Ein kalter, dunkler, blauer Abend in den Ozarks. Erschöpfung, Sauerstoffmangel, Brechreiz, die Folgen einer anstrengenden Fahrt. Genug ist genug; hier halten wir an. Vier rotäugige Roboter torkeln aus dem Wagen. Sind wir heute wirklich mehr als tausend Meilen gefahren? Ja, tausend und noch ein paar mehr quer durch Illinois und Missouri nach Oklahoma, lange Strecken mit siebzig oder achtzig Meilen in der Stunde, und wäre es nach Oliver gegangen, hätten wir vor der Bewußtlosigkeit noch fünfhundert Meilen geschafft. Aber das hätten wir nicht mehr durchgehalten. Oliver hat selbst zugegeben, daß seine Konzentration heute nach der sechshundertsten Meile nachgelassen habe. Er hat uns noch bis hinter Joplin gebracht, mit einem starren Gesicht, die Hände schafften es nicht mehr, auf die Kurve einzugehen, die die Augen registrierten. Timothy ist heute vielleicht hundert, hundertfünfzig Meilen gefahren; ich muß den Rest gefahren sein, in einigen Etappen, insgesamt vielleicht drei oder vier Stunden. Der blanke Wahn die ganze Strecke über. Aber jetzt müssen wir halten. Die psychische Belastung ist zu groß. Zweifel, Verzweiflung, Depressionen und Trübsinn haben sich in unsere feste Gemeinschaft eingeschlichen. Trübsinnig, niedergeschlagen, mutlos, desillusioniert und verzagt gleiten wir ins Motel, das wir ausgesucht haben, während wir uns je nach Charakter fragen, wie wir uns selbst dazu bringen konnten, diese Expedition auf uns zu nehmen. Aha! Das Motel Stunde der Wahrheit in Nirgendwo, Oklahoma! Das Motel Zum Rand der Realität! Hotel Skepsis! Zwanzig Zimmer, nachgemachter Kolonialstil, rote Backsteinfront aus Plastik und weiße Holzsäulen, die den Eingang flankieren. Anscheinend sind wir die einzigen Gäste. Ein kaugummikauender weiblicher Nachtportier, ungefähr siebzehn Jahre alt, das Haar zu einem phantastischen 1962er Bienenkorb hochfrisiert, mit Haarfestiger zusammengehalten. Sie sieht uns träge an, kein Interesse blitzt in den Augen auf. Zu dick aufgetragener Lidschatten, türkis mit schwarzer Umrandung. Eine Nutte, eine Schlampe, zu plump auf Hure gemacht, um wirklich damit erfolgreich zu sein.
„Die Snack-Bar ist bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet“, erklärte sie uns. Ein bizarr gellender Tonfall. Timothy überlegt, ob er sie zum Bumsen in sein Zimmer bitten soll, das wird jedem von uns klar. Ich glaube, er will sie irgendeiner Sammlung einverleiben, die er von allen amerikanischen Typen anlegt. Eigentlich — und ich darf hier für mich, als Unterart der vielfältigen Erscheinungsformen der Perversität, in Anspruch nehmen, als objektiver Beobachter zu fungieren — sähe sie gar nicht mal so schlecht aus, wenn man sie nur ordentlich abschrubben würde, damit sie das ganze Make-up und Haarspray los wird. Sehr schöne, hochstehende Brüste, die sich unter ihrer grünen Uniform abzeichnen; hohe Wangenknochen und hübsche Nase. Aber die stumpfen Augen und