erhielt Kraft daraus und verteilte diese Kraft auf meine Organe. Mein Körper löste sich auf. Ich war ohne Masse und Gewicht. Ich floß tanzend in einer Luftsäule. Jahrhundertelang hielt ich die Luft an. Äonenlang stieg ich auf. Ich näherte mich dem wahren Zustand der Gnade. Jetzt war die richtige Zeit für die Gymnastikübungen, und ich begann damit. Ich bewegte mich mit einer Grazie und Beweglichkeit, die ich nie zuvor besessen hatte. Ich beugte mich, drehte mich, verrenkte mich, schoß wieder nach oben. Ich warf mich selbst in die Luft, klatschte in die Hände, probierte jeden einzelnen Muskel aus. Ich versuchte, meine eigenen Grenzen zu erreichen.
Die Morgendämmerung zog jetzt langsam auf.
Der erste Sonnenstrahl stürzte aus den östlichen Hügeln auf mich zu. Ich nahm die Sonnen-Sitzstellung ein und starrte auf den rosafarbenen Lichtpunkt, der am Horizont heranwuchs. Und ich trank den Atem der Sonne. Meine Augen wurden zu einer Doppelleitung; die heilige Flamme sprang durch sie hindurch in das Labyrinth meines Körpers. Ich hatte totale Kontrolle über mich, dirigierte diesen wunderbaren Glanz kraft meines Willens und rangierte die Wärme ganz wie es mir gefiel, in den linken Lungenflügel, in meine Milz, in meine Leber, in meine rechte Kniescheibe. Die Sonne brach über dem Horizont hervor und zeigte sich bald in ihrer vollen Größe, ein perfekter Globus; das Rot des Morgengrauens verwandelte sich rasch in das Gold des Morgens, und ich tankte mich mit der Strahlung voll.
Nach einiger Zeit kehrte ich im Zustand der Ekstase ins Schädelhaus zurück. Als ich mich dem Eingang näherte, kam jemand aus dem Tunnel: Timothy. Irgendwo hatte er seine Zivilkleidung gefunden. Sein Gesicht war hart und angespannt, die Zähne waren zusammengebissen, die Augen voller Pein. Als er mich sah, wurde sein Blick finster, und er spuckte aus. Ohne sonst auf meine Anwesenheit weiter einzugehen, ging er rasch weiter.
„Timothy?“
Er blieb nicht stehen.
„Timothy, wo gehst du hin? Antworte mir, Timothy.“
Er drehte sich um. Mit einem eiskalten Blick der Verachtung mir gegenüber sagte er: „Ich zische ab, Mann. Was hat dich den gebissen, daß du so früh am Morgen hier herumschleichst?“
„Du kannst nicht gehen.“
„Ich kann nicht?“
„Dadurch wird der Fruchtboden auseinandergerissen“, sagte ich.
„Scheiß was auf den Fruchtboden. Glaubst du, ich verbringe den Rest meines Lebens in dieser Narrenburg?“ Er schüttelte den Kopf. Dann wurden seine Züge weicher, und er sagte weniger hart: „Eli, hör mal, jetzt komm doch zu Verstand, bitte. Du versuchst hier ein Märchen wahr zu machen. Das klappt nie. Wir müssen in die richtige Welt zurückkehren.“
„Nein.“
„Bei den beiden anderen ist es hoffnungslos, aber du kannst doch vielleicht noch logisch denken. Wir könnten in Phoenix frühstücken und ins erste Flugzeug nach New York steigen.“
„Nein.“
„Das ist die letzte Chance.“
„Nein, Timothy.“
Er zuckte die Achseln und wandte sich von mir ab. „Okay. Dann bleib mit deinen verrückten Freunden zusammen. Ich habe die Nase voll, Mann! Mir reicht’s!“
Ich stand wie erstarrt da, als er über die freie Fläche und durch zwei kleine Steinschädel schritt, die dort in den Boden eingelassen worden waren. Er kam dem Wüstenpfad näher. Es gab keine Möglichkeit, ihn zum Bleiben zu bewegen. Dieser Augenblick war von Anfang an unausweichlich gewesen. Timothy war nicht so wie wir, er hatte nicht unsere Träume und Motive, er hätte sich nie dem ganzen Ablauf der Prüfung unterwerfen können. Eine lange Weile überdachte ich meine Möglichkeiten und versuchte, mit den Mächten in Verbindung zu treten, die das Schicksal dieses Fruchtbodens bestimmten. Ich fragte, ob die richtige Zeit gekommen sei, und erhielt zur Antwort: Ja, die Zeit ist gekommen. Und ich rannte ihm hinterher. Als ich an der Schädelreihe vorbeikam, kniete ich kurz nieder und hob einen der Steine vom Boden — ich brauchte beide Hände, um ihn zu tragen, und ich vermute, er wog zwanzig oder dreißig Pfund —, und ich lief wieder weiter und erreichte Timothy genau an der Stelle, wo der Pfad begann. In einer einzigen graziösen Bewegung hob ich den Steinschädel und ließ ihn mit aller Kraft auf Timothys Hinterkopf niedersausen. Und über meine Finger empfing ich durch die Basaltkugel die sinnliche Wahrnehmung von zerbrechenden Knochen. Ohne einen Laut stürzte Timothy zu Boden. Der Steinschädel war voller Blut; ich ließ ihn fallen, und er blieb dort liegen, wo er aufgekommen war. Timothys goldenes Haar färbte sich rötlich. Der rote Fleck breitete sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit aus. Jetzt ist es für mich wichtig, Zeugen zu finden, sagte ich mir, und um die zuständigen Riten zu ersuchen. Ich sah auf das Schädelhaus zurück. Meine Zeugen waren bereits vorhanden: Ned, nackt, und Bruder Antony in seinen verschlissenen blauen Shorts standen vor der Fassade des Gebäudes. Ich ging zu ihnen. Ned nickte: Er hatte alles beobachtet. Vor Bruder Antony fiel ich auf die Knie, und er legte seine kühle Hand auf meine fiebrige Stirn. Sanft sagte er: „Vernehmt das Neunte Mysterium: Der Preis eines Lebens ist immer ein Leben. Wisset, Hochwohlgeborene, daß die Ewigkeit durch Auslöschung im Lot gehalten wird.“ Und dann sagte er: „Da wir im Leben täglich sterben, sollen wir durch das Sterben ewig leben.“