die schlaffen, vorstehenden Lippen lassen sich nicht abwaschen. Oliver wirft Timothy einen erhitzten, drohenden Blick zu und warnt ihn damit, mit ihr etwas anzufangen. Zum erstenmal gibt Timothy auf: Auch ihn hat die depressive Stimmung besiegt. Sie weist uns zwei aneinandergrenzende Doppelzimmer zu, dreizehn Dollar das Stück, und Timothy reicht ihr sein allmächtiges Stück Plastik. „Die Zimmer liegen links“, sagte sie, während sie die Kreditkartenmaschine bedient. Nachdem sie damit fertig ist, entzieht sie sich vollständig unserer Gegenwart und wendet ihre Konzentration einem japanischen Fernseher mit einem Fünfzehner-Bildschirm zu, der auf ihrer Theke steht. Wir gehen nach links, am entwässerten Swimmingpool vorbei, und betreten unsere Zimmer. Wir müssen uns beeilen, sonst verpassen wir das Abendessen. Gepäck fallen lassen, Wasser ins Gesicht, raus zur Snack-Bar. Eine Kellnerin, schlottrige Haltung, kaugummikauend; könnte glatt die Schwester des weiblichen Nachtportiers sein. Sie hat auch einen langen Tag hinter sich. Ein beißender Mösengeruch sticht uns von ihr in die Nase, als sie sich uns zuwendet, um das Silbergeschirr auf die Formica-Tischplatte hinzuknallen. „Was darf’s sein, Jungs?“ Keine escalopes de veau heute abend, kein caneton aux cerises. Kalte Hamburger, schmieriger Kaffee. Schweigend essen wir, und schweigend trotten wir auf unsere Zimmer zurück. Runter mit den verschwitzten Kleidern. Unter die Dusche, erst Eli, dann ich. Die Verbindungstür von unserem Zimmer zu ihrem kann geöffnet werden. Sie steht offen. Dumpfe Geräusche von nebenan: Oliver, nackt, kniet vor dem Fernseher und klappert die Stationen ab. Ich beobachte ihn: eine straffe Hinterfront, der breite Rücken, die baumelnden Genitalien, die unter den muskelbepackten Hüften zu sehen sind. Ich unterdrücke meine aufkommenden Lustgefühle. Diese drei Menschenfreunde sind ganz gut mit dem Problem fertig geworden, einen Bisexuellen als Zimmergefährten zu haben. Sie geben vor, meine „Krankheit“, meine „Veranlagung“, existiere gar nicht, und machen von diesem Punkt an weiter. Die erste Regel der Liberalen: Behandle Gehandicapte nicht gönnerhaft. Tu so, als könnte der Blinde sehen, als sei der Farbige weiß, als würde der Homosexuelle innerlich nicht vom Anblick von Olivers glattem, festem Arsch aufgewühlt. Nicht, daß ich ihm jemals ein offenes Angebot gemacht hätte. Aber er weiß es. Er weiß es. Oliver ist kein Dummkopf.
Warum sind wir heute abend so depressiv?
Es muß von Eli ausgegangen sein. Den ganzen Tag über war er schon mürrisch, hatte sich ganz ins Reich existentieller Verzagtheit zurückgezogen. Ich glaube, eine reine Persönlichkeitskrise, geboren aus Elis Schwierigkeiten, seine unmittelbare Umgebung mit dem Kosmos als Ganzem zu verbinden; aber sie hat sich subtil und heimlich verallgemeinert und schließlich uns alle infiziert. Sie hat die Form von zermarterndem Zweifel angenommen:
1. Warum haben wir uns überhaupt auf dieses Unternehmen eingelassen?
2. Was erhoffen wir uns wirklich als Gewinn?
3. Können wir wirklich hoffen, das zu finden, was wir suchen?
4. Falls wir es finden, wollen wir es überhaupt?
Also muß der ganze Vorgang der Selbstbegeisterung, der Selbstverwandlung wieder beginnen. Eli hat seine Papiere wieder hervorgeholt und studiert sie eifrig; das Manuskript mit seiner Übersetzung des Buchs der Schädel, die Kopien von den Zeitungsausschnitten, die ihm Hilfe bei der Suche nach dem Ort in Arizona leisteten, mit diesem antiken und unwahrscheinlichen Kult, dessen heilige Schrift dieses Buch vielleicht gewesen ist, und seine Unmengen an Sekundärwerken und Einführungen. Nach einiger Zeit blickt er auf und sagt: „,Alle im Moment bekannte Medizin ist fast nichts im Vergleich zu dem, was noch zu entdecken bleibt … wir könnten uns selbst von einer unendlichen Zahl von Krankheiten des Körpers und des Geistes befreien, vielleicht sogar von der Altersschwäche, wenn wir eine hinreichende Kenntnis ihrer Ursachen und aller Heilmittel hätten, mit denen die Natur uns versorgt hat. Das ist Descartes Von der Methode. Und noch einmal Descartes, der im Alter von zweiundvierzig Jahren an Huygens’ Vater schreibt: ‚Ich hab’ nie so sehr auf die Erhaltung meiner Gesundheit geachtet, wie ich es jetzt tue, und obwohl ich früher glaubte, der Tod könne mir nicht mehr als dreißig oder vierzig Jahre rauben, kann er mich jetzt nicht mehr überraschen, ohne mir gleichzeitig die Hoffnung auf mehr als ein Jahrhundert zu nehmen: Es scheint mir jetzt nämlich klar, daß, wenn wir uns vor bestimmten Irrtümern hüten, die wir gewöhnlich in unserer Lebensart begehen, wir ohne weitere Erfindungen fähig sein werden, ein hohes Alter zu erreichen, das viel länger und fröhlicher sein wird als jetzt.’“
Das habe ich nicht zum erstenmal gehört. Eli hat uns schon vor langer Zeit alle seine Unterlagen präsentiert. Der Entschluß, nach Arizona zu gehen, entwickelte sich außerordentlich langsam und war bis zur endgültigen Reife gezwungen, erst etliche Meilen pseudophilosophischen Palavers zu überstehen. Damals wie heute sagte ich: „Descartes starb mit vierundfünfzig, nicht wahr?“
„Ein Unfall. Eine Überraschung. Davon abgesehen hatte er zu jener Zeit seine Theorien über die Langlebigkeit noch nicht zu Ende entwickelt!“
Timothy: „Welch ein Pech, daß er nicht schneller gearbeitet hat.“
„Ja, wirklich, Pech, für uns alle“, sagte Eli. „Aber uns bleiben immer noch die Hüter der Schädel, von denen wir uns etwas erwarten können. Sie haben ihre Methoden vervollkommnet.“
„Das sagst du.“
„Das glaube ich“, sagte Eli, bemüht, sich seines Glaubens zu versichern. Und wieder einmal spulte sich der vertraute Ablauf ab.
Eli, aufgerieben von seiner Ermüdung und schwankend am Rande des Nicht-mehr-glauben-könnens stehend, brachte seine Argumente vor, um in seinem Kopf wieder Klarheit herstellen zu können. Die Hände erhoben, die Finger gespreizt, die Gesten eines Lehrers: „Wir sind uns einig“, sagte er, „daß die Sachlichkeit überlebt ist, daß wir mit dem Pragmatismus fertig sind und der aufgeklärte Skeptizismus überholt ist. Wir haben es mit diesem ganzen Bündel an Prämissen versucht, und sie funktionieren nicht. Sie beschneiden uns in zu vielem, was wichtig ist. Sie beantworten zu wenige von den wirklichen Fragen; sie lassen uns gebildet und zynisch wirken, aber dennoch ignorant. Einverstanden?“
„Einverstanden“, Oliver mit wilden Augen.
„Einverstanden“, Timothy gähnt.
„Einverstanden.“ Sogar ich, und ich grinse.
Wieder Eli: „Im modernen Leben wird den Mysterien kein Platz gelassen. Die Generation der Wissenschaft hat sie ermordet. Die rationalistische Läuterung hat das Unglaubliche und Unaussprechliche hinweggefegt. Seht nur, wie hohl die Religion in den letzten hundert Jahren geworden ist. Gott ist tot, so sagen sie. Natürlich ist er das: ermordet, gemeuchelt. Nun, ich bin ein Jude. Ich habe Hebräisch gelernt, wie das jeder rechte kleine Jid tut, ich habe die Thora gelesen, ich hatte mein Bar Mitzwah, und man hat mir einen Füllfederhalter gegeben — aber hat irgend jemand auch nur einmal mir gegenüber Gott in einer Weise erwähnt, die es wert war zuzuhören? Gott ist jemand gewesen, der mit Moses gesprochen hat. Gott ist vor viertausend Jahren eine Feuersäule gewesen. Aber wo ist Gott jetzt? Einen Juden darf man das nicht fragen. Wir haben Ihn seit langer Zeit nicht mehr gesehen. Wir verehren Gesetze, Diätvorschriften, Gebräuche, die Worte der Bibel, das Papier, auf dem die Bibel gedruckt wurde, und auch das Buch selbst, aber wir verehren keine übernatürlichen Wesen wie zum Beispiel Gott. Der alte Mann mit dem langen Bart, der Sünden zählt — nein, nein, das ist etwas für die Schwartzer, etwas für die Goy. Aber wie steht es mit euch drei Goyim? Auch ihr habt leere Religionen. Du, Timothy, Anglikanische Kirche, was hast du zu bieten? Weihrauchwolken, Brokatroben, einen Knabenchor, der Vaughan Williams und Elgar singt. Du, Oliver, Methodist, Baptist oder Presbyterianer, ich kann sie noch nicht einmal auseinanderhalten, sie sind nichts, absolut nichts, kein spiritistischer Gehalt, kein Geheimnis, keine Ekstase. Als wäre man ein Reformjude. Und du, Ned, ein Katholik, der verhinderte Priester, was hast du? Die heilige Jungfrau? Die Heiligen? Das Christuskind? An den Schmarren glaubst du sicher nicht. Du hast es aus deinem Verstand verbannt. Das ist etwas für dumme Bauern, für die Heruntergekommenen. Die Heiligenbildchen und das Weihwasser. Brot und Wein. Du möchtest daran glauben — lieber Gott, ich möchte selber gerne daran glauben können. Der Katholizismus ist die einzige vollständige Religion in dieser Zivilisation, die einzige, die wenigstens versucht, etwas Geheimnisvolles zu haben, Resonanz mit dem Übernatürlichen, Gegenwärtigkeit von höheren Mächten. Nur haben sie das zugrundegerichtet, uns zugrundegerichtet, man kann sich nicht mehr damit identifizieren. Jetzt spielt sich das bei Bing Crosby und Ingrid Bergman ab oder in den geschriebenen Manifesten der Berrigans oder bei Polacken, die gegen den gottlosen Kommunismus und gegen Pornofilme wettern. Das ist aus der Religion geworden. Sie ist vorbei. Und was wird aus uns? Allein unter einem schrecklichen Himmel erwarten wir das Ende. Erwarten wir das Ende.“
„Eine ganze Menge Leute gehen immer noch in die Kirchen“, führte Timothy aus. „Sogar in die Synagogen, nehme ich an.“
„Aus Gewohnheit. Aus Angst. Aus sozialer Notwendigkeit. Aber öffnen sie ihre Seelen vor Gott? Wann hast du dich zuletzt Gott offenbart, Timothy? Oliver? Ned? Wann ich? Wann ist uns überhaupt der Gedanke gekommen, so etwas zu tun? Es klingt absurd. Gott ist von den Evangelisten so versaut worden und von den Archäologen und den Theologen und dem ganzen Betrug um die Frömmelei; da ist es ja kein Wunder, daß Er gestorben ist. Selbstmord. Aber was wird jetzt aus uns? Sollen wir alle Wissenschaftler werden und alles mit Begriffen wie Neutronen, Protonen und DNS erklären können? Wo liegt dort der tiefere Sinn? Wir müssen selbst etwas tun“, sagte Eli. „Dem modernen Leben mangelt es an Mysterien. Nun gut denn, es wird also die Aufgabe des intelligenten Menschen sein, eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Überleben des Unerklärlichen möglich ist. Ein verschlossener Geist ist ein toter Geist.“ Eli geriet jetzt in Fahrt. Der Eifer packte ihn. Der Billy Graham des Drogenzeitalters. „In den letzten acht, zehn Jahren haben wir alle versucht, zu einer Art brauchbaren Synthese vorwärtszustolpern, eine strukturelle Wechselbeziehung, die inmitten dieses Chaos’ die Welt für uns zusammenhält. Das Hasch, die harten Drogen, die Kommunen, der Rock, die ganze transzendentale Klamotte, die Astrologie, die Makrobiotik, der Zen — wir suchen, nicht wahr, wir suchen doch immer? Und manchmal finden wir auch etwas. Nicht oft allerdings. Wir schauen auf viele stumme Dinge, weil wir im Grunde genommen selbst stumm sind, sogar die Besten von uns, und auch, weil wir die Antworten nicht finden können, bevor wir nicht mehr Fragen erarbeitet haben. Deshalb jagen wir Fliegenden Untertassen hinterher. Wir legen Taucheranzüge an und suchen Atlantis. Wir begeistern uns für Mythologie, Phantasie und Paranoia. Tolkiens Middle Earth und andere Verrücktheiten, tausenderlei Arten der Irrationalität. Was immer sie abgelehnt haben, dessen nehmen wir uns gerne an, oft aus keinem besseren Grund, als daß sie es verdammt haben. Die Flucht aus der Realität. Ich will das ja gar nicht gutheißen. Ich behaupte einfach, daß sie notwendig ist, eine Phase, durch die wir alle hindurch müssen, Feuer und Eis. Die Vernunft hat versagt. Der westliche Mensch floh von der abergläubischen Ignoranz in die Leere des Materialismus: Jetzt müssen wir weitermachen, manchmal über Sackgassen und Irrwege, bis wir wieder lernen, das Universum in all seiner geheimnisvollen, unerklärlichen Ungeheuerlichkeit anzunehmen, bis wir das passende Stück gefunden haben, die Synthese, das Zusammenfinden, das uns das Leben so leben läßt, wie es eigentlich gedacht ist. Und dann können wir ewig leben. Oder zumindest dem ‚ewig’ so nahe, daß kaum noch ein Unterschied besteht.“
Timothy sagte: „Und du willst, daß wir glauben, das Buch der Schädel könnte den Weg dahin zeigen, was?“
„Zumindest ist es eine Möglichkeit. Es gibt uns die begrenzte Chance, die Unbegrenztheit zu erreichen. Ist das nicht genug? Ist das nicht wenigstens einen Versuch wert? Wohin hat uns der Hohn gebracht? Wohin führt uns der Zweifel? Und wohin der Skeptizismus? Sollen wir es nicht versuchen? Sollen wir nicht einmal nachsehen?“ Eli hatte seinen Glauben wiedergefunden. Er schrie, er schwitzte, ganz nackt stand er da und wedelte mit den Armen. Sein ganzer Körper war erregt. Er war wirklich schön, in diesem Moment jedenfalls. Eli, schön!
Ich sagte: „Ich bin die ganze Zeit über bei dieser Sache dabei und zur gleichen Zeit würde ich keinen Pfennig in diese Sache investieren. Kannst du das verstehen? Ich liebe die Dialektik des Mythischen. Das Unmögliche rennt gegen meinen Skeptizismus an und treibt mich dadurch vorwärts. Spannungen und Widersprüche sind mein Treibstoff!“
Timothy, der advocatus diaboli, schüttelte den Kopf — die Geste eines Stiers, seine große, massige Gestalt bewegte sich wie ein langsames Uhrpendel. „Was soll das, Mann? Woran glaubst du wirklich? Die Schädel, ja oder nein, Errettung oder Scheiße, Wahrheit oder Märchen. Also, was?“
„Beides“, sagte ich.
„Beides? Du kannst nicht beiden nachgehen.“
„Doch, ich kann!“ rief ich. „Beiden! Beiden! Ja und Nein! Kannst du meinen geistigen Standort nachvollziehen, Timothy? Der Ort, an dem die Spannung am größten, wo das Ja fest an das Nein gebunden ist. Wo man gleichzeitig die Existenz des Unerklärlichen ablehnt und die Existenz des Unerklärlichen akzeptiert. Das ewige Leben! Das ist Scheiße, nicht wahr, ein Bündel von Wunschvorstellungen, der alte unsinnige Traum. Und gleichzeitig ist es auch real. Wir können tausend Jahre leben, wenn wir das wollen. Aber es ist unmöglich. Ich bejahe. Ich verneine. Ich applaudiere. Ich spotte.“
„Du wirkst nicht sehr überzeugend“, brummte Timothy.
„Das, was du sagst, ergibt auch nicht viel Sinn. Ich scheiße auf deine Überzeugung! Eli hat recht: Wir brauchen Mysterien, wir brauchen das Unerklärliche, das Unbekannte, das Unmögliche. Eine ganze Generation hat es sich selbst beigebracht, das Unglaubhafte zu glauben, Timothy. Und da stehst du mit deinem Militärhaarschnitt und sagst: Das klingt nicht sehr überzeugend!“
Timothy zuckte die Achseln. „Nun gut, was willst du von mir? Ich bin nur ein tumber Tor.“
„Das ist deine Rolle“, sagte Eli. „Dein äußeres Bild, deine Maske. Der große, tumbe Tor. Das isoliert dich. Es bewahrt dich davor, eine Aussage machen zu müssen, sei sie nun emotional, politisch, ideologisch oder metaphysisch. Du sagst einfach, das verstehe ich nicht und zuckst die Achseln, und dann gehst du einen Schritt zurück und lachst. Warum willst du ein Zombie sein, Timothy? Warum willst du dich selbst ausschalten?“
„Er kann nichts dagegen machen, Eli“, sagte ich. „Er ist dazu erzogen worden, ein Gentleman zu sein. Und das heißt per definitionem, daß er sich aus allem heraushält.“
„Ach, findet euch doch selbst“, sagte Timothy in seiner besten Gentleman-Art. „Was wißt ihr schon, ihr beiden? Was tue ich überhaupt hier? Ich werde von einem Juden und einem Schwulen durch die halbe westliche Hemisphäre gejagt, um ein tausend Jahre altes Märchen zu überprüfen!“
Ich machte eine leichte Verbeugung. „He, sehr gut, Timothy! Den wahren Gentleman erkennt man daran, daß er einen nie ohne Grund beleidigt.“
„Du hast die Frage gestellt“, sagte Eli, „dann beantworte sie auch. Was tust du hier?“
„Und wirf mir nicht vor, ich hätte dich hierhergejagt“, sagte ich. „Das war Elis Idee. Ich bin genauso skeptisch wie du, vielleicht sogar noch mehr.“
Timothy schnaubte. Ich glaube, er fühlte sich unterlegen. Dann sagte er sehr ruhig: „Ich bin nur wegen der Fahrt dabei.“
„Wegen der Fahrt! Nur wegen der Fahrt!“ Eli.
„Du hast mich gefragt, ob ich mitkomme. Verdammte Scheiße, du brauchst vier Burschen, hast du gesagt, und ich hatte zu Ostern noch nichts Besseres vor. Meine Freunde. Meine Kameraden. Also habe ich zugesagt. Mein Wagen, mein Geld. Ich kann mit einer Verrücktheit leben. Wie ihr wißt, beschäftigt sich Margo mit Astrologie, Waage hier und Fische dort, und Mars zieht ins zehnte Haus, und Saturn steht im Scheitelpunkt, und sie will nicht bumsen, bevor sie nicht die Sterne befragt hat; das kann manchmal sehr lästig sein. Aber lache ich sie deswegen aus? Lache ich sie aus, wie das ihr Vater tut?“
„Höchstens in Gedanken“, sagte Eli.
„Das ist meine Sache. Ich akzeptiere, was ich akzeptieren kann, und mit dem Rest kann ich nichts anfangen. Aber ich habe kein schlechtes Gewissen deswegen. Ich toleriere ihre Zaubermänner, und ich toleriere auch deine, Eli. Das ist auch ein Merkmal des Gentlemans, Ned: Er ist liebenswürdig, er ist kein Missionar, er setzt nie etwas auf Kosten anderer durch.“
„Dazu hat er ja auch keinen Anlaß“, sagte ich.
„Nein, dazu hat er auch keinen Anlaß. Also — ich bin hier, nicht wahr? Ich bezahle das Zimmer, nicht wahr? Mein Anteil beträgt vierhundert Prozent. Muß ich da noch gläubig sein? Muß ich deine Religionen annehmen?“
„Was willst du eigentlich machen“, sagte Eli, „sobald wir im Haus der Schädel sind, und die Hüter gewähren uns die Prozedur? Willst du dann immer noch skeptisch bleiben? Wird der Vorzug, den du dem Nicht-Glauben gibst, dir so ein Klotz am Bein sein, daß du gar nicht mitmachen kannst?“
„Ich werde darüber nachdenken“, antwortete Timothy langsam, „wenn ich einen Grund dazu habe.“ Plötzlich wandte er sich an Oliver. „Du warst bis jetzt still, du Idealbild eines Amerikaners.“
„Was möchtest du denn, das ich sage?“ fragte Oliver. Sein schlanker Körper richtete sich vor dem Fernseher auf. Jeder Muskel bildete sich unter seiner Haut ab: ein wandelndes Anatomie-Lehrbuch. Sein langes rosafarbenes Gerät trat aus einem goldenen Wald hervor und inspirierte mich zu unpassenden Gedanken: Weiche, Satan! Auf diesem Weg liegt Gomorrha, wenn nicht sogar Sodom.
„Hast du nichts zu der Diskussion beizutragen?“
„Ich habe nicht besonders intensiv zugehört.“
„Wir haben über diesen Ausflug gesprochen. Das Buch der Schädel und den Grad des Glaubens, den wir daran haben“, sagte Timothy.
„Aha.“
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, eine Stellungnahme zu Ihrem eigenen Glauben abzugeben, Dr. Marshall?“
Oliver schien mit seinen Gedanken in einer anderen Dimension zu schweben. Er sagte: „Im Zweifelsfall gebe ich Eli recht.“
„Dann glaubst du also an die Schädel?“ fragte Timothy.
„Ich glaube daran.“
„Obwohl wir alle wissen, daß die ganze Sache absurd ist?“
„Ja“, sagte Oliver. „Obwohl sie absurd ist.“
„Das war auch die Haltung von Tertullian“, warf Eli ein. „Credo quia absurdum est. Ich glaube daran, weil es absurd ist. Ein anderes Verständnis von Glauben ist das natürlich, aber von der Psychologie her stimmt’s.“
„Ja, ja, das ist genau meine Position!“ sagte ich. „Ich glaube daran, weil es absurd ist. Der gute alte Tertullian. Er spricht genau das aus, was ich fühle. Exakt meine Position.“
„Aber nicht meine.“ Oliver.
„Nein?“ fragte Eli.
Oliver sagte: „Ich glaube trotz der Absurdität.“
„Warum?“ fragte Eli.
„Warum, Oliver?“ sagte ich eine ganze Weile später. „Du weißt, daß es absurd ist, und trotzdem glaubst du daran. Warum?“
„Weil ich muß“, sagte er. „Weil das meine einzige Hoffnung ist.“
Er starrte direkt auf mich. In seinen Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck der Verheerung, als hätte er mit ihnen dem Tod ins Angesicht gestarrt und sei ihm lebendig entkommen, doch sei zugleich jede Entscheidungsmöglichkeit von ihm genommen, jede Wahlmöglichkeit verkümmert. Er hatte die Trommeln und Pfeifen des Todesmarsches vernommen, am Rande des Universums. Diese frostigen Augen lähmten mich. Seine erwürgten Worte durchbohrten mich: Ich glaube, sagte er: trotz der Absurdität. Weil ich muß. Weil das meine einzige Hoffnung ist. Eine Mitteilung von einem anderen Planeten. Ich konnte die frostige Gegenwart des Todes hier in diesem Raum unter uns spüren, wie er leise über unsere rosafarbenen Knabenwangen strich